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Im zweiten Sammelband begleitet ihr Naya, die Enkelin von Tarija auf ihrer Reise, das zu beenden, was ihre Großmutter angefangen hat. Die Erfüllung der Prophezeiung. Dabei muss sie schwierige Entscheidungen treffen und herausfinden, wer Freund und wer Feind ist. Denn zum einen ist da Valdis, ein Ashaker, der sie auf der Reise begleiten soll und auf der anderen Seite ist Fenrir, ein Freund aus Jugendtagen. Wem kann sie Vertrauen und wer spielt ein falsches Spiel.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Prophezeiung
des
Wolfskindes
Band I
Erwachen des Wolfskindes
Melanie Häcker
1. Neuauflage
1. Auflage Erschienen Oktober 2018
Texte: Melanie Häcker
Cover & Buchsatz: Meli´s Ink Art
Lektorat: Schreibkunstwerk
Vertrieb durch:
Melanie´s Bücherwelt
Salierstraße 7
75417 Mühlacker
Webseite:
http://www.autorin-melanie-haecker.jimdosite.com
Facebook: Melanie Häcker
Instagram: melaniehaeckerautorin
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Prophezeiungssaga
Band I
Erwachen des Wolfskindes
Band II
Die Kardianische Königin
Band III
Erbe des Wolfskindes
Band IV
Erfüllung des Schicksals
Prolog
Angespannt schritt er vor der Tür des Gemachs, das er mit seiner Gemahlin bewohnte hin und her, während sie in den Wehen lag und ihr erstes Kind gebar. Ihre heftigen Schreie ließen ihn mehrmals zusammenzucken und am liebsten hätte er schlichtweg die Tür aufgerissen und wäre hineingestürmt, denn er ertrug die Anspannung kaum noch.
Bei Agin, er gehörte an ihre Seite und sollte hier nicht dumm herumumstehen, schimpfte er in Gedanken.
Prompt drückte er die Klinke runter, als von drinnen sofort ein harsches - »Draußen bleiben!« - ihm entgegen knallte. Es war die Stimme der Hebamme.
Unverzüglich stoppte er und zog mit Verwünschungen auf den Lippen die Tür wieder zu. Sein besorgter Blick glitt zu den beiden Leibwächtern, zugleich seinen besten Freunden, die ihn zuversichtlich anlächelten, aber auch das half ihm nicht. Stattdessen lief er wie ein Wolf im Käfig auf und ab, was mit an seinen schon strapazierten Nerven zerrte.
Plötzlich drang ein heftiger, schmerzvoller Schrei durch das Holz der Tür, dass selbst die Leibgardisten zusammenfuhren. Wie vom Blitz getroffen, fuhr er auf dem Absatz herum und starrte die Tür an.
Auf den Schmerzensschrei folgte ein helleres Weinen, das ihm durch Mark und Bein ging.
Langsam bewegte sich die Türklinke, das Türblatt schwang nach innen hinauf, bis eine Dienerin ihren Kopf zu ihm herausstreckte und mit einem Lächeln flüsterte: »Eure Majestät. Eure Gemahlin hat es geschafft. Ihr habt eine gesunde Tochter.«
Ruppig schob er die Zofe zur Seite, hastete an das Bett, in dem seine erschöpfte Frau lag, doch bei ihrem Anblick stockte er und starrte wie gebannt auf das in weiße Tücher gewickelte Bündel, das in ihrem Arm lag.
Eine Flut von Gefühlen überwältigten ihn. Er sah in die leuchtend, blaugrauen Augen seiner Gefährtin, bevor er das winzige Bündel mit zittrigen Händen in die Arme nahm, um in das Gesicht seiner neugeborenen Tochter zu schauen. Liebevoll betrachtete er ihre zierlichen Züge, strich zärtlich mit dem Finger über ihre samtweiche Wange, als die Kleine ihre Augenlider öffnete und sein Herz kurz aussetzte.
Sein Lächeln erstarrte zu einer Grimasse und ein harter Kloß schnürte ihm die Kehle zu.
Nein, keuchte er in Gedanken. Das war unmöglich!
»Alkijet? Warum bist du auf einmal so ernst? Stimmt etwas nicht mit ihr?« Die Stimme seiner Frau riss ihn aus seinen düsteren Vorahnungen, doch er brauchte einen Moment, bis er - zu hastig - den Kopf schüttelte.
»Es ... es ist alles in Ordnung mit ihr, Kara. Sie ist ein bildhübsches Mädchen.« Er legte seine Tochter behutsam in Karas ausgestreckten Arme und zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. Innerlich jedoch war er so aufgewühlt wie schon lange nicht mehr.
Er zögerte, das auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging, doch er musste es Kara sagen, auch wenn ihm gerade eine unsichtbare Hand, das Herz brutal zusammendrücken.
»Kara, sie ... sie hat die Augen meiner Mutter.«
Kara sah zuerst verwirrt in die Gesichtszüge des Kindes, bevor Alkijet bei Kara Bestürzung erkannte.
»Aber wie ist das möglich?«, ihre Stimme war nur noch ein heißeres Flüstern.
»Ich habe keine Ahnung. Die Einzige die uns da weiterhelfen kann, ist ...«
»Deine Mutter«, vollendete sie den Satz.
»Ja. Ich denke, ich werde sie gleich morgen besuchen, auch um ihr zu erzählen, dass sie Großmutter geworden ist.«
Kara stimmte ihm zu und strich sanft über die rosigen Wangen der Kleinen.
»Sie ist wunderschön.«
Aber wenn er diesen Augen Glauben schenkte, dann war sie zu Größerem vorhergesehen, sinnierte er nachdenklich.
Alkijet sprach es nicht aus, was ihn beunruhigte, denn er wollte Kara nicht unnötig ängstigen. Es reichte, dass er sich durch diese Gegebenheiten Sorgen machte.
