Pratermonster - Max Kauer - E-Book

Pratermonster E-Book

Max Kauer

4,4

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Im Wiener Wurstelprater hat sich ein tödlicher Unfall ereignet. Oder war es Mord? Der Hauptverdächtige: ein Geisterbahn-Monster. Das Opfer: schwer zu sagen, weil bloß noch in Einzelteilen vorhanden. Die Zeugen: muss man erst finden. Klarer Fall für die knallharten Sonderermittler Ford und Kossel. Bei ihren Nachforschungen kommen sie einem teuflischen Verbrecherphantom auf die Spur, enthüllen das Geheimnis eines rätselhaften Hauses und erfinden schließlich sogar noch den Leberkäs-Hotdog.

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Seitenzahl: 397

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Max Kauer wurde in Wien geboren und wuchs im dritten Wiener Gemeindebezirk auf. Seine berufliche Tätigkeit führte ihn für mehrere Jahre in die USA. Mittlerweile lebt und arbeitet er wieder in Wien.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: age fotostock/LOOK-foto Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-956-1 Originalausgabe

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Für Susi

Ein spezielles Dankeschön auch an Anna und Monika

WienIm Paralleluniversum gleich nebenan

Kapitel 1: Peppi

»Ja, das ist der Peppi«, sagte jemand hinter uns.

Dann ließ Phillip seine Leberkäsesemmel fallen.

Vor uns stand der Peppi. In den Händen hielt er seine halb gefressene Mahlzeit. Deren Überreste hingen grotesk verrenkt in der Luft, von den Klauen und Zähnen des Monsters aufgespießt. Weil Peppi war ein Monster, das konnte man nicht anders sagen, ja so viel konnte man, nein musste man, ohne den Ermittlungen vorzugreifen, ganz eindeutig jetzt schon sagen: Peppi war ein Monster.

Er wies auch ganz eindeutige Monstermerkmale auf: Da waren zunächst die riesigen Füße, schwarz-grün, Schuhgröße zweihundert, nur ohne Schuhe, dafür mit zwanzig Zentimeter langen Krallen. Gut, da könnte noch jemand kommen und sagen: Könnte auch, weiß ich, ein riesiges Huhn sein, gut. Ein Huhn mit Schuhgröße zweihundert, aber gut. Mit den Füßen war die Sache aber nicht zu Ende, nein, da ging sie erst los. Also von unten gesehen. Oben ging sie vom Kopf los, die Sache, aber davon kann ich nicht sprechen. Zu grässlich ist die Erinnerung an die blauen Augen, die aus dieser unheiligen Kreatur blickten, in ihr gefangen schienen und die mich heute noch in Alpträumen verfolgen.

An die Füße schlossen beschuppte, grünliche, muskulöse Beine an. Also da konnte man nicht mehr der Meinung sein: Huhn. Auch kein großes. Nein, schon mit den Beinen verließ man ganz entschieden die Welt der bekannten Ornithologie. Und taumelte rückwärts, zumindest im Lichte der Evolution gesehen, und kam bei etwas Urzeitlichem an. Reptilisch oder amphibisch, Papa Grottenolm und Mami T.-Rex vielleicht, so etwas in der Art.

Je mehr man von Peppi sah, desto unerträglicher wurde sein Anblick.

Das abscheuliche Gebräu von Gattungen, die in diesen Körper gezwängt waren, erzeugte körperlichen Ekel wie ein vor Maden wimmelndes Stück Fleisch. Primitives, Urgeschichtliches hockte neben Hochentwickeltem, Schleim tropfte vom Knochenpanzer, Hirnloses hintertrieb lauernde Intelligenz. Die grausamen Kinderaugen blickten hämisch aus einer Chimäre, die nur in einer gewittrigen Vollmondnacht, in einem halb verfallenen Gemäuer auf einem Hügel über einer mittelalterlichen Stadt erschaffen worden sein konnte, aus Einzelteilen von Echsen und Wölfen, Würmern und Ziegen, Fröschen, Schlangen, Kadavern und Schaben, und unter Zuhilfenahme einer großen Menge gebündelter Elektrizität, wie man sie eigentlich nur aus Blitzen kennt.

Und Hühnern.

Das war der Peppi. Und Peppi war der Haupttatverdächtige in diesem Fall.

So war das.

Natürlich galt auch für Peppi die Unschuldsvermutung, aber immerhin hatte er den Kopf des Opfers noch im Maul. Das Monster hatte öfters zugepackt und den Körper zugleich zerrissen, zerbissen und mit den Klauen gepfählt. Kleidungsfetzen hingen noch an der rechten Schulter und um den Rumpf der Leiche. Vermutlich war das einmal ein dunkler Anzug gewesen.

Wo das Fleisch vom Skelett gerissen worden war, sah man blutige Knochen aus dem Körper ragen. Ein Bein fehlte zur Gänze, das andere hing schlaff herunter, als ob alle Knochen darin zermalmt worden wären. Es endete in einem blanken Knochenstumpf. Der dazugehörige Fuß lag in einem See von Blut, der sich vor uns ausbreitete, und war von einer braunen, bröckeligen Flüssigkeit bedeckt. In dem Blutsee dümpelten, rot und schleimig, diverse Eingeweide. Der Kopf des Opfers war durch seinen aufgerissenen, wie im Schrei erstarrten Mund auf einem dolchförmigen Zahn des Monsters aufgespießt, der durch den Hinterkopf wieder austrat. Nur noch ein Strang Muskeln und Haut verband den Rumpf mit dem Kopf, von dem ein Teil der gebrochenen Wirbelsäule obszön herabbaumelte. Ihr unterer Teil war durch den aufgerissenen Körper zu sehen und leicht nach außen geklappt.

»Krank!« Phillip kaute nachdenklich.

Kapitel 2: Fatrdla

»Jaja, der Peppi ist das.«

Wir drehten uns um.

Ein Mann versuchte an Arnold, dem Polizisten, der den Tatort bewachte, vorbeizukommen. Da hatte er aber keine Chance, denn Arnold war gebaut wie ein Eichenschrank mit Armen. Eigentlich hieß er auch nicht Arnold, sondern Franz Wurzinger, aber jeder nannte ihn, wenig originell, dafür aber naheliegend, Arnold. Aus der Steiermark war er auch.

Wie der Mann hinter Arnold hieß, wusste ich nicht, aber Arnold hätte nicht gepasst. Er war dessen krasses Gegenteil: um die sechzig, eins siebzig groß, hager, hatte dunkelblondes Haar mit grauen Strähnen und ein faltiges Gesicht. Generell war die Konsistenz des Mannes ziemlich staubig-grau, nicht wirklich gesund. So wie das Ambiente, in dem wir uns befanden.

»Wer ist der Peppi?«, fragte ich.

»Ach so, ja, den da kenn ich nicht…« Der staubige Mann blickte konzentriert auf das Grauen vor uns, den Kopf ein wenig schief gelegt.

»Also, ich könnte es nicht sagen… Nein, das Ungeheuer, das ist unser Peppi.«

»Krank, krank, krank«, wiederholte sich Phillip. Sie müssen wissen: Phillip wiederholt sich manchmal.

»Ja!« Der Mann nickte eifrig. »Gell! Der Peppi ist die Hauptattraktion in unserer Show. Der ist voll der Renner bei den Kindern. Die Kleinen scheißen sich in jeder Runde wieder an.«

»Und Sie sind?«

»Fatrdla, Fatrdla Gerald. Grüß Sie! Ich bin der Hausmeister hier, so quasi.«

Fatrdla sprach ein angestrengtes Hochdeutsch, wie eine Fremdsprache, die er nur selten benutzte. Er wischte sich die Hand an seinem schmutzig blauen Overall ab und streckte sie mir zum Gruß entgegen. Arnold hielt ihn weiterhin zurück, woraufhin Fatrdla die Hand wieder sinken ließ.

»Und Sie haben das…«, ich deutete mit dem Daumen auf das Inferno hinter mir, »…gefunden?«

»Nein, das war der Schorschi. Der ist rausgegangen, ihm ist ein bisserl schlecht. Dort hat er hingespieben.« Der Hausmeister wies auf den Fuß des Opfers, der im Blutsee lag.

Aha, Herkunft mysteriöser brauner Flüssigkeit auf Schuh von Opfer geklärt.

Ich konnte es dem Schorschi nachfühlen.

»Krank! Krank, krank«, sagte Phillip.

»Sie wirken aber nicht sonderlich verstört, Herr Fatrdla.«

»Schauen Sie, ich arbeite schon seit dreißig Jahren im Prater. Bei der Geisterbahn seit zwanzig. Ich bin hart!«

Arnold meldete sich mit einem Blick auf seinen Notizblock: »Der Herr Hossak, also der Herr, der das hier gefunden hat, wartet, wie gesagt, draußen. Er hat angegeben, dass er um viertel acht in der Früh wie jeden Tag seinen Kontrollrundgang begonnen hat und dann um halb acht hier oben war. Um fünf vor acht hat der Herr Fatrdla hier dann die Polizei anger…«

Arnold hielt in seinem fesselnden Vortrag inne. Aus dem Gang hinter uns war ein lautes Schnaufen und Keuchen zu vernehmen. Einen Moment später bog ein unheimlich fetter Mann um die Ecke, der seinen Bauch wie einen überdimensionierten Rucksack in einer Art Drehbewegung vor sich herschob.

»Na, grüß Gott! Patient schon in Einzelteilen, das erleichtert die Obduktion.« Der Rechtsmediziner Dr.Palffy war ziemlich jung für seine enorme Wampe, hatte einen spärlichen schwarzen Kranzbart um das ansonsten dünne, blasse Gesicht und trug einen weißen Arbeitsmantel. Vor der Blutlache blieb er stehen, schnaufte dreimal und wandte sich dann mit erhobenen Augenbrauen an mich: »Was ist denn da passiert?« Seine Aussprache war leicht nasal, eine milde Form des Schönbrunner Deutsch.

»Ja, wir haben gehofft, da könnten Sie uns irgendwie weiterhelfen, Herr Doktor«, ermunterte ich ihn.

»Aha. Na, offensichtlich hat Godzilla hier–«

»Also eigentlich ist es ein Basilisk!«, meldete sich Fatrdla. »Steht unten angeschrieben: ›Lassen Sie sich nicht den Basilisken von Wien entgehen. Lässt das Blut in den Adern gefrieren! Nur vier Euro.‹«, zitierte er die Werbetafel an der Kasse und deutete eifrig nach unten, in die Richtung derselben.

Dr.Palffy fuhr unbeirrt fort: »…hat der Godzilla-Basilisk hier den Herrn im Armani-Anzug gefressen. Wobei er nicht sonderlich auf Tischmanieren geachtet hat, wie man anmerken muss. Sonst noch Fragen? Weil ansonsten werde ich ja dann nicht mehr gebraucht. Und meine Herren, hier stinkt’s! Wer hat denn da auf den Fuß gespieben?«

Er warf mir einen kritischen Blick zu und inspizierte dann versonnen den Boden. »Ich will auch rechtzeitig zum Mittagessen im Wirtshaus sein, ich glaube, heute nehme ich gebackene Leber oder vielleicht Blutwurst.«

Der Doktor fand das lustig. Er wusste, dass ich in Sachen Blut nicht sehr hart im Nehmen war. Wenn ich etwas zu sagen hätte, würde so ein Basilisken-Ding auch nicht in der Geisterbahn, sondern in einem Verlies für geistig abnorme Rechtsbrecher stehen, zusammen mit seinem Erbauer. Ich hatte auf jeden Fall für den Moment genug gesehen.

»Ja, Mahlzeit, Herr Doktor! Viel Spaß noch hier und lassen Sie mich wissen, wenn es Ergänzungen zur Godzilla-Theorie gibt. Ich gehe mal den Herrn Dingsda unten…«

»Hossak«, warf Fatrdla hinter Arnold ein, welcher nach einem Blick in sein Notizbuch bestätigend nickte.

»…den Herrn Hossak unten befragen. Phillip, bleib doch bitte beim Herrn Doktor hier und schau, ob du noch etwas Interessantes findest, das zur Aufklärung dieser…«, ich machte eine vage Handbewegung, »…Sache beitragen könnte. Irgendwie wirkt das wie ein Fall für uns.«

»Wusste ich!«, meinte Phillip glücklich. »Echt krank!«

»Und Sie…«

»Fatrdla«, sagte Fatrdla.

Arnold blickte in sein Notizbuch und nickte ernst.

»…kommen mit mir mit.«

Mit einer Taschenlampe bewaffnet, die Arnold mir geliehen hatte, gingen wir das Gleis entlang. Der Weg war gesäumt von verschiedenen Monstern, Hexen, Zauberern, Skeletten und Mumien, die in Aktion aus Särgen fielen, Hackebeile hoben, sich auf verzückt kreischende Besucher herabließen und ähnliche Erschreckungsmanöver vollführten. Normale Einrichtungsgegenstände einer Geisterbahn. Keine dieser Kreaturen aber war mit dem abartigen Godzilla-Basilisken zu vergleichen.

Der Gang, durch den wir schritten, war voller kleiner Türchen, Klappen und Mechanismen, ein Eldorado für die Spurensicherung. Wir waren mittlerweile in Kurven die Hälfte des Weges hinuntergelaufen und hatten noch nichts Auffälliges gesehen. Ich machte nebenbei ein Türchen links von mir auf, das sich etwa in Schulterhöhe befand. Ein langes, walzenförmiges Ding rutschte heraus und schlug mit einem dumpfen »Bums« neben mir auf dem Boden auf. Eine Hexe mit rotem Hut kam auf einem Besen hinterhergerasselt. Zwei Zentimeter vor meiner Nase wurde sie von der Kette, an der sie hing, ruckartig aufgehalten. Ich sprang mit einem recht uncoolen Kreischen zur Seite.

»Das ist die Liese«, sagte Fatrdla, der ungerührt hinter mir stehen geblieben war, die Hände immer noch in den Hosentaschen. »Aber das Ding, das da herausgefallen ist, kenne ich nicht. Das darf nicht sein, alles muss befestigt sein, Vorschrift, verstehen Sie! Was ist denn das? Schaut irgendwie aus wie eine dicke Schlange.« Er bewegte den Kopf hin und her wie eine Taube, die ein Korn sucht, und stieß das Ding mit dem Fuß an.

»Nicht angreifen!«, hielt ich ihn zurück. »Phillip, wir haben das Bein gefunden! Der Täter muss hier entlanggekommen sein«, rief ich nach oben.

»Krank!«, rief Phillip zurück.

Ich schloss kurz die Augen und massierte mir mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. Das würde ein langer Tag werden.

»Ah, glauben Sie eh nicht, dass das der Peppi war?«, fragte Fatrdla mit einer gewissen Erleichterung in der Stimme.

Ich sah ihn an, die Finger immer noch auf dem Nasenrücken. Ein wirklich langer Tag würde das werden.

»Der ist ja noch… äh, dahinten… äh…« Fatrdla deutete in Richtung Tatort, ließ dann aber die Hand sinken, die jetzt unsichere Greifbewegungen machte.

Ich sah ihn weiter an.

»Na, weil, der Herr Doktor hat gesagt… Was weiß ich«, murmelte er genervt. »Bin ich ein Kiberer? Auf jeden Fall ist der Peppi normalerweise gutmütig. Heast! Ich glaub, ich brauch ein Bier!«

»Ja, schauen wir, dass wir hier herauskommen. Sie bleiben hinter mir, bitte.«

Kapitel 3: Net klass, Oida

Die Sonne blendete, als wir wieder ins Freie traten. Fatrdla und ich kamen durch eine Klapptür aus der Geisterbahn und stießen an das letzte der Wägelchen, die dort aufgereiht standen. Weiter vorne, neben der Kasse, befand sich ein weiteres Türchen, durch das Phillip und ich zuvor hinaufgeeilt waren. Über eine Holzplattform gelangten wir wieder auf die Straße, als mein Handy klingelte. Während ich abhob, bedeutete ich Fatrdla, zu dem Polizisten zu gehen, der mit gezücktem Notizblock auf der anderen Straßenseite vor einem Mann in rotem Trainingsanzug stand. Der Mann saß auf einer Bankreihe gegenüber der Geisterbahn und sah elend aus. Der Dingsda, Hossak, nahm ich an.

»Carli-Schatzerl, ich bin’s, deine liebe Mutter!«

Oje, das klang nicht gut.

»Ja… Mama… hallo! Ich höre… also, sehr schlecht, ich höre dich sehr schlecht, Mama… viel Rauschen… Ich bin bei der Arbeit, schlimmer Fall…« Ich kratzte ein wenig am Mikrofon. Wenn meine Mutter anruft und Carli-Schatzerl sagt, dann ist meist etwas im Busch. Und im Busch lauert Gefahr, das weiß man.

»Ich habe nur eine kleine Bitte. Wo bist du denn heute unterwegs?«, fragte sie unschuldig und mein Rauschen vollkommen ignorierend.

»Tja… schwer zu sagen… da und dort«, erwiderte ich diplomatisch. In dem Moment spielte hinter mir ein Watschenmann seine Lockmelodie.

»Oh, bist du im Prater? Na, das trifft sich ja großartig! Weil, um fünf müsste jemand den Fritz und die Gretl von der Insel abholen.«

Oh Gott, die Insel!

»Heute ist es ja noch einmal richtig warm geworden, da sind sie hinausgefahren, mit der Frau Pieringer. Aber die bleibt dann noch länger, und sie wollen früher zurück, weil um sieben tun wir ja hier grillen. Hast eh nicht vergessen, gell!«

Oh Gott, die Insel!

»Oh Gott, die Insel, Mutter«, flüsterte ich. »Nicht die Donauinsel, Mama! Du weißt, wie ich das hasse, sie von dort abzuholen. Die brauchen ewig lang, und da muss man sich dann dazusetzen, und alle sind nackt und alt… Oh nein, bitte, nein, oh nein!«, flehte ich ins Telefon.

»Geh bitte, du bist bei der Polizei, da kann man doch nicht so feig sein!«

»Willst du wetten? Außerdem, die Verbrecher schwingen auch nicht ihre ausgezehrten Schwengel nach mir, sondern schießen mit sauber polierten Waffen, und selbst das machen sie in Wien selten. Überhaupt bin ich um fünf vermutlich schon ganz woanders…«

Ich vollführte eine ausholende Handbewegung, die zeigen sollte, dass ich um fünf genauso gut schon weiß Gott wo, um nicht zu sagen ganz woanders, sein könnte. Die Handbewegung konnte man über das Telefon aber vermutlich nicht so gut sehen.

»Und überhaupt muss ich auf meine Reputation achten, ich repräsentiere immerhin den Staat, und als solch ein Repräsentant kann ich mich nicht in geriatrischen Swingerkreisen sehen lassen!« Mit den letzten Worten hob ich stolz den Kopf. Ich hörte die ersten Takte der Bundeshymne.

»Wie redest du denn über deine Verwandten, schäm dich! Tststs. Ich muss das Essen vorbereiten, deine Schwester ist nicht da, also bleibst nur du. Und sei rechtzeitig dort, weil sonst fängt der Fritz wieder mit den Leuten zu philosophieren an.«

»Du meinst wohl eher Komasaufen.«

»Nenne es, wie du willst, aber dann kriegst du ihn mit der Brechstange dort nicht mehr weg. Also, fünf Uhr, gell! Danke, du bist ein Schatzerl. Und bis am Abend dann. Bussi, baba!«

»Ich weiß aber auch gar nicht, ob ich… schlimmer Fall… Mama? Hallo?«

»Tüüüüt«, sagte das Telefon.

Oh Gott, die Insel!

Ich legte den Kopf in den Nacken. Vor dem blitzblauen Spätsommerhimmel drehte sich das Riesenrad. Mein Blick folgte einer Kabine auf ihrem Weg nach unten und fiel dann auf das Grüppchen mit Fatrdla, Hossak und dem Polizisten. Sie schauten interessiert in meine Richtung. Ach ja, es gab ja noch etwas Erfreulicheres zu tun, als auf die Insel zu fahren: blutige Wahnsinnstaten von Ausgeburten der Hölle aufklären. Das war doch gleich besser!

Ich ging hinüber. Den Polizisten kannte ich: Es war Max, ein sechsundzwanzigjähriger Revierinspektor. Er trug ein breites Grinsen im Gesicht: »Schlechter Empfang hier, Herr Kommissar, gell? Viele Störgeräusche…«

»Oberkommissar! Ja, ja, wirklich!« Ich drehte das Handy mit kritischem Blick in der Hand, als könnte ich am Gehäuse die Empfangsstörung erkennen.

»Ich persönlich bin ja sehr gern auf der Insel«, meldete sich Fatrdla.

Hossak nickte eifrig: »Voll super, ganz klass!«

Fatrdla fuhr fort: »Bin ja auch ein großer Freund der Freikörperkultur, wie man so sagt. Momentan schaue ich mich aber um eine Kabane im Gänsehäufel um. Ja, man wird halt gesetzter.«

Er bezog sich auf die kleinen Hütten, die man in Wiens berühmtestem Freibad an der Alten Donau, dem »Gänsehäufel«, mieten kann.

Ich unterbrach Fatrdla in seinen Ausführungen und wandte mich an den Mann, den ich noch nicht kannte: »Herr Hossak?«

»So ist es«, nickte er.

Ich schätzte ihn auf eins fünfundachtzig, vielleicht fünfundneunzig Kilo und Anfang dreißig. Er war auf eine fleischige Art athletisch und offensichtlich auch einem Sonnenbad im Solarium nicht abgeneigt. Im Moment war er aber eher grünlich unter der künstlichen Bräune. Auf seiner rasierten Brust konnte man zwei Halsketten, eine Panzerkette und eine goldene Kette mit Kreuz bewundern.

»Was ist Ihre Funktion hier, Herr Hossak?«

»Ich bin der Manager. Ich mache die Show den ganzen Tag, Musik und so, sitze auch an der Kasse.«

Er zog ein Päckchen Ernte23 aus der Jackentasche. Irgendwie passte er nicht wirklich in mein Konzept von einem Manager.

»Und Ihnen geht’s wieder besser?«

»Danke!«

Hossak zündete sich die Zigarette mit einem Zippo-Feuerzeug an, sog den Rauch tief ein und blies ihn dann aus dem Mundwinkel aus: »Aber bist du gelähmt, das war nicht schön da drinnen. Net klass, Oida.«

Hossak schüttelte sich. Er sprach einen ebenso breiten Dialekt wie Fatrdla, nur gab er sich weniger Mühe, Hochdeutsch zu reden. Was er dann erzählte, wussten wir ohnehin schon: dass er um sieben in der Früh gekommen war, seinen morgendlichen Kontrollgang gemacht und dabei das Massaker entdeckt hatte. Fatrdla habe dann etwas später die Polizei gerufen, er selbst sei zu geschockt gewesen.

Kaum hatte Hossak seinen Bericht beendet, hielt mit quietschenden Reifen eine schwarze Mercedes-Limousine vor der Geisterbahnkasse. Ein kleiner, untersetzter Mann in grauem Anzug und mit modischer Sonnenbrille auf der Nase stieg aus. Er schaute zur Geisterbahn, dann zu uns, sah Fatrdla und Hossak, woraufhin er unser Grüppchen im Eilschritt ansteuerte. Im Gehen rückte er mit einer energischen Handbewegung die Sonnenbrille zurecht. Schließlich blieb er vor uns stehen, schaute von Hossak zu Fatrdla, dann zu mir und Max.

Er entschied sich für Hossak: »Was ist hier los, was geht da vor? Du hast gesagt, ein Unfall! Ein Unfall? Und was sucht die ganze Polizei hier? So viel vor allem?« Er blickte um sich und machte eine ausladende Bewegung mit beiden Armen, die ihn ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. In diesem Moment bogen mehrere Zivilfahrzeuge, Streifenwagen sowie ein Rettungsauto in die Gasse ein. Letzteres schien mir etwas optimistisch.

»Es war ein eher größerer Unfall, Chef«, sagte Hossak.

»Ford, Sonderermittlungseinheit«, unterbrach ich ihn. »Grüß Sie! Und Sie sind?«

»Zong, Dr.

Kapitel 4: Die Sonderermittlungseinheit

Phillip und ich arbeiten in einer ziemlich neuen Einheit, um nicht zu sagen, wir sind die Einheit, die Sonderermittlungseinheit. Unsere Aufgabe besteht darin, Besonderes zu ermitteln. So viel zur Arbeitsplatzbeschreibung.

Die Einheit war erst vor Kurzem aus dem fruchtbaren Zusammenspiel eines Sommerlochs, einer aufsehenerregenden Entführungsgeschichte, politischem Ehrgeiz sowie einer Idee entstanden. Die Idee war, die herkömmlichen Abteilungen der Kriminalpolizei bei außergewöhnlichen Fällen oder bei Ermittlungen, die eine Art Querdenken und -handeln erfordern könnten, zu unterstützen. Die neue Einheit sollte nur sehr schwach an die bestehenden Hierarchien, Befehlsketten und Dienstwege gebunden sein, um davon in ihrer Kreativität nicht behindert zu werden. Jedermann hielt die Idee für den allergrößten Schwachsinn.

Ich kam gerade aus New York zurück, als rekrutiert wurde. Ich fand die Idee super.

Die Erfinderin war leitende Beamtin der Wiener Stadtverwaltung mit viel Macht und Einfluss auch im Innenministerium. Man nennt sie »Frau Ministerialrätin«, obwohl sie das streng genommen nicht ist, irgendwie aber doch. Fragen Sie mich nicht, wie die österreichische Verwaltung, insbesondere in Wien, funktioniert. Das ist eben so. Auf jeden Fall nutzte die Frau Rat dann die Gunst der Stunde sowie den politischen Profilierungsdrang einiger wichtiger Menschen, um ihre Vision zu verwirklichen. Die Sonderermittlungseinheit war geboren.

Überraschenderweise klärten wir dann auch tatsächlich den angesprochenen Entführungsfall, und es gab auch ein ziemliches Spektakel am Ende. Unter anderem brannte ein Innenstadtpalais ab, was wirklich nicht unsere Schuld war! Und eine Art Geheimbund Wiener Stadtpolitiker mit obskuren, verschwörerischen Zielen wurde entdeckt. Dies alles brachte uns eine ziemliche Presse ein, und da konnte man die ungeliebte Abteilung nicht mehr einfach so schließen.

Die Frau Ministerialrätin sagt immer: »Meine Buben! Ihr machts das schon!«

Und wir machen’s dann eben. Der Phillip und ich.

Mein Kollege Phillip Kossel stammt aus Thüringen und isst viele Semmeln, meist mit Leberkäse. Man könnte seinen Arbeitsstil als leberkäsesemmelessend bezeichnen. Bevor er nach Wien kam, war er in Berlin bei einer Sondereinheit gegen organisierte Kriminalität als verdeckter Ermittler tätig gewesen. Bis er verpfiffen wurde und sich die Kriminellen gegen ihn organisierten. Da musste er sich dann eine neue Stadt suchen. Und eine neue Droge: Früher aß er Currywurst, jetzt Leberkäsesemmel. Vielleicht ist die Semmel ja auch Tarnung.

In Thüringen kam Phillip noch in den Genuss einer frühkindlichen Erziehung im Arbeiter- und Bauernparadies, die ihn zu einem überzeugten und sehr dankbaren Konsumenten von… eigentlich allem gemacht hat. Wie schon erwähnt, isst Phillip gerne Semmeln. Nicht dass man ihm den Semmelkonsum ansehen würde. Im Gegenteil, Phillip ist gut trainiert, immer schick gekleidet, modisch voll auf der Höhe, so in einer Art Johnny-Depp-Manier. Infolgedessen ist Phillip bei den Frauen sehr erfolgreich. In Wien lieben sie auch seinen »süßen Akzent«. Was mich betrifft, ich sehe nicht aus wie ein Schauspieler. Sie können sich mich aber trotzdem vorstellen wie Brad Pitt in jüngeren Jahren. Warum nicht?

Meine Arbeitserfahrung im Ausland beschränkt sich auf sieben Jahre bei der Drogenfahndung in New York, was länger war als zunächst geplant. Es fing mit einer unglücklichen Liebesgeschichte und einem Aushang an der Amtstafel in der Bundespolizeidirektion Wien an und endete in einer hysterischen Massenschießerei in einer Suburb der Bronx, der hysterische Schießereien in Manhattan, Queens, Staten Island, New Jersey und der weiteren Umgebung New Yorks sowie Connecticuts vorangegangen waren. Das war eine Zeit lang recht unterhaltsam gewesen und hatte ganz gut von Liebeskummer und fehlender Lebensplanung abgelenkt.

Jene letzte Schießerei aber unterschied sich dann doch von den vorhergehenden: Einerseits war die Zahl der Teilnehmer auf beiden Seiten deutlich höher als sonst und auch ihr Engagement in Sachen Leute-Umnieten sehr stark ausgeprägt, selbst für die Verhältnisse der Bronx. Andererseits fing ich mir in ihrem Verlauf eine Kugel inklusive Nahtoderfahrung ein. In dem Moment, in dem mich die Kugel in den Kopf traf, war mir mit einem Mal vollkommen unerklärlich, was ich eigentlich in dieser Lagerhalle in dieser speziellen Suburb der Bronx zu suchen hatte. Ich beschloss spontan, die New Yorker Drogenbekämpfung wieder den New Yorkern zu überlassen und in puncto Lebensplanung das nächste Level anzugehen. Dann beendete das Metall in meinem Hirn vorerst weitere Gedankengänge.

Kapitel 5: Zongs Plan

Dr.Zong sah mich unverwandt an. »Also?«

»Ihr Godzilla hat einen Menschen in Stücke gerissen.«

»Wer bitte?«, fragte Zong irritiert.

»Der Peppi!«, half Fatrdla.

»Der Basilisk? Sie scherzen!« Zong richtete sich kerzengerade auf, nahm den Kopf ein wenig zurück und die Sonnenbrille ab. Seine Augen musterten mich ungläubig, nach Spuren eines seltsamen Scherzes suchend. Zong hatte ein breites, sonnengebräuntes Gesicht, aber mir fielen keine asiatischen Züge auf, die zu dem Namen gepasst hätten.

Nach ein paar Sekunden ließ er die Hand, mit der er die Sonnenbrille auf Wangenhöhe gehalten hatte, sinken. Er machte ein paar Schritte auf die Geisterbahn zu, besann sich aber eines Besseren und kam zu uns zurück.

»In Stücke gerissen, sagen Sie?«, fragte er, legte den Kopf ein wenig schief und kaute am Bügel der Sonnenbrille.

»Anders kann man es kaum beschreiben.«

»In Stücke– gerissen? Stücke?«

Ich nickte, Fatrdla und Hossak nickten mit ernsten Mienen mit.

»Das ist…« Zong deutete auf die Geisterbahn, setzte die Sonnenbrille auf und ging wieder ein paar Schritte von uns weg.

»Das ist…« Er nahm die Sonnenbrille wieder ab und kehrte zu uns zurück.

»Zerrissen, das ist… in Stücke, sagen Sie? Also Sie sagten: in Stücke? Ja, Herr Kommissar? Stücke?« Zong leckte sich die Lippen.

Ich tauschte einen Blick mit Max, anstatt zu nicken. Hossak rutschte unbehaglich auf der Bank herum.

Dann versuchte ich, den Doktor zu beschwichtigen: »Ja, das ist nicht erfreulich, wirklich nicht. Ich befürchte, Ihre Geisterbahn wird einige Zeit geschlossen bleiben mü–«

»Geschenkt!«, rief er und warf die Hände in die Höhe.

»Das ist WUN-DER-VOLL!«

Zongs Stimme steigerte sich in ein ekstatisches Falsett: »GROSS-AR-TIG! Können Sie sich die Werbung vorstellen?« Er ließ beide Hände flach auf seinen Kopf fallen und blickte strahlend in die Runde.

»Basilisk schlägt wieder zu– in Zongs Geisterbahn! Reißt Menschen in Stücke! Sie sagten: in Stücke, gell, ja? Stücke?«

Zong schaute uns der Reihe nach an, mit einem Gesicht, wie es ein Hündchen macht, das zum Spielen auffordern will. Es fehlte nur noch, dass er den Kopf auf die Vorderpfoten legte und mit dem Schwanz wedelte. Die drei anderen Männer blickten starr auf den entfesselten Zong, blinzelten und schielten dann zu mir.

»Ja, Stücke. Hören Sie–«

»Die Leute werden aus aller Welt anreisen, das ist…«

Er hielt inne, in seinen glücklichen Ausdruck war ein Schatten geraten, der sich rasch in einer tiefen Falte auf der Stirn manifestierte. Dann kniff er die Augen zusammen und fragte: »Wie lange?«

»Wie bitte?« Ich wurde ungeduldig. Dr.Zong ging mir langsam auf die Nerven, obgleich ich nicht bezweifelte, dass er recht hatte mit dem Werbeeffekt.

»Sie sagten, die Geisterbahn muss geschlossen bleiben, Herr Kommissar. Wie LAN-GE?«, presste er mit angehaltenem Atem zwischen den Zähnen hervor und schaute aus engen Augenschlitzen zu mir auf. Vielleicht war da doch etwas Asiatisches?

»OBER-KOMMISSAR! Wenn es sich um Mord handelt, und das nehme ich irgendwie an, dann kann das LÄN-GER dauern. Wochen, Monate, je nachdem. Ich bin sicher, Ihre Versicherung–«

»Wochen!«, schrie Zong gepeinigt auf. »Monate! Sind Sie deppert! Jetzt ist September, glauben Sie, im Winter fährt jemand mit der Geisterbahn?«

Er lief einen kleinen Kreis und stoppte dann wieder vor mir.

»Jetzt liegt das Geld auf der Straße. Jetzt!« Er zeigte mehrmals energisch auf die Straße zu unseren Füßen. Dann setzte er die Sonnenbrille wieder auf und holte ein Handy aus der Tasche.

Wir sahen ratlos auf die Straße, dorthin, wo Dr.Zong Geld sah.

»Na, das werma sehen!«

Wir sahen von der Straße wieder zu Zong.

»Ich gehe mit dem Herrn Bürgermeister zum Heurigen. Das werden wir noch SE-HEN!« Zong nahm die Sonnenbrille wieder ab, um auf dem Bügel herumzukauen, und durchsuchte mit dem Daumen fieberhaft das Telefonbuch seines Smartphones. Dann wandte er sich von uns ab und lief Richtung Geisterbahn. Max wollte ihm nach, aber Zong kam nicht weit. Er lief direkt in den mittelgroßen Bierbauch eines sehr großen Mannes in Wandersandalen, Multifunktionshose, Karohemd und Wanderhut. Der Wandersmann hatte die Szene mitverfolgt und kam jetzt herübergeschlendert.

»Wohin so eilig, der Herr?«, hielt er Zong auf.

»Lassen Sie mich, ich muss telefonieren!« Zong versuchte den Mann wegzustoßen.

Der aber holte eine Plakette aus der Tasche. »Oberstleutnant Perschinger, grüß Gott. Sie werden bitte später telefonieren. Danke!«

Er drehte den zappelnden Zong sanft herum und führte ihn zu uns zurück, wo Max ihn auf die Bank setzte. Zong, für den Moment der Energie beraubt, sackte in sich zusammen und schaute dann leidend wie ein geprügelter Hund zu uns auf.

»Servus, Herr Oberstleutnant!« Ich schüttelte Perschinger die Hand.

»Servus! Gibt es hier was Besonderes zu ermitteln?«, stichelte er.

»Das habe ich auch schon gefragt!« Zong warf die Arme in die Höhe, stand auf und fummelte wieder an seinem Handy herum.

Ich beachtete ihn nicht. »Das musst du dir schon selber anschauen!«

Perschinger folgte meinem Blick zum ersten Geschoss der Geisterbahn.

»Ich war eigentlich schon auf dem Weg zum Hochschwab. Herrliches Wetter heute, gell?« Er wirkte, als würde er sich nur sehr widerstrebend von seiner Wanderung verabschieden.

Hinter uns war Zong wieder in Fahrt gekommen.

»Ja, Dr.Zong hier! Ich muss den Bürgermeister sprechen! Was heißt: nicht da, nicht da? Der hat da zu sein, wofür zahle ich Steuern?«

»Viel Spaß hier noch! Und lasst euch nicht hetzen!«, sagte ich mit einem Seitenblick auf den ins Telefon tobenden Dr.Zong.

Auf der anderen Straßenseite kam Phillip gerade aus der Geisterbahn. Ich hob zum Abschied die Hand und ging zu ihm hinüber. Perschinger sah mir müde hinterher.

»Ich habe Hunger«, sagte Phillip.

Phillip hat immer Hunger, das sagt nichts, mir knurrte aber auch schon ein wenig der Magen. Wir sahen uns um. Der Biergarten gegenüber der Geisterbahn hatte sich mit Schaulustigen gefüllt, die bei Bier und Schnitzel das Treiben beobachteten. Die Straße an der Geisterbahn war zwar mittlerweile abgesperrt worden, doch das Lokal konnte man von der anderen Seite betreten, und der Garten bot eine großartige Aussicht auf das Geschehen. Auch Reporter schwirrten schon überall herum.

»Hier ist mir zu viel los. Gehen wir hinüber in den Englischen Reiter«, schlug ich vor.

Kapitel 6: Die Spur nach Russland

Die Tische im kiesbestreuten Gastgarten des Englischen Reiter wurden von drei großen Pappeln beschattet. Schnitzelgeruch lag in der Luft. Die Bäume rauschten in einer leichten Brise, was man aber nicht wirklich hören konnte, weil rundherum das Wurstelpratertreiben bereits in vollem Gange war. Es war Freitag. Überall dröhnte, trötete und tütete es. Disco- und Technomusik krachte basslastig aus einer Vielzahl von Monster-Hi-Fi-Boxen. Über der Hecke, die den Gastgarten auf einer Seite umgab, tauchten immer wieder Gondeln, Schleudersitze und derlei Gerätschaften auf, mit denen sich die Leute entspannungshalber durch die Luft katapultieren ließen. Über uns, in einem Baum, sang eine Amsel »La Cucaracha«. Manchmal, wenn eine Technonummer eine dramatische Pause machte, nur um danach in noch tosenderes Stampfen zu verfallen, hörte man ein, zwei Takte des Drosselgedüdels. Gemütlich.

Die Karte bot gutbürgerliche Wiener Küche. Ich schwankte zwischen Schnitzel du Chef und großem Gulasch, als ich Fatrdla und Hossak in den Gastgarten schlendern sah. Ich winkte sie herüber.

»Meine Herren, was tun Sie denn hier, sollten Sie nicht drüben der Polizei Auskunft geben? Hat Ihnen niemand gesagt, dass Sie sich zur Verfügung halten müssen?«

»Äh, ja schon«, erwiderte Fatrdla. »Aber die sind alle den Peppi anschauen gegangen, und der Schorschi will nicht noch einmal da rein.«

»Voll nicht!«, ergänzte Hossak.

»Und dann haben wir uns gedacht, wir gehen schnell einmal eins zischen.«

»Schön, wenn Sie schon da sind, setzen Sie sich, dann können wir hier während dem Zischen gleich einmal die Befragung fortsetzen«, forderte ich die beiden auf.

Der Kellner kam, und wir bestellten Bier für die Einzuvernehmenden, gespritzte Almdudler für uns, Schweinsbraten mit Knödel und Sauerkraut für Phillip und eine Frittatensuppe sowie Schnitzel du Chef für mich. Nachdem der Ober gegangen war, zündeten sich Fatrdla und Hossak Zigaretten an. Ich hatte mir, ohne es zu wollen, in den USA das Rauchen abgewöhnt– Suchtverhalten ist viel weniger lustig, wenn einen alle dafür hassen.

»So, sagen Sie einmal…«, richtete ich das Wort an Fatrdla. »Was fällt Ihnen beim Thema Russland ein?«

Fatrdla blickte dem Rauch nach, den er ausgeblasen hatte: »Land im Osten?« Er lullte das »L« nach Meidlinger Art. »Stalingrad, äh, Wodka, Joschi, Eristoff, die komischen kleinen Puppen, Stolitschnaja, äh–«

»Was war das?«, unterbrach ich ihn.

Der Ober kam mit den Getränken und meiner Suppe. »Bitte schön, die Herren.«

»Na, diese kleinen bunten Holzpuppen, die man ineinanderstellen kann.«

»Nein, nicht das, das davor.«

»Eristoff-Wodka, sehr zu empfehlen, auch als Mixgetränk…«

»Noch einmal eins davor.«

»Joschi?«

»Ja genau. Ist das ein Name?«

Fatrdla nahm einen tiefen Schluck. »Pfoa gut!« Er wischte sich den Schaum vom Mund. »Ja, ein Name, lustig, wie bin ich jetzt da draufgekommen?«

»Freie Assoziation nennt man das, der Herr Kollege ist Psychologe«, half Phillip. »Der Name klingt aber nicht russisch.«

»Eigentlich heißt er Aljoscha, wir nennen ihn halt Joschi. Der hilft hin und wieder aus.«

»Und?«

»Na nix, geholfen hat er hin und wieder.« Fatrdla wechselte einen kurzen Blick mit Hossak. »Sollt ich vielleicht nicht sagen, schwarz halt. Der kennt sich super mit Elektrik aus. Mit allem eigentlich. Früher, in der Sowjetunion halt, war der bei der Aeroflot oder so, und weil die dort ja kein Knödel…« Er sah Phillip an. »…Marie, Knete…« Phillip nickte geduldig. »…Geld halt, für neue Flugzeuge oder Ersatzteile gehabt haben, haben die immer alles repariert. Da fliegen Flugzeuge herum, dort drüben, hat er gesagt, die sind aus den fünfziger Jahren, und trotzdem stürzen sie nicht öfter ab wie bei uns. Super eigentlich!«

»Klass!«, ergänzte Hossak.

Wir sahen ihn an. Er hatte aber nicht mehr zu sagen, trank sein Bier aus und deutete dem Ober gleichzeitig, noch zwei zu bringen.

»Ich hab ja immer schon die Kommunisten gewählt. Vom Joschi hab sogar ich noch was lernen können!«, informierte Fatrdla uns weiter.

Der Ober kam mit Schweinsbraten, Schnitzel und mehr Bier. Phillip zerteilte seinen Knödel. »Knödel«, sagte er glücklich.

Die beiden Geisterbahnangestellten nahmen herzhafte Schlucke von ihrem Bier. »Ganz klass!«, sagte Hossak und steckte sich noch eine Zigarette in den Mund.

Wir aßen, rauchten und tranken ein bisschen.

»Dieser Aljoscha, wo finden wir den?«, fragte ich dann.

Fatrdla wischte sich den Schaum vom Mund: »Wieso, was wollen Sie denn von ihm?«

Ich sah ihn streng an mit einem Blick, der bedeuten sollte: »Ich stelle hier die Fragen!«

»Im Schnucki, schätzomativ«, sagte Fatrdla achselzuckend.

Phillip verschluckte sich an einem Stück Braten. »Schätzo-was?«

»-mativ«, half Hossak aus.

Phillip schüttelte kichernd den Kopf. Er fand das Wienerische immer sehr lustig. »Schätzomativ«, gluckste er. Sogleich konzentrierte er sich aber wieder auf seine Aufgabe: »Ah, Knödel!«

Wir sahen Phillip zu, der mit dem letzten Stück Knödel gedankenverloren seinen Teller säuberte, so wie ein Zenmeister sein Steingärtchen recht. Ich glaube, wenn Phillip isst, befindet er sich in der Zone. Er strahlt dann eine Weltabgewandtheit und Konzentration auf seine Aufgabe aus, die einem buddhistischen Kampfmönch zur Ehre gereichen würde.

»Schnucki?«, fragte ich dann.

»Café Schnucki, drüben im Stuwerviertel«, erklärte Fatrdla. »Da ist er oft. Da treffen sich die Russen.«

Kapitel 7: Schnucki

Wenig später verließen wir das Gasthaus und gingen durch den tobenden Wurstelprater Richtung Stuwerviertel. Vor der Geisterbahn sah ich Perschinger stehen. Er drehte sich suchend herum, eine Hand in der Hüfte, mit der anderen kratzte er sich am Hinterkopf. Sein Trekkinghut rutschte ihm ins Gesicht. Vermutlich suchte er seine Zeugen.

Ich hatte Fatrdla gebeten, uns zum Café Schnucki zu führen. Hossak trottete mit, er nutzte offensichtlich die Gelegenheit, nicht zum Tatort zurückzumüssen. Fatrdla schlenderte vor uns her, nach links und rechts die verschiedenen Bekannten grüßend. Alle wollten natürlich wissen, was los war. Ich trieb ihn an, um zu vermeiden, dass Perschinger uns doch noch sehen würde. Der bekommt seine Zeugen schon noch, dachte ich.

Wir gingen in Schlangenlinien durch den Rummel, verließen das Wurstelpratergelände und erreichten die Ausstellungsstraße, die das Stuwerviertel nach Süden begrenzt. Rechts ragte ein gotisch wirkender Turm wie ein Wächter von einem der älteren Wohnhäuser auf. Mehrere schmiedeeiserne Balkons mit bunten Blumenkisten blickten über den Prater.

Das Stuwerviertel genießt zwar den halbseidenen Ruf eines Rotlichtviertels, wer sich aber ein Sankt Pauli erwartet, dem ist die Enttäuschung garantiert. Es ist eine ruhige Wohngegend mit geringem Akademikeranteil, ohne schicke Geschäfte und Cafés, dafür mit ein paar Puffs und dem besonderen Plus, dass fast alle Straßen hier von Bäumen gesäumt sind. In Wien eher die Ausnahme, verleiht das dem Viertel einen gewissen Berliner Charme, aber ohne den Hipnessfaktor. Ich kannte die Gegend gut, weil ich unlängst hierhergezogen war.

Ich kannte auch das Café Schnucki, brauchte also Fatrdla nicht wirklich, um es zu finden, hatte mir aber gedacht, es könnte nicht schaden, sozusagen eine Vertrauensperson dabeizuhaben. Auf die Idee, das Schnucki zum Vergnügen zu besuchen, war ich aber noch nie gekommen. Dieses war vom Typus Spelunke, dem dominierenden Kaffeehaustyp im Stuwerviertel. Von außen deutete wenig an dem Ecklokal in einem grauen Nachkriegsbau darauf hin, dass sein Besitzer nicht schon vor zehn Jahren die Koffer gepackt hatte und überstürzt in eine bessere Zukunft abgereist war.

Durch schmutzig graue, halb erblindete Fenster erkannte man grünliche Vorhänge, die seit Jahren nicht gewaschen oder auch nur in ihrer Hängeposition verändert worden waren. Auf einem mit grünlich gemasertem Plastikfurnier gestylten Fensterbrett lag ein verschrumpelter blau-weißer Wasserball. Vor langer Zeit dort gelandet und seitdem vergessen. Vor mir tauchte schwummernd ein Bild auf wie in einer Rückblende mit Harfenuntermalung. Ein Bild von glücklicheren, unschuldigeren, helleren Zeiten, in denen glückliche, unschuldige Prostituierte in Pastell sich anmutig und kichernd den Wasserball zuwarfen. Ich hörte ihr verhallendes Lachen, wie das in Rückblenden immer so ist.

Wir probierten die Metalltür an der Ecke. Geschlossen. Links war eine Klingel angebracht, die Fatrdla beherzt drückte. Nach kurzer Zeit hörte man ein Kratzen im Lautsprecher. Jemand horchte offensichtlich, aber keine Stimme meldete sich.

»Geri hier!«, sagte Fatrdla zur Gegensprechanlage.

Der Lautsprecher kratzte. Er sah uns quasi unverwandt an.

»Fatrdla! Heast, jetzt mach schon auf, ich hab Freunde dabei!«

Das Kratzen veränderte sich: »Freunde?« Das »r« wurde gerollt und war in einen dicken Akzent eingebettet.

Wir wechselten einen Blick. Fatrdla ließ sich ermüdet zusammensacken, warf den Kopf in den Nacken und wippte dann wieder nach vorne zum Lautsprecher. »Freunde! Ja! Der Schorschi ist auch da und hat einen Durst! Und ich hab auch einen.«

Der Lautsprecher kratzte: »Einen was?«

»Durscht!«, schrie Fatrdla.

Der Lautsprecher verfiel in brütendes Schweigen. Dann waren von drinnen Schritte zu hören. Schließlich wurde die Tür geöffnet, und Max Schmeling stand im Eingang. Er trat beiseite und bedeutete uns hereinzukommen.

»Wir chaben geschlossen!«, erklärte er.

Hossak und Schmeling grüßten einander, indem sie die geballten Fäuste mit einem Schlag aneinanderstießen. Dabei klickten die insgesamt fünf Ringe an ihren Händen. Aus einem Ring Schmelings grinste ein Totenkopf.

Wir betraten eine Zwischenwelt. Die Luft war, wie die Vorhänge, graugrün, die Sonne war hier ein ungebetener Gast, der sich nur durch einen einzigen Spalt im Vorhang Eintritt verschaffen konnte. Der einsame Lichtstrahl wurde auf seinem Weg zur Bar größtenteils von Staub und Rauch absorbiert. Solchermaßen geschwächt, vermochte er die verstaubten Pokale, die auf einem Regal über der Bar standen, ebenso wenig zum Glitzern zu bringen wie die trostlose Flaschensammlung vor dem fleckigen Spiegel dahinter.

Eine jahrzehntealte Staubpatina überzog die grünlich weißen Plastikoberflächen mit einer trostlosen Imprägnierung. Links vom Eingang fristete ein verdreckter Karambol-Billardtisch sein Dasein, entlang der Fensterzeile konnte man Sitznischen im Halbdunkel ausmachen.

An einem Glücksspielautomaten neben der Eingangstür lümmelte ein kleiner, hagerer Mann im roten Trainingsanzug. Er warf uns einen Blick durch seine Flieger-Sonnenbrille zu.

Der dunkle Schiffboden knackte, als wir zur Theke gingen, wo am Eck zwei Männer auf Barhockern saßen. Der trübe Spiegel hinter der Bar ließ ihre Ebenbilder geisterhaft erscheinen. Sie sahen zu einem Fernseher auf, der durch den Staub flimmerte. Schmeling trat hinter die Bar und schaute uns an.

»Djevitz«, sagte Hossak, worauf Schmeling sich umdrehte, vier Flaschen Bier aus einem Kühler holte und auf die Bar stellte.

Im Fernseher lief Boxen. Einer der Männer an der Bar war kräftig gebaut, um die dreißig, mit schulterlangen schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. Er hatte ein flaches asiatisch-mongolisches Gesicht und trug einen blauen Trainingsanzug. Der andere war schmächtig, um die fünfzig, hatte einen wirren dunkelblonden Haarschopf, saß krumm auf dem Barhocker und war in eine ausgebeulte schwarze Anzughose und ein weißes Hemd gekleidet. In seinem schmalen, gegerbten, sommersprossigen Gesicht steckten eine seltsam geknickte Zigarette und zwei hellwache blaue Augen. Die Zigarette verbreitete einen abartigen Gestank. Den Augen entging nichts, auch wenn sie scheinbar fest an den Bildschirm geheftet waren.

»Geh bitte!«, regte sich Fatrdla auf. »Rauchts ihr schon wieder dieses Kraut!« Er zündete sich eine seiner Zigaretten an, was das Raumklima auch nicht wesentlich verbesserte, und nahm dann einen herzhaften Schluck Bier. »Pfoa, das zischt. Sehr schön!«

»Ganz klass!«, bestätigte Hossak, der das gerne zu sagen schien.

»Du rauchst Pussy-Zigarjetten«, sagte der Mann mit dem Kartonstängel im Mund, ohne den Blick vom Fernseher zu nehmen. Der russische Akzent überraschte nur wenig. »Sind wie Spaziergang im Wald.« Mit der Zigarette im Mundwinkel nahm der Mann einen Schluck aus einer Espressotasse. Einmalige Technik.

»Pussy-Zigaretten, ich werd dir geben, das ist ein original österreichisches Qualitätsprodukt! Na, ist ja wurscht. Ach so…« Fatrdla fingerte in seiner Jackentasche. »Die hat der Joschi verloren.« Er warf ein Kartonpäckchen auf den Tresen. »Hat ihn wer gesehen?« Er blickte sich fragend um.

Mir kam der Schluck Bier in die falsche Röhre. Ich prustete über den Tresen auf Schmelings Hemd. Dessen Miene verfinsterte sich abrupt. »Was ist? Verträgt Freund nicht Djevitz?«

Der Kartonstängelraucher ließ etwas hören, was wohl seine Interpretation von Lachen sein sollte: »Chn-chn-chn.« Man konnte einen frontalen Goldzahn sehen.

Das Bier war extrastark, aber der Grund für meinen Anfall war nicht das Bier, sondern lag auf dem Tresen. Ein fasriges Kartonpäckchen, mit rosa und blauem Aufdruck. Ein Röhrchen schaute heraus. Genau das gleiche Päckchen wie in der Geisterbahn.

»Sagen Sie jetzt bitte, Sie haben das nicht aus der Geisterbahn mitgenommen, bitte, bitte!«, flehte ich Fatrdla an.

Der räusperte sich, stieg von einem Bein auf das andere und schien angestrengt irgendwas an der Decke zu suchen. »Äh, ja gut, ich habe das, äh, nicht aus der Geisterbahn, äh, mitgenommen…« Er schenkte mir ein großes Hutschpferdlächeln, das aber nicht bis zu den Augen reichte, die blinzelten leicht nervös.

Zeugenentführung, Entwendung von Beweisen vom Tatort. Und der Fall war noch so jung! Warum muss das immer so sein? Der Perschinger würde nicht sehr glücklich sein. Nicht sehr glücklich.

Phillip riss mich aus meinen Gedanken: »Halloo, das ist ja mal’n Tröpfchen!« Er bewunderte das Etikett seiner Bierflasche. Auf der war ein großer Neuner gedruckt.

»Djevitz– neun«, erklärte Schmeling. »Baltika-Bier, es gibt in Nomir eins bis djevitz. Nomir djevitz ist maximal stark. Fast alkoholisch.«

Händeringend sagte ich: »Fatrdla, sind Sie vom Wahnsinn umringt? Sie haben ein Beweisstück vom Tatort entfernt. Das tut man nicht! Schauen Sie denn nicht fern?«

Fatrdla blickte sich prüfend um. »Na joo… ich, also… ach Herrschaft! Ich hab das da liegen sehen und gar nicht nachgedacht und… wir wissen ja, wo’s war. Wir könnten es ja zurückbringen, ja?«

Phillip kicherte.

»Oder wir können’s verschwinden lassen… muss doch keiner wissen«, schlug Fatrdla mit füchsischem Blick vor.

»Ich nehme«, sagte Kartonstängel und streckte die Hand aus.

»Keiner rührt sich!« Ich hielt die Hand schützend über das Corpus Delicti. »Niemand nimmt hier etwas oder lässt irgendwas verschwinden. Wir äh… ja, wir haben das Beweisstück gesichert…«, ich griff das Päckchen mit einem Papiertaschentuch und schob es in meine Jackentasche, »…und es wird der Beweisstücksammlung zugeführt werden.« Ich räusperte mich.

»Du willst es unter die Beweisstücke schummeln«, stellte Phillip fest. »Astrein!«

Ich verdrehte die Augen, aber mir fiel im Moment auch keine euphemistischere Formulierung ein.

»Gschmeidig!«, sagte Hossak.

»Was ist los eigentlich?«, wandte Schmeling sich an Fatrdla. Er deutete mit seinem Kinn, das einem Urgesteinsfelsbrocken glich, auf uns. »Wer sind Freunde? Ist Polizei?«

Wir stellten uns vor. Schmeling war wenig begeistert.

»Was ist das überhaupt für ein Zeug?« Ich deutete dorthin, wo das Päckchen gerade noch gelegen hatte.

»Bjelomorkanal«, sagte Kartonstängel. Er warf mir ein identes Päckchen hin. »Papirossi. Ist russisch. Ist nicht für Weicheier«, fügte er mit einem Blick auf Fatrdla hinzu und ließ seinen Goldzahn wieder sehen.

Ich zog eine der Zigaretten heraus. Sie war so lang wie eine normale Zigarette, nur bestand sie zu zwei Dritteln aus einem hohlen Kartonröhrchen und nur zu einem Drittel aus Tabak in dünnem Zigarettenpapier. Ich roch daran. Nicht gerade das edelste Tabakprodukt, es roch nach Hasenmist und einigen anderen Dingen, die ich weder zuordnen konnte noch wollte.

»Und was kommt da rein?«, fragte ich, in das Röhrchen spähend.

Das löste Heiterkeit bei den Russen aus. »Nichts!«, rief Kartonstängel. »Nitschewo! Geht so…« Er nahm mir die Zigarette weg, knickte das Röhrchen zweimal im Kartonteil, biss zur Demonstration darauf und gab es mir zurück.

Ich nahm es mit spitzen Fingern und drehte es herum. »Sehr interessant! Und das raucht der Joschi, also der Herr Aljoscha, auch?«

»Ich habe ihm gegeben. Ist aber länger her. Wieso?«, sagte Kartonstängel.

»Und wo ist er jetzt, der Herr Joschi? Wir würden ihn nämlich gerne etwas fragen.«

»Was wollen Sie überhaupt von ihm? Aljoscha hat nichts gemacht«, sagte Schmeling.

»Also, hat ihn irgendwer gesehen?«, ignorierte ich Schmelings Frage.

Kapitel 8: Music and Flowers am Vorgartenmarkt

Nachdem wir gemerkt hatten, dass der Sonnenbrillenträger an den Spielautomaten sich heimlich verdrückt hatte, war Phillip in Spitzengeschwindigkeit zur Tür gesprintet, hatte dieselbe aber nicht gleich aufbekommen, weil man zu diesem Zweck einen Öffner an der Wand drücken musste. Bis wir die Tür dann offen hatten, war von der Sonnenbrille, und dem Mann dahinter, nichts mehr zu sehen.

Pech gehabt, da befragten wir eben die drei Russen weiter. Schmeling war nicht wirklich Max Schmeling. Er hieß Dmitri Balujew, war aus Nowosibirsk und hatte eine Boxernase, Boxerohren, einen Boxermund, eine Boxerstirn und Boxeraugen, die in einem Kopf saßen, der aussah, als könnte man ihn in einer Kanone abfeuern oder Flaktürme damit abreißen. Neben seiner Funktion als Wirt war er Boxtrainer und trainierte hier im Keller, unter anderem auch Hossak. Früher in Russland war er bei Speznas gewesen, was irgendwie hässlich klang. Ich nahm an, es handelte sich um etwas KGB-artiges. Er wirkte dafür eher sanftmütig, aber tut Putin das nicht auch? Ich behielt ihn auf jeden Fall im Auge.

Der Langhaarige war Musiker, hieß Wiktor Zibrow, trainierte ebenfalls hin und wieder mit Schmeling, war aber eher Ringer. Außerdem hielt er sich für die Reinkarnation eines berühmten russischen Sängers namens Wladimir Wyssozki. Da sei er durch Meditation in einem Tempel in Sibirien draufgekommen.

Vom Kartonstängelmann wusste ich bislang nur, dass er Tschernow hieß. Er raunte mir seine Vermutung zu, Zibrow hätte eher zu viel schlechten Wodka in Sibirien gefunden als die Erleuchtung. Dabei deutete er mit einem gekrümmten Zeigefinger an seinen Kehlkopf. Seltsame Geste.

Schmeling hatte mittlerweile eine zerkratzte alte Bierflasche mit klarer Flüssigkeit und kyrillischem Etikett auf den Tresen gestellt. »Wodka– direkt aus Cheimat!«

Ich lehnte dankend ab, was mir einen abschätzigen Blick Schmelings einbrachte. Auch Tschernow nippte nur weiter an seinem Espresso, bei dem wurde darüber aber hinweggesehen. Er schien hier unantastbare Autorität zu besitzen. Phillip ließ sich nicht lumpen, er meinte, nach dem Bier sei er neugierig geworden auf die Cheimat, außerdem sei es ja schon halb fünf am Freitag, da fänge man sich auch nix mehr an. Kein Zweifel, er verstand es, sich in eine neue Umgebung zu integrieren. Ja, eigentlich müssten wir nur blutrünstige Irrsinnsmorde aufklären, aber der ist am besten Weg zum gelernten Österreicher, der Phillip, keine Frage.

Wir benickten seine Feststellung anerkennend. Ich konnte nicht trinken, ich musste ja noch Auto fahren. Auto fahren… halb fünf… oh Gott!

»Oh Gott, halb fünf!«, rief ich. »Ich muss weg! Phillip, du kannst ja hier weitermachen, gell. Um sieben gibt’s Gegrilltes, nicht vergessen! Meine Mutter freut sich immer, wenn du kommst, weil du so ein dankbarer Esser bist.«

»Es ist mir ein Volksfest!« Phillip hob sein Glas.