Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Seinem Selbstverständnis nach hat der Journalismus die Aufgabe, Ereignisse und Sachverhalte wahrheitsgemäß, neutral und objektiv darzustellen. Weder eine übermäßig negative noch positive Akzentuierung in der Darstellung sind erwünscht. In der Berichterstattung ist jedoch ein Negativitätsbias festzustellen – und zwar sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher Hinsicht. Der Mainstream-Journalismus scheint überwiegend negativ geprägt zu sein: 'Bad News' sind 'Good News'. Seit einiger Zeit wird über eine Gegenbewegung, einen positiven Journalismus, diskutiert, also eine Berichterstattung, die bewusst über positive Themen berichtet und sich einer positiven Sprache bedient. Das vorliegende Buch Setzt sich mit diesem Phänomen auseinander. Es möchte, ohne voreilig Partei zu ergreifen, eine theoretische und berufliche Reflexion hierüber anregen. Womöglich kann ein positiver Journalismus auch neue Leser, Hörer und Zuschauer als Zielgruppe gewinnen. Das Buch will vor diesem Hintergrund drei Fragen nachgehen: • Ursachen: Weshalb berichten die Medien tendenziell negativ? • Wirkungen: Welche kognitiven, affektiven und motivationalen Wirkungen hat negative Berichterstattung? • Bewertung: Ist negativer Journalismus ausschließlich schlecht und positiver Journalismus immer gut? Welche Kritik ist am positiven Journalismus zu üben?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 313
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Positiver Journalismus – einführende Gedanken
Christin Fink
Exklusion durch legitimierende Geste:
Zum sprachlichen Paradoxon des positiven Journalismus am Beispiel HIV/AIDS
Thomas Christian Bächle
Dialektik des Negativen:
Probleme des positiven Journalismus
Oliver Bidlo
Wenn Friedensjournalismus in die Sackgasse führt
Daniel Gehrmann
Chaotische Fernwelt – getrennte Lebenswelten:
Auslandsberichterstattung zwischen negativem und positivem Journalismus
Kai Hafez / Anne Grüne
Positive Kriminal- und Gerichtsberichterstattung
Bernhard Kramer
Im Auge des Jokers:
Stockfotos in journalistischen Medien
Evelyn Runge
Negativer Journalismus ist mehr als „Bad News“:
Die Berichterstattung der Eurokrise in der deutschsprachigen Presse
Katharine Sarikakis / Lisa Winter
Konstruktiver Journalismus als Einladung zum Diskurs:
Eine berufsethische Reflexion über den Spielraum für eine positivere Berichterstattung
Christian Sauer
China im Spiegel der Printmedien:
Wertende Berichterstattung und ihre Perzeption am Beispiel China
Caja Thimm / Kathrin Witsch
Positiver Journalismus als konstruktive Konfliktbearbeitung:
Qualitätsjournalismus in der Auslandsberichterstattung
Irmgard Wetzstein
Autoren
Journalismus hat seinem normativen Selbstverständnis nach die Aufgabe, die gesellschaftlich relevante Welt wahrheitsgemäß und objektiv darzustellen. Es geht also um Neutralität und weder um positive noch um negative Akzentuierung.
Doch wer die Tageszeitung aufschlägt oder die Abendnachrichten sieht, erfährt viel über Unfälle, Mord und Totschlag, über Streiks und Pleiten, Korruption und Skandale, über Krisen, Konflikte und Kriege. Im Vergleich dazu scheinen Meldungen über Siege, Fortschritt und Wachstum oder gar lobende Worte über gute Politik deutlich rarer. Der Mainstream-Journa-lismus ist – so macht es den Eindruck – überwiegend negativ.
Begreift man den Journalismus in idealtypischer Weise und unter dem Gebot der Neutralität als Abbild der Wirklichkeit, muss entweder die Welt überwiegend negativ sein (was hier als Hypothese bezweifelt wird) oder, naheliegender: Der Journalismus erfüllt sein Ideal nicht, sondern verzerrt die Wahrnehmung in negativer Weise, und zwar mit – wie noch zu zeigen sein wird – erheblichen negativen Folgen.
Dass der Negativitätsbias im Journalismus existiert, wird selten reflektiert und noch seltener bewusst von Journalisten zugegeben. Eine der wenigen bemerkenswerten Aussagen hierzu stammte jüngst von Tony Gallagher in einer Radiodokumentation:
„Crime is going down, but you wouldn’t know that from looking at national media because we still cover the same number of crimes, the same number of murderous trials, so there is a danger that we are not reflecting the world.“1
Ist der Journalismus also so neutral, wie er von sich behauptet? Offensichtlich nicht. Und: Wenn ein negativer Journalismus hingenommen wird, warum denken wir nicht über seinen Konterpart, einen positiven Journalismus, nach?
Ähnlich wie die Positive Psychologie2 an der herkömmlichen Psychologie kritisierte, sie sehe statt durch eine konstruktive durch eine defizitäre Brille, indem sie sich überwiegend mit psychischen Störungen, nicht aber mit den Bedingungen des angestrebten Normalzustands, psychischer Gesundheit, auseinandersetzt, herrscht auch im herkömmlichen Journalismus derzeit noch die Vorstellung vor, gesellschaftliche Missstände dadurch zu bekämpfen, dass man sie medial im doppelten Wortsinne „behandelt“.
Ein bewusst positiver Journalismus, ein Journalismus, der von der positiven Psychologie inspiriert ist und insofern ausdrücklich auf das Positive fokussiert, wäre ein vollkommen anderer Ansatz, der zu einer völlig neuen Wahrnehmung der Medien führen und womöglich zu einer Lösung der vom kostenfreien Internet indizierten Medienkrise würde. In den englischsprachigen Medien finden sich bereits Beispiele, etwa die Good-News-Section von ABC news,3 der Huffington Post4 und zahlreicher weiterer Medien. Zeitungen, die sich ausschließlich auf positiven Journalismus verlegen, sind selten. Ein Beispiel sind die Positive News5, die auch als Printausgabe erscheinen.
Das vorliegende Buch setzt sich mit dieser Alternative des positiven Journalismus analytisch auseinander. Es möchte eine theoretische und berufspraktische Diskussion über positiven Journalismus in deutschsprachigen Medien anregen.
In der Literatur findet sich der Begriff des positiven Journalismus kaum. In einer der raren Quellen wird er als „seltene Spezies des Journalismus, die sich die Verbreitung von Erfolgsmeldungen zur Hauptaufgabe gesetzt hat“6, definiert.
Eine Abgrenzung zu anderen journalistischen Genres ist aufgrund von Überschneidungen nicht trennscharf möglich.
So fokussiert etwa auch der Friedensjournalismus7 (Peace Journalism) auf positive Aspekte und hat pazifistische, deeskalierende Ziele, ist aber thematisch entsprechend limitiert.
Der im deutschsprachigen Raum weniger bekannte lösungsorientierte Journalismus (Solutions Journalism) greift gesellschaftliche Probleme auf, bleibt aber nicht bei einer Problembeschreibung stehen, sondern sucht nach Lösungsmöglichkeiten, die er zugleich propagiert.
Weniger proaktiv ist der ebenfalls hierzulande eher unbekannte präventive Journalismus (Preventive Journalism). Auch dieser nimmt eine problemfokussierte Sichtweise ein, liefert jedoch keine eigenen Lösungsvorschläge und ist insofern weniger subjektiv und präskriptiv. Er thematisiert aufkommende bzw. mögliche Probleme im Sinne eines Frühwarnsystems in einer frühen Phase öffentlich, sodass diese möglichst gar nicht erst entstehen.
Neben diesen Big-Picture-Perspektiven, die gesellschaftliche Probleme positiv bearbeiten, kann im Nutzwert-, Ratgeber-, Service- oder Verbraucherjournalismus8 (Service Journalism) auch eine journalistische Herangehensweise als tendenziell positiv bezeichnet werden, die stärker auf das Individuum, also den Rezipienten, und dessen lebenspraktische Probleme eingeht. Hier wird der Leser, Hörer und Zuschauer eher als Kunde betrachtet, dessen Bedürfnisse aufgegriffen und dem entsprechende nutzenstiftende Tipps geliefert werden.
All diese journalistischen Genres haben positive Aspekte und können insofern als Teilmenge betrachtet werden. Sie sind mit dem positiven Journalismus im hier verstandenen Sinne jedoch nicht identisch.
Als erste Annäherung an eine Begriffsbestimmung wird hier folgende Grundannahme vorgeschlagen: Positiver Journalismus ist ein journalistisches Genre, das beim Rezipienten positive kognitive, affektive und motivationale Wirkungen hervorzurufen beabsichtigt. Damit stellt positiver Journalismus einen normativen – gegebenenfalls sogar pädagogischen9 – Ansatz dar.
Diese Sichtweise betrachtet es als sinnvoller, positiven Journalismus nicht von der Art der Berichterstattung, sondern von den beabsichtigten Wirkungen her zu definieren. Es handelt sich also um eine Definition, die am Output, nicht beim Input ansetzt. Denn ein positiver Journalismus, der ausschließlich positive Ereignisse und Situationen thematisiert, würde unweigerlich zu einer einseitigen Verkürzung und Verzerrung der Weltwahrnehmung führen.
Positiver Journalismus im hier verstandenen Sinne muss aber nicht auf positive Themen bzw. Inhalte (Siege, Erfolge, Einigungen, Lösungen etc.) limitiert sein. Genauso entscheidend ist die Form, insbesondere die Sprache. Negative Tatsachen können insofern auch Gegenstand positiver Berichterstattung sein, wenn diese positiv – etwa lösungsorientiert – formuliert werden oder einen positiven Ausblick erhalten. Die Gefahr der Schönfärberei ist dabei natürlich zu berücksichtigen.
Ausgehend von der hier vertretenen wirkungsorientierten Begriffsauffassung ergeben sich drei Erkenntnisfelder, die wir in den folgenden Zeilen explorativ und in den Beiträgen dieses Buchs selektiv bearbeiten möchten:
Ursachen
: Weshalb sind die Medien tendenziell negativ?
Wirkungen
: Welche kognitiven, affektiven und motivationalen Wirkungen hat negative Berichterstattung?
Bewertung
: Ist negativer Journalismus ausschließlich schlecht und positiver Journalismus immer gut? Welche Kritik ist am positiven Journalismus zu üben?
Weshalb ist die Berichterstattung überwiegend negativ? „Bad News“ sind „Good news“ – heißt es. Negative Schlagzeilen scheinen die Aufmerksamkeit stärker auf sich zu ziehen und sind insofern tatsächlich verkaufsfördernder. Die Medien liefern also einfach das, wonach offensichtlich die größte Nachfrage besteht.
In der Psychologie geht man von einem allgemeingültigen Negativitätsbias bzw. einer starken Negativitätsdominanz aus.10 Demnach reagieren wir als Menschen sowohl affektiv als auch kognitiv häufig stärker auf negative Stimuli als auf positive. So ist etwa die Verlustaversion der meisten Individuen ausgeprägter als der Drang zur Nutzenmaximierung.
Geht man von der Tabula-rasa-Annahme eines John Locke aus,11 derzufolge der Mensch erst durch Erfahrungen geformt wird, müsste es sich bei der Negativitätsdominanz um eine Prägung durch Erziehung und Sozialisation handeln. Neben der kontextgebundenen Prägung sind genetische Dispositionen für die Negativitätstendenz nach heutigen Erkenntnissen jedoch zum Teil mitverantwortlich.12
Neben genetischen Faktoren und der frühkindlichen Prägung durch Elternhaus und Schule haben die Medien über negativen Journalismus also einen vermutlich vergleichsweise geringen Anteil an der Ursache für den Negativitätsbias. Die Medien sollten sich ihrer Verantwortung dennoch bewusst sein.
Welche kognitiven und affektiven Wirkungen hat negative Berichterstattung auf die Rezipienten? Hierfür halten die allgemeine und die Medienpsychologie sowie insbesondere auch die Medienwirkungsforschung diverse Anhaltspunkte bereit.
Bekannt ist etwa der Agenda-Setting-Effekt, demzufolge die Häufigkeit von Themen positiv mit ihrer kognitiven Präsenz in der Publikumsagenda korreliert.13 Mit anderen Worten denken die Menschen naturgemäß stärker über die Themen nach, mit denen sie medial konfrontiert werden. Sind die Inhalte überwiegend negativ, dominieren auch die negativen Gedanken.
Im Rahmen des Second-Level-Agenda-Setting kommt es zu Framing- und Priming-Effekten. Mittels Framing wird der Rahmen abgesteckt, was zum Thema gehört und was nicht. Es werden auf diese Weise eine Problemdefinition, Erklärungsmuster und moralische Bewertungen geliefert, die der Rezipient je nach eigener Reflexionsfähigkeit mehr oder minder übernimmt. So können Journalisten bewusst oder unbewusst einen positiven oder negativen Rahmen für einen Berichterstattungsgegenstand liefern. Die mediale Wahrnehmung und die anschließende öffentliche Diskussion finden überwiegend nur noch in dem einmal gesetzten Rahmen statt. Ist dieser negativ gesetzt, ist eine positive Berichterstattung praktisch ausgeschlossen.
Die negativen und positiven kognitiven und motivationalen Wirkungen lassen sich durch Loss- and Gain-Frames erklären. Loss-Frames sind Rahmensetzungen, in denen Verluste betont werden, die einem Furchtappell entsprechen. Veranschaulichen kann man sich dies etwa am Beispiel der Berichterstattung über die als moralisch und ökologisch als richtig empfundene Stromerzeugung. Im Loss-Frame wird auf die Gefahren des Atomstroms hingewiesen – besonders eindrucksvoll war dies naturgemäß nach den Vorkommnissen von Fukushima der Fall. Um die Bevölkerung dazu zu bewegen, die Stromwende durch Wählerstimmen politisch zu unterstützen oder beim eigenen Strombezug auf Solaranlagen oder Ökostrom umzusteigen, haben Loss-Frames eine begrenzte Wirksamkeit. Empirischen Erkenntnissen zufolge – insbesondere im Zusammenhang mit einem gesunden Lebensstil – entfalten positive Rahmensetzungen, also Gain-Frames, eine stärkere motivationale Wirkung.14 Um im gleichen Beispiel zu bleiben: Hier würden nicht die Gefahren und Belastungen der herkömmlichen Stromerzeugung thematisiert, sondern die positiven Aspekte der nachhaltigen Stromproduktion – idealerweise verbunden mit persönlichen Wert- oder Nutzenvorstellungen.
Beim Priming ist die Häufigkeit, mit der Themen in den Medien auftauchen, mit kognitiven (wie beim Agenda-Setting) und affektiven Wirkungen im Sinne von Einstellungsänderungen positiv korreliert.15 Themen, die in den Medien dominant behandelt werden, ziehen also nicht nur verstärkt in das Denken der Menschen ein, sondern beeinflussen auch deren Einstellungen. Grundsätzlich kann von negativen affektiven Wirkungen durch negative Themen oder negative Sprache ausgegangen werden. Leser, Hörer und Zuschauer neigen also zu einer negativeren Einstellung, nachdem sie sich mit negativer Berichterstattung auseinandergesetzt haben. Die negative Einstellung ist nicht auf den Berichterstattungsgegenstand beschränkt, sondern manifestiert sich als negative Grundeinstellung und überträgt sich auf andere Gegenstände, mit denen sich das Individuum im Anschluss aus einandersetzt.
In diesem Zusammenhang ist die empirische Studie der dänischen Journalistin Cathrine Gyldenstad ausgesprochen aufschlussreich.16 Gyldenstadt legte Rezipienten journalistische Texte vor, die sich mit negativen Ereignissen auseinandersetzten. Für die Kontrollgruppe wurden die Texte in der ursprünglichen Sprache belassen, wogegen die Beiträge für die Untersuchungsgruppe nach den Erkenntnissen der positiven Psychologie umgetextet wurden. Die Leser aus der Untersuchungsgruppe zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich positivere affektive Wirkungen.
War der Eigenanteil der Medien an der Verursachung des Negativitätsbias im Sinne eines Teufelskreises vergleichsweise gering, muss bei den Wirkungen negativer Berichterstattung eine weitaus größere Verantwortung von Journalisten und Medien festgestellt werden.
Wie sind negative und positive Berichterstattung vor dem Hintergrund der journalistischen Ethik und der gesellschaftlichen Verantwortung des Journalismus zu beurteilen? Ist negativer Journalismus ausschließlich schlecht und positiver Journalismus immer gut? Welche Kritik ist am positiven Journalismus zu üben?
Selektiert der positive Journalismus im Rahmen seiner Gatekeeper-Funk-tion ausschließlich positive Themen und Inhalte, so werden – wie oben schon angesprochen – große Teile der gesellschaftlichen Realität ausgeblendet. Es käme so zu einer Verkürzung der Realitätswahrnehmung. Dies kann weder Sinn noch Zweck eines positiven Journalismus sein.
Werden negative Themen positiv dargestellt, kann es zu einer Wirklichkeitsverzerrung kommen. Diese wäre ebenfalls nicht wünschenswert. Wie ebenfalls bereits angesprochen, kann es jedoch schon als erheblicher Fortschritt betrachtet werden, wenn die Berichterstattung nicht bei der Problembeschreibung stehen bleibt, sondern Lösungsmöglichkeiten aufzeigt. Diese muss der Journalist nicht zwingend selbst entwickeln; er kann auch Experten zu Wort kommen lassen. Insbesondere ist es aus ethischen Erwägungen heraus vorzuziehen, mehrere Lösungsalternativen aufzuzeigen.
Die Ausführungen zum Framing haben gezeigt, dass Journalisten zu Beginn der Berichterstattung über einen spezifischen Gegenstand bewusst oder unbewusst Rahmensetzungen vornehmen, welche die weitere Wahrnehmung und Diskussion kanalisieren. Insbesondere bei Berichterstattungsgegenständen, bei denen es keinen eindeutigen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, ob dieser grundsätzlich als eher positiv oder eher negativ beurteilt wird, verlangt das Gebot der journalistischen Neutralität, den Sachverhalt ungefärbt darzustellen. Berücksichtigt man die oben dargestellten immensen kognitiven, affektiven und motivationalen Wirkungen einer Berichterstattung, erscheint bei indifferenten Themen die Wahl einer positiven Sprache legitim.
Aufgrund des bislang kaum berührten Forschungsstandes ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem positiven Journalismus – wie ausgeführt – noch als explorativ einzustufen. Die Beiträge in diesem Band gehen selektiven Forschungsfragen nach, die eine oder alle vier der oben genannten Fragen anhand eines spezifischen Berichterstattungsgegenstandes aufgreifen.
Thomas Christian Bächle greift die Berichterstattung über das Thema HIV/ AIDS auf. Ursprünglich eine todbringende Krankheit, die vor allem mit zwielichtigen Gestalten assoziiert wurde, hat der medizinische Fortschritt ihr den Schrecken genommen und eine subtilere, positivere Berichterstattung – beispielsweise über unschuldig Infizierte, die trotzdem ein „normales Leben“ führen können – ermöglicht. Diese Darstellungen sind jedoch oft nur vermeintlich positiv, denn zum einen besteht die Gefahr der Marginalisierung des Krankheitsbildes und zum anderen werden die Infizierten in der Wahrnehmung nicht wirklich die Normalen, sondern bleiben die Andersartigen und Ausgegrenzten.
Oliver Bidlo befasst sich in seinem Beitrag mit den Hürden, die einer positiven Berichterstattung im Wege stehen. Er entwickelt hierbei drei Argumentationsstränge. Der erste stellt die Dialektik des Negativen dar. Der zweite berücksichtigt die korrigierende und desintegrative Funktion von negativem Journalismus. Schließlich steht das Fortschrittsdenken, das auf der Kritik des Gegebenen basiert, einem positiven Journalismus entgegen.
Daniel Gehrmann greift den bereits angesprochenen Friedensjournalismus, der als thematisch fokussierte Ausformung des positiven Journalismus betrachtet werden kann, auf. Dieses journalistische Genre untersucht der Autor sehr grundständig und detailliert. Dabei deckt er nicht nur kritikwürdige Annahmen auf (etwa, dass Gewalt immer auf bestehenden Konflikten beruhe), sondern zeigt auch auf, dass die mit Friedensjournalismus verbundenen Zielsetzungen nicht zwingend erfolgreich sein müssen und sogar das Gegenteil vom Beabsichtigten bewirken können.
Kai Hafez und Anne Grüne widmen sich der Auslandsberichterstattung und stellen fest, dass über ferne Länder überwiegend ein krisenhaftes Bild gezeichnet wird. Obwohl die „Nahwelt“, hier die westliche Welt, auch negativ wahrgenommen wird, gilt sie doch als stabil bis harmonisch. Viele Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas dagegen befinden sich offenbar stets im Ungleichgewicht, sei es naturbedingt (Naturkatastrophen) oder gewaltbezogen (Kriege und Konflikte). Die Autoren eruieren Ursachen und Wirkungen dieser Berichterstattung.
Den Gefahren einer positiven Kriminal- und Gerichtsberichterstattung geht Bernhard Kramer nach. Zorro, Robin Hood, Arsène Lupin oder der Hauptmann von Köpenick – bei all diesen literarischen Figuren handelt es sich juristisch gesehen um Verbrecher, denen jedoch vonseiten der Leserschaft Sympathie und Hochachtung entgegengebracht werden – sei es, weil den Armen geholfen wird, die Diebe herausragend clever oder bemitleidenswert waren. Diese Archetypen bilden häufig die Blaupause für die mitunter positive journalistische Bericherstattung tatsächlicher Straftäter. Der Archetyp des Alfred Dreyfus wird bemüht, wenn ein nach journalistischer Einschätzung zu Unrecht verurteilter Mensch juristisch rehabilitiert werden soll. All diese positiven Wertungen sind gefährlich. Verbrechen bleibt Verbrechen, unabhängig von Symapthie und ehrenwertem Motiv.
Evelyn Runge befasst sich mit den positiven Wirkungen von in der Berichterstattung eingesetzter Stockfotografie. Dass das Bildmaterial zu einem journalistischen Text nicht nur spezifisch und „on demand“ im Rahmen von Dokumentarfotografie erstellt wird, sondern Redaktionen mehr und mehr auf Stockfotos zurückgreifen, also auf Bilder, die ohne konkreten Anlass auf Vorrat produziert und in Bilddatenbanken zum Verkauf angeboten werden, ist ein ungebremster Trend. Sie sind zeit- und ortlos, prinzipiell eben unkonkret, aber oft von ausgeprägter Kunstfertigkeit und Aussagekraft. Positive Texte benötigen eine solche positive Bilderwelt.
Katharine Sarikakis und Lisa Winter greifen die aktuelle Eurokrise und insbesondere die Rolle Griechenlands hierbei auf, um anhand einer empirischen Untersuchung aufzuzeigen, dass negative Berichterstattung weitaus mehr als nur „Bad News“ ist. Insbesondere zeigen die beiden Autorinnen, dass der vermeintlich negative Journalismus sich zur Aufgabe macht, komplexe Zusammenhänge zu erklären. Ähnlich wie beim Friedensjournalismus ergeben sich erst dann Probleme, wenn – wie generisch im Sportjournalismus – eine Wir-gegen-sie-Dramaturgie ins Spiel kommt, also weniger auf die Situation denn auf einzelne Personen oder Personifizierungen fokussiert wird.
Weder einem bestimmten Berichterstattungsgegenstand noch einer konkreten Darstellungsform widmet sich Christian Sauer. Sein Beitrag ist vielmehr der Bewertungsfrage zuzuordnen, inwiefern positiver Journalismus tatsächlich positiv ist. Aus einer berufsethischen Perspektive heraus diskutiert er, welcher Handlungsspielraum für Journalisten überhaupt für eine positive Berichterstattung besteht. Seine Reflexion unternimmt der Autor an einigen Beispielzeitschriften wie der „Landlust“. Auch der positive Journalismus kommt um das Negative nicht ganz herum, so Sauer.
Irmgard Wetzstein wendet sich (wie Hafez und Grüne) ebenfalls der Auslandsberichterstattung zu. Ihr geht es um eine konstruktive Konfliktbearbeitung und ihr Fokus liegt auf dem Qualitätsjournalismus. Während der Friedensjournalismus normativ fragt, wie Journalismus funktionieren soll, geht die Autorin der Frage nach, was er leisten kann. Sie greift dabei einen außerjournalistischen Bereich, die Mediationsforschung und -praxis, als alternativen Zugang auf und vergleicht beide Systeme. Anhand einer empirischen Studie zeigt sie die Möglichkeiten einer konstruktiven Konfliktbearbeitung durch Qualitätsjournalismus auf.
Baumeister, R.F.; Bratslavsky, E.; Finkenauer, C.; Vohs, K.D. (2001): Bad Is Stronger Than Good, in: Review of General Psychology, 5. Jg., S. 323-370.
Beckett, C. (2015): Beyoncé, cute kittens or relentless tragedy? Is good news really news at all?, in: The Guardian, 01.02.2015, http://www.theguardian.com/ media/2015 /feb/01/beyone-cute-kitten-tragedy-news [12.03.2015].
Brandstetter, B. (2014): Verbraucherjournalismus, Konstanz.
Eickelkamp, A. (2011): Der Nutzwertjournalismus. Herkunft, Funktionalität und Praxis eines Journalismustyps, Köln.
Fasel, C. (2004): Nutzwerkjournalismus, Konstanz.
Fazio, R.; Olson, M. (2003): Implicit measures in social cognition research. Their meaning and use, in: Annual Review of Psychology, 54. Jg., S. 297-327.
Gröschl, J. (2013): Praxishandbuch Ratgeber-/Nutzwertjournalismus, Aachen.
Gyldensted, C. (2011): Innovating News Journalism Through Positive Psychology. University of Pennsiylvania Scholarly Commons, http://repository.upenn.edu/mapp_capstone/20/ [09.04.2014].
Iyengar, S.; Kinder, D.R. (1987): News that matter: Television and American opinion. American politics and political economy, Chicago.
Jones, L.W.; Sinclair, R.C.; Courneya, K.S. (2003): The Effects of Source Credibility and Message Framing on Exercise Intentions, Behavior and Attitudes: An Integration of the Elaboration Likelihood Model and Prospect Theory, in: Journal of Applied Social Psychology, 33. Jg., S. 179-196.
Kempf, W. (2004). Friedensjournalismus, in: Sommer, G.; Fuchs, A. (Hrsg.): Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie, Weinberg, S. 439-451.
Locke, J. (1690/2000): Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg.
McCombs, M.; Shaw, D. (1972): The agenda-setting function of mass media, in: Public Opinion Quarterly, 36. Jg., Nr. 176-187.
McGuffin, P.; Katz, R.; Watkins, S.; Rutherford, J. (1996): A Hospital-Based Twin Register of the Heritability of DSM-IV Unipolar Depression, in: Archives of General Psychiatry, 53. Jg., S. 129-136.
Rothman, A.J.; Salovey, P.; Antone, C.; Keough, K.; Martin, C.D. (1993): The Influence of Message Framing on Intentions to Perform Health Behaviors, in: Journal of Experimental Social Psychology, 29. Jg., S. 408-433.
Rozin, P.; Royzman, E. (2001): Negativity bias, negativity dominance, and contagion, in: Personality and Social Psychology Review, 5. Jg., 296-320. Siegert, R. (1997): Positiver Journalismus. Aufklärerische Öffentlichkeit im
Zusammenspiel des Publizisten Rudolph Zacharias Becker mit seinen Korrespondenten, in: Jäger, H..-W. (Hrsg.): Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen, S. 165-185.
1 Gallagher, zit. n. Beckett (2015).
2 Der Begründer dieser psychologischen Subdisziplin oder Schule ist Martin Seligman. Weitere wichtige Vertreter der Happyness-Forschung sind Ed Diener und Soja Lyubormisky.
3http://abcnews.go.com/US/Good_News
4http://www.huffingtonpost.com/good-news. Kritisch hierzu Sauer in diesem Band.
5http://positivenews.org.uk
6 Siegert (1997), S. 165.
7 Vgl. Kempf (2004) u. a.
8 Vgl. Brandstetter (2014), Eickelkamp (2011), Fasel (2004), Gröschl (2013) u. a.
9 Dies ist insbesondere dann zu bejahen, wenn die Medien neben Familie und Bildungsbzw. Erziehungseinrichtungen als weitere Sozialisationsinstanz betrachtet werden.
10 Vgl. Rozin und Royzman (2001); Baumeister et al. (2001).
11 Vgl. Locke (1690).
12 Vgl. McGuffin et al. (1996).
13 Vgl. McCombs und Shaw (1972).
14 Vgl. Jones et al. (2003); Rothman et al. (1993).
15 Vgl. Iyengar und Kinder (1987); Fazio und Olson (2003).
16 Vgl. Gyldensted (2011).
„Tourist, HIV-positiv, pädophil“1
Bedeutende medizinisch-therapeutische Entwicklungen haben insbesondere im vergangenen Jahrzehnt dazu beigetragen, die öffentliche Wahrnehmung der Infektionskrankheit HIV im Vergleich zur frühen Hysterie in den 1980er-und 1990er-Jahren stark abzumildern. Sie gilt nicht länger als todbringende Strafe, sondern als eine beherrschbare chronische Erkrankung. Die mediale Berichterstattung ist zwar in der Regel fern von einer überbordenden Dramatisierung. Dennoch lassen sich noch immer die gleichen kulturellen Motive beobachten, die allenfalls in subtilerer Form in Erscheinung treten. HIV ist noch immer die „Krankheit der anderen“ und wird erzählt in den Motiven Tod, Devianz, Kriminalität, soziale oder sexuelle Abnormalität. „HIV-positiv“ ist insofern eine besondere kulturelle Identität, als ein Ausschluss medizinisch und epidemiologisch vermeintlich geboten scheint: eine Identität, vor der die Bevölkerung in legitimem Gestus gewarnt werden muss.
Die mittlerweile tradierten Mechanismen des Ausschlusses sind noch heute prävalent. Sie werden, so die zentrale These dieses Beitrags, in der journalistischen Berichterstattung genutzt, um an ein vorhandenes kollektiv geteiltes Wissen anzuschließen – auch und gerade in (vermeintlich) positiver Berichterstattung eines Advocacy Journalism, also bezeichnenderweise in denjenigen Perspektiven, die in gewollt positiver Weise über das „Schicksal“ der oft „unschuldig“ Infizierten berichten, die ein „ganz normales Leben“ führen. Hierin zeigen sich die grundsätzlichen Schwierigkeiten positiver Berichterstattung, die auf dieselben Motive angewiesen ist wie ihre negative Folie, um die Erkrankung erzählen zu können. „HIV-positiv“ kann als besondere kulturelle Identität gelten, an der nicht nur das Phänomen negativer Berichterstattung, sondern gleichzeitig die Gefahren (zu) positiver Berichterstattung deutlich werden.
Im Folgenden werden zunächst anhand der vorherrschenden Narrationsmuster von HIV/ AIDS die wichtigen kulturellen und sozialen Funktionen adressiert, welche die negative Berichterstattung über Minderheiten-Identitäten erfüllt. Die kollektiv „gewussten“ Narrative begünstigen eine tendenziell negative Berichterstattung, erfordern diese auf der Seite der Produzenten gar, um an das kulturelle Wissen eines breiten Publikums anschlussfähig zu sein. Danach wird aufgezeigt, dass die semantischen Strategien sowohl „negativer“ als auch (vermeintlich) „positiver“ Berichterstattung bestehende Erzählmuster der Andersartigkeit markierter Subjekte reartikulieren. In der Geste ihrer Legitimation werden prinzipielle Schwierigkeiten vermeintlich positiver Repräsentationen („positiver Sprache“) offenbar. Dies führt schließlich in ein medienethisches Dilemma, das sich kulturwissenschaftlich zwar als sprachliches Paradoxon erklären, jedoch nicht lösen lässt: In seiner bemühten Legitimation wird das markierte Andere als „normal“ übercodiert. Positiver Journalismus ist ein markierender Sprechakt und wirkt in der Konsequenz damit tendenziell auch stets sozial ausschließend und nicht inkludierend.
Negative Erzählmuster über die Krankheit HIV, die sich auch in der journalistischen Berichterstattung fortsetzen, scheinen auf den ersten Blick durch soziale, medizinische und politische Notwendigkeiten begründbar: Nur das Wissen über die noch immer unheilbare Krankheit und um das individuelle Risiko, das von ihr ausgeht, kann helfen, sie einzudämmen.
Doch die Bedeutung negativer Erzählmuster geht weit darüber hinaus, denn diese haben auch stets die wichtige soziale und kulturelle Funktion, uns unserer eigenen Normalität zu versichern und ein Anderes zu markieren. Grundsätzlich bietet negative Berichterstattung insbesondere über als „Minderheiten“ codierte Identitäten eine unverzichtbare Folie bei der kulturellen Konstruktion eines gesellschaftlich begründeten „normalen“ Konsenswissens über andere.2 Bei HIV wird Abnormalität in einem legitimen Gestus artikuliert, was die Mechanismen negativer und positiver Berichterstattung über kulturelle Identitäten besonders anschaulich macht.
Kulturelle Identitäten lassen sich als dynamische Konstrukte auffassen, die zwar veränderbar, jedoch keinesfalls beliebig sind, da sie diskursiv in einem wechselseitigen Prozess von Selbstidentifikation und Fremdattribution stabilisiert werden.3 Symbolische Identitätsmuster werden kollektiv geteilt und stellen auf diese Weise einen Fundus kulturell sinnvoller („intelligibler“4) Schemata bereit, um sich selbst und andere bedeutungsvoll zu erfahren.
Eine besondere Bedeutung bei der fortwährenden Stabilisierung eines angenommenen Identitätskonzepts kommt der Exklusion zu: Sprachphilosophisch betrachtet erfährt ein Konzept wie „normal“ oder „natürlich“ erst durch die ausschließende Markierung eines anderen seine Bedeutung. Identitätskategorien sind deshalb keinesfalls „natürlich“, sondern kulturell konstruiert und kontextabhängig in den gewählten oppositionellen Ausschlüssen.5 Beispielsweise benötigt eine vermeintliche ethnische Reinheit immer eine Bezeichnung dessen, was als verunreinigt zu gelten habe. Stabile nationale Identitäten werden erst in Opposition zu anderen Ländern und deren „exotischen“ Werten, Gewohnheiten oder Traditionen sichtbar.6
Mediale Texte generieren symbolische Ordnungen, knüpfen an bestehende Identitätsmuster an und machen diese wiederum großen Publika zugänglich. So sorgen sie nicht nur für eine Verbreitung von Identitätswissen, mit dem sogenannte Minderheiten erklärt werden (z. B. Ausländer, Homosexuelle, Muslime), sondern multiplizieren bestimmte sinnvolle Muster der „Andersartigkeit“ oder „alternativer Lebensentwürfe“. Dieses Wissen wird durch Medien einerseits mitkonstruiert, andererseits wird die soziale Notwendigkeit des Ausschlusses als „professioneller Code“7 in mediale und auch journalistische Texte wieder aufgenommen, um kulturell anschlussfähig zu sein: Produktion und Rezeption orientieren sich am Alltagswissen, das durch den Ausschluss des Abnormalen stabiliert wird.8
Einschließende und ausgrenzende Medienrepräsentationen helfen dabei, kohärente Entwürfe eines Selbst oder einer übergeordneten Einheit wie der „Nation“ als bedeutungsstiftende Identität9 zu stabilisieren. Diese erhalten den sozialen Zusammenhalt einer „Wertegemeinschaft“ aufrecht, indem ihre bedrohlichen Antagonisten ausgeschlossen werden: Der „Terrorist“, das „Sex-Monster“ oder der „Kinderschänder“ haben als narrative Schemata die Funktion, uns im Lichte devianter Andersartigkeit, Kriminalität und Perversion unserer eigenen, behaglichen Normalität und Unschuld zu versichern.10 Medientexte liefern das Vokabular, die Repräsentationen, Kategorien und Modi, uns einen Selbstentwurf zu geben – ein „Sein“ anzunehmen –, der anderen verständlich lesbar und mit diesen glaubwürdig teilbar ist. Sie erschaffen dabei gleichzeitig eine diskursive Homogenität beim kollektiven Sprechen über und Wissen um die eigene und andere Identitäten.11
Krankheiten, als stets kulturell spezifische Produkte von Repräsentationen des Pathologischen, kommt bei der Stabilisierung des Normalen eine besondere Bedeutung zu.12 Jede Gesellschaft produziert Krankheit als kulturelle Identität – eine Form von Stigma, die es der überwältigenden „gesunden“ Mehrheit erlaubt, sich ihrer Normalität zu vergewissern.13 Während etwa Krebs ein unverschuldetes, schleichendes Siechtum bedeutet, ausgelöst durch einen feindlichen Tumor im eigenen Körper, gegen den zu kämpfen das Ziel der Erkrankten ist, berührt HIV viel stärker das Bild vom eigenen Selbst: Man hat Krebs – man ist HIV-positiv.
Krankheit unterscheidet sich auch von anderen kulturellen Identitäten wie etwa Geschlecht oder Ethnizität, indem sie plötzlich mit der Diagnose entsteht. Die Zuschreibung „HIV-positiv“ ist total und damit einer der am stärksten regulierten Identitätsmarker überhaupt.14 Für HIV-positive Identitäten sind ausschließlich markierte und als – meist pathologische – „Andersartigkeit“ codierte Repräsentationen im kollektiv geteilten Wissen vorhanden. Deswegen sind nicht nur die Fremdzuschreibungen, sondern auch die Muster der Selbstidentifikation stark von einer Selbstwahrnehmung als Gefahr und Risiko für sich selbst und andere geprägt.
Frühe mediale Repräsentationen zu Zeiten der AIDS-Panik in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren fokussieren vor allem auf als monströs dargestellt schwule Identitäten und – allgemeiner – auf andere soziale Gruppen, die für gewöhnlich ausgeschlossen wurden, etwa Schwarze, Lesben oder Latinos.15 In der „AIDS-Rhetorik“16 wird die Krankheit zum Symptom einer kulturellen Andersartigkeit ex ante, zur scheinbaren Folge einer sozialen Abnormalität. Als stark ausgeprägt erweist sich die Verbindung zwischen AIDS und Sex, Schönheit, Verführung, einem ungeahnten und unsichtbaren Risiko, das mit dem Tod endet.17 Für die damals völlig unbekannte Krankheit existieren zunächst weder medizinische Erklärungen noch Repräsentationen. Sie ist symbolische Leerstelle, die nicht zuletzt wegen des immensen öffentlichen Drucks auf politische Akteure und Mediziner bereitwillig und zugleich voreilig mit Bildern der Andersartigkeit gefüllt wurde. Als Konsequenz prägten diese ersten Jahre nachhaltig die sozial hergestellten Annahmen darüber, wer aus welchen Gründen erkrankt.
Diese vor nunmehr 30 Jahren historisch gewachsenen Repräsentationsmuster bestimmen noch immer die heutige Wahrnehmung. Ähnlich wie damals, als AIDS in den Farben einer bösartigen Schwulenseuche gezeichnet wurde, tritt HIV/ AIDS noch immer eher als Signifikant – ein Symbol sozialer Andersartigkeit – in Erscheinung denn als medizinische Diagnose. Bereits 1989 weist Susan Sontag darauf hin, dass HIV nicht als ein Leiden betrachtet wird, das sich seine Opfer zufällig sucht.18 Vielmehr werden die Erkrankten als bestimmten „Risikogruppen“ zugehörig entlarvt, wie etwa homosexuelle Männer, Drogenabhängige, Prostituierte, Gefängnisinsassen, bestimmte ethnische Gruppen (heute im globalen Maßstab fortgeschrieben als „Black Aids“, „Dritte-Welt“-Aids) oder Migranten. HIV ist nur ein zusätzliches Denotat für die Gruppen, die ohnehin bereits vornehmlich durch ihre Andersartigkeit markiert werden.19 Das Etikett „Risikogruppe“ ist in sich ambivalent, da nicht deutlich wird, ob die bezeichnete Gruppe nun „gefährdet ist“ oder vielmehr eine „Gefahr für andere darstellt“.20 HIV ist nicht nur Folge „unsicheren“ Handelns: Es ist die Konsequenz sexueller Zügellosigkeit, Promiskuität, Delinquenz, des Missbrauchs illegaler Substanzen oder abnormaler Sexualpraktiken21 und scheint besonders auf markierten Identitäten zu gedeihen. Frühe Repräsentationen von AIDS sehen sie als (gerechte) Strafe für unmoralisches und unnatürliches Verhalten: Die Erkrankung ist die „eigene Schuld“. Der infektiöse private Körper wird zum Ziel einer öffentlichen Wahrnehmung mit dem selbsterklärten Ziel der Risikominimierung.22
Trotz effektiver Therapieformen, die HIV-Positiven eine annähernd durchschnittliche Lebenserwartung verspricht und eine Infektion anderer nahezu ausschließt, deuten alle Repräsentationsmuster der HIV-positiven Identität noch immer auf eine Abnormalität: schuldig riskanter oder perverser Sexualpraktiken, einer bestimmten sexuellen Identität; verantwortungsloses Verhalten gegenüber sich selbst und anderen als Zeichen für deutliche Schwächen in der Persönlichkeit oder charakterlicher Integrität; Zügellosigkeit und Enthemmtheit; monströse, gefährliche, kriminelle, unmoralische und pathologische Identitäten, die als Büßer die Krankheit als Strafe zu tragen haben und deren Persönlichkeit, Charakter und Körper (-flüssigkeiten) für Freunde, Familie, Partner und Kollegen ein erhebliches Risiko darstellen. Von HIV-Positiven geht eine Gefahr aus, denn der in sie bereits eingeschriebene Tod kann sich hinter der Maske einer verführerischen Schönheit verbergen.
Im Vergleich zu den skandalisierenden Berichten der 1980er- und 1990er-Jahre ist der Tenor journalistischer Berichterstattung zurückhaltender und subtiler geworden. Gleichwohl gibt es aus jüngster Vergangenheit viele Beispiele dafür, dass sich die grundlegenden Narrationsmuster nicht wesentlich verändert haben. Die Bandbreite reicht hier von einer uninformierten Gleichsetzung von „HIV-positiv“ mit „aidskrank“ bis hin zur personenbezogenen Skandalisierung des Themas. Dem gegenüber stehen Beispiele positiver Berichterstattung, die HIV/ AIDS – wenngleich wohlwollend – als zu tolerierende Andersartigkeit übercodieren und damit generell eines der grundlegenden Probleme eines „positiven Journalismus“ aufzeigen. Eine Betrachtung beider Ausprägungen ist übertragbar auf die Berichterstattung über andere Minderheiten-Identitäten.
Im April 2009 wird die damals 26-jährige Sängerin Nadja Benaissa, Mitglied der Band No Angels, festgenommen und beschuldigt, dass sie „in den Jahren 2004 und 2006 ungeschützten Geschlechtsverkehr mit 3 Personen hatte, ohne diese zuvor darauf hinzuweisen, dass sie selbst HIV-positiv ist“23. Einer ihrer Ex-Partner erfährt von seiner eigenen Infektion im Jahr 2008 und erstattet Anzeige – immerhin vier Jahre nach der letzten sexuellen Begegnung der beiden. Diese detailreichen Informationen werden von der Staatsanwaltschaft Darmstadt während der laufenden Ermittlungen höchstselbst an die Presse weitergegeben und am nächsten Tag sehr prominent durch die Boulevardpresse publik gemacht – der Startschuss für eine monatelange sensationsheischerische Berichterstattung.
Dieser Fall ist deshalb so eindrucksvoll, da er die kooperativen Mechanismen zwischen staatlichen und journalistischen Akteuren und Institutionen aufzeigt, das Bild einer selbstzerstörerischen, gleichwohl sinnlich exotischen und anziehenden Frau zu zeichnen, die wahllos ahnungslose und damit unschuldige Männer jagt und dazu ihre Verführungskunst einsetzt.24 Die unerhörten rechtlichen Schritte – wie hätte sie noch mehr Männer „in Gefahr bringen“ können, wenn die Staatsanwaltschaft bereits so weise beschlossen hatte, die Presse zu informieren? – in Kombination mit den medialen Repräsentationen (siehe Abb. 1) konstruieren HIV-positive kulturelle Identitäten und Körper als ein Risiko, die gar ein heimtückisches Verderben für das Kollektiv darstellen.
Abb. 1: Links: BILD-Zeitung vom 15. April 2009: „U-Haft, um Männer vor Ansteckung zu schützen.“; Rechts: Hamburger Morgenpost vom 15. April 2009: Ein verführerischer „Todesengel?“.
Kurz nach diesen Schlagzeilen fragt die BILD-Zeitung „Wie viele Männer hat No Angels Star Nadja angesteckt?”, spekuliert über eine bis zu zehnjährige Gefängnisstrafe, drückt Sorge über die betrüblichen Aussichten für ihre Gesundheit aus, veröffentlicht detailreich ihre Vergangenheit, führt Interviews mit Ex-Liebhabern, die von falschen Geschichten über eine Vergangenheit als Prostituierte zu berichten wissen und unterhält bis zum heutigen Tage ein Onlinearchiv25, das ihr gewidmet ist.
Die anleitenden Erzählmuster der Berichterstattung werden in einem im Oktober 2009 von der BILD-Zeitung im Ton moralischer Überlegenheit geführten Interview26 mit Nadja Benaissa deutlich. Das Motiv der verführerischen und promisken exotischen Frau, vor der die Männer geschützt werden müssen, wird um weitere ergänzt, indem der in sie bereits eingeschriebene Tod beschworen („Ist Ihr Körper nicht trotzdem eine tickende Zeitbombe?“), ihre Biografie als eine des Drogenmissbrauchs erzählt („Haben Sie sich vielleicht durch Drogen angesteckt?“) und insistierend die Frage nach der Schuld aufgeworfen wird („So lernt man bitter, dass man auch in einer Nacht der kurzen Leidenschaft Verantwortung tragen muss. Oder?“). Über das Ende des Prozesses wegen schwerer Körperverletzung berichtet die Boulevardzeitung ÖSTERREICH am 27. August 2010 in großen Lettern auf der Titelseite konsequent mit der konzisen Schlagzeile vom „Freispruch für den Aids-Engel“.
Diese Geschichte ist zwischenzeitlich zum medialen Präzedenzfall geworden, wie sich am Beispiel eines am 14. April 2014 geführten Telefoninterviews in der vom Westdeutschen Rundfunk produzierten Sendung „Domian“ erneut zeigt. Ein junger Anrufer berichtet darin von einer vermeintlichen HIV-Infektion durch einen Kölner Prominenten. BILD-Online macht das Gespräch am 14. April 2014 mit der Schlagzeile „HIV-Anruf. Domian! DAS VIDEO“ effektvoll zum Aufmacherthema27 und erklärt den Anrufer am darauffolgenden Tag zum „HIV-Jungen“, der „in Angst lebt“, mit dem die BILD-Zeitung aber dennoch ein Interview veröffentlicht.28
Auch der EXPRESS29 (siehe Abb. 2) zerrt den 19-Jährigen (wenngleich anonymisiert) mit der Schlagzeile „Das bizarre Chat-Protokoll einer Sexaffäre“ in die Öffentlichkeit. Ein Infokasten spekuliert mit ausdrücklichem Verweis auf Nadja Benaissa auf die rechtlichen Konsequenzen („Es drohen bis zu zehn Jahre Haft“), der Tonfall ist inquisitorisch („Alle fragen sich: Wer ist der Mann, der ihn infizierte?“) und die Protokolle der privaten Kommunikation der beiden beteiligten Männer werden in Auszügen abgedruckt: „Die Gespräche sind lang, intensiv und geben Einblicke ins Schwulen-Milieu.“ Hier wird auf das andere große Narrativ der Andersartigkeit zurückgegriffen, HIV als Symptom einer abnormalen Sexualität und devianter sexueller Praktiken: „An einer anderen Stelle im Chat geht es um ein bizarres Sex-Spiel zwischen Daniel und dem Promi … beide trafen sich in einem Kölner Schwulenhotel“. Schwulenmilieu, Schwulenhotel, bizarres Sex-Spiel – die Motivik eines so laut in die Öffentlichkeit getragenen stereotypisierten Alltagswissens über die kulturellen Identitäten der Andersartigkeit unterscheidet sich nur graduell von denen der „Schwulenseuche“ der 1980er-Jahre.
In beiden Beispielen ist die HIV-Infektion noch immer Folge einer sozialen Andersartigkeit und entspricht der diskursiven Homogenität des historisch gewachsenen kollektiven Wissens.
Abb. 2: Links: Express (Bonn) vom 16. April 2014; Rechts, Seite 3: „Daniel beim Treffen mit den Express-Reportern Bastian May und Florian Jocham“ – „Einblicke ins Schwulen-Milieu“; Die Info-Box erinnert nochmals an Nadja Benaissa.
Selbstverständlich sind Berichte über HIV nicht in jedem Fall so dramatisierend. Nicht zuletzt trägt auch eine differenziertere Berichterstattung dazu bei, die Krankheit zu „normalisieren“. Bezeichnend jedoch ist, dass gerne das Narrationsmuster vom „unschuldig“ Infizierten Verwendung findet, der sich etwa durch mit HIV verunreinigte Blutkonserven angesteckt hat oder das „Opfer“ eines untreuen Partners wurde, der die Krankheit in die Ehe getragen hat.
Ein positiver Journalismus – so die These – hat mit der ganz grundsätzlichen Gefahr zu kämpfen, die Markierung einer als deviant geltenden kulturellen Identität dadurch tünchen zu wollen, dass gerade ihre (vermeintliche) Normalität betont wird. Mit anderen Worten: Der positive Journalismus konsolidiert vorherrschende Exklusion durch eine Übercodierung im legitimierenden Gestus.
Was im Folgenden am Beispiel gezeigt wird, lässt sich deshalb in ähnlicher Form auch bei kulturellen Identitäten wie Ethnizität und Nationalität („voll integrierter Ausländer“), Religionszugehörigkeit („gemäßigter Moslem“) oder Sexualität („bekennender Homosexueller“) beobachten. Auch in dieser Art eines Advocacy Journalism werden zunächst die bekannten Narrative der Andersartigkeit sichtbar, etwa im „Portrait eines HIV-Positiven“ unter der Überschrift „Leben mit dem Virus“, das am 17. Mai 2010 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Es berichtet von einem HIV-Positiven („H.“), der „frei von Zorn“ ist und „dank der Aidshilfe wieder Mut gefasst hat“:
„Trotzdem fällt es dem hageren 40-Jährigen schwer, seine Geschichte zu erzählen, ständig zupft er sich am rechten Ohr, sodass es feuerrot wird: Es ist eine Geschichte von Homosexualität, überstandener Alkoholsucht und dem Leben mit dem HI-Virus … Eigentlich war [H.] schon einmal verlobt gewesen, damals in Bochum, seiner Geburtsstadt. ‚Alle waren glücklich, meine Eltern, meine Freundin, nur ich nicht‘.“30
Verquickt werden – altbekannt – Homosexualität, Alkohol und die Krankheit (die hagere Erscheinung als deren kulturell tradiertes Zeichen), die als Geschichte des Absturzes erzählt werden und an deren Anfang das (noch gesunde) Ideal von der glücklichen heterosexuellen Paarbeziehung steht. Der Artikel zeichnet eine Biografie in Ellipsen: mit 21 Jahren das Outing, mit 35 Jahren Alkohol und Arbeitslosigkeit. Ein Jahr später „ging er die verhängnisvolle Beziehung mit dem Mann ein, von dem er sicher ist, dass er sich bei ihm angesteckt hat.“ Schließlich landet er im Obdachlosenheim.
Obwohl der Artikel H. damit zitiert, dass der Alkohol „nichts mit HIV zu tun hat“ werden 14 Jahre seiner Biografie übersprungen, um die Infektionserkrankung in einen narrativen Zusammenhang zu bringen mit den konsolidierten und kommunikativ anschlussfähigen Motiven, die offenbar erforderlich sind, um eine HIV-positive Identität sinnvoll erklärbar zu machen. Und schließlich:
„H. hat die Alkoholsucht überwunden. Als er seine Ziele für die nächsten Jahre nennt, zupft er sich schon nicht mehr am Ohr: Er will abstinent bleiben und er will wieder einen Job ...“31
Die Aufzeichnungen eines „Lebens mit HIV“ sind eher die Charakterisierung einer Alkoholsucht denn ein informatives Portrait der Erkrankung und der noch immer vorherrschenden Diskriminierung im beruflichen und medizinischen Kontext. Die Infektion wird eng verknüpft mit sozialem Abstieg und Fall, als Symptom anderer Schicksalsschläge – zu denen Krankheit, Sucht, Arbeitslosigkeit und Homosexualität gehören. Die Repräsentationsmuster der negativen Berichterstattung bleiben in der „positiven“ Ausprägung erhalten, sie werden lediglich umgedeutet im Sinne einer Schuldlosigkeit. Die Infektion erscheint als unvermeidliche Konsequenz des Rückzugs aus dem familiären Hort einer sicheren heterosexuellen Beziehung hin zu anderen sexuellen Versuchungen und einer maßlosen Hingabe zum Alkohol – allein, sie tritt nicht mehr als „eigenes Verschulden“ oder gar „gerechte Strafe“ für soziales Fehlverhalten oder Abnormalität in Erscheinung. Der HIV-Positive ist Opfer des eigenen Schicksals, seine Sünde ist legitimiert durch die widrigen Umstände.
Die Narrationsmuster entsprechen gleichwohl denen der negativen Berichterstattung und sind voll anschlussfähig an die kollektiv geteilten Rezipientenerwartungen – nur die Schuldfrage wird anders aufgelöst. Der HIV-Positive wird zum Opfer eigener oder fremder Verfehlungen. Dies ist das Hauptmotiv der „positiven“ Berichterstattung: Er ist kaum ein autonomes Subjekt zu nennen; seine Identität ist das unausweichliche Resultat von Lebensstationen, die zu seiner jetzigen Situation geführt haben. Wenn das HIV-positive Subjekt autonom ist, dann in ostentativer Weise: In der Emphase eines „Empowerment“ liegt erst die Codierung von Andersartigkeit, die Dominanzgeste aktiver Toleranz.