Prato Band 1 – Die acht alten Orte - Adrian Steiner - E-Book

Prato Band 1 – Die acht alten Orte E-Book

Adrian Steiner

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Beschreibung

Die Schweiz im frühen 15. Jahrhundert … Folgen Sie dem jungen Krieger Prato aus dem Land Uri, der im Ringen der Eidgenossen und Mailänder um Macht und Besitzungen seine ganz eigenen Pläne verfolgt …

Im Jahr 1419 wird das Leben des jungen Säumerknechts Prato durch einen tödlichen Überfall am Gotthardpass drastisch verändert. Unschuldig auf der Flucht, sucht er seinen Platz in einer Welt, die vom Machthunger und der Gier der wachsenden Eidgenossenschaft geprägt ist.

Diese Welt formt Prato schließlich zu einem machthungrigen Gesetzlosen, der bald schon zum meistgesuchten Verbrecher in den acht alten Orten aufsteigt …

In Band 1 erleben Sie den Aufstieg des jungen Prato vom Söldner des Landes Uri, der für ein paar Gulden gegen die Städte Mailand und Zürich in den Kampf zieht, zum in allen eidgenössischen Ländern gesuchten Gesetzlosen. Freuen Sie sich auf bärbeißige Krieger, nervenzerfetzende Duelle und waffenstarrende Kriegsschiffe auf dem Vierwaldstättersee …

Adrian Steiners eigenständiger Zyklus „Prato“ spielt rund 50 Jahre vor Antoine de la Fères „Die Nacht am Feuer“ und erzählt aus einer anderen Perspektive vom Ringen der Eidgenossen um Freiheit und Macht. Intrigen, Ränkespiele, Rachegelüste und offener Krieg sind die Zutaten für diesen spannungsgeladenen Roman, der Sie direkt in die mittelalterliche Schweiz katapultiert.

Der Zyklus „Prato“ funktioniert auch, ohne „Die Nacht am Feuer“ gelesen zu haben!

„Prato“ besticht besonders durch die Ortskenntnisse und akribische Recherche des Autors, wodurch er die Schweiz des Spätmittelalters in Ihrem Kopfkino lebendig werden lässt. Adrian Steiner ist selbst Schweizer aus dem Land Uri und lässt eine unvergleichliche Authentizität in seine Texte einfließen. Profitieren Sie zudem von den historischen Hinweisen und Abbildungen, die Ihnen die realen Hintergründe zu der Geschichte des jungen Prato liefern.

Erkunden Sie die Schweiz im Mittelalter! Lesen Sie jetzt den Auftakt zum dreiteiligen Zyklus "Prato". Band 2 erscheint bereits im 4. Quartal 2024.

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PRATO

Die acht alten Orte

Buch 1

Adrian Steiner

EK-2 Militär

Inhalt

PRATO Band 1

Hinweis

Ihre Zufriedenheit ist unser Ziel!

Karte

Prolog

Über die Schweizer Mittelalter-Saga

1. Der Berg

2. Altdorf

3. Bellinzona

4. Grinau

Glossar

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Ihre Zufriedenheit ist unser Ziel!

Neuveröffentlichungen

Über unsere Homepage:

PRATO Band 1

Die acht alten Orte

Adrian Steiner

Aus der Reihe

Schweizer Mittelalter-Saga

EK-2 Militär

Hinweis

Dieser Roman behandelt die Alte Eidgenossenschaft im frühen 15. Jahrhundert und spielt somit hauptsächlich in der heutigen Schweiz. Auch ist der Autor Schweizer. Für maximale Authentizität folgt der Text den Regeln der Schweizer Rechtschreibung; so gibt es beispielsweise kein ß. Die Guillemets (französische Anführungszeichen) werden umgekehrt dargestellt: «»

Das heißt, aus Sicht eines Deutschen oder Österreichers sind sie umgekehrt dargestellt – für Schweizer ist die Darstellung in diesem Buch üblich.

Ihre Zufriedenheit ist unser Ziel!

Liebe Leser, liebe Leserinnen,

zunächst möchten wir uns herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie dieses Buch erworben haben. Wir sind ein kleines Familienunternehmen aus Duisburg und freuen uns riesig über jeden einzelnen Verkauf!

Mit unserem Label EK-2 Militär möchten wir militärische und militärgeschichtliche Themen sichtbarer machen und Leserinnen und Leser begeistern.

Vor allem aber möchten wir, dass jedes unserer Bücher Ihnen ein einzigartiges und erfreuliches Leseerlebnis bietet. Daher liegt uns Ihre Meinung ganz besonders am Herzen!

Wir freuen uns über Ihr Feedback zu unserem Buch. Haben Sie Anmerkungen? Kritik? Bitte lassen Sie es uns wissen. Ihre Rückmeldung ist wertvoll für uns, damit wir in Zukunft noch bessere Bücher für Sie machen können.

Schreiben Sie uns: [email protected]

Nun wünschen wir Ihnen ein angenehmes Leseerlebnis!

Jill & Moni

von

EK-2 Publishing

Karte

Prolog

In den Wirren des mittelalterlichen Europas gab es immer wieder mutige Menschen, die sich erhoben und gegen die willkürliche Herrschaft der Fürsten aufbegehrten. Sie rissen Burgen ein und forderten Freiheit und Gerechtigkeit für sich und ihre Familien. Doch meistens wurden diese Rebellionen in kurzer Zeit gewaltsam niedergeschlagen.

Auch die Bewohner der Waldstätte, einem Gebiet im Herzen der heutigen Schweiz, wehrten sich gegen die Unterdrückung. Doch im Gegensatz zu anderen Aufständigen konnten sie nicht so einfach besänftigt werden. Sie waren hartnäckig, versteckten sich in ihren Bergen und lauerten den gegnerischen Soldaten mit Hinterhalten auf.

Um ihre Forderungen endgültig durchzusetzen, blockierten die Aufständischen den einzigen Zugang zum Gotthardpass, der damals wichtigsten Handelsroute in den Süden. Sie überfielen die Händler, stahlen, plünderten und raubten, bis schliesslich niemand mehr sicher reisen konnte und der Handel zum Erliegen kam.

König Sigismund konnte diese Blockade in seinem Reich nicht lange hinnehmen, denn schliesslich mussten Waren über die Berge transportiert werden. Also erkannte er die Reichsunabhängigkeit der Aufständischen an, um den vielen Händlern und Reisenden zwischen den deutschen und italienischen Städten wieder sichere Wege garantieren zu können. Die Orte der Waldstätte waren von diesem Zeitpunkt an nur noch dem König selbst Rechenschaft schuldig.

Damit beraubte Sigismund die anderen Fürsten ihrer Untertanen und mehr noch, er hob die Untertanen mit einem Schlag auf denselben Stand wie die Fürsten selbst. Natürlich gefiel diese neue Ordnung den Adligen nicht und eine feindselige Stimmung breitete sich aus. Die einzelnen Orte der Waldstätte verbündeten sich untereinander und schworen sich gegenseitig in der Not beizustehen, um die neugewonnene Freiheit mit allen Mitteln zu verteidigen. Mit diesem Eid entstand ein Bündnis zwischen den Ländern, welches künftig als «Eidgenossenschaft» bezeichnet wurde.

Nach und nach schlossen sich weitere Orte an, wodurch sich das Gebiet der Eidgenossenschaft vergrösserte und sich schliesslich in dem Bündnis der acht alten Orte Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Zürich, Zug, Bern und Glarus festigte.

Schon bald sollte dieser Schwur geprüft werden, denn zahlreiche Gegner griffen die widerspenstigen Eidgenossen an. Doch die acht Verbündeten behaupteten ihr Bündnis in zahlreichen grossen Schlachten wie zum Beispiel am Moorgarten, in Sempach und bei Näfels. Sie schlugen jeden Angriff siegreich zurück und verteidigten ihre hart erkämpften Freiheiten.

Das Selbstvertrauen der Eidgenossen erstarkte. Keine einzige Niederlage konnte ihnen zugefügt werden, weshalb sie ihr Bündnis schon bald als gottgewollt betrachteten.

Im Jahre 1404 erblickte dann im südlich gelegenen Untertanengebiet der acht alten Orte, in Livinien, ein Junge das Licht dieser kriegerischen Welt. Der Junge wuchs zum Mann heran und aufgrund seiner aussergewöhnlichen Taten sollte er schon bald zu einer herausragenden Figur seiner Zeit werden. Am Ende seines ereignisreichen Lebens entschied sich der nunmehrige Greis, seine Geschichte in einem Buch niederzuschreiben.

Diese Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten und wird in drei Bänden in dem Zyklus «Prato» erzählt. Dies ist Band 1.

Über die Schweizer Mittelalter-Saga

Die Autoren Antoine de la Fère und Adrian Steiner sind Schweizer und so ist es nur folgerichtig, dass sich ihre Romanreihe «Schweizer Mittelalter-Saga» um jene militärischen Auseinandersetzungen der Eidgenossen im Spätmittelalter dreht, die massgeblich zur Bildung der heutigen Schweiz beigetragen haben.

Ihre Reihe besteht aus unterschiedlichen Zyklen, die jeweils eigenständige Geschichten erzählen. Die einzelnen Zyklen sind lose miteinander verknüpft, funktionieren aber jeweilig ganz wunderbar, ohne die anderen Zyklen gelesen zu haben. Gleiches gilt für die Einzelwerke aus dieser Reihe.

Überblick über die Reihe:

Zyklus «Die Nacht am Feuer» (abgeschlossen)

Die Nacht am Feuer Band 1 – Die Schlachten am WasserDie Nacht am Feuer Band 2 – Der Krieg im Winter

Zyklus «Prato» (wird mit Band 3 abgeschlossen)

Prato Band 1 – Die acht alten OrtePrato Band 2 (erscheint im 4. Quartal 2024)Prato Band 3 (erscheint im 1. Quartal 2025)

Einzelwerke

Die Nacht am Feuer – Die Vorgeschichte (Vorgeschichte zum Zyklus «Die Nacht am Feuer», das E-Book ist gratis erhältlich!)
Kapitel1

Der Berg

«Gib den Bengel her!», hörte ich Devis rufen.

«Nein», schrie meine Mutter. Sie stand beschützend vor mir und versperrte Devis den Weg. Hinter ihm stand der Säumer Jakob, der die Szene gleichgültig beobachtete.

«Geh zur Seite und gib mir den Jungen!», drängte Devis erneut.

«Er ist noch zu klein; er schafft die Arbeit nicht», sagte meine Mutter und schluchzte.

«Du weisst, dass ich ihn auch einfach töten könnte, oder? Doch ich bin gnädig», grollte Devis. «Er kann als Säumer am Berg arbeiten. Jakob wird sich gut um ihn kümmern, stimmt doch?»

Jakob nickte ausdruckslos.

«Er ist noch zu jung; lass ihn noch ein paar Jahre bei mir. Er wird dir keinen Ärger machen», bettelte meine Mutter.

Aber Devis war kein geduldiger Mensch und so schob er meine Mutter grob zur Seite, ohne ihre Bitte mit einer Antwort zu würdigen. Sie schrie und versuchte nach mir zu greifen, doch sie war eine zierliche Frau und Devis ein kräftiger Mann. Mit einem Arm hielt er meine Mutter auf Distanz, mit dem anderen stiess er mich in die Arme von Jakob, der mich auffing und mit seinen starken Händen festhielt.

«Geh mit ihm raus», befahl Devis. Jakob öffnete daraufhin die Tür und verliess das Zimmer, während er mich mitzerrte. Ich wehrte mich und griff hilflos nach dem Türrahmen, um mich festzuhalten. Mit tränenden Augen blickte ich zu meiner Mutter zurück. Sie versuchte sich verzweifelt von Devis zu lösen, bis er die Geduld verlor und sie durch eine kräftige Ohrfeige zum Schweigen brachte. Sie taumelte und schien kurz die Orientierung zu verlieren. Ihre Augen blickten zur Decke und suchten Halt in dem sich für sie drehenden Zimmer.

Kurz darauf zog Jakob mit einem Ruck an mir, ich musste den Türrahmen loslassen und wurde nach draussen gezerrt. Ich wand mich und schlug um mich, doch es nützte nichts. Ich war noch ein Kind und hatte viel zu wenig Kraft, um mich gegen Jakob zu wehren. Ich wusste es damals nicht, doch sollte dies das letzte Mal sein, dass ich meine Mutter sah. In meinen kindlichen Gedanken verfluchte ich Devis und schwor Rache. Eines Tages würde ich zurückkehren und ihn töten.

«Hör auf zu heulen, Junge», versuchte Jakob mich zu beruhigen, als wir schon auf dem Weg zum Berg waren.

Mit «der Berg» war der Gotthardpass gemeint. Dieser steinige, steile Weg durch das Gebirge der Alpen verband den Norden mit dem Süden Europas. Natürlich gab es auch andere Pässe, doch der Gotthardpass bot die schnellste Verbindung zwischen den vielen Handelsplätzen im Norden und den grossen Städten wie Mailand und Venedig im Süden.

Jakob hatte mich mit einem festen Strick an sein Ross gebunden, damit er nicht ständig darauf achten musste, dass ich nicht zurück zu meiner Mutter rennen würde. Zuerst kämpfte ich gegen den Strick an, doch ich merkte bald, dass es zwecklos war. Es war ein kräftiges Pferd, mit stämmigen Beinen. Es war die Art Pferd, die man für das Säumern über den Berg einsetzte. Es wurde tagtäglich mit schweren Fässern und Kisten beladen. Auch wenn ich mit meiner ganzen Kraft gegen das Tier angekämpft hätte, hätte es den Widerstand nicht einmal bemerkt. Also gab ich bald auf und schleppte mich mit feuchten Augen hinter dem Ross her.

«Wenn du tust, was ich dir sage, werden wir gut miteinander auskommen», meinte Jakob und sah mich eingehend an. «Meine Güte, Junge, man könnte meinen, ich schleppe dich zum Galgen. Sei froh, dass deine Mutter eine besondere Stellung bei Devis hat, sonst wärst du jetzt schon ganz woanders.»

Meine Mutter war Devis‘ Frau. Oder besser gesagt eine seiner Frauen. Er besass das grösste Wirtshaus in unserem Tal und viele arme Eltern versuchten ihre hübschen Töchter mit einem reichen Mann zu verheiraten. Also war Devis ein gefragter Mann.

Meine Mutter war eine Schönheit. Als Kind hatte ich das nicht gewusst, das erfuhr ich erst viele Jahre später von anderen Männern. Sie soll die schönste Frau in unserem Tal gewesen sein. Viele hatten sie begehrt, doch niemand hatte sie sich leisten können. Meine Grosseltern wussten, was sie an ihr hatten, und suchten nach der besten Partie für die Familie. Also wurde sie mit Devis verheiratet.

Kann sein, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der Devis wirklich etwas für meine Mutter empfunden hatte. Doch wenn es je so gewesen war, verflog es bald wieder. Das Wirtshaus von Devis lag direkt am Säumerweg südlich des Berges. Alle Reisenden, Söldner, Säumer, Pilger, adelige Herren und Händler, alle passierten sein Wirtshaus und begehrten etwas zu essen und zu trinken, Schutz vor Wind und Wetter und ein warmes Bett.

Devis verfügte von Anfang an über Mädchen, die den Reisenden das kalte Bett wärmten. Und irgendwann, als er meiner Mutter überdrüssig wurde und reiche Männer nach der Schönheit hinter dem Tresen fragten, musste auch meine Mutter diese Aufgabe im Wirtshaus übernehmen.

Ob Devis mein Vater war, oder irgendein Söldner, der auf einem fremden Schlachtfeld einige Pfennige erbeutet hatte, weiss ich nicht. Doch ich hoffe, dass es ein Söldner war.

Auf jeden Fall mochte Devis die Söhne seiner Frauen nicht. Sie waren eine Gefahr für ihn, denn kein Junge sieht es gerne, wenn seine Mutter schlecht behandelt wird. Also zerrte er die Söhne fort und übergab sie einem italienischen Händler, der sie mit ungewisser Zukunft in fremde Städte verschleppte. Es wurden immer Sklaven benötigt, ob als Ruderer auf den Galeeren Venedigs oder als Arbeiter in den Marmorsteinbrüchen bei Florenz.

Also hatte Jakob recht; ich hatte Glück. Ich hatte Glück, dass ich bei ihm gelandet war und nicht bei einem dieser Händler. «Wenn du brav bist und irgendwann deine Rachegelüste abgelegt hast, kannst du deine Mutter und deine Schwester vielleicht wieder besuchen», sagte er, als er neben mir herging.

Meine Mutter hatte vor mir schon einmal ein Kind zur Welt gebracht, meine ältere Schwester Elss. Sie durfte bei meiner Mutter bleiben, denn irgendwann, wenn die Tochter älter und hübsch sein würde, konnte sie vielleicht auch für Devis arbeiten.

Als ich daran dachte, hasste ich Devis noch mehr und bezweifelte, dass ich meine Rachegelüste jemals ablegen würde.

«Wie heisst du eigentlich, Junge?», wollte Jakob wissen. «Devis hat mir nicht viel gesagt. Ich kenne nur deine Mutter Emma. Doch deinen Namen weiss ich nicht.»

Ich war trotzig, wütend, traurig, wahrscheinlich alles zusammen und noch mehr, also gab ich ihm keine Antwort, sondern starrte ihn nur widerspenstig an.

«Kein Name, hm?», beantwortete Jakob nach einer Weile seine eigene Frage. «Ich weiss, dass deine Mutter vom kleinen Kaff Prato kommt, das hat sie mir einmal im Wirtshaus erzählt. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ihre Familie einen kleinen Hof. Eine Kuh, ein paar Ziegen und natürlich Hühner.» Er hielt inne und überlegte, ob ihm sonst noch etwas zu mir enfiel. Dem war wohl nicht so, denn er sah mich wieder an und meinte: «Prato … dann nenn ich dich eben Prato, bis du mir deinen Namen verrätst.»

Ich hörte ihm gar nicht richtig zu. Zum einen, weil ich so aufgewühlt war, zum anderen, weil Jakob sonderbar sprach. Er kannte auch viele Wörter nicht und überlegte lange, ehe er etwas sagte. Damals als Kind vermutete ich einfach, dass er dumm sei und nicht richtig sprechen könne. Wenig später verstand ich, dass er von der nördlichen Seite des Berges stammte und deshalb Deutsch seine Muttersprache war, während wir auf der Südseite Italienisch sprachen. Jakob beherrschte die italienische Sprache nur dürftig. Er konnte sich nur so weit verständigen, wie er es für seinen Beruf als Säumer auf der Südseite des Berges benötigte.

Von da an nannte er mich «Prato». Auch wenn ich ihm später meinen richtigen Namen, Pietro Capa, nannte, blieb er bei Prato. Doch mir gefiel der Name. Er erinnerte mich an meine Heimat. Er erinnerte mich an mein Versprechen, mich bei Devis für mein Schicksal zu rächen. Und so nannte ich mich von da an selbst Prato und liess meinen richtigen Namen mit meinem alten Leben hinter mir.

Jakob führte mich und sein Pferd in dem engen Tal in Richtung Norden, dem Berg entgegen.

«Der Tag ist schon verloren. Es ist zu spät; heute können wir nicht mehr die Passhöhe erreichen», erklärte er unaufgefordert. Ich war mir nicht sicher, ob er mit mir oder dem Pferd sprach. Ich war erst seit diesem Tage sein Knecht, wohingegen ihn das Ross schon länger begleitete. Also nahm ich an, er sprach mit dem Pferd, und antwortete nichts.

«Aber Devis hat uns entschädigt. Also halb so wild. Wir werden den Berg morgen besteigen. Heute Abend machen wir es uns in Airolo gemütlich.»

Da er jetzt Deutsch sprach, verstand ich ihn nicht. Meine Mutter hatte mit mir ausschliesslich Italienisch gesprochen, so wie alle Leute in unserem Bergtal. Doch verstand ich den Namen Airolo. Das war die letzte kleine Siedlung vor dem Gotthardpass. Dort befand sich eine grosse Sust, das wusste ich von den anderen Knechten, die Devis hatte.

Die Susten waren wichtige Orte für die Säumer. Es handelte sich dabei um Zwischenlager, wo ein Säumer die Ware, die er transportierte, für den nächsten Säumer ablegte und seinen Rückweg wieder mit neuer Ware antrat. So wanderte die Ware mit jedem Säumer von einer Sust zur nächsten.

«Warst du schon einmal in Airolo?» Jakob sah mich an. Er sprach wie mit seinem Pferd immer noch Deutsch, weshalb ich ihn nicht verstand. Natürlich bemerkte er es und erkundigte sich in schlechtem Italienisch: «Du sprichst wohl kein Deutsch?»

Ich sagte immer noch nichts, doch nach ein paar Augenblicken schüttelte ich den Kopf, um die Frage zu verneinen.

«Macht nichts, du wirst es schon noch lernen. In Airolo wartet mein anderer Knecht Veit mit den weiteren Pferden auf uns. Er spricht nur Deutsch, kein Wort Italienisch. Mit der Zeit werdet ihr euch sicher verstehen.»

In unserem Bergtal Livinien gab es nicht viel. Wir kamen an ein paar kleineren Siedlungen vorbei, die Leute beachteten uns kaum. Die Bewohner des Tals lebten hauptsächlich von der einfachen Viehwirtschaft. Aus Milch wurden Käse, Ricotta und Zieger hergestellt. Kleine Gemüsegärten wurden unterhalten und Trauben für den Weinanbau angepflanzt.

Davon konnte man nur schwer leben. Doch mit dem aufblühenden Reiseverkehr über den Berg kam auch das Geld in das Tal. Wer immer konnte, versuchte den Reisenden seine Dienste als Säumer oder Knecht anzubieten. Es gab ein nicht enden wollender Strom an Waren, die stetig aufgeladen und abgeladen werden wollten. Von Norden in den Süden wurden Erz, Leinwand, Schafleder, Felle, Wolle, Grautuche, Zinn, Käse und gesalzenes Schweinefleisch transportiert. In die andere Richtung, von Süden in den Norden, hingegen Lorbeeren, Baumwolle, Gewürze, Spezereien, Wachs, Stahl, Färberröte, Pferde, Seidenstoffe, Werkzeuge, Getreide, Hülsenfrüchte, Mehl, Salz, Kastanien, Hafer und Wein.

Die Händler und Kaufleute, die diese Waren von einer Stadt in die nächste brachten, bezahlten gut für Unterkünfte, für Pferde und Helfer. Also arbeiteten die Bewohner des Tals wann immer möglich für die Reisenden. Einige gaben ihren Hof ganz auf und verdingten sich nur noch als Säumer oder Knechte.

Irgendwann am Abend erreichten wir Airolo. Auch wenn ich in der Nähe aufgewachsen war, war ich noch nie zuvor in Airolo gewesen. Nichtsdestotrotz hatte ich schon die anderen Knechte von Devis über den Ort sprechen hören. Und sie behielten recht: Es handelte sich nur um eine kleine Kirche und ein paar einfache Hütten, die rund um die Sust errichtet worden waren. Jakob hielt direkt auf die Sust zu. Dort wartete ein junger Kerl auf uns. Jakob begrüsste ihn mit einem Nicken und übergab ihm die Zügel seines Pferdes.

Ich war immer noch mit einem fest verknoteten Strick um meinen Bauch mit dem Ross verbunden und so erblickte der andere Knecht mich zwangsläufig. Er sah mich ausdruckslos an und sprach dann zu Jakob.

Nun sah auch er zu mir und sie redeten beide offensichtlich über mich. Ich versuchte beide trotzig anzufunkeln, doch im Nachhinein bezweifle ich, dass mir das damals gelang. Denn wieder überkam mich eine tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ich war nun weg von meiner Mutter Emma und meiner Schwester Elss. Und das letzte Bild von meiner Mutter, welches ich im Kopf trug, verewigte den Augenblick, als Devis sie schlug. Es war also nicht nur mein Schicksal, das meinen Magen verkrampfen liess, sondern auch das meiner Mutter und meiner Schwester. Es war ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend, als ob etwas tief in mir drin nicht mehr stimmen würde. Ich merkte, dass sich mein Leben änderte.

Jakob konnte mit Kindern nicht umgehen und er schätzte sie auch nicht. Zu Beginn war ich für ihn einfach nur ein zusätzlicher Saum, den er wie alles andere mit sich über den Berg schleppen musste.

Ich wollte zurück zu meiner Mutter und meiner Schwester. Oft schmiedete ich jungenhafte Pläne, wie ich von Jakob fliehen und mich an Devis rächen konnte.

Jakob erahnte meine Gedanken und warnte mich davor, je in die Nähe des Wirtshauses zu gehen. Devis hatte genügend Männer um sich geschart, die seinen Besitz verteidigten. Wer so viel Reichtum angehäuft hatte, wusste ihn auch zu schützen.

«Wenn du auch nur in die Nähe von Devis gehst, was denkst du, wird er tun, wenn er dich sieht?», wollte Jakob von mir wissen.

Ich starrte ihn nichtssagend an.

«Er wird dich umbringen, Junge. Niemanden wird es interessieren! Und was hat es dann genützt? Du bist tot und ich muss einen neuen Knecht suchen.»

Mein ganzes Leben spielte sich jetzt tief im Gebirge zwischen dem Flecken Airolo und dem Gotthardpass ab. Die ersten Monate waren schwer. Ich hatte Heimweh, ich vermisste meine Mutter und meine Schwester Elss. Ich vermisste meine gewohnte Umgebung, ich vermisste die anderen Kinder und die Knechte … zumindest die, die freundlich zu Kindern waren.

Ich weiss nicht, wie alt ich damals war, vielleicht elf Jahre? Sicher war ich noch klein und schwach, als Devis mich in die Obhut von Jakob gab. In dem Alter konnte er mich noch einfach ohne Gegenwehr weggeben.

Eine wirkliche Hilfe war ich für Jakob nicht, denn es handelte sich um anstrengende Arbeit. Die Fässer, Kisten und Säcke waren zu schwer für mich oder ich war zu klein, um sie auf die grossen Pferde hinaufzuheben. Also bestanden meine Aufgaben aus den einfachsten Arbeiten: Essen zubereiten, die Pferde striegeln und reinigen, die Mäntel und Kleider in den kalten Bächen des Berges waschen.

Der schwierigste und beschwerlichste Teil war aber der Marsch den Berg hinauf und wieder hinunter. Wann immer es das Wetter erlaubte, machten wir uns im Tal auf und versuchten den Gebirgspass möglichst sicher zu erreichen.

Abbildung 2: Saumtierkolonne (Nach Jentzsch, um 1800)

Der gefährlichste Abschnitt befand sich kurz vor der Passhöhe. Der Hang, den wir erklimmen mussten, war so steil, dass wir weite Bögen machen mussten, um die Steigung zu bewältigen. Ich konnte dort viele Reisende beobachten, die den Pfad nur zaghaft und mit unsicheren Schritten entlanggingen. Im Winter, wenn der Schnee lag, zogen es viele vor, den steilen Hang auf allen Vieren hinunterzukriechen, anstatt zu laufen.

«Durch die Gnade des Himmlischen kamen wir vor Sonnenuntergang in Airolo an, das 5 000 Schritte unter dem Berge liegt. Dieser Pfad ist stellenweise so steil und abschüssig, dass man im Aufstieg kriechen und im Abstieg rutschen muss. Man schaudert, wenn man von der Höhe des Berges jene erblickt, die im untern Tale schreiten. Diese scheinen nicht abzusteigen, sondern in einen Schlund zu stürzen und unterirdischen Häusern zuzustreben. In Airolo ruhten wir in der Nacht aus, froh, dass wir diesen so gefährlichen Weg heil überwunden und dass wir wieder Italien erreicht hatten.»⁠1

Wenn man dann endlich die Höhe erreicht hatte, fand man eine Hochgebirgsebene, in der ständig ein eisiger Wind von Norden oder von Süden her zog. Doch selbst diese Hochebene war flankiert von noch grösseren Gipfeln. Wolken konnten diese Berge nicht passieren. Ich hatte oft erlebt, wie im Tal Livinien die Sonne schien, während auf der Nordseite ein ganz anderes Wetter herrschte.

Bäume wuchsen bereits am Fusse des Berges nur spärlich, während sie weiter oben ganz fehlten. Es handelte sich um ein karges, steiniges Gebiet, bewohnt nur von Murmeltieren, Steinböcken und bösen Geistern.

Jeden Morgen sah Jakob in den Himmel auf und versuchte das Wetter zu deuten. Ein Wetterumbruch am Berg konnte gefährlich werden.

«Wenn es im Osten heiter ist, so kann man sicher reisen; wenn aber der Nordwind geht, ist der Übergang gefährlich», mahnte er.

Nach einigen Monaten konnte ich bereits etwas Deutsch sprechen und noch besser verstehen. Ich lernte die Sprache schnell, denn etwas anderes blieb mir nicht übrig. Der andere Knecht, Veit, sprach eben kein Italienisch. Jakob weigerte sich, nur für mich Italienisch zu sprechen. Eher schrie er mich so lange an, bis ich begriff, was er von mir wollte.

Veit war älter als ich, mittelgross, kräftig und hinkte leicht. Es hinderte ihn jedoch nicht am Gehen, nur rennen konnte er nicht mehr gut.

Je besser ich Deutsch beherrschte, desto besser lernte ich Veit kennen. Er behandelte mich nicht herablassend. So kam er in dieser Zeit einem Freund am nächsten, denn sonst gab es niemanden für mich. Jakob war unser Meister und ausserdem um einiges älter als wir beide.

«Wie lange bist du schon hier?», wollte ich von ihm wissen.

«Hier bei Jakob? Etwa zwei Sommer», antwortete er mir. «Ich komme aus dem Fischerdorf Brunnen, das gehört zu dem Ort Schwyz.» Er sah mich prüfend an und wollte dann wissen: «Weisst du, wo das liegt?»

Woher sollte ich das wissen? Ich kannte nur den Berg und einen kleinen Teil meines Tales, Livinien. Also schüttelte ich den Kopf, um seine Frage zu verneinen. Ich hatte keine Ahnung, was sich ausserhalb Liviniens befand.

«Du musst über den Berg und dann immer weiter in Richtung Norden», begann er zu erklären: «Dann kommst du irgendwann an einen grossen See. Da steigst du in ein Boot und ruderst bis zum nächsten Dorf, das ist dann Brunnen.» Er seufzte. «Ich habe dort einige Zeit im Hafen gearbeitet, habe den Fischern und den Säumern geholfen. Viele Waren, die wir jetzt hier über den Berg schleppen, waren vorher in Brunnen. Ein anderer Säumer hat sie in der Sust dort abgeladen und ich habe den Saum dann von der Sust auf die Nauen geladen. Der Schiffsmeister hat ihn in das Land Uri gebracht, wo andere Säumer ihn abluden und wieder dem nächsten übergaben. Und so ging das immer weiter, bis die Kisten und Fässer dann hier auf dem Berg oben ankommen, wo wir armen Kerle sie entgegennehmen müssen und in die Sust in Airolo bringen.»

«Wo sie ein anderer wieder nimmt und weiter in den Süden bringt?», schlussfolgerte ich.

«Ja, nach Bellinzona. Warst du schon in Bellinzona?», fragte er jetzt mit erwartungsvollem Blick.

Von Bellinzona hatte ich natürlich schon gehört, aber auch dort war ich noch nie gewesen. Es musste sich um einen wichtigen Ort handeln, denn ich wusste, dass es dort drei grosse Burgen gab.

«Nein, ich war auch noch nie in Bellinzona», antwortete ich beschämt. Ich fühlte mich wie der Hinterwäldler, der ich auch war.

«Huh», entgegnete er verblüfft. «Ich dachte, jeder Livinier sei sicher schon einmal in Bellinzona gewesen.»

«Warum sollte ich dort gewesen sein?», wollte ich wissen.

«Einfach, weil es ein bedeutender Handelsplatz ist und der grösste Ort südlich des Berges vor der Stadt Mailand.»

Wieder schüttelte ich den Kopf, um zu verneinen.

«Bellinzona ist begehrt. Jakob sagt, dass das Land Uri die Stadt Bellinzona kaufen will. Damit würde euer Land auf einen Schlag alle Zugänge zu den Pässen kontrollieren.»

Ich verstand nicht, was er mir sagte, wunderte mich aber darüber, dass er meinte, Bellinzona würde dann uns gehören.

«Na, der Ort Uri.» Er sah mich verdutzt an. «Deine Heimat, das Tal Livinien, gehört dem Ort Uri, das auf der nördlichen Seite des Berges liegt. Ihr Livinier habt den Treueeid geschworen. Du gehörst also zum Ort Uri, genauso wie Jakob. Ich gehöre zum Ort Schwyz, das wiederum nördlich des Ortes Uri liegt», erklärte er mir. Ich merkte, dass ich nichts von der Welt wusste.

Veit erzählte mir noch von weiteren Dingen, die ich seiner Meinung nach wissen musste. Und das war gut so.

Er erzählte mir von den blutigen Schlachten, in denen die tapferen Eidgenossen die Ritter fremder Herren mit ihren Waffen vom Pferd gerissen und danach mit dem Beil den Schädel gespalten hätten. Er erzählte von Helden, von Männern, die man bewundern könne, von furchtlosen und gefürchteten Kämpfern. Von den Orten Uri, Schwyz und Unterwalden, die sich weigern würden, fremde Herren anzuerkennen und sich gegenseitig geschworen hätten, einander wie Brüder im Kampfe beizustehen. Und auch von anderen Orten, die diesem Bund beitreten würden.

Ich lernte, dass wir Livinier zu dem ruhmreichen Ort Uri gehörten, und somit auch, wer unsere Feinde waren.

All diese Geschichten hatte ich natürlich schon bruchstückhaft in Devis‘ Wirtshaus von den Knechten und den Reisenden gehört. So mancher Söldner lallte nur zu gern von seinen angeblichen Heldentaten auf dem Schlachtfeld. Die Priester erzählten von pompösen Treffen der fremden Herren und unseren Landammännern, bei denen über Grenzsteine, Weideland oder Kriegseinsätze verhandelt wurden.

Doch konnte ich diese Geschichten einzeln nicht zuordnen. Wir Kinder machten jeweils grosse Augen und stellten uns die Schlachtfelder mit mutigen und ruhmreichen Kämpfern vor. Doch was das wirklich bedeutete, war uns fern.

Irgendwann fragte ich Veit, wieso er leicht hinkte, worauf er mir nur zu gern von seinem kurzen Einsatz als Krieger erzählte:

«Eines Tags rief der Landammann des Landes Schwyz, Ital Reding der Ältere, zum Raubzug in das Gebiet des Aargaus auf. Natürlich waren wir alle aufgeregt und machten uns sofort bereit, dem Ruf unseres Landammanns zu folgen. Wir hofften auf Raubzüge, Plünderungen, Ruhm und Ehre. Aber wir Schwyzer waren zu spät.» Er hielt inne. «Als wir dort ankamen, war bereits alles von unseren Verbündeten, den Orten Luzern, Zürich und Bern, geplündert worden», erklärte er. Das Hinken habe er von einem Streit mit einem Luzerner um Beute davongetragen.

Als er aus Aargau heimkehrte, gab es keinen Bedarf an Kriegern mehr, besonders nicht, wenn sie verletzt waren. Also ging er wieder zum Hafen von Brunnen zurück und nahm jede Arbeit an, die sich ihm anbot. Manchmal wurde er als Ruderer oder Geleitschutz angeheuert, sodass er langsam mit dem Saum mitwanderte, bis er schliesslich auf der Südseite des Gotthards bei Jakob landete.

Die nächsten vier Jahre war dieses Leben meine ganze Welt. Wir beluden die Rösser, kämpften uns den Berg hinauf, luden die Ware ab, luden neue Ware auf und begaben uns wieder auf den Weg hinunter nach Airolo, wo wir den Saum in der Sust verstauten und am nächsten Tag das Ganze wiederholten.

Ich weiss nicht genau, wie alt ich heute bin, weshalb ich auch mein Alter damals nur schätzen kann. Wahrscheinlich war ich etwa 15 Jahre alt. Auch wenn ich mich nicht mehr an alles in meinem langen Leben erinnere, so erinnere ich mich doch noch an diesen einen Tag … diesen einen heissen Sommertag.

Die Sonne schien und die sechs Rösser von Jakob stampften in gewohnter Manier den Gebirgspfad entlang. Ich wischte mir den Schweiss von der Stirn und blieb kurz stehen, um mich umzuschauen. Dabei beobachtete ich die Tiere, die aneinandergebunden und schwer bepackt den Berg erklommen. Jakob ging zuvorderst und hielt die Zügel des Leitpferdes nur locker in der Hand.

Manchmal glaubte ich, die Tiere wüssten genau, wo ihr Ziel lag. Ich fragte mich, ob die Tiere den Weg auch selbst finden würden, sodass man sie in der Sust nur noch beladen müsste und sie dann selbstständig den Berg hinaufgingen.

Das zweithinterste Ross wieherte und dabei bemerkte ich, wie tief ich in meine Gedanken versunken war. Der Saumpfad war immer der gleiche und abgesehen von den Strapazen hatte ich genügend Zeit, mir über Gott und die Welt Gedanken zu machen.

Ich setzte mich wieder in Bewegung und folgte den Tieren. Jakob schaute immer wieder zurück, um sich zu vergewissern, dass noch alle Tiere beisammen waren, und noch wichtiger, dass jeder Saum noch da war, wo wir ihn befestigt hatten. Er war sehr penibel, wenn wir am Morgen die Rösser beluden. Wir durften uns keine Fehler erlauben.

Etwa die erste Hälfte des Morgens war verstrichen. Wir befanden uns oberhalb von Airolo, an der Westseite des Tales, welches in Richtung Hospiz führte. Auf diesem Abschnitt wurde der Pfad für kurze Zeit etwas flacher und wir konnten wieder zu Atem kommen. In der Zwischenzeit hatten wir bereits einige Höhenmeter erklommen. Wenn ich zurück ins Tal hinuntersah, konnte ich die kleine Siedlung Airolo erkennen. Auf diesem flachen Wegabschnitt streckte ich meine Beine bei jedem Schritt aus, um die Muskeln zu entspannen. Schon fast gemütlich trotteten wir dem nächsten steilen Aufstieg entgegen.

Wir kamen an diesem klaren Morgen gut voran. Bald hatten wir den flachen Abschnitt bewältigt und befanden uns nun vor dem nächsten, steilen Hang, an dem sich der Weg in weiten Serpentinen den Berg hinaufschlängelte.

Das hinterste Ross hielt plötzlich an, um sein Geschäft zu verrichten. Ich trat eilig einen Schritt zurück, um ja nicht von Mist getroffen zu werden. Ich wartete also geduldig in sicherem Abstand und schaute auf die Strecke vor uns.

Dabei dachte ich eine Bewegung hinter einem grossen Felsbrocken zu erkennen. Es war nur eine kurze Veränderung der Umrisse des grauen Gesteins, sodass ich mir kurz darauf nicht mehr sicher war, es wirklich gesehen zu haben. Doch Überfälle auf Säumer waren keine Seltenheit, das bläute uns Jakob immer wieder ein. Ich selbst hatte noch nie einen erlebt, doch am Abend wurden oft Schauergeschichten unter den Säumern ausgetauscht. Was an diesen abenteuerlichen Erzählungen wirklich dran war, vermochte ich nicht zu sagen. Doch es war eine allgegenwärtige Gefahr und so bestand Jakob darauf, dass wir ihm verdächtige Vorkommnisse sofort meldeten.

Also ging ich pflichtbewusst an den Rössern vorbei und bewegte mich nach vorne zu Jakob. Dabei rief ich nach ihm, jedoch konnte er mich durch das Scheppern der Kisten auf den Rössern nicht hören. Auf meinem Weg nach vorne kam ich zuerst an Veit vorbei und erzählte ihm von meinen Beobachtungen. Er nickte und da Jakob zuvorderst schon sehr nahe an dem Felsblock war, eilten wir ihm gemeinsam nach.

Noch immer hörte er uns nicht, er war ein alter Mann. So kam es, dass wir drei die besagte Stelle fast gemeinsam erreichten. Endlich drehte er sich in unsere Richtung, als wie befürchtet zwei Männer hinter dem Stein hervorgeschossen kamen.

Es ging alles sehr schnell. Ich sah, dass sich einer auf Veit stürzte, während der andere etwas Funkelndes in der Hand hielt und dabei auf mich zu rannte. Veit stürzte rücklings zu Boden und versuchte den Angreifer von sich zu stossen. Gleichzeitig machte ich im letzten Augenblick einen Sprung zur Seite und konnte so der Dolchspitze, die auf meinen Bauch gerichtet war, ausweichen.

Der, der auf Veit lag und ihn auf den steinigen Pfad drückte, rief: «Los, stich den Jungen ab!»

«Was soll das, wer seid ihr?», verlangte Jakob aufgebracht zu wissen.

«Das weisst du genau, Jakob», antwortete der Mann, der auf Veit lag.

Jakob schien nicht zu verstehen, denn er rief nur: «Halt … haltet ein!» Der Angreifer mit dem Dolch setzte da erneut auf mich an.

Natürlich rannte ich weg. Ich rannte um den Felsblock herum, sodass ich mich dahinter verstecken konnte. Sobald ich den Kerl auf einer Seite auf mich zukommen sah, rannte ich in die andere Richtung um den Stein herum. Und da erkannte ich den Angreifer plötzlich und rief zu Jakob: «Meister, das sind Knechte von Devis!»

Ich hörte, wie Veit mit seinem Angreifer rang und von diesem dann fixiert wurde, da er viel massiger war als Jakobs Knecht, während Jakob selbst brüllte: «Devis schickt euch? Ihr wollt den Sohn seiner Hure umbringen? … Ich hatte einen Handel mit Devis! Er ist jetzt mein Knecht!»

«Natürlich hattest du einen Handel. Doch der galt nur, so lange Pietro noch klein war und keine Unruhe stiften konnte. Jetzt will Devis kein Risiko mehr eingehen. Bald wird er gross genug sein und sich auf seine Rachegelüste besinnen. Devis hat keine Lust darauf», antwortete der Kerl auf Veit.

In der Zwischenzeit hatte ich den Felsen einmal umrundet und Jakob erschien jetzt wieder in meinem Blickfeld. Instinktiv rannte ich auf ihn zu, in der Hoffnung, dass mich der alte Mann irgendwie beschützen konnte. Mein Verfolger war mir dicht auf den Fersen. Jakob hielt die Hände ausgestreckt vor sich und wollte mich wohl bremsen. Doch das beachtete ich nicht; ich wollte mich hinter ihm verstecken, wollte, dass er uns irgendwie aus dieser Situation befreien würde. Ich entwischte Jakobs Händen und versteckte mich hinter ihm. Genau in diesem Augenblick stolperte der Dolchträger und rammte die geschärfte Spitze in den Bauch des alten Mannes.

«Nein!», rief ich, während Jakob zwischen mir und dem Angreifer langsam auf die Knie sank. Auch der Halunke war durch sein Stolpern unsicher auf dem Boden gelandet. Sobald er wieder einen festen Stand hatte, zog er den Dolch aus Jakob. Der alte Mann fasste sich entsetzt mit beiden Händen an den Bauch und versuchte verzweifelt, die wertvolle rote Flüssigkeit in seinem Körper zu behalten, die jetzt zwischen seinen Fingern auf den Boden tropfte.

«Du Idiot», hörte ich den Mann auf Veit rufen.

In dieser Sekunde, in der der schwere Kerl abgelenkt war, konnte sich Veit einen Stein von dem Säumerweg greifen und schwang ihn kraftvoll gegen das Gesicht seines Gegners. Der sackte in sich zusammen und Veit warf ihn zur Seite. Sofort kam er mühsam auf die Beine und rannte auf mich zu.

«Los weg hier!», rief er.

Ich stand wie angewurzelt da. Auch der Dolchträger hatte einen entsetzten Gesichtsausdruck. Ganz offensichtlich hatten sie das so nicht geplant. Statt eines unbedeutenden Jungen verblutete nun ein geachteter Mann des Landes Uri vor uns.

Veit eilte herbei und im Lauf rammte er dem Mörder seinen Ellenbogen ins Gesicht, worauf der den Dolch fallen liess und zur Seite kippte. Veit fasste mich am linken Arm und zerrte mich fort.

«Wir müssen Jakob helfen!», rief ich zu Veit, als wir eine gewisse Distanz zwischen den Ort des Überfalls und uns gebracht hatten. Also drehte er sich nochmals um und gemeinsam betrachteten wir den alten Mann, der in der Zwischenzeit zusammengekauert auf dem Boden in seiner Blutpfütze lag.

«Jakob ist tot, Prato.» Veit sprach das Offensichtliche aus. Gleichzeitig regten sich die beiden Knechte von Devis wieder und sahen in unsere Richtung. Für einen Augenblick blickten wir vier einander an und wägten die nächsten Schritte ab.

Irgendwann rief der Mörder in unsere Richtung: «Wir werden dich finden, Pietro. Devis wird seinen Willen bekommen, auch wenn ihr jetzt wegrennt.»

Wir sagten beide nichts und warteten ab.

«Du», der Mörder zeigte auf Veit, «bring uns den Jungen. Wir wollen nur ihn. Dann kannst du deiner Wege gehen.»

Veit betrachtete mich und ich weiss, dass er nicht eine Sekunde über das Angebot nachdachte. Er antwortete: «Lasst uns in Frieden. Wir gehen in den Norden, weit weg von Devis. Er soll es bleiben lassen.»

Und damit eilten Veit und ich los, dem Berg entgegen, so schnell Veit konnte. Dem steinigen Pfad folgend, immer weiter hinauf. Wo Serpentinen weite Bögen machten, nahmen wir Abkürzungen und liefen schnurstracks die Hänge hinauf. Irgendwann sahen wir zurück, um uns nach den Angreifern umzusehen. Doch die befanden sich immer noch an derselben Stelle wie zuvor. Offensichtlich hatten sie eingesehen, dass sie uns nicht einholen würden, und beliessen es dabei.

Ich schluchzte in mich hinein, während ich Veit schwer atmend folgte. Irgendwann erreichten wir das Hospiz auf dem Pass, dem höchsten Punkt. Es handelte sich dabei um eine einfache Hütte, die den Säumern und Reisenden eine notdürftige Unterkunft bot, wenn sich das Wetter auf dem Berg wieder einmal unvorhersehbar zum Schlechten änderte.

Ausserdem wurde das Hospiz dafür genutzt, den Saum der am nördlichen Berghang arbeitenden Säumer an die am Südhang arbeitenden zu übergeben. Es konnte also sein, dass der Säumer Paul dort anzutreffen war.

«Sie werden uns beschuldigen, Jakob getötet zu haben», sagte Veit, als wir beide um Atem ringend die einfache Hütte beobachteten. «Niemals werden die beiden Knechte zugeben, dass sie es waren», ergänzte er.

Ich nickte, denn das glaubte ich auch.

«Es wird also das Beste sein, wenn wir uns bedeckt halten und niemandem unsere richtigen Namen auf die Nase binden.»

«Wohin gehen wir denn?», wollte ich von Veit wissen. Ich hoffte darauf, dass er mich weiterhin bei sich bleiben lassen würde. Zumindest hatte er mich nicht den Knechten übergeben, was ich als gutes Zeichen deutete.

«Von hier aus gibt es nur eine Richtung: in den Norden. Also zunächst in das Land Uri. Dort sehen wir weiter. Vielleicht gehe ich auch weiter, zurück nach Brunnen. Ich bezweifle, dass Devis‘ Einfluss so weit reicht. Dort wird sich niemand dafür interessieren, was hier am Berg geschah.»

Im Tal herrschte ein warmer Sommertag, doch hier oben bliess der Wind unbarmherzig über die Ebene. Wir wagten es nicht, uns im Hospiz zu zeigen, da wir zwei bekannte Gesichter waren und sofort die Frage aufkommen würde, wo Jakob sei. Also schlugen wir einen grossen Bogen um das Hospiz und schlichen abseits des Weges in Richtung Norden.

Wir gingen so lange weiter, bis der Tag sich schliesslich dem Ende zuneigte und es dunkel wurde, sodass wir den Pfad kaum mehr ausmachen konnten. Das Gebirge war tückisch. Auch wenn man glaubte, dass man den Weg kannte, konnte es sein, dass man sich plötzlich auf einem Felsvorsprung wiederfand und unversehens in die Tiefe stürzte.

Deshalb suchten wir irgendwo einen grossen Felsbrocken, unter den wir uns so tief wie möglich verkriechen konnten, um Schutz vor Wind und Wetter zu finden. Es wurde eine eiskalte Nacht. Wir hatten kein Holz dabei; dieses befand sich mit allem anderen auf einem der Pferde von Jakob. Also konnten wir kein Feuer entfachen und schlotterten die ganze Nacht hindurch, bis sich nach einer endlos scheinenden Zeit das erste Grau des neuen Tages am Horizont abbildete.

Sofort brachen wir auf, denn es gab nichts, was uns dort unter dem Felsbrocken länger hielt als nötig. Wir wollten so schnell wie möglich weiter ins Tal absteigen, wo das Wetter und der Wind hoffentlich etwas freundlicher waren.

Schliesslich konnten wir in der Ferne das Dorf Urseren ausmachen; es war die grösste Siedlung in diesem trostlosen Hochtal.

«Wir brauchen was zu essen», sagte Veit. Dem konnte ich nur zustimmen. Mein Magen verkrampfte sich schon seit dem Vorabend.

«In dem Dorf dort vorne gibt es ein Wirtshaus. Ich war vor langer Zeit einmal dort.»

«Also gehen wir dorthin?», fragte ich Veit. Ich dachte daran, wie er davor gewarnt hatte, sich mit Fremden über Jakobs Tod zu unterhalten.

«Ja», antwortete er knapp.

«Und wenn uns jemand erkennt und nach Jakob fragt?», mahnte ich.

«Das glaube ich nicht. Du warst ja noch nie in diesem Dorf, oder?»

«Nein.»

«Und ich war schon lange Zeit nicht mehr hier. Niemand wird sich an mich erinnern», sagte Veit.

Das Zentrum des Tales schien versumpft zu sein, weshalb dort keine Gebäude errichtet worden waren. Doch auf der rechten Talseite fanden sich einige verstreute Häuser und Scheunen. An einer Stelle standen die Häuser dichter beisammen und schmiegten sich an einen bewaldeten Hügel. Dort, am Waldrand, hatte sich ein Dorfzentrum gebildet, wo sich das Wirtshaus, eine kleine Schmiede, ein Kornspeicher und ein Brunnen befanden.

Als wir uns dem Wirtshaus näherten, beobachteten uns die Bewohner skeptisch. Das Dorf befand sich am Reisepfad über den Gotthardpass und so waren sie sicher Durchreisende gewohnt.

Es gibt zwei Arten von Reisenden: Reiche Herren, Adlige, Geistliche und Gesindel, Söldner und Bettler. Zweifelsfrei erkannten die Bewohner, dass wir zu der Gruppe der Bettler gehörten, und dementsprechend wurden wir argwöhnisch beäugt. Die Einheimischen hatten ihre Erfahrungen mit herumziehenden Räuberbanden gemacht. Aber weil wir nur zu zweit waren, ein Mann und ein Junge, ging von uns keine grosse Gefahr aus, und man liess uns in Ruhe.

Wir fanden das Wirtshaus und traten ein. Wir schlossen die Tür und gingen zu einem freien Tisch. Sobald ich mich etwas entspannt hatte, sah ich mich im Raum um: An zwei Tischen sassen Männer zusammen und tranken Bier.

«Grüss Gott», ertönte eine Stimme hinter uns.

Als wir uns umdrehten, sahen wir einen grossen Mann, der uns missbilligend ansah. Natürlich erkannte er uns als das, was wir waren: zwei Habenichtse.

«Herr, wir möchten nur etwas essen. Wir können natürlich bezahlen», sagte Veit respektvoll.

Der Mann sah uns weiter an und nickte nach einigen Augenblicken: «Ich heisse Hunthar. Seid willkommen in meiner Stube. Wer seid Ihr?»

Ich sagte nichts, da ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen und weil Hunthar sowieso nur Veit ansah.

«Ich heisse Veit. Ich bin Knecht in Brunnen. Mein Meister hat eine Schwester nahe der Piottino-Schlucht, unten im Süden im Tal Livinien. Dieser Junge hier», Veit nickte in meine Richtung, «ist der Sohn dieser Schwester, Prato. Mein Meister braucht einen weiteren Knecht und da seine Schwester sowieso zu wenig zu beissen hat, sollte ich ihn nach Brunnen holen.»

Ich wunderte mich, wie schnell Veit diese Geschichte hervorzauberte. Anscheinend hatte er diese Situation vorausgesehen und sich bereits Gedanken dazu gemacht.

Hunthar nickte und war offensichtlich zufrieden. Später brachte er uns Gerstenbrei, Käse, etwas geräuchertes Fleisch und Wein. Wir schlangen alles gierig hinunter und der Wein wärmte uns schon bald von innen. Veit fragte nach noch etwas Käse und als wir Hunthar für das bereits bereitgestellte Essen bezahlt hatten, brachte er ihn uns auch. Nachdem wir satt waren, sassen wir am Tisch und entspannten uns das erste Mal wieder. Wir schlürften Wein und lehnten uns auf unseren Bänken zurück.

So sassen wir einfach für einen Augenblick da und nach einem Rülpser lehnte ich mich zu Veit hinüber und flüsterte: «Wie viel Pfund Pfennige haben wir noch?»

Veit schien zu überlegen. Er fasste sich an den Gürtel und wiegte das Säckchen mit den Münzen in der Hand, um das Gewicht abzuschätzen. Nach einigen Augenblicken antwortete er unsicher: «Fünf Schillinge?» Offenbar wusste er es nicht genau, sagte dann aber zuversichtlich: «Damit kommen wir bestimmt bis nach Altdorf, und dort werden wir schon was finden.»

Nach dem Mahl verabschiedeten wir uns. Wir konnten uns keine Übernachtung in dem Haus leisten und so gingen wir am selben Tag weiter gen Norden, weiter aus dem Gebirge hinaus, in immer tiefer liegende Täler hinunter.

Uns stand eine weitere unbequeme Nacht unter freiem Himmel bevor. Ich war froh, dass es Sommer war, auch wenn die Nächte kühl wurden.

Sobald am nächsten Morgen die Dunkelheit langsam wich, machten wir uns bereit, um weiterzumarschieren. Dazu brauchten wir nicht lange. Wir hatten keine Decken, kein Gepäck und keine Waffen. Wir hatten auf dem Boden geschlafen, unsere Mäntel eng um uns geschlungen.

Vor uns lag die Schöllenenschlucht, ein sehr enges, steiles und schwer begehbares Tobel. Ich blickte zurück und war mir trotz meiner jungen Jahre bewusst, dass ich damit eine neue Welt betreten würde. Niemals zuvor war ich weiter in den Norden gegangen. Mein Leben hatte sich bisher zwischen Airolo auf der Südseite des Berges und der Passhöhe abgespielt. Dieses Land hier war mir neu.

Kurz darauf standen wir vor dem Eingang der Schlucht. Links und rechts kamen Felswände nahe zusammen und in der Mitte rauschte das Wasser schnell und tosend. Der Weg wurde immer schmaler und schmiegte sich immer dichter an die Felswand, bis er schliesslich ganz in den Felsen überging und wir nur dank eines Steges, dessen Bretter mit Ketten am Felsen aufgehängt waren, weiterkamen.

Abbildung 3: Twärrensteg und Teufelsbrücke

Auf diesem Steg gingen wir etwa 150 Fuss weit. Über und unter uns waren nur senkrechte Wände, die durch den reisserischen Bach unten und durch den grauen Himmel oben begrenzt wurden.

Schliesslich ging der Steg vor uns in eine Brücke über, die auf die andere Seite der Schlucht führte. Die Holzbrücke überspannte den tiefsten Teil der Felsspalte und führte über die reisserische Reuss. Ehrfürchtig starrte ich in der Mitte der Brücke in die Schlucht hinunter und wagte mir nicht auszumalen, was passieren würde, wenn man in diesen Schlund hinunterstürzen würde. Als Veit bemerkte, dass ich stehen geblieben war, rief er nach mir und drängte mich, auf die andere Seite zu kommen. So wurde ich schliesslich aus meinen Gedanken gezerrt und setzte vorsichtig einen Fuss vor den anderen.

Nach der Brücke schlängelte sich der Weg entlang des Felsens auf der gegenüberliegenden Seite weiter, engen Schluchten folgend und steil hinunter. Hier war kein Steg mehr nötig. Man hatte Steinblöcke von unten so aufgetürmt, dass sich ein schmaler Pfad bildete, dem wir weiter folgen konnten.

Plötzlich hatten wir diese enge Stelle überwunden und vor uns wurde der Schlund wieder breiter. Es ging weiterhin steil hinunter, jedoch hatten wir nun Platz und der Weg führte im Zickzack weiter.

Irgendwann schien es, dass wir endlich die Talsohle erreicht hatten. Das erste Mal waren Ackerflächen zu sehen, Bauernhöfe mit Vieh auf den Weiden.

Wir kamen an eine Stelle, an der sich der Fluss nach rechts verschob und so unser Pfad gegen den Waldrand gedrängt wurde. Als wir an der engsten Stelle angekommen waren und direkt links von uns der Fluss und rechts der Wald lag, hörte ich plötzlich das Knacken eines Astes im Unterholz und bereits einen Augenblick später sprang etwas aus dem Schatten hervor und riss mich zu Boden. Als Nächstes fühlte ich etwas Kaltes an meiner Kehle. Ich öffnete die Augen und erkannte, dass ein Mann über mir lag und mir einen Dolch an den Hals presste.

Ich konnte meinen Kopf nicht bewegen, da ich befürchtete, jede Bewegung würde mir die Klinge ins Fleisch treiben, so stark drückte der Kerl zu.

Kurz darauf hörte ich eine zweite Stimme: «Los, gib uns dein Geld, oder dein kleiner Freund stirbt.»

«Ruhig.» Das war Veits Stimme. «Ihr seht doch, dass wir einfache Leute sind. Wir haben nichts!»

«Jeder hat irgendwas. Jetzt mach schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Gib mir deinen Mantel.»

Währenddessen tastete der auf mir Liegende meine Taschen ab.

«Del hiel hat nichts», sagte er mit einer merkwürdigen Aussprache. Er drückte mir sein Knie auf die Brust und der Speichel aus seinem Mund drohte auf mich herunter zu tropfen. Der Kerl hatte eine hässliche, entstellte Fratze.

Aus einem Augenwinkel konnte ich sehen, dass der zweite Mann nun Veits Mantel in Händen hielt.

«Ich weiss, dass du Münzen hast; gib sie mir», verlangte er mit Nachdruck. Veit schien sich nicht zu bewegen, also drohte der Fremde: «Wir töten deinen Freund!»

Kurz darauf kam er zu mir. Ich sah etwas im Sonnenlicht funkeln und spürte kurz darauf einen stechenden Schmerz im Arm, der mich aufschreien liess.

«Halt, halt!», rief Veit.

«Wieso?», fragte der Fremde. «Hast du vielleicht doch etwas für uns? Wenn ja, solltest du dich beeilen, sonst habe ich bald den ganzen Arm von dem kleinen Bengel abgeschnitten.»

«Verdammtes Gesindel», hörte ich Veit fluchen, «hier hast du alles, was ich habe.» Er warf dem Mann sein Säckchen zu. Sofort verschwanden beide Angreifer im Wald und waren so schnell wieder weg, wie sie gekommen waren.

Ich drückte meine Hand auf die Schnittwunde am Arm. Blut strömte zwischen meinen Fingern hervor. Es tat höllisch weh. Langsam beruhigte sich mein Herzschlag wieder und damit wich auch meine Schockstarre. Ich versuchte meine Verzweiflung herunterzuschlucken, doch kurz darauf fing ich an zu schluchzen, und schliesslich zu weinen. Ich hasste mich für diese Schwäche.

Veit kam zu mir und verlangte: «Zeig mal deinen Arm.»

Ich tastete selbst danach und merkte, dass es sich um eine lange Wunde handelte. Veit nahm den Strick, welchen er um seine Hüfte trug, und band damit ein Stück Stoff um meinen Arm. Er zog fest zu, sodass die Blutung langsam versiegte. Ich sog Luft zwischen meinen zusammengepressten Lippen ein.

Ich verfluchte diese Welt. Ich hielt meinen schmerzenden Arm fest und wollte zurück zu meiner Mutter. Sie hätte gewusst, was zu tun wäre, und hätte die richtigen Worte gefunden. Ich vermisste meine Schwester Elss. Natürlich hatten wir uns oft gestritten, und doch waren wir Geschwister. Also hätte auch sie mich getröstet. Nach diesem Überfall fühlte ich mich allein und verloren in dieser Welt. Ich war dankbar, dass Veit bei mir war.

Schliesslich hatte ich mich wieder beruhigt, wischte die Tränen weg und wollte von Veit wissen: «Haben sie dir alles abgenommen?» Er nickte.

«Irgendwas müssen wir mit der Wunde machen. Ich habe schon Männer gesehen, die sind wegen weniger gestorben», sagte Veit besorgt.

Er half mir auf und gemeinsam gingen wir den Weg weiter, zunächst, um einfach nur wegzukommen von diesem Ort.

«Was waren das für welche?», wollte ich wissen.

«Verstossene, die haben nichts mehr zu verlieren. Sie leben im Wald und leben von dem, was sie ergaunern können.»

Nach einer Weile fanden wir einen grossen Stein am Wegrand, den wir als Sitzplatz nutzen konnten. Wir setzten uns darauf und atmeten kurz durch.

«Jetzt haben wir gar nichts mehr», stellte Veit fest. «Nichts!»

Ich sah ihn an und überlegte, ob er vielleicht bald fort sein würde. Wir befanden uns nur durch Zufall gemeinsam auf diesem Weg. Wir kannten uns nun schon lange. Aber jetzt wurde ich zur Last für ihn. Es wäre einfacher für ihn, wenn er mich hier und jetzt zurücklassen und in seine Heimat Brunnen gehen würde. Dort würde er wahrscheinlich noch jemanden kennen, der ihm helfen könnte, wieder eine Arbeit als Knecht zu finden. Ich sagte nichts, wollte es nicht heraufbeschwören.

«Gehen wir zum nächsten Hof und bitten um Hilfe», schlug Veit vor.

«Bekommen wir dann nicht Ärger?», wollte ich wissen.

Doch er stand bereits, half mir auf und gemeinsam schritten wir dem nächsten Weiler entgegen.

Wir erreichten das erste Gehöft der nächsten grösseren Siedlung. Auf einem Acker arbeitete eine Frau. Veit sprach sie an: «Helft uns, Weib. Der Junge wurde von Dieben am Arm verletzt.»

Die Frau blickte auf und begutachtete uns. «Geht zum Meier. Der soll sich um euch kümmern. Ich habe meine eigenen Sorgen.»

«Wo finden wir ihn?

---ENDE DER LESEPROBE---