»Wie soll sie denn heißen Alkijet? Hast du dir mittlerweile einen Namen für sie ausgesucht? Mir würde ja Antina, oder Astana gefallen.«
Innerlich schnaubte er. Karbadianische Namen. War klar, dass Kara so einen wählte. Ihm aber schwebt ein anderer vor.
Er dachte an die Tage zurück, wo er mithilfe seines Bruders in alten Schriften gesucht hatte. Doch keiner, nicht ein Einziger, passte zu seiner Tochter.
Gedankenverloren betrachtete er seine erschöpfte Gemahlin, auf deren Stirn die Schweißperlen glänzten. Man sah ihr an, dass ihr Herz noch nicht zur Ruhe gekommen war und voller Freude in ihrer Brust schlug. Sein Blick glitt zu der Kleinen, ehe er langsam zu einem der Fenster schaute, durch das die Sommersonne mit ihrem milden Licht hereinschien.
»Naya«, flüsterte er. »Ihr Name ist Naya. Naya von Kardian.«
»Ein wunderbarer Name«, hauchte Kara an die Stirn ihrer Tochter.
»Ja, das ist er.« Um Kara nicht noch mehr zu verunsichern, wenn sie in sein Gesicht blickte, zwang er sich zu einem zuversichtlichen Lächeln.
»Ruh dich aus, meine Liebe. Ich werde später nach euch sehen. Ich kläre derweil ein paar Angelegenheiten, du weißt ja ...«
Sie lächelte ihm wissend entgegen, woraufhin er aus dem Gemach verschwand.
Seine Gedanken kreisten, gerieten außer Kontrolle, während er die Tür hinter sich zudrückte und mit dem Rücken an das Holz lehnte, bevor ein schwerer Seufzer über seine Lippen kam.
Wie war das nur möglich? Hatten sie irgendetwas übersehen? Solche Augen wiesen deutlich darauf hin, dass die Prophezeiung nicht erfüllt worden war, überlegte er.
Diese Tatsache - nein - diese Gewissheit fesselte ihn.
Er stemmte sich ruckartig von der Tür weg und stürmte, mit den beiden Kriegern dicht auf den Fersen, den Gang entlang. Alkijet hatte keine Zeit bis morgen zu warten. Er musste unbedingt wissen, warum seine Tochter die smaragdgrünen Iriden seiner Mutter besaß. Eine Augenfarbe, die eindeutig nichts Gutes verhieß.
Fest entschlossen, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, eilte er zu den Stallungen, sattelte in Windeseile sein treues Ross, was die Leibwächter mit ihren Pferden gleichtaten. Keiner der beiden hinterfragte sein Handeln. Nicht nur, weil er ihr König war, sondern auch, da sie um seine Herkunft wussten, wie jeder in diesem Reich.
Selbst wenn die Erzählungen über die Wolfskinder in der Vergangenheit lagen, so waren sie dennoch fest mit seiner Geschichte verwoben.
Kurze Zeit später saßen sie im Sattel und ritten auf das Tor zu.
»Öffnet das Tor!«, brüllte er von Weitem, zeitgleich hieb er dem Hengst die Fersen in die Seite. Mit seinen Mannen im Rücken galoppierte er durch das halb geöffnete Haupttor aus der Burg hinaus und preschte durch die gepflasterten Straßen von Osron. Das Klappern der Hufe hallte wie Donnergrollen von den Wänden wider. Die Menschen, die in den Gassen einhergingen, sprangen erschrocken zur Seite, als die drei Reiter in rasantem Tempo an ihnen vorbei jagten.
Alkijet wollte so schnell wie möglich aus der Stadt hinauskommen. Sein Ziel: Ein Weg, den nur er und seine Geschwister kannten. Einen Weg in die Wälder bei Osron.
Knapp zwei Tage drängte er die Pferde im Trab und im Galopp voran. Zu den Mittagszeiten rasteten sie, gönnten den Tieren Ruhe und füllten an kleineren Bächen ihre Trinkbeutel auf. Sie schliefen nur wenig in der Nacht, denn die Ungewissheit trieb ihn stetig vorwärts.
Der Abend dämmerte, als der ersehnte Waldrand wie eine finstere Wand vor ihm aufragte. Kurz davor zügelten sie ihre Pferde, die schwer schnauften, nach dem letzten kräftezehrenden Sprint.
Alkijet glitt erschöpft aus dem Sattel, doch er hatte keine Zeit, sich einen Moment Ruhe zu gönnen.
»Hier«, er drückte einem der Gardisten die Zügel in die Hand. »Kümmere dich um ihn. Ihr wartet hier, bis ich zurück bin.«
»Aber, Eure Majestät ...«
»Derikan«, meinte Alkijet in beschwichtigendem Unterton. »Hier passiert mir nichts. Bleibt bei den Pferden und wartet. Sobald ich mit ihr gesprochen habe, komme ich wieder.«
Der Leibgardist öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch Alkijet schenkte ihm sofort einen mahnenden Blick, woraufhin der Gardist zögerlich nickte. In Derikans Augen erkannte Alkijet, dass dieser wusste, wen er mit - ihr - gemeint hatte.
»Wie Eure Majestät befiehlt.«
Alkijet warf seinem Freund ein zuversichtliches Lächeln zu, trat an den Waldrand und hielt kurz inne.
Hoffentlich konnte ihm seine Mutter weiterhelfen.
Er drückte die Büsche auseinander, schlüpfte hindurch und betrat den Wald, der ihn mit einem dämmrigen Licht empfing. Das Blätterdach über ihm war dicht bewachsen, weswegen nur einzelne Sonnenstrahlen sich zum Waldboden hin verirrten. Moos in verschiedenen Grüntönen dämpfte neben dem Laub vom letzten Herbst seine Schritte.
Hier zwischen den Bäumen war die Luft wesentlich kühler, was ein Schaudern verursachte. Alkijet sah sich aufmerksam um, bevor er zügig einen Weg einschlug. Für unwissende kaum zu erkennen, aber der schmale Trampelpfad war seit seiner Kindheit in seinem Kopf eingebrannt, auch wenn er ihn in der schwindenden Helligkeit nur mehr erahnte, als wirklich sah.
Alkijet kannte jeden Baum, der den Weg zu dem Ort wies, wo er hinwollte. Er kletterte über umgefallene Stämme, die offenbar der letzte Herbststurm entwurzelt hatte. Sprang über kleinere Bäche und stetig weiter in den Wald hinein, zielstrebig auf dem Pfad, den er all die Jahre nutzte. Immer dann, wenn er und sein Bruder bei etwas nicht weiterwussten und wo sie den Rat ihrer Eltern brauchten, was deutlich weniger geworden war.
Das Zwielicht der Dämmerung schwand und machte langsam der Dunkelheit zwischen den Stämmen platz, als sich die Bäume vor ihm lichteten. Alkijet erblickte eine mit Gras bewachsene Lichtung, die er andächtig betrat.
Ein idyllischer Ort, der eine wohltuende Ruhe ausstrahlte.
Mittig stand ein Holzhäuschen, umgeben von einem gepflegt eingezäunten Garten, in dem alles Wuchs, was man zum Leben brauchte.
Alkijet trat näher, ließ seinen Blick über die Beerenbüsche schweifen, die entlang des Zaunes wuchsen. Er beäugte die dicht bewachsenen Beete mit dem erntereifen Gemüse und dem üppig bepflanzten Kräutergarten.
Mutter war wieder sehr fleißig gewesen, bemerkte er und schritt mit einem Schmunzeln weiter. Er besah sich kurz die zwei Obstbäume, dann das überdachte Lager, wo sein Vater säuberlich Holzscheite aufeinandergelegt hatte.
Alkijet öffnete das Gatter zum Garten, trat auf das Haus zu, vor dessen Tür er einen Moment verweilte.
Alles erschien ihm so friedlich. Nicht ein Geräusch deutete darauf hin, dass jemand da war. Trotzdem klopfte er fest an die Tür, doch wie erwartet, kam keine Antwort.
Bestimmt waren sie auf der Jagd, überlegte er und drehte sich zum Garten um, ehe er sich mit der Schulter an einen der Pfähle lehnte, die das Vordach stützten.
Was wenn die Prophezeiung wiedererwartet, nicht erfüllt worden war, so wie sie bisher angenommen hatten? Das würde bedeuten, dass seine Tochter sich zu einem Wolfskind entwickelte, rann es ihm siedeheiß durch die Gedanken.
Irgendwie, trotz der Tatsache, dass seine Eltern selbst Wolfskinder waren, war diese Vorstellung befremdlich, weswegen er sie abschüttelte, um unter der Überdachung zu warten.
Die Nacht legte sich wie ein Teppich über das Land und schuf zwischen den Bäumen Orte der Fantasie.
Mit einem Schmunzeln um die Mundwinkel erinnerte er sich daran, wie seine Mutter ihnen hier die unmöglichsten Geschichten erzählt hatte. Legenden aus alten Zeiten. Erfundene Mären von allerlei Fabelwesen, die sie oft am nächsten Tag suchten. Ein Zeitvertreib, an den er gerne zurückdachte. An ein unbeschwertes Leben, das sie hier verbrachten, um dem Trubel der Burg zu entfliehen.
Ein Schrei über ihm holte ihn schlagartig aus diesen Erinnerungen. Es war der Ruf einer Eule, weswegen er sich ruckartig von dem Pfeiler wegdrückte, um unter dem Dach hervorzutreten. Alkijet richtete den Blick hoch in den dunklen Himmel und versuchte, das Tier zu entdecken, bis ein Schatten langsam auf ihn zusegelte.
Aus einem Impuls heraus hob Alkijet den Arm zur Seite hin an und bot damit dem imposanten Vogel eine Landemöglichkeit, wobei die Eule einen Meter über ihm die gewaltigen Schwingen auseinanderbreitete. Elegant sank die majestätische Eule auf seinem Arm, deren Klauen mühelos sein Hemd durchbohrten, dennoch spürte er nur ein leichtes Piksen auf seiner Haut.
Alkijet musterte den Greifvogel, um herausfinden, wen von seinen Eltern er auf dem Arm sitzen hatte. Die Eule besaß seidig glänzende, dunkelbraune Federn, was nichts sagte, denn ausschlaggebend waren die durchdringenden smaragdgrünen Augen, die ihn fixierten.
Mit einem breiten Grinsen murmelte er: »Hallo Mutter.«
Ein kurzes Geklapper mit dem Schnabel folgte als Antwort, wobei die Eule ihm neckend mit dem Schnabel die Haare zauste.
»Lass das«, lachte er. »Ich habe eine gute Neuigkeit für euch. Wo sind Vater und Alijana?«
Wie auf ein Stichwort hin raschelte es im Gestrüpp. Aufmerksamkeit beobachtete er, wie ein schwarzbrauner Wolf gemächlich herangetrottet kam. Die Augenwinkel waren angegraut und seine Schnauze zeigte deutlich das gehobenere Alter des Tieres. Neben dem Wolf schlenderte eine braunhaarige Frau einher, die Alkijet zugut kannte.
Sie trug - wie so oft - eine schwarze lederne Hose, gleichfarbige Stiefel und dazu passend ein kurzärmeliges Leinenhemd.
»Ich bin hier mein Sohn. Du sprachst von guten Neuigkeiten?«
Alkijet bejahte. In dem Moment erhob sich die Eule mit zwei Flügelschlägen vom Arm und glitt zu Boden, um sich zusammen mit dem Wolf in ein schimmerndes Licht zu hüllen. Gleichzeitig trat die Frau neben ihn und legte freundschaftlich ihre Hand auf seine Schulter.
»Hallo Bruder. Du hast uns lange nicht mehr besucht. Ist in Osron alles in Ordnung?«
Er zögerte, was ihr keineswegs entging, das erkannte er von der Seite her an ihrer skeptisch hochgezogenen Augenbraue.
»Dein Hadern verheißt nichts gutes, mein Sohn«, hallte die tiefe Stimme seines Vaters zu ihm. Alkijet wand sich von Alijana ab und sah zu dem Wolf und der Eule, die mittlerweile als Frau und Mann – mittleren Alters – dastanden. Beide waren wie seine Schwester gekleidet, wobei seine Eltern im Gegensatz zu ihr Waffen am Schwertgurt trugen. Sein Vater ein Dolch an der rechten Seite und einen Krummsäbel zur Linken, während seine Mutter ein Anderthalbhänder hatte und zusätzlich in ihren Stiefeln die Schäfte von Dolchen herausragten.
Alkijet konnte nicht umhin, die beiden einer genaueren Musterung zu unterziehen. Er erkannte, dass sein Vater an den Schläfen deutlich ergraut war – wie bei dem Wolf – wobei er die schwarzbraunen, langen Haare wie immer straff zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Wie Alkijet trug er den Bart am Kinn zu zwei Zöpfen geflochten, die durch Bartperlen gehalten wurden, mit einem winzigen Unterschied zu seinen eigenen Barthaaren. Sie zeigten keine grauen Strähnen.
Die markanten Züge seines Vaters wiesen deutlich mehr Falten auf als bei ihrem letzten Treffen, was Alkijet zu einem verschmitzten Schmunzeln verleitete, das nicht unbemerkt blieb, genau so wenig seine Musterung.
»Komm du erst in mein Alter«, grummelte Alkje, dabei packte er Alkijet in eine feste Umarmung, in der sie sich einander freundschaftlich mit der Faust auf den Rücken klopften.
»Welches Alter?«, neckte Alkijet ihn. »Du siehst nach wie vor aus, wie der unbezwingbare Heerführer von Ashak.«
»Lob ihn nicht zu sehr Alkijet, sonst bekommt er einen Höhenflug«, warf seine Mutter amüsiert ein, auf dass er zu ihr sah.
Ihr langes, braunes Haar war komplett in viele kleinere Zöpfe und straff nach hinten verflochten. Sie hatte – wie es üblich bei Ashakischen Kriegerinnen war – Haarperlen eingearbeitet. Auch bei ihr zeigten sich bereits die ersten weißen Strähnen, ebenso sanfte Falten in ihren herzensguten, lächelnden Gesichtszügen.
Sie holte ihn ebenfalls in eine feste Umarmung, bevor ihre Hände auf seine Schultern ruhten und sie Alkijet mit gerunzelter Stirn bedachte.
»Du bist zu einem stattlichen Krieger herangewachsen, mein Sohn. Nun? Was sind das für gute Neuigkeiten, weswegen du zu uns gekommen bist?«
Man sah ihm augenscheinlich seine zwiespältigen Emotionen zu deutlich an, was die Art verriet, wie seine Mutter ihre Augenbrauen hochzog, aber auch der argwöhnische Ausdruck, mit dem sie ihn ansah.
Er holte tief Luft.
»Ich verkünde euch, dass du Alijana Tante und ihr vor zwei Tagen Großeltern geworden seid. Kara brachte eine gesunde Tochter zur Welt. Es würde mich freuen, wenn ihr sie euch anschaut, denn ...«, er zögerte.
Wie erkläre er es, ohne gleich mit der Tür ins Haus zu fallen?
Alle Augen waren auf ihn gerichtet, was zwar nichts Ungewöhnliches für einen König war, aber der eindringliche Blick seiner Schwester, verursachte in ihm ein mulmiges Gefühl. Sie hatte ein Talent, schnell ihr Gegenüber zu durchschauen, und da sie ihn allzu gut kannte, war er für sie wie ein offenes Buch.
Alijana sah ihn abschätzend an und überkreuzte ihre Arme vor der Brust, zugleich sie sich rücklings an einen der Pfähle lehnte.
»Alkijet?«, murmelte Alijana mit einem mahnenden Unterton, von dem er wusste, dass sie auf Streit aus war, weswegen er rasch in die smaragdgrünen Augen seiner Mutter schaute, woraufhin ihm ein eisiger Schauer über den Rücken rann.
»Dir bereitet etwas ernste Sorgen. Was ist los? Stimmt was nicht mit unserer Enkelin«, fragte seine Mutter besorgt.
Es kostete Alkijet große Mühe, ihre Frage zu bejahen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, dass sein Vater ihn aufmerksam im Auge behielt, was ihn nicht weiter beunruhigte, wäre da nicht dieses alarmierte Blitzen in seinem Blick.
»Es ist«, er holte noch einmal tief Luft. »Naya hat die gleichen Augen wie du, Mutter.«
Jetzt war es raus.
Seine Mutter erstarrte. Sie zog ihre Hände zurück und sah irritiert zu Alkje.
»Als ich die smaragdfarbenen Augen sah, war mir klar, dass ich euch aufsuchen muss.«
»Da hattest du recht Alkijet«, brummte sein Vater, leicht verstimmt. »Kommt, lasst uns reingehen. Erzähl uns drinnen mehr über die Kleine Naya.« Das zuversichtliche Lächeln entspannte die Situation nicht wirklich und die Hand auf seiner Schulter schien so schwer wie Hunderte Pferde zu wiegen.
»Alkje hat recht«, warf seine Mutter ein. »Wenn es stimmt, was du sagst, gibt es einen schwerwiegenden Grund, wieso die Prophezeiung solch einen Weg geht.« Tarija trat voraus, öffnete die Tür und schritt vor ihm in einen wohnlich eingerichteten Raum. Alkijet kannte jedes Möbelstück, entdeckte aber auch Neue, die hauptsächlich der Kräuterküche seiner Mutter dienten.
»Tarija, ich hole uns was zum Trinken.« Alkje sah einen nach dem anderen mit einem Grinsen an, und bevor Tarija etwas erwiderte, verschwand Alkje aus dem Zimmer.
»Hat Vater wieder gebraut«, wunderte sich Alkijet.
»Was glaubst du denn, Bruderherz. Aber ich warne dich schon mal vor. Das Gebräu ist verdammt stark.«
Dabei hatte er doch vor gehabt, heute zurück zu reiten, murrte er innerlich. Gleich darauf kam Alkje mit einer Karaffe herein, während Tarija vier Krüge auf den breiten Tisch stellte und eine einladende Handbewegung machte.
Alijana war die Erste, die sich auf einen der Schemel plumpsen ließ. Alkijet setzte sich neben sie, wohingegen er augenblicklich einen gefüllten Humpen vor der Nase stehen hatte, ehe sich auch Tarija und Alkje niederließen.
Alkje trank einen kräftigen Schluck und brummte in den Krug hinein: »Nun mein Sohn, leg los. Wem sieht die Kleine ähnlich?«
»Als wenn man das bereits erkennt«, kicherte Alijana, um ihrerseits nachzuhaken: »Wie alt ist sie?«
»Zwei Tage.« Alkijet nippte sachte an dem Gebräu, das zu seiner Überraschung ausgezeichnet schmeckte.
»Hm, Vater, diesmal ist es dir wahrlich gelungen.« Alkje prostete ihm zu und trank auf die lobenden Worte einen weiteren kräftigen Zug.
»Du sagst, sie hat meine Augen?«, hinterfragte Tarija nachdenklich.
»Ja. Augen wie Smaragde.«
Tarija sah gedankenverloren auf irgendeinen Punkt in der Hütte, wobei sie von dem Gebräu kostete, ehe sie zu Alkje schaute.
»Was sagte Dorenik zu uns, bevor er in die Wälder entschwand?«
»Hm«, raunte Alkje, »irgendetwas von geteilten Inseln und das vergessene Land, ach und er meinte noch, es gäbe einen heftigen Schnitt im Verlauf des Schicksals.«
Alijana stellte ihren Humpen ab.
»Was mit geteilten Inseln gemeint ist, ist ja jedem hier klar.«
Alkijet bejahte. »Sill und Son. Aber was meint er mit vergessenes Land? Und was für ein Schnitt im Schicksal?« Sie sahen sich alle nachdenklich an.
»Ach, was soll`s.« Alkje wuchtete seinen Krug auf den Tisch und drückte Alkijets Schulter so kräftig, dass er etwas das Gesicht verzog. »Lasst uns nach Osron gehen, ich will unsere Enkelin begrüßen.«
»Plötzlich hast du es eilig«, amüsierte sich Tarija, die auch ihren Humpen leerte.
»Ja.« Alkje erhob er sich, um alle der Reihe nach anzusehen.
»Typisch Vater.« Alijana verdrehte die Augen, stand ebenfalls auf und schlenderte zur Tür. »Ich werde dann mal Sona rufen.«
Alkijet sah sie irritiert an, erhielt aber keine Antwort, da seine Schwester flink nach draußen verschwand, wohingegen Tarija fragte: »Bist du allein hergekommen?«
»Nein. Meine beiden Leibgardisten Derikan und Kekrik warten am Waldrand auf mich.«
Tarija drückte sich vom Schemel hoch, trat zur Tür, wo sie stehen blieb.
»So denn, dann lasst uns zuerst zu ihnen aufschließen, bevor wir nach Osron gehen.«
»Gehen?«
Sie schmunzelte. »Ja, gehen. Alkijet, du vergisst mal wieder, dass wir im Grunde Wölfe sind.«
Ja, das vergesse er wirklich zu oft.
Er folgte Tarija nach draußen, wo ein schwarzbrauner Wolf auf sie wartete. Tarija verwandelte sich ebenfalls zu einem, wobei seine Schwester mithilfe ihrer Finger einen schrillen Pfiff ausstieß. Gleich darauf hallte ein Wiehern durch die Dunkelheit und ein Schimmel kam anmutig auf die Lichtung getrabt.
»Ist sie nicht eine Schönheit«, schwärmte Alijana, während sie zärtlich über den Hals der Stute streichelte.
»Das ist sie. Ich hatte keine Ahnung, dass du dir ein Pferd angeschafft hast«, bemerkte Alkijet.
Alijana lachte amüsiert auf, packte die Mähne, um sich mit einer geschickten Bewegung auf den blanken Rücken zu schwingen.
»Sie gehört mir, seit sie ein Fohlen war. Ein Bär hat ihre Mutter getötet, daraufhin habe ich mich ihrer angenommen. Nun sind wir die besten Freunde. Komm. Sie kann uns ein Stück zusammen tragen.«
Er musterte die Stute mit dem schlanken, kraftvollen Körper, nickte knapp und ließ sich von Alijana hinaufhelfen, was sich sonderbar anfühlte.
»Sonst sitzen mir die Frauen im Nacken«, witzelte er, auf dass hin er einen Rippenstoß von ihr kassierte, bevor er die Arme um ihre Taille schlang.
»Sieh es als Privileg, das du mitreitest.« Alijana trieb ihre Stute an und folgte den beiden Wölfen, die in die Schwärze zwischen den Bäumen verschwanden.
Alkijets Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das diffuse Mondlicht gewöhnten, während er die träumerische Leichtigkeit bestaunte, mit der seine Schwester das Pferd lenkte, das trittsicher über den Waldboden trabte.
»Ist Kara in Kenntnis gesetzt mit den Augen?« Die fragende Stimme seiner Mutter schreckte ihn aus seinen Gedanken hervor und er sah neben sich zu der Wölfin.
»Nein. Ich habe es ihr nicht gesagt, um sie nicht zu verunsichern, nachdem sie meinen verdatterten Gesichtsausdruck bemerkt hatte.«
»Den hätte ich auch zu gerne gesehen«, neckte ihn seine Schwester, weiterhin den Blick nach vorne gerichtet.
»Demzufolge müssen wir behutsam vorgehen. Alkijet, wenn sie wirklich die Augen der Prophezeiung hat, weißt du, was das bedeutet.«
Grimmig bejahte er. »Dass sie ein Wolfskind ist.«
»Was macht ihr, wenn es sich bewahrheitet?«, warf Alijana ein, die nicht mehr amüsiert klang.
Auf ihre Frage hin legte sich eine unheimliche Stille über sie alle, nur unterbrochen von den Geräuschen der Hufe und der Pfoten.
»Wenn Naya ein Wolfskind ist, mein Sohn, sollte sie auch unter solchen Leben«, gab Tarija zur Antwort.
Alkijet knirschte mit den Zähnen.
Er hatte befürchtet, dass sie das sagte und hoffte, dass sich sein Verdacht nicht bewahrheitete, und er nur nicht ordentlich hingesehen hatte.
Schweigen begleitete sie den restlichen Weg zu dem Platz, an dem die Leibwächter lagerten. In der Zeit jagten unzählige Szenarien durch seinen Kopf in Bezug auf Naya.
Bei Agin! Lass sie kein Wolfskind sein, flehte er innerlich. Es war ein verzweifelter Wunsch, von dem er nicht wusste, ob er erhört wurde.
Wenig später bemerkte er den Schein eines Feuers vor sich. Alijana ritt, ohne das er etwas sagte, nicht direkt hinter dem Lager aus dem Wald, sondern ein Stück daneben, bevor sie ihre Stute zu den Soldaten lenkte. Bei ihrem Erscheinen sprangen die Leibgardisten erschrocken auf und zückten hektisch ihre Schwerter, während Alkijet donnerte: »Steckt sofort die Waffen weg!« Langsam schoben die Männer ihre Klingen zurück in die Lederhüllen und beäugten dabei misstrauisch seine Schwester, zugleich Alijana ihr Pferd zum Stehen brachte.
Alkijet rutschte vom Rücken und wurde nur einen Herzschlag später von den Wölfen flankiert. Augenblicklich verneigten sich die Leibwächter, denn sie wussten – wie jeder in der Burg – zu genau um die Bedeutung der Tiere.
»Derikan. Kekrik. Brecht das Lager ab. Wir reiten unverzüglich zurück nach Osron.« Den Befehl bestätigend, agierten sie sofort wie geheißen. Kekrik löschte mit Erde das Feuer, wobei Derikan die Decken zusammenraffte, um sie auf den Sätteln zu verteilten. Alkijet trat zu seinem Hengst, tätschelte ihm den Hals, bevor er eine der Wolldecken am Sattel festzurrte.
Nachdem alles erledigt war, schwang er sich auf den Rücken des Rosses, wartete, bis die Soldaten auch auf ihren Pferden saßen und nickte den beiden Wölfen, ebenso Alijana zu, dass es losging.
Zuerst ritten sie in gemächlichem Schritt durch die Nacht, bis der Morgen dämmerte, daraufhin zogen sie das Tempo an, um mit nur kurzen Pausen die Stadt zu erreichen.
Als sie Osron am späten Abend des zweiten Tages erreichten, war kaum jemand auf den Straßen vorzufinden.
Alkijet unterdrückte einen schweren Seufzer, denn auch wenn er es gewohnt war, genoss er die Momente, in denen er wie jeder andere, ohne Trubel, durch die Gassen ritt. Alkijet kannte es nicht anders, wobei er sich hin und wieder wünschte, wie seine Eltern einfach von der Bildfläche zu verschwinden.
Vor ihm erschien das gewaltige Tor der Burg, das sich bei seinem Erscheinen behäbig öffnete, damit sie ungehindert hineinreiten konnten. Vor den Stallungen stoppten sie die Pferde, gleichzeitig kamen Stallburschen herbeigeeilt, ergriffen die Zügel der Rösser, auf dass hin Alkijet aus dem Sattel glitt. Er sah zu seiner Schwester, die mit beruhigenden Worten auf ihre Stute einredete. Der Schimmel scharrte unruhig mit den Hufen und beäugte den Burschen vor sich, der angstvoll das Tier ansah.
»Brauchst du Hilfe Alijana?«, fragte Alkijet amüsiert. Sie hingegen schüttelte den Kopf, rutschte vom Rücken ihres Pferdes und scheuchte den Stallknecht mit einem barschen Knurren davon.
»Sie sollen einfach die Finger von Sona lassen«, zischte sie, gleichzeitig versuchte Alijana, das nervöse Tier zu beruhigen.
»Ihr habt gehört, was Mylady gesagt hat«, wand er sich an die Stallburschen, die ehrerbietig ihre Häupter beugten.
»Bruderherz. Wäre es machbar, dass sie hier draußen auf der Koppel bleiben kann? Sie ist Fremde und einen Stall nicht gewohnt.« Alkijet bestätigte knapp, sah die Burschen an, die ihre ganze Aufmerksamkeit den Pferden widmeten, die sie an den Zügeln hielten.
»Gut. Lasst uns hineingehen. Ich stelle euch Naya vor.« Flankiert von den beiden Wölfen traten Alkijet und Alijana die breite Haupttreppe empor, während das Haupttor sich in seinem Rücken mit einem Knarren schloss.
Ein Soldat öffnete zeitgleich die doppelflügelige Tür des Haupteinganges, auf das sie den geweißelten Korridor betraten.
»Hier hat sich eine Menge geändert, seit unserem letzten Besuch«, bemerkte Tarija, wobei Alkijet auf diese Bemerkung hin bescheiden lächelte.
»Nun ja. Kara ist der Meinung, dass alles in einer Burg wohnlich zu sein hat.« Dabei musterte er die Wandgemälde, die im Wechsel mit grünen Stoffbahnen auftauchten.
»Sie hätte es nicht besser hinbekommen können.«
Er gab darauf kein Kommentar, denn seiner Ansicht nach fand er es zu übertrieben.
»Kommt. Sie ist bestimmt im Gemach.« Aber wie sie dort ankamen, war Kara nicht da. Verwundert blieb er in dem gemeinsamen Zimmer stehen.
»Frauen tun nie das, was man von ihnen denkt«, belächelte Alkje das Ganze, woraufhin er von Tarija und Alijana einen gespielt empörten Blick erntete.
»Vater, ich glaube, du solltest vorsichtiger sein, mit dem, was du sagst«, amüsierte sich Alkijet.
»Habe ich bemerkt.«
Es sah seltsam aus, wenn ein Wolf grinste, was Alkijet lediglich am Rande wahrnahm, denn sein nächster Weg führte ihn zum Burggarten, der neben seiner Mutter auch Karas Lieblingsplatz war.
Erleichtert entdeckte er seine Frau, die auf einer Steinbank saß und Naya behutsam im Arm hielt. Ihre Lippen bewegten sich, was vermuten ließ, dass sie der Kleinen etwas vorsang, während sie das Kind sanft wiegte.
Sie sah so glücklich aus und jetzt kam er daher. Bitte lasst Naya kein Wolfskind sein, flehte er in Gedanken, trat zu Kara, um vor ihr in die Hocke zu sinken.
»Meine Liebe, ich bin wieder zurück.« Sein Blick glitt über das schlafende Kind, bevor er flüsterte: »Wie geht es ihr?«
»Gut. Hast du deine ...« Kara stoppte, als sie die Wölfe und Alijana erblickte und zuckte erschrocken zusammen, woraufhin Alkijet ihr sachte die Hand auf das Knie legte.
»Sie sind beide gekommen, um ihre Enkelin zu sehen.« Im gleichen Moment verwandelten sich seine Eltern, wobei er zu seiner Schwester sah und ergänzte: »Ebenso Alijana.«
»Oh«, war alles, was Kara erwiderte. Sie stand ungestüm auf, weswegen sie fast das Gleichgewicht verlor, doch Alkijet erhob sich blitzschnell, um seine Gemahlin zu halten.
»Eure ... Majestät ...« Kara verbeugte sich ehrfurchtsvoll, die Kleine dabei weiterhin im Arm haltend.
»Mylady genügt. Ich habe mich nie als Königin gesehen und tue es auch heute nicht. Meine Glückwünsche zur Geburt Eurer Tochter.«
»Danke«, hauchte Kara, wobei sie verstohlen zu Alkje linste. Alkijet bemerkte ihren Blick, verkniff sich ein Schmunzeln und erinnerte sich zu deutlich an den Tag vor zwei Jahren. An ihren Hochzeitstag.
An diesem hatte sein Vater einen bleibenden Eindruck bei ihr hinterlassen, ebenso bei manchem anderen Gast.
Alkijet war eingeweiht in den Auftritt seiner Eltern, die über die Terrasse in Form der imposanten Adler hereingeflogen kamen. Sie ließen sich auf die jeweiligen Throne – rechts und links von seinem – nieder, bevor sie die menschliche Gestalt annahmen. Es war Alkje, der nach alter Tradition ihnen den Treueeid abgenommen hatte.
Noch heute sah Alkijet das Gesicht von Kara vor sich, als sie mit ehrfürchtigem Blick in ihren weichen Zügen diesen respekteinflößenden Ashaker ansah. Kara kam aus einem eher kleineren Adelshaus, waren sich zufällig auf einem Fest in Kar Fralo über den Weg gelaufen, wo er sich Hals über Kopf in sie verliebte.
»Mylady«, Alkje verbeugte sich vor Kara. »Ihr seid nach wie vor eine Augenweide.«
Alijana neben ihm verdrehte die Augen, bevor auch sie sich vor Kara verneigte.
»Typisch Ashaker. Hallo Kara.« Kara reichte Alkijet kurzerhand seine Tochter, trat auf Alijana zu, woraufhin sich beide herzlich umarmten. Im selben Moment kam Tarija zu ihm, um einen Blick auf das Mädchen zu werfen.
»Sie ist wunderschön.« Zärtlich strich Tarija über eine Wange, wobei die Kleine anfing zu schmatzen.
»Wirst du sie wirklich zu dir holen, wenn es sich bewahrheitet?« Alkijet senkte seine Stimme, damit Kara nichts mitbekam, zugleich er die Bestätigung in Tarijas Augen erkannte.
»Sagt mal«, meldete sich Alkje zu Wort. »Habt ihr in letzter Zeit was von Anjok gehört?«
»Ja, Mylord. Er und Daria erwarten ebenfalls bald ihr erstes Kind«, beantwortete Kara die Frage, auf das Alkje breit grinste.
»Noch mehr Enkel«, freute sich Alkje und trat neben Alkijet. »Ich bin richtig stolz auf meine Söhne.« Seine Züge entspannten sich beim Anblick der Kleinen. Alijana – von der Bemerkung ihres Vaters sichtlich angesäuert - kam mit Kara zu ihm.
»Sie ist ein Sonnenschein«, schwärmte Kara, »und hält mich ziemlich auf Trab, vor allem in der Nacht.« Bei diesen Worten bedachte Tarija seine Gemahlin mit gerunzelter Stirn, was Alkijet gar nicht gefiel. Ihr Blick alarmierte ihn sofort, denn in ihm war etwas, das er nicht zu deuten wusste.
»Wie meint Ihr das?«
Mit einem mütterlichen Lächeln sagte Kara: »Sie ist ein Nachtmensch. Tagsüber schläft sie viel, wacht nur zum Essen auf und nachts ist sie putzmunter.«
Der Blick den Tarija mit Alkijet tauschte, jagte ihm einen eisigen Schauer den Rücken hinunter, denn er verhieß nichts Gutes.
Tarija strich erneut über Nayas Wange und wie wenn die Kleine es spürte, dass es nicht ihre Mutter war, öffnete sie langsam ihre Augenlider. Alkijet hielt unweigerlich die Luft an. Klare smaragdfarbene Iriden sahen ihnen entgegen, weswegen Tarijas Finger mitten in der Bewegung erstarrten.
»Du hast dich nicht geirrt mein Sohn«, flüsterte sie. »Diese Augen sind einmalig.«
Ein harter Kloß bildete sich in seinem Hals, den er nur schwer runtergeschluckt bekam, als er den irritierten Blick von Kara bemerkte.
»Alkijet? Was meint Mylady damit?«
»Das Eure Tochter, was einmaliges ist. Diese Augen sind das Erbe der Kardianer. Das Erbe einer einflussreichen Prophezeiung.«
Kara erbleichte. »Ihr ... ihr meint ... Naya ...«
»Scheint ein Wolfskind zu sein, wie Alkje und ich.«
Entgeistert sank Kara auf die nahe gelegene Steinbank. Alkijet setzte sich sofort an ihre Seite, Naya in den Armen, zusätzlich ließ sich Alijana zur anderen neben Kara nieder. Seine Schwester legte beruhigend den Arm um die Schultern seiner Gemahlin.
»Kara. Ein Wolfskind zu sein ist nichts Schlechtes«, murmelte Alijana tröstliche Wörter. »Sie besitzen eine bemerkenswerte Gabe und sie sind zu Großem bestimmt.«
»Aber ... aber wieso ... meine Naya?«
Tarija sank, mit bedauernder Mimik vor Kara in die Hocke.
»Das wissen wir auch nicht. Die Wege der Prophezeiung sind verworren und manchmal nicht sofort erkennbar.«
Alkijet sah in die Augen seiner Tochter, bevor er flüsterte: »Gibt es Anzeichen, wenn sie sich verwandelt?«
»Alkijet!«, keuchte Kara und sah ihn entsetzt an.
»Nein«, entgegnete Tarija in aller Seelenruhe. »Gereon konnte mir nie genaue Hinweise darauf geben. Meine damalige Verwandlung vom Wolf zum Menschen kam plötzlich über Nacht, als ich vier Sommer alt war. Es war bei jedem Wolfskind bisher anders, wann es sich verwandelte. Gereon selber war ein Junge, bevor er die Gabe erkannte.«
»Ich ein Mann«, warf Alkje ein. Karas Blick huschte von einem zum anderen, ehe sie Alkijet wieder ansah.
Bei Agin. Wieso geschah das ausgerechnet ihnen, fragte er sich und sah zu seiner Mutter.
»Was machen wir nun?«
»Abwarten. Das Einzige, was wir tun können, ist abwarten.«
Er reichte Kara die Kleine, die Naya an ihre Brust schmiegte. Gleichzeitig vernahm er ein leises Schniefen, bevor er sich von der Bank erhob. Alkijet sah grüblerisch zum dämmrigen Himmel, wo der Mond sich als Sichel zeigte. Tarija kam neben ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Alkijet, wenn es dich beruhigt, so werde ich regelmäßig zu euch kommen. Ich bleibe für ein paar Tage hier, um in dieser Zeit mich mit Naya zu beschäftigen. Aber auch um ihre Entwicklung zu beobachten.« Ein herzzerreißendes Schluchzen hallte durch die Nachtluft. Er sah zu Kara, an deren Wangen Tränen herunterkullerten, während sie sich an Alijana lehnte.
»Was, wenn sie sich verwandelt, wenn Ihr nicht da seid?«, japste Kara.
Tarija sank neben Kara und drückte sie an sich.
»Dann komme ich, so schnell ich kann, und hole sie zu mir. Ich lehre sie alles, was sie als Wolfskind wissen muss, und erziehe sie, wie meine Tochter.«
»Aber ... ich kann doch meine Tochter nicht ...«
»Kara? Weißt du, wie man einen Wolf erzieht?«, fragte Alkijet bedächtig, woraufhin seine Gemahlin schniefte und den Kopf schüttelte.
»Noch ist es ja nicht soweit. Es kann womöglich Jahre dauern. Allenfalls vergehen vier Jahre, oder sie ist eine erwachsene Frau, bis sie ihre Gabe erkennt. Wann sie sich verwandelt, das weiß nur das Schicksal.«
Kara gab Naya einen Kuss auf die Stirn, woraufhin die Kleine gluckste.
»Habe ich eine andere Wahl?«
Alijana holte Kara zurück in ihre Umarmung.
»Wenn es um die Prophezeiung geht, leider nicht«, murmelte seine Schwester.
»Bevor wir hier weiter darüber diskutieren, wie wir mit all dem umgehen, würde ich sagen, wir gehen rein. Der Wind frischt auf.« Alle Blicke richteten sich auf Alkje, der ernst dreinschaute und zu den Arkadengängen deutete.
»Vater hat recht. Lasst uns reingehen.« Alkijet half Kara beim Aufstehen und begleitete seine schluchzende Gemahlin in das Audienzzimmer, wobei sie Naya wiegte.
Dort angekommen streckte Tarija mit einem Lächeln ihre Hände nach Naya aus.
»Darf ich sie mal halten?« Man sah Kara an, dass sie haderte, bevor sie die Kleine an Tarija weiterreichte, die sich daraufhin in einen Sessel setzte.
Unverhofft klopfte es an der Tür, woraufhin alle verwundert das Türblatt anstarrten.
»Herein«, befahl Alkijet und einer seiner schlaksigen Boten trat ein. Er verbeugte sich flüchtig und reichte ihm einen versiegelten Umschlag.
»Ein Brief aus Ulso, