Portrait des Künstlers als junger Mann - James Joyce - E-Book

Portrait des Künstlers als junger Mann E-Book

James Joyce

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Beschreibung

Mit dem autobiografischen Roman „A Portrait of the Artist as a Young Man“ (1916, dt. zunächst „Jugendbildnis“, später „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“) artikulierte Joyce in der Form des Künstler- und Bildungsromans die Position des modernen Schriftstellers, der sich aus den Bindungen der Kirche, des Staats und der Gesellschaft löst und auf künstlerischer Freiheit besteht. Die Übersetzung ins Deutsche besorgte der mit Joyce freundschaftlich verbundene Georg Goyert.

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Impressum

Coverfoto: Man Illustration, shutterstock.com/Eugene Ivanov James Joyce »Portrait des Künstlers als junger Mann« Aus dem Englischen übersetzt von Georg Goyert. In dieser Übersetzung erschien »Portrait des Künstlers als junger Mann« in verschiedenen Ausgaben, zuletzt 1967 in der Fischer Bücherei, Frankfurt am Main. Für diese E-Book-Ausgabe wurde der Text neu gesetzt und gemäß den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung behutsam modernisiert. Mit einem Nachwort von Adolf Schulte aus dem »Jahrbuch für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark«, (heute: »Märkisches Jahrbuch für Geschichte«) Jg. 88, 1990, S. 85-96ISBN 978-3-944561-59-2 Dieses Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen © Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei dem Erben des Nachlasses von Georg Goyert © für das Nachwort: Verein für Orts- und Heimatkunde in der Grafschaft Mark © Deutsche E-Book-Ausgabe 2017 red.sign medien GbR, Stuttgart www.redsign-media.de

Et ignotas animum dimittit in artes.

Ovid, Metamporphosen VIII, 18.

Erstes Kapitel

Vor vielen, vielen Jahren – war das eine herrliche Zeit – kam eine Muhkuh über die Straße, und die Muhkuh, die da so über die Straße kam, begegnete einem netten, kleinen Jungen, und der hieß Spätzchen…

Sein Vater erzählte ihm eine Geschichte: Sein Vater sah ihn an durch ein Stück Glas: Sein Gesicht war ganz behaart.

Spätzchen, das war er selbst. Die Muhkuh kam durch die Straße, in der Betty Bryne wohnte: Die verkaufte Zuckerstangen, die nach Zitrone schmeckten.

Oh, die wilden Rosen

Auf dem kleinen, grünen Platz.

Das Lied sang er. Es war sein Lied.

Oh, die dühnen wilden Hosen…

Macht man das Bett nass, ist es zuerst ganz warm, dann aber wird es kalt. Seine Mutter legte ihm ein Öltuch unter. Das roch ganz sonderbar.

Seine Mutter roch besser als sein Vater. Auf dem Klavier spielte sie den Seemannstanz, und er musste dann tanzen.

Tralala, lala,

Tralala, tralaladi

Tralala, lala,

Tralala, lala.

Onkel Karl und Dante klatschten in die Hände. Sie waren älter als sein Vater und seine Mutter, aber Onkel Karl war älter als Dante. Dante hatte zwei Bürsten in ihrem Schrank. Die Bürste mit dem Rücken aus kastanienbraunem Samt war für Michael Davitt und die mit dem Rücken aus grünem Samt war für Parnell. Wenn er Dante ein Stück Seidenpapier brachte, bekam er von ihr eine Cachou-Pille.

Vances wohnten Nummer sieben. Sie hatten einen anderen Vater und eine andere Mutter. Die waren Eileens Vater und Mutter. Wenn sie groß waren, wollte er Eileen heiraten. Er versteckte sich unter dem Tisch. Seine Mutter sagte dann:

„Stephen soll Abbitte tun.“

Dante sagte:

„Tut er das nicht, dann kommen die Adler und hacken ihm die Augen aus.“

Hacken ihm die Augen aus,

Komm schnell heraus,

Komm schnell heraus,

Hacken ihm die Augen aus.

Komm schnell heraus,

Hacken ihm die Augen aus,

Hacken ihm die Augen aus,

Komm schnell heraus.

Auf den weiten Spielplätzen wimmelte es von Jungen. Alle schrien, und die Präfekten trieben sie mit lauten Zurufen an. Die Abendluft war kalt und bleich, und nach jedem Angriff und Stoß der Spieler flog die fettige Lederkugel wie ein schwerfälliger Vogel durch das graue Licht. Er hielt sich fast abseits von seinen Klassengenossen, wo ihn der Präfekt nicht sehen konnte; war so außerhalb des Bereiches der rohen Füsse; dann und wann tat er, als beteilige er sich wirklich am Spiel. Im Gedränge der Spieler fühlte er, wie klein und schwächlich er war; seine Augen waren schwach und tränten.

Rody Kickham war ein ganz anderer Kerl, der würde sicher Führer der Tertia, das sagten alle Jungs.

Rody Kickham war ein lieber Junge; aber der freche Roche war ein Scheusal. Rody Kickham hatte in seinem Spind Beinschienen und einen Korb im Refektorium. Der eklige Roche hatte dicke Hände. Den Freitagspudding nannte er „Hund in der Decke“.

Eines Tages hatte er gefragt: „Wie heißt du?“

Stephen hatte geantwortet: „Stephen Daedalus.“

Dann hatte der eklige Roche weiter gefragt: „Was ist denn das für ein Name?“

Und als Stephen nicht wusste, was er antworten sollte, hatte Roche, das Scheusal, wieder gefragt: „Was ist dein Vater?“

Stephen hatte geantwortet: „Ein Gentleman.“

Und weiter hatte Roche gefragt: „Ist er Beamter?“

Immer noch hielt er sich fast abseits von den spielenden Kameraden, lief dann und wann ein Stückchen. Aber seine Hände waren ganz blau vor Kälte. Er steckte sie in die Taschen seiner grauen Jacke, die einen Gürtel hatte. Der Gürtel reichte von einer Tasche zur anderen. „Gürtel“ nannten sie auch eine besondere Art Schlag.

Eines Tages hatte ein Junge zu Cantwell gesagt: „Gleich haue ich dir einen ,Gürtel’.“

Cantwell aber hatte geantwortet: „Such dir einen anderen! Versuch es mal bei Cecil Thunder. Der tritt dich in den Arsch, dass du nur so fliegst.“

Das waren hässliche Worte. Seine Mutter hatte ihm immer gesagt, er solle nicht mit den rohen Jungen in der Schule sprechen. Hübsche Mutter! Als sie am ersten Tage in der Vorhalle des Schlosses ihn zum Abschied küssen wollte, hatte sie ihren Schleier bis zur Nase gelüftet, und ihre Nase und ihre Augen waren ganz rot. Aber er hatte so getan, als merke er gar nicht, wie nahe ihr die Tränen waren. Sie war eine hübsche Mutter; wenn sie aber weinte, war sie lange nicht mehr so schön. Und der Vater hatte ihm damals zwei Fünf-Shilling-Stücke als Taschengeld gegeben. Und dann hatte er ihm gesagt, wenn er etwas brauche, solle er schreiben, und nie solle er einen Kameraden verklatschen. Dann hatte sich der Pater Rektor, dessen Soutane im Winde flatterte, herzlich von seinen Eltern am Schlosstor verabschiedet, und der Wagen, in dem der Vater und die Mutter saßen, war fortgefahren. Vom Wagen hatten sie ihm zugewinkt und gerufen:

„Auf Wiedersehen, Stephen, auf Wiedersehen!“

„Auf Wiedersehen, Stephen, auf Wiedersehen!“

Er geriet in einen wirbelnden Kampf um den Ball, und da er vor den blitzenden Augen und schmutzigen Stiefeln Angst hatte, duckte er sich und machte sich davon. Die Jungs kämpften, ächzten, ihre Beine schoben, stießen und traten. Dann befreiten Jack Lawtons gelbe Stiefel den Ball, und alle anderen Stiefel und Beine rannten hinterher. Er folgte ihnen kurze Zeit, blieb dann wieder stehen. Wozu sollte er laufen? Bald waren die Ferien da, und dann ging’s nach Hause. Nach dem Abendessen wollte er im Arbeitssaal die Zahl, die er auf der Innenseite des Pultdeckels angebracht hatte, ändern: aus 77 eine 76 machen.

Im Arbeitssaal war es sicher behaglicher als hier draußen in der Kälte. Der Himmel war bleich und kalt, im Schloss aber brannten Lichter. Er überlegte, aus welchem Fenster wohl Hamilton Rowan seinen Hut auf den Haha geworfen hatte, und ob damals unter den Fenstern Blumenbeete waren. Als Stephen eines Tages ins Schloss gerufen wurde, hatte ihm der Diener im Holz der Tür die Kugelspuren der Soldaten gezeigt und ihm ein Stück Biskuit gegeben, welches die Gemeinschaft aß. Es tat so wohl, die Lichter im Schloss zu sehen, man wurde ordentlich warm. Es erinnerte an etwas in einem Buch. So sah vielleicht Leicester Abbey aus. Und in Dr. Cornwells Fibel standen so schöne Sätze. Sie waren wie Gedichte und waren doch nur Sätze, an denen Orthografie gelernt werden sollte.

Wolsey starb in Leicester Abbey,

wo die Äbte ihn begruben.

Aus den Brunnen rinnt das Wasser,

auf der Weide geht das Rind.

Wie herrlich wäre es, läge er jetzt auf dem Teppich vor dem Kamin, stützte den Kopf in die Hand und dächte an diese Sätze. Er fuhr zusammen, als fühle er kaltes, schlammiges Wasser über seine Haut fließen. Es war eine Gemeinheit von Wells, ihn in die Jauchegrube zu schubsen, weil er seine Tabakdose nicht gegen die reife, verschrumpelte Kastanie des Wells, des Siegers in vierzig Spielen, hatte austauschen wollen. Wie kalt und schlammig war das Wasser gewesen. Ein Junge hatte mal gesehen, wie eine dicke Ratte in den Schlamm sprang … Jetzt saß die Mutter sicher mit Dante vor dem Kamin und wartete, dass Brigitte den Tee brächte. Ihre Füsse standen auf dem Kamingitter, und ihre mit Perlen bestickten Pantoffeln waren so heiß und ihr Duft so lieblich und warm. Dante wusste allerlei. Sie hatte ihn gelehrt, wo die Meerenge von Mozambique liegt, welches der größte Fluss in Amerika ist; von ihr wusste er auch den Namen des höchsten Berges auf dem Mond. Pater Arnall wusste gewiss mehr als Dante. Aber dafür war er ja auch Priester; aber sowohl sein Vater als auch Onkel Karl sagten, Dante sei eine sehr kluge und sehr belesene Frau. Und wenn Dante nach dem Essen jenen Laut von sich gab und die Hand vor den Mund hielt: Das war Sodbrennen. Weit draußen auf dem Spielplatz rief eine Stimme: „Reingehen!“

Dann riefen andere Jungs aus der Elementarklasse und der Tertia: „Reingehen! Reingehen!“

Die erhitzten und beschmutzten Spieler sammelten sich; er war jetzt mitten unter ihnen, war froh, dass er ins Haus kam. Rody Kickham trug den Ball an der fettigen Schnur. Einer der Jungen sagte zu ihm, er solle noch einen Schuss tun; aber er ging weiter, ohne dem Jungen auch nur zu antworten. Simon Mooan sagte ihm, er solle es nicht tun, der Präfekt gucke gerade. Der Junge wandte sich um nach Simon Mooan und sagte: „Wir wissen alle, warum du das sagst. Du bist ja MacGlades Drüppel.“

„Drüppel“ war doch ein seltsames Wort. Der Junge nannte Simon Mooan so, weil er öfters die Schmutzärmel des Präfekten hinter dessen Rücken zusammenknotete und der Präfekt dann nur so tat, als wäre er wütend. Das Wort klang so hässlich. Eines Tages hatte sich Stephen im Waschraum des „Wicklow Hotel“ die Hände gewaschen; und als er fertig war, zog sein Vater die Kette mit dem Stöpsel hoch, und durch das Loch im Waschbecken floss das schmutzige Wasser ab. Und als es langsam abgeflossen war, hatte es aus dem Loch in dem Boden geklungen: Drüp—Drüp. Nur viel lauter.

Als er hieran und an das weiße Waschbecken dachte, wurde ihm erst kalt, dann heiß. Zwei Hähne waren über dem Becken; die musste man aufdrehen, und dann floss das Wasser heraus. Kalt und heiß. Er fror, dann wurde ihm wieder ein wenig heiß, und er sah auch wieder die beiden Worte, die auf den Hähnen standen. Das war doch sehr seltsam.

Und auch die Luft im Korridor ließ ihn frösteln. Sie war so sonderbar, so feucht. Aber bald würde nun das Gas angezündet, und wenn es brennt, dann surrt es ganz leise als sänge es ein Liedchen, immer das gleiche: Und wenn die Jungs im Spielraum zu sprechen aufhörten, konnte man es ganz gut hören.

Es war Rechenstunde; Pater Arnall schrieb eine schwere Aufgabe an die Tafel und sagte dann: „Nun los, wer gewinnt? Vorwärts, York, los Lancaster!“

Stephen tat sein Möglichstes, aber die Aufgabe war zu schwer, und ihm war so wirr. Das kleine, seidene Abzeichen mit der weißen Rose, das er vorn auf der Jacke trug, begann zu flattern. Er war kein guter Rechner, doch tat er sein Möglichstes, dass York nicht verlöre.

Pater Arnall machte ein sehr finsteres Gesicht, aber böse war er gar nicht: er lachte. Dann schwippte Jack Lawton mit den Fingern, und Pater Arnall warf einen Blick in sein Heft und sagte dann: „Richtig! Bravo, Lancaster! Die rote Rose gewinnt! Vorwärts, York, hol ihn wieder ein!“

Jack Lawton sah zu ihm herüber. Sein kleines, seidenes Abzeichen mit der roten Rose sah auf seiner blauen Bluse schön aus. Stephen fühlte, wie ihm bei dem Gedanken an die Wetten, ob er oder Jack Lawton der Primus der Elementarklasse würde, das Blut ins Gesicht stieg. Manche Wochen war Jack Lawton der Beste, dann wieder war er es. Sein weißes, seidenes Abzeichen flatterte immer mehr, während er sich an die nächste Aufgabe machte und Pater Arnalls Stimme hörte. Dann war auf einmal sein ganzer Eifer erloschen, und er fühlte, wie sein Gesicht ganz kalt wurde. Er meinte, es müsste ganz weiß sein, weil es so kalt war. Er konnte die Aufgabe nicht rauskriegen, aber das war ja auch ganz einerlei. Weiße Rosen und rote Rosen: Wie herrlich war es, an diese Farben zu denken. Und die kleinen Karten, die der Beste, Zweit- und Drittbeste aus der Klasse bekamen, hatten auch so schöne Farben: rosa oder hellgelb oder lavendelblau. Es tat so gut, an lavendelblaue, rosa und hellgelbe Blumen zu denken. Vielleicht hatten wilde Rosen solche Farben, und er dachte an das Lied von der wilden Rose auf dem kleinen, grünen Platz. Grüne Rosen aber gab es nicht. Vielleicht gab es aber doch welche irgendwo in der Welt.

Die Glocke läutete, und dann kamen die Jungen aus den Klassen, gingen in Reih und Glied über die langen Flure ins Refektorium. Er saß da und starrte auf die beiden Butterkügelchen auf seinem Teller, mochte aber das feuchte Brot nicht essen. Auch das Tischtuch war noch feucht und hing so schlaff. Aber den heißen, schwachen Tee, den ihm der ungeschickte Küchenjunge mit der weißen Schürze eingoss, trank er. Er fragte sich, ob die Schürze des Küchenjungen auch feucht wäre, ob nicht alle weißen Dinge kalt und feucht wären. Roche, das Ekel, und Saurin tranken Kakao, den sie in Blechbüchsen von Hause geschickt bekamen. Sie sagten, sie könnten den Tee nicht trinken, er wäre das reinste Spülwasser. Die anderen Jungs sagten, die Väter der beiden wären hohe Beamte. Alle Jungen kamen ihm so seltsam vor. Sie alle hatten Vater und Mutter und waren verschieden angezogen und hatten alle eine andere Stimme. Er hatte Heimweh, gern hätte er jetzt seinen Kopf in seiner Mutter Schoß gelegt. Aber das war unmöglich, und so wünschte er nur, Spiel und Arbeit und Andacht wären vorüber und er läge im Bett. Er trank noch eine Tasse Tee, und Fleming sagte zu ihm:

„Was ist los? Tut dir was weh, oder was hast du?“

„Weiß nicht,“ antwortete Stephen.

„Hast dir sicher den Magen verbaellt,“ sagte Fleming, „bist ja ganz blass. Geht schon wieder vorüber.“

„Sicher,“ sagte Stephen. Aber im Magen saß es nicht. Er meinte, im Herzen müsse es sitzen, wenn man da überhaupt krank sein konnte.

Es war doch nett von Fleming, dass er sich erkundigte. Am liebsten hätte er geweint. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und schloss und öffnete abwechselnd mit dem Finger die Ohren. Und wenn er die Ohren öffnete, hörte er den Lärm im Refektorium. Es klang, wie wenn ein Zug durch die Nacht daherbraust. Und wenn er sich dann die Ohren wieder zuhielt, verstummte der Lärm; dann war der Zug in einen Tunnel gefahren. In jener Nacht, in Dalkey, hatte der Zug genau solchen Lärm gemacht, und als er dann in den Tunnel fuhr, war der Lärm verstummt. Er schloss die Augen, und der Zug fuhr lärmend weiter; dann war es wieder still; dann lärmte er wieder und dann war wieder alles still. Es war so fein, darauf zu hören, wie er daherratterte und dann alles still war, wie er wieder aus dem Tunnel lärmte und dann wieder alles still war. Dann kamen die Jungen aus den oberen Klassen über die Matte in der Mitte des Refektoriums, Paddy Rath und Jimmy Magee und der Spanier, der Zigarren rauchen durfte, und der kleine Portugiese mit der wollenen Mütze. Und dann die Jungs aus den mittleren Klassen und die aus der Tertia. Und jeder von ihnen ging anders.

Er saß in einer Ecke des Spielzimmers und verfolgte scheinbar aufmerksam eine Partie Domino, und ein- oder zwei Mal konnte er für ganz kurze Zeit das Gas leise singen hören. Der Präfekt stand mit einigen Jungen an der Tür, und Simon Mooan knotete wieder seine Schmutzärmel zusammen. Er erzählte ihnen etwas über Tullabeg.

Dann trat er weg von der Tür, und jetzt kam Wells zu Stephen und sagte: „Sag mal, Stephen, gibst du vorm Schlafengehen deiner Mutter einen Kuss?“

Stephen antwortete: „Natürlich!“

Dann wandte sich Wells um zu den anderen Jungen und sagte: „Hört mal, hier ist einer, der seiner Mutter jeden Abend vor dem Zubettgehen einen Kuss gibt.“

Die anderen Jungen hörten auf zu spielen, wendeten sich um und lachten.

Stephen wurde rot, als sie alle ihn anblickten, und sagte: „Ich tue es gar nicht.“

Wells sagte: „Hört doch mal, hier ist einer, der seiner Mutter vor dem Schlafengehen keinen Kuss gibt.“

Da lachten sie alle wieder; Stephen versuchte, mit ihnen zu lachen. Auf einmal brannte ihm der ganze Körper, er fühlte sich gar nicht wohl. Was war denn nun die richtige Antwort auf die Frage? Er hatte sogar zwei Antworten gegeben, und doch lachte Wells. Aber Wells musste die richtige Antwort wissen, er war ja in der dritten Gymnasialklasse. Er versuchte, an Wells Mutter zu denken, wagte es aber nicht, Wells anzublicken. Er mochte Wells Gesicht nicht leiden. Wells hatte ihn am Tag vorher in die Jauchegrube geschubst, weil er seine kleine Tabakdose nicht gegen die reife, verschrumpelte Kastanie von Wells, der Sieger in vierzig Spielen war, hatte austauschen wollen. Es war gemein von ihm; das sagten alle Jungs. Und wie kalt und schlammig war das Wasser gewesen. Und ein Junge hatte mal gesehen, wie eine fette Ratte — plumps — in den Schlamm sprang.

Der kalte Schlamm der Grube bedeckte seinen ganzen Körper; und als das Glockenzeichen zum Beginn der Arbeitsstunde ertönte und die Schüler in Reihen die Spielzimmer verließen, fühlte er die kalte Luft des Flurs und der Treppe in seinen Kleidern. Immer noch versuchte er darüber nachzudenken, welches wohl die richtige Antwort wäre. War es nun recht, seiner Mutter einen Kuss zu geben, oder war es unrecht?

Was bedeutete das überhaupt: Küssen? Bei dem Gutenachtsagen hebt man sein Gesicht, und dann beugt die Mutter ihres herunter. Das war: Küssen. Seine Mutter berührte seine Wangen mit ihren Lippen; ihre Lippen waren weich und befeuchteten seine Wangen; und sie machten ein feines, kleines Geräusch: Kuss. Warum taten die Menschen das eigentlich mit ihren Gesichtern?

Im Arbeitssaal öffnete er den Pultdeckel und änderte die Zahl, die auf die Innenseite aufgeklebt war: Aus 77 machte er 76. Aber bis zu den Weihnachtsferien war noch weit. Doch einmal mussten sie auch kommen, weil sich die Erde doch immer dreht. Auf der ersten Seite seines Geografiebuchs war ein Bild der Erde: mitten in lauter Wolken eine dicke Kugel. Fleming hatte eine Schachtel mit Buntstiften, und als er eines Abends seine Arbeiten fertig hatte, hatte er die Erde grün und die Wolken kastanienbraun angemalt. Genau wie die beiden Bürsten in Dantes Schrank, die Bürste mit dem grünen Samtrücken für Parnell und die mit dem kastanienbraunen für Michael Davitt. Er hatte Fleming nichts davon gesagt, dass er diese Farben nehmen sollte, er hat es ganz aus sich getan.

Er schlug sein Geografiebuch auf, wollte die Aufgabe lernen: aber er konnte die Namen der amerikanischen Städte nicht behalten. Und es waren doch alles verschiedene Städte, die alle verschiedene Namen hatten. Sie lagen alle in verschiedenen Ländern und die Länder wieder auf Kontinenten, und die Kontinente lagen in der Welt, und die Welt lag im Universum.

Er schlug das Vorsatzblatt des Geografiebuches auf und las, was er darauf geschrieben hatte: seinen Namen und wo er war.

Stephen Daedalus

Elementarklasse

Clongowes Wood Schule

Sallins

Grafschaft Kildare

Irland

Europa

Welt

Universum

Das hatte er geschrieben, und aus Jux hatte Fleming eines Abends auf die Seite gegenüber geschrieben:

Stephen Daedalus bin ich benannt,

Irland ist mein Vaterland;

In Clongowes tu ich wohnen,

Gott möge mich mit dem Himmel belohnen.

Er las die Verse rückwärts, aber dann reimten sie sich nicht mehr. Dann las er, was auf der Vorsatzseite stand, von unten nach oben, bis er an seinen Namen kam. Das war er: Und er las die Seite wieder von oben nach unten. Was kam denn nach dem Universum? Nichts. Aber gab es denn etwas um das Universum, woran man sehen konnte, dass es aufhörte und wo das Nichts begann? Eine Mauer konnte es nicht sein, aber eine feine, dünne Linie um alles war wohl möglich. Es war nicht so einfach, an alles und an überall zu denken. Das konnte nur der liebe Gott. Er versuchte, sich die ganze Größe dieses Gedankens vorzustellen, aber er konnte nur an Gott denken. Gott, das war der Name Gottes, genau wie sein Name Stephen war. Die Franzosen nennen ihn Dieu, und das ist auch ein Name Gottes, und wenn jemand zu Gott betet und sagt Dieu, dann weiß der liebe Gott gleich, dass ein Franzose betet. Und wenn Gott auch in allen Sprachen der Welt anders genannt wurde, und wenn Gott auch verstand, was alle verschiedenen Menschen, die beteten, in ihren verschiedenen Sprachen sagten, so blieb doch Gott immer der selbe Gott, und Gottes wirklicher Name war Gott. Diese Gedanken ermüdeten ihn sehr. Er hatte ein Gefühl, als schwölle ihm der Kopf an. Er wandte das Vorsatzblatt um und sah müde auf die grüne, runde Erde in den kastanienbraunen Wolken. Er fragte sich, wofür er sich entscheiden sollte: für grün oder braun; denn eines Tages hatte Dante mit der Schere den grünen Samtrücken von der Bürste geschnitten, die Parnell geweiht war, und hatte gesagt: „Parnell ist ein schlechter Mensch.“ Zu gern hätte er gewusst, ob sie jetzt darüber zu Hause diskutierten. So etwas nannte man Politik. Dann bildeten sie zu Hause zwei Parteien: Dante gehörte zu der einen und sein Vater und Mr Casey zu der anderen; seine Mutter aber und Onkel Karl gehörten zu keiner dieser beiden Parteien. Jeden Tag stand über Politik etwas in der Zeitung.

Es quälte ihn, dass er nicht genau wusste, was Politik war, dass er nicht wusste, wo das Universum endete. Er fühlte sich klein und schwach. Wann würde er wohl so sein wie die Jungs in der Prima? Die hatten so tiefe Stimmen, trugen derbe Schuhe und lernten Trigonometrie, aber das konnte noch lange dauern. Erst kamen jetzt die Ferien, dann das nächste Semester und dann wieder Ferien und wieder ein Semester und dann wieder Ferien. Wie der Zug: in den Tunnel und wieder heraus, und wieder herein und wieder heraus. Wenn man sich die Ohren zuhielt und sie dann wieder öffnete, klang der Lärm der Jungen, die im Refektorium aßen, genau wie der des Zuges. Semester, Ferien; in den Tunnel, aus dem Tunnel; Lärm, Stille. Wie weit das noch war! Am liebsten legte er sich zu Bett und schlief. Erst noch die Abendandacht und dann ins Bett. Er fror und gähnte. Im Bett wäre es schön! Wenn nur die Laken erst mal durchwärmt wären! Wenn man hineinkroch, waren sie immer so kalt. Ihn fror, wenn er daran dachte, wie kalt sie zuerst waren. Aber dann wurden sie bald warm, und dann konnte er schlafen. Wie schön war doch die Müdigkeit! Er gähnte wieder. Erst noch die Abendandacht und dann ins Bett; wieder fröstelte er und wieder musste er gähnen. Noch ein paar Minuten, dann war’s schön! Er fühlte, wie die Wärme aus den eben noch kalten Laken ihn einhüllte, dicht einhüllte, immer dichter, bis er am ganzen Körper warm war, so ganz warm, und doch fror er ein wenig und wieder musste er gähnen.

Die Glocke läutete zur Abendandacht, und hinter den anderen her verließ er den Arbeitssaal, ging die Treppe hinunter, über die Flure in die Kapelle. Die Flure waren nur schwach beleuchtet und ebenso die Kapelle. Bald würde nun alles ganz dunkel sein und schlafen. Kalte Nachtluft war in der Kapelle, und der Marmor sah genau so aus wie das Meer bei Nacht. Das Meer war kalt, Tag und Nacht: nachts aber war es kälter. Es war kalt und dunkel unten am Damm, neben dem Haus seines Vaters. Aber jetzt stand sicher der Kessel auf dem Feuer, und bald war der Punsch fertig. Der Präfekt, der die Andacht hielt, betete über seinem Kopf, und er kannte die Antworten auswendig:

Oh, Herr, öffne unsere Lippen,

und unser Mund soll Dich preisen.

Hilf uns, oh Herr,

Herr, hilf uns schnell.

In der Kapelle roch es nach Kälte und Nacht. Aber es war ein frommer Duft. Er war ganz anders als der Geruch der alten Bauern, die bei der Sonntagsmesse hinten in der Kapelle knieten. Die rochen nach Luft und Regen und Torf und Kord. Aber es waren sehr fromme Bauern. Ihr Atem streifte seinen Nacken, und sie seufzten während des Gebetes. Ein Junge hatte gesagt, sie kämen aus Clane: Da wären kleine Hütten, und als die Wagen von Sallins dort vorbeifuhren, hätte er eine Frau an der Halbtür der Hütte stehen sehen mit einem Kind auf dem Arm. Wie schön müsste es sein, auch nur eine Nacht in jener Hütte vor dem rauchenden Torffeuer, in der Dunkelheit, in die das Feuer leuchtete, in der warmen Dunkelheit, zu schlafen und den Geruch der Bauern einzuatmen: Luft und Regen und Kord. Aber ach, wie dunkel war der Weg zwischen den Bäumen! In der Dunkelheit verlief man sich ganz sicher! Als er sich das ausmalte, wurde er ganz ängstlich.

Er hörte, wie die Stimme des Präfekten jetzt das letzte Gebet sprach. Und er betete mit, suchte so Schutz gegen die Dunkelheit draußen unter den Bäumen:

Wir flehen Dich an, oh Herr, komme in dieses Haus und halte fern von ihm alle Listen des Bösen. Lass Deine heiligen Engel darin wohnen, uns in Frieden zu erhalten, und lass Deinen Segen auf uns ruhen immerdar durch Jesum Christum, unsern Herrn. Amen.

Als er sich im Schlafsaal auszog, bebten ihm die Finger. Er befahl ihnen, sich zu beeilen. Er musste sich doch ausziehen, musste niederknien, beten und im Bett liegen, ehe das Gas ausgedreht wurde, wollte er nach dem Tod nicht in die Hölle kommen. Er zog die Strümpfe aus, zog schnell sein Nachthemd an, kniete zitternd neben dem Bett nieder, sagte schnell sein Gebet, denn er fürchtete, das Gas könne ausgedreht werden. Und während er nun leise betete:

Lieber Gott, segne und behüte Vater und Mutter!

Lieber Gott, segne und behüte meine kleinen Brüder und Schwestern!

Lieber Gott, segne und behüte Dante und Onkel Karl!

Da fühlte er, wie seine Schultern bebten.

Dann bekreuzigte er sich, kletterte schnell ins Bett, wickelte das Ende des Nachthemds um die Füsse, kroch in den kalten, weißen Laken zusammen, bebte und zitterte. Einerlei, so kam er doch wenigstens nicht in die Hölle, wenn er starb, und das Zittern würde ja auch mal aufhören. Eine Stimme wünschte den Jungen im Schlafsaal eine gute Nacht. Einen Augenblick sah er über das Deckbett, sah die gelben Vorhänge, die sein Bett umgaben und ihn von allen Seiten einschlössen. Langsam erlosch das Licht.

Die Schritte des Präfekten entfernten sich. Wohin? Geht er die Treppe hinab und über die Flure, oder geht er in sein Zimmer? Er sah die Dunkelheit. Ob die Geschichte von dem Hund, der Augen hatte so groß wie Wagenlaternen und nachts umherstreifte, wohl wahr war? Man sagte, er wäre der Geist eines Mörders. Bebende Angst kroch ihm über den Leib. Er sah die dunkle Vorhalle des Schlosses. Alle Diener in alten Trachten waren in dem Bügelzimmer, oben an der Treppe. Das war schon lange her. Die alten Diener waren ruhig. In dem Zimmer brannte Feuer, aber die Vorhalle war ganz dunkel. Aus der Halle kam jemand die Treppe hinauf. Er trug einen weißen Marschallmantel; sein Gesicht war bleich und so seltsam. Eine Hand presste er in die Seite. Er sah die alten Diener an aus seltsamen Augen. Sie sahen ihn auch an und erkannten ihres Herren Gesicht und Mantel und wussten, dass er seine Todeswunde empfangen hatte. Aber da, wohin sie sahen, war nur Dunkelheit: nur düstere Luft und Schweigen. Ihr Herr hatte seine Todeswunde auf dem Schlachtfeld von Prag empfangen, weit von hier, weit fort über das Meer. Er stand auf dem Felde; und er presste die Hand in die Seite; sein Gesicht war bleich und seltsam, und er trug den weißen Marschallmantel.

Wie kalt und seltsam war es, hieran zu denken. Die ganze Dunkelheit war kalt und seltsam. In ihr waren bleiche, seltsame Gesichter und Augen, die so groß waren wie Wagenlaternen. Sie waren die Geister von Mördern, die Gestalten von Marschällen, die ihre Todeswunden auf Schlachtfeldern in weiter Ferne, jenseits des Meeres empfangen hatten. Was wollten sie denn sagen, dass ihre Gesichter so seltsam waren?

Wir flehen Dich an, oh Herr, komme in dieses Haus und halte fern von ihm alle …

In den Ferien nach Hause fahren! Das war herrlich: Das hatten ihm die Jungs schon erzählt. Am kalten Wintermorgen stehen die Wagen draußen vor dem Schloss, man steigt ein. Die Wagen rollen über den Kies. Man lässt den Pater Rektor hochleben: Hurra! Hurra! Hurra!

Die Wagen fuhren dann an der Kapelle vorbei, und alle zogen die Mütze. Lustig fuhren sie über die Landwege. Mit der. Peitsche zeigten die Kutscher nach Bodenstown. Und wieder riefen die Jungen: Hurra! Sie fuhren vorbei an dem Haus des lustigen Landmanns. Immer wieder Hurrarufe, immer wieder. Durch Clane fuhren sie, riefen Hurra! und wurden mit Hurra begrüßt. Die Bauersfrauen standen an der Halbtüre, die Männer standen hier und da. Und die Winterluft duftet so lieblich: Clane-Duft: Regen und Winterluft und schwelender Torf und Kord.

Viele, viele Schüler saßen in dem Zug; es war ein langer, langer schokoladenbrauner Zug mit hellgelbem Holzwerk an den Türen und Fenstern. Die Beamten gingen hin und her, öffneten und schlossen die Wagentüren, schlossen sie und öffneten sie wieder. Sie trugen dunkelblaue Uniformen mit silbernen Litzen. Sie hatten silberne Pfeifen und munter klirrten ihre Schlüssel: Klick, Klick, Klick, Klick. Und der Zug sauste durch das flache Land und vorbei an dem Hill of Allen. Die Telegrafenstangen sausten vorbei, sausten vorbei. Und der Zug sauste weiter, sauste weiter. Er wusste, worum es sich handelte. Im Flur in seines Vaters Haus hingen Laternen und Girlanden aus grünen Zweigen. Ilex und Efeu umrahmten den Pfeilerspiegel, und Hex mit roten Beeren und grüner Efeu war um die Leuchter gewunden. Roter Hex und grüner Efeu für ihn und weil es Weihnacht war.

Herrlich …!

Alle sind sie da!

„Willkommen zu Hause, Stephen!“

Lärmendes Willkommen! Seine Mutter küsste ihn. War das wohl recht? Sein Vater war jetzt Marschall: viel mehr als ein Beamter.

Willkommen zu Hause, Stephen! Lärm! …

Er hörte, wie die Ringe der Vorhänge klirrend über die Stangen glitten, wie Wasser in die Becken floss, wie man im Schlafsaal aufstand, sich anzog und wusch, wie der Präfekt in die Hände klatschte und die Jungen zur Eile antrieb. Ein bleiches Sonnenlicht ließ die zurückgeschobenen Vorhänge, die unordentlichen Betten erkennen. Sein Bett war so heiß, und sein Gesicht und sein Körper waren auch so heiß.

Er stand auf und setzte sich auf den Bettrand. Er fühlte sich schwach. Er versuchte, die Strümpfe anzuziehen. Er konnte sie kaum an den Beinen haben, so gräßlich war das Gefühl. Das Sonnenlicht war so sonderbar und kalt.

Fleming sagte: „Geht es dir nicht gut?“

Er wusste es selber nicht, und Fleming sagte: „Leg dich wieder ins Bett. Ich will MacGlade sagen, dass es dir nicht gut geht.“

„Er ist krank.“

„Wer?“

„Sag’s MacGlade.“

„Leg dich wieder ins Bett.“

„Ist er krank?“

Ein Junge hielt ihn fest, während er den Strumpf wieder auszog, der an seinem Fuß klebte; dann kroch er wieder in das heiße Bett. Er kauerte sich in den Laken zusammen, war froh, dass sie so schön warm waren. Er hörte, wie die Jungs, die sich zur Messe ankleideten, über ihn sprachen. Und sie sagten, es wäre eine Gemeinheit gewesen, ihn in die Jauchegrube zu schubsen. Dann hörte er nichts mehr: Sie waren fort.

Eine Stimme an seinem Bett sagte: „Daedalus, verklatsch mich aber nicht.“

Er sah Wells Gesicht. Er sah ihn an und merkte wohl, dass er Angst hatte.

„Absichtlich habe ich es nicht getan. Verklatsch mich nur nicht.“

Sein Vater hatte ihm gesagt, er solle nie, unter keinen Umständen, einen Kameraden verklatschen. Er schüttelte den Kopf, sagte nein und war ganz froh.

Wells sagte: „Auf Ehre; absichtlich habe ich es nicht getan. Nur zum Spaß. Jetzt tut es mir leid.“

Das Gesicht und die Stimme verschwanden. Es tat ihm leid, weil er Angst hatte. Und er hatte Angst, er könnte krank werden. Wie lange war es her, als er sich draußen auf dem Spielplatz abseits von den spielenden Klassengenossen hielt und ein schwerer Vogel niedrig durch das graue Licht flog. Und die Leicester-Abtei war hell und erleuchtet. Hier starb Wolsey. Die Äbte selbst beerdigten ihn.

Es war nicht mehr Wells Gesicht, es war das des Präfekten. Er verstellte sich nicht. Nein, nein: Er war wirklich krank. Und er fühlte die Hand des Präfekten auf seiner Stirn; und er fühlte seine warme und feuchte Stirn in der kalten und feuchten Hand des Präfekten. So muss sich eine Ratte anfühlen, schleimig und feucht und kalt. Jede Ratte hatte zwei Augen und damit sah sie, glattes, schleimiges Fell, kleine, kleine Füsse, auf denen kauerte sie sich zusammen, wenn sie springen wollte, und schwarze, schleimige Augen, mit denen sie sah. Vom Springen verstanden sie was, von Trigonometrie aber hatten sie keine Ahnung. Wenn sie tot waren, lagen sie auf der Seite. Dann wurde ihr Fell trocken. Dann waren sie weiter nichts als leblose Dinge.

Wieder stand der Präfekt am Bett, und seine Stimme sagte, er müsse aufstehen, der Prorektor hätte es so angeordnet, und er müsse sich anziehen und ins Krankenhaus. Und während er sich nun möglichst schnell anzog, sagte der Präfekt: „Du musst umziehen zu Bruder Michael, weil du Bauchgrimmen hast.“

Es war nett von ihm, dass er so sprach. Er sollte lachen. Aber er konnte doch nicht lachen, seine Wangen und Lippen zitterten in einem fort: Und so musste der Präfekt allein lachen.

Der Präfekt rief: „Vorwärts marsch! Links, rechts, links, rechts!“

Zusammen gingen sie die Treppe hinunter, über den Flur, am Bad vorbei. Während sie an dessen Tür vorbeigingen, dachte er mit vager Angst an das warme, torffarbene Sumpfwasser, die warme, feuchte Luft, das Klatschen bei den Kopfsprüngen, den Arzneigeruch der Badetücher.

Bruder Michael stand vor der Tür des Krankenhauses, und aus der Tür des dunklen Kabinetts rechts von ihm strömte Arzneigeruch. Der kam aus den Flaschen auf den Regalen. Der Präfekt sprach mit Bruder Michael, und Bruder Michael antwortete, wobei er den Präfekten mit Sir anredete. Er hatte rötlichgraues Haar und sah wunderlich aus. Es war sonderbar, sich vorzustellen, dass er immer Bruder bleiben würde. Auch war es sonderbar, dass man ihn nicht mit Sir anreden konnte, weil er doch nur Bruder war und so ganz anders aussah wie die anderen. War er denn nicht fromm genug oder warum konnte er es nicht so weit bringen wie die anderen? In dem Zimmer standen zwei Betten, und in dem einen lag ein Junge; und als sie hineinkamen, rief er:

„Hallo! Das ist ja der kleine Daedalus. Was ist denn los?“

„Was nicht angebunden ist,“ sagte Bruder Michael. Er war Schüler der Tertia, und während Stephen sich auszog, bat er Bruder Michael, ihm eine Schnitte geröstetes Brot zu bringen.

„Nun tun Sie es doch,“ sagte er.

„Ich will dir was!“ sagte Bruder Michael. „Wenn der Doktor heute morgen kommt, lasse ich dich gesund schreiben.“

„Wirklich?“ sagte der Junge. „Aber ich bin noch nicht gesund.“

Bruder Michael wiederholte: „Gesund geschrieben, das wirst du, das sage ich dir.“

Er bückte sich und stochte das Feuer. Er hatte einen langen Rücken, so lang wie der eines Pferdebahngauls. Ernst stochte er und nickte dem Jungen aus der Tertia zu.

Dann ging Bruder Michael fort, und bald wandte sich der Junge aus der Tertia um zur Wand und schlief ein.

Das war also das Krankenhaus. So war er denn krank. Hatte man das auch wohl seinem Vater und seiner Mutter geschrieben? Es wäre das Einfachste, einer der Priester führe hin und erzählte es ihnen. Oder besser noch, er selbst schrieb einen Brief, den der Priester dann einfach abgeben könnte.

„Liebe Mutter.

Ich bin krank. Ich möchte so gerne nach Hause. Komm bitte und hol mich. Ich liege im Krankenhaus.

Dein Dich liebender Sohn

Stephen.“

Wie weit waren sie doch! Draußen schien eine kalte Sonne. Ob er wohl sterben müsste? Man konnte grade so gut an einem sonnigen Tage sterben. Vielleicht starb er, bevor seine Mutter kam. Dann las man in der Kapelle für ihn eine Totenmesse, genau so wie damals, als Little gestorben war. Die Jungs hatten ihm davon erzählt. Alle Jungs würden der Messe beiwohnen; schwarze Anzüge hatten sie an und ihre Gesichter waren traurig. Auch Wells würde dabeisein, aber keiner der Jungs würde ihn auch nur angucken. Der Rektor würde nicht fehlen, er würde den schwarzen Chormantel mit Gold tragen, auf dem Altar und um den Katafalk ständen dicke, gelbe Kerzen. Langsam würden sie den Sarg aus der Kapelle tragen, und er würde auf dem kleinen Kirchhof der Gemeinde, am Ende der langen Lindenallee begraben werden. Dann würde Wells sicher sehr traurig sein über das, was er getan hatte. Und ganz langsam würde die Glocke läuten.

Er hörte das Läuten.

Im Geiste sagte er das Lied, das er von der alten Brigitte gelernt hatte.

Bim-bam! die Glocke tönt!

Liebe Mutter, ich muss scheiden.

Wo mein Bruder, lasst mich ruhn,

Pflanzt aufs Grab dann Trauerweiden.

Gebt mir einen schwarzen Sarg.

Lasst sechs Engel diesem folgen!

Zwei sollen singen und zwei sollen beten

Und zwei meine Seele gen Himmel tragen.

Wie schön und traurig war das! Wie schön waren die Worte: Ich muss scheiden, wo mein Bruder, lasst mich ruhn. Wieder schauderte er zusammen. Wie traurig und wie schön! Gern hätte er still vor sich hin geweint, nicht über sich, sondern über die Worte, die so schön und traurig waren. Wie Musik.

Die Glocke! Die Glocke! Ich muss scheiden! Lebewohl! Lebewohl.

Das kalte Sonnenlicht wurde schwächer, und Bruder Michael stand an seinem Bett mit einer Tasse Bouillon. Darüber freute er sich, denn sein Mund war heiß und trocken. Er konnte sie auf dem Spielplatz spielen hören. Und in der Schule ging alles so weiter, als wäre er dabei.

Dann ging Bruder Michael fort, und der Junge in dem anderen Bett sagte ihm, er solle aber ganz bestimmt wieder kommen und ihm erzählen, was Neues in der Zeitung stünde. Er erzählte Stephen, er heiße Athy, und sein Vater hätte eine Menge Rennpferde, und das wären famose Springer, und sein Vater gäbe dem Bruder Michael jedes Mal, wenn er wollte, einen guten Tip, denn Bruder Michael wäre ein lieber Kerl und erzählte ihm immer das Neueste aus der Zeitung, die jeden Tag ins Schloss gebracht würde. Allerlei Neues stände in der Zeitung: Unfälle, Schiffbrüche, Sport und Politik.

„Jetzt steht nur über Politik was in der Zeitung,“ sagte er. „Reden deine Eltern auch darüber?“

„Ja,“ sagte Stephen.

„Meine auch,“ sagte er. Dann dachte er einen Augenblick nach und sagte: „Du hast einen spaßigen Namen, Daedalus; ich auch, Athy. Mein Name ist der Name einer Stadt. Deiner klingt so Lateinisch.“

Dann fragte er: „Kannst du gut Rätsel raten?“

Stephen antwortete: „Nicht besonders.“

Dann sagte er: „Kannst du das wohl raten? Warum gleicht die Grafschaft Kildare dem Hosenbein eines Jungen?“

Stephen überlegte, was wohl die richtige Antwort wäre, und sagte dann: „Ich krieg’s nicht ‚raus.“

„Weil ein Schenkel drin ist,“ sagte er. „Merkst du, wo der Witz liegt? Athy ist die Stadt in der Grafschaft Kildare, und ,a thigh’ ist doch ein Schenkel.“

„Oh, ja, hast recht,“ sagte Stephen.

„Es ist ein ganz altes Rätsel,“ sagte er. Nach einem Augenblick sagte er: „Hör mal!“

„Ja, was denn?“ fragte Stephen.

„Weißt du,“ sagte er, „man kann bei diesem Rätsel auch anders fragen.“

„Wirklich?“ sagte Stephen.

„Bei demselben Rätsel,“ sagte er. „Weißt du auch wie?“

„Nein,“ antwortete Stephen.

„Kannst du das nicht herausbekommen?“ fragte er. Während er so sprach sah er über die Bettdecke weg hinüber zu Stephen. Dann legte er sich wieder auf das Kopfkissen und sagte: „Man kann auch anders fragen, aber wie, das sage ich dir nicht.“

Warum sagte er es denn nicht? Sein Vater, der die Rennpferde hielt, war sicher auch ein hoher Beamter, genau wie der Vater von Saurin und von Roche, dem Scheusal. Er dachte an seinen eigenen Vater, wie er Lieder sang und die Mutter ihn begleitete, und wie er ihm immer einen Shilling gab, wenn er nur six-pence haben wollte; und es tat ihm auf einmal leid um ihn, dass er nicht auch ein hoher Beamter war wie die Väter der anderen Jungs. Warum hatte man ihn gerade hierher geschickt? Aber sein Vater hatte ihm gesagt, er würde sich hier nicht fremd fühlen, denn sein Großonkel hätte hier vor fünfzig Jahren dem Befreier eine Adresse überreicht. Die Leute jener Zeit konnte man an ihrer altmodischen Kleidung erkennen. Diese Zeit kam ihm feierlich vor, und er hätte zu gern gewusst, ob es die Zeit war, als die Clongowes-Schüler blaue Anzüge mit Messingknöpfen, gelbe Westen und Mützen aus Kaninchenfell trugen und Bier tranken wie Erwachsene und eigene Jagdhunde hatten, mit denen sie die Hasen jagten. Jetzt blickte er zum Fenster, und sah, dass das Tageslicht schwächer geworden war. Nebliges, graues Licht musste jetzt über dem Spielplatz liegen. Auf den Spielplätzen war es ganz still. In seiner Klasse schrieb man jetzt sicher einen Aufsatz, vielleicht las Pater Arnall aber auch aus dem Buch vor.

Es war doch sonderbar, dass er noch gar keine Arznei bekommen hatte. Vielleicht brachte Bruder Michael welche, wenn er wiederkam. Er hatte gehört, im Krankenhaus bekäme man schauderhaft stinkendes Zeug zu trinken. Aber er fühlte sich jetzt viel besser als vorhin. Er freute sich, so langsam wieder gesund zu werden. Dann bekäme er auch ein Buch. In der Bibliothek war ein Buch über Holland. So schöne fremde Namen standen darin und dazu Bilder von seltsam aussehenden Städten und Schiffen. Das Buch machte einen ordentlich glücklich.

Wie bleich war das Licht, das durchs Fenster fiel!

Aber schön war es doch! Der Schein des Feuers hob und senkte sich an der Wand. Wie Wogen. Jemand legte Kohlen auf, und er hörte Stimmen. Sie sprachen. Es war die Stimme der Wogen. Oder die Wogen sprachen miteinander, während sie sich hoben und wieder senkten.

Er sah ein Meer von Wellen, lange, dunkle Wellen, die sich hoben und senkten, dunkel in der mondlosen Nacht. Draußen, am Ende des Landungsstegs, wo das Schiff einfuhr, blinkte schwach ein Licht, und er sah eine Menge Leute am Rand des Wassers stehen, die wollten das Schiff sehen, das in den Hafen einfuhr. Auf Deck stand ein großer Mann, sah hinunter zum flachen, dunklen Land: Und beim Schein des Lichtes am Kopf des Landungsstegs sah er sein Gesicht, das sorgenvolle Gesicht des Bruder Michael.

Er sah, wie er die Hände in Richtung der Leute hob, und hörte, wie er mit lauter, sorgenvoller Stimme über das Wasser rief: „Er ist tot, wir sehen ihn auf dem Katafalk liegen.“

Klage drang aus dem Volk.

„Parnell! Parnell! Er ist tot!“

Sie fielen nieder auf die Knie, jammerten und klagten schmerzerfüllt. Und er sah Dante in einem Kleid aus kastanienbraunem Samt und einem grünsamtnen Mantel, und der Mantel hing herab von ihren Schultern; stolz und schweigsam ging sie an all den Menschen vorbei, die am Rand des Wassers auf den Knien lagen.

Ein großes, hochgeschichtetes, rotes Feuer flammte auf dem Rost, und unter den mit Efeu umwundenen Armen des Leuchters war der Weihnachtstisch gedeckt. Sie waren ziemlich spät nach Hause gekommen, doch war das Essen noch nicht fertig: Aber jeden Augenblick sollte es fertig sein, hatte seine Mutter gesagt. Sie warteten, dass die Tür sich öffnete und die Mädchen die großen Schüsseln mit den schweren Metalldeckeln hereinbrächten. Alle warteten: Onkel Karl, der abseits im Schatten des Fensters saß, Dante und Mr Casey, die in den Lehnstühlen neben dem Kamin saßen, Stephen, der auf einem Stuhl zwischen den beiden saß und dessen Füße auf dem vom Feuer versengten Schemel ruhten. Mr Daedalus besah sich im Spiegel über dem Kamin, drehte seine Schnurrbartspitzen, nahm dann die Rockschöße auseinander und stellte sich mit dem Rücken zum Feuer: Von Zeit zu Zeit ließ er einen Rockschoß los und drehte dann die Spitzen seines Schnurrbarts. Mr Casey neigte den Kopf zur Seite, lächelte und befühlte die Halsdrüse. Und Stephen lächelte auch, denn er wusste jetzt, dass Mr Casey gar keine silberne Börse in seiner Kehle hatte. Er lächelte jetzt, als er daran dachte, wie er sich durch den silberhellen Ton, den Mr Casey so oft von sich gab, hatte täuschen lassen. Und als er versucht hatte, Mr Caseys Hand zu öffnen, um nachzusehen, ob da die silberne Börse verborgen war, hatte er gesehen, dass er die Finger nicht grade machen konnte, und Mr Casey hatte ihm erzählt, diese drei Finger wären, als er für die Königin Viktoria ein Geburtstagsgeschenk verfertigte, steif geworden. Mr Casey befühlte leicht die Drüse seines Halses und lächelte Stephen zu mit schläfrigen Augen; und Mr Daedalus sagte zu ihm:

„Ja. So ist’s. War doch ein herrlicher Spaziergang, John? Ja … Möchte wissen, ob wir heute noch was zu essen kriegen. Ja … Bei unserm Spaziergang um den Head haben wir eine ordentliche Portion Ozon mitgekriegt. Aber ganz gewiss …“

Er wandte sich an Dante: „Sind Sie denn den ganzen Tag nicht herausgekommen, Mrs Riordan?“

Dante runzelte die Augenbrauen und sagte barsch: „Nein.“

Mr Daedalus ließ die Rockschöße los und ging ans Büffet. Er nahm einen großen Steinkrug mit Whisky aus dem Schrank und füllte vorsichtig die Karaffe, neigte von Zeit zu Zeit den Kopf um nachzusehen, wieviel er hineingegossen hatte. Dann stellte er den Steinkrug wieder in den Schrank goss ein wenig Whisky in zwei Gläser, gab ein wenig Wasser hinzu und kam dann mit den beiden Gläsern wieder an den Kamin.

„Ein Fingerhut voll Whisky, John,“ sagte er, „regt den Appetit an.“

Mr Casey nahm das Glas, trank und stellte es dann neben sich auf das Kaminsims. Dann sagte er: „Ja, da muss ich an unsern Freund Christoph denken, der …“

Er lachte und hustete und fügte dann hinzu: „… der für diese Brüder Champagner fabriziert.“

Mr Daedalus lachte laut auf. „Christy?“ sagte er. „Der hat mehr List in einer Warze seines kahlen Kopfes als hundert schlaue Füchse im Kopf.“

Er neigte den Kopf, schloss die Augen, leckte ausgiebig an seinen Lippen.und sagte dann mit der Stimme des Hoteliers: „Und er hat einen so appetitlichen Mund, wenn er mit einem spricht, nicht wahr? Sein Doppelkinn steht immer unter Wasser, Gott segne ihn.“

Mr Casey konnte sich immer noch nicht beruhigen. Er lachte und hustete. Stephen lachte, denn im Gesicht und der Stimme seines Vaters glaubte er den Hotelier zu sehen und zu hören.

Mr Daedalus klemmte sein Monokel ein, sah zu ihm herab und sagte dann ruhig und freundlich: „Was lachst du denn, du kleiner Schlingel?“

Die Mädchen kamen jetzt herein und stellten die Schüsseln auf den Tisch. Mrs Daedalus folgte ihnen, und jedem wurde sein Platz angewiesen. „Nehmt Platz,“ sagte sie.

Mr Daedalus ging an das Kopfende des Tisches und sagte: „Nehmen Sie Platz, Mrs Riordan; John, lieber Freund, setz dich.“

Er sah hinüber zu Onkel Karls Platz und sagte: „Mein lieber Herr, gleich kommt ein Vöglein geflogen.“

Als alle saßen, legte er seine Hand auf den Deckel der Schüssel, zog sie zurück und sagte schnell: „Los, Stephen.“

Stephen stand auf und sagte das Tischgebet. „Segne uns, oh Herr, und diese Deine Gaben, die wir durch Deine Güte empfangen, durch Jesum Christum, unsern Herrn. Amen!’’’

Alle bekreuzigten sich, Mr Daedalus knurrte zufrieden und hob von der Schüssel den schweren Deckel, an dessen Rand glitzernde Tropfen perlten. Stephen sah auf den dicken Truthahn, der gezäumt auf dem Küchentisch gelegen hatte. Er wusste, dass sein Vater für das Tier bei Dunn in der D’Olier Street eine Guinea bezahlt und dass der Mann des Öfteren die Brust des Vogels befühlt hatte, um zu zeigen, wie gut er war.Und er erinnerte sich deutlich an die Stimme des Mannes, als er sagte: „Nehmen Sie diesen, Sir. Sie sind dabei nicht betrogen.“

Warum nannte Mr Barrett in Clongowes seinen Stock, mit denen er die Jungen in die Hände schlug, Truthahn? Aber Clongowes war weit: und aus den Tellern und Schüsseln stieg der warme, schwere Duft des Truthahns, des Schinkens und des Selleries, und auf dem Rost brannte das rote, große, hochgeschichtete Feuer, und mit all dem grünen Efeu und dem roten Ilex um sich, fühlte man sich so glücklich, und wenn das Abendessen zu Ende war, dann würde der große Plumpudding hereingebracht, der war verziert mit geschälten Mandeln und Ilexzweiglein, und blaues Feuer lief um ihn herum, und eine kleine grüne Flagge wehte von seinem Gipfel.

Es war sein erstes Weihnachtsmahl, und er dachte an seine kleinen Brüder und Schwestern, die im Kinderzimmer warteten, bis der Pudding kam, wie er auch so oft gewartet hatte. In dem großen Umlegekragen und dem Eton-Jackett kam er sich so sonderbar und alt vor: Und damals, als er mit der Mutter, für die Messe angezogen, ins Wohnzimmer gekommen war, hatte der Vater geweint. Weil er an seinen eigenen Vater dachte. Und Onkel Karl hatte das auch gesagt.

Mr Daedalus deckte die Schüssel wieder zu und begann hungrig zu essen. Dann sagte er: „Der arme Christy! Der kann all seine Betrügereien kaum noch allein tragen.“

„Simon,“ sagte Mrs Daedalus, „du hast Mrs Riordan noch keine Sauce gegeben.“

Mr Daedalus ergriff die Saucière. „Hab ich das vergessen?“ rief er. „Mrs Riordan, verzeihen Sie dem armen Blinden.“

Dante hielt die Hände über ihren Teller und sagte: „Nein, danke.“

Mr Daedalus wandte sich an Onkel Karl. „Mit allem versehen, Sir?“

Fehlt nichts, Simon.“

„Und du, John?“

„Desgleichen. Aber du?“

„Mary? Komm mal her, Stephen! So! Das soll dir mal schmecken.“

Reichlich goss er Sauce auf Stephens Teller und setzte dann die Saucière wieder auf den Tisch. Dann fragte er Onkel Karl, ob das Fleisch zart wäre. Aber Onkel Karl konnte nicht sprechen, weil er einen vollen Mund hatte, doch nickte er zustimmend.

„Die Antwort, die unser Freund dem Domherrn gab, war nicht ohne, was?“ sagte Mr Daedalus.

„Hätte ich ihm gar nicht zugetraut,“ sagte Mr Casey.

„Ich werde Ihre Abgaben bezahlen, Pater, wenn Sie aufgehört haben, das Haus Gottes in ein Wahllokal zu verwandeln.“

„Wirklich, eine herrliche Antwort an seinen Pfarrer,“ sagte Dante, „von jemand, der ein guter Katholik sein will.“

„Sie haben sich das selbst zuzuschreiben,“ sagte Mr Daedalus milde. „Wenn sie einen unmaßgeblichen Rat annehmen wollten, würden sie sich nur um die Religion kümmern.“

„Aber es ist Religion, nichts anderes,“ sagte Dante. „Wenn sie das Volk warnen, tun sie ihre Pflicht.“

„Wir gehen in das Haus Gottes,“ sagte Mr Casey, „um in aller Demut zu unserem Schöpfer zu beten, aber Wahlreden wollen wir da nicht hören.“

„Und es ist doch Religion,“ sagte Dante wieder. „Sie haben vollkommen recht. Sie müssen ihre Herde leiten und führen.“

„Und dabei von der Kanzel Politik predigen, nicht wahr?“ fragte Mr Daedalus.

„Gewiss,“ sagte Dante. „Das ist eine Frage der öffentlichen Moral. Ein Priester wäre keiner, sagte er der ihm anvertrauten Herde nicht, was recht und was Unrecht ist.“

Mrs Daedalus legte Messer und Gabel hin und sagte: „Um Gottes Willen, wir wollen doch heute, am schönsten Tag des ganzen Jahres, keine politischen Erörterungen anfangen.“

„Sehr richtig, gnädige Frau,“ sagte Onkel Karl. „Und nun lass es genug sein, Simon. Kein weiteres Wort mehr.“

„Ja, ja, schon gut,“ sagte Mr Daedalus schnell. Ein wenig ostentativ nahm er den Metalldeckel von der Schüssel und fragte: „Wer will noch ein Stück Truthahn?“

Niemand antwortete.

Dante sagte: „Wie kann ein Katholik nur solche Reden führen?“

„Mrs Riordan, ich bitte Sie,“sagte Mrs Daedalus, „lassen Sie das Thema doch endlich fallen.“

Dante wandte sich zu ihr und sagte: „Soll ich es denn ruhig mit anhören, wenn man über die Priester meiner Kirche herzieht?“

„Solange sie sich nicht mit Politik befassen, sagt ja niemand was gegen sie,“ antwortet Mr Daedalus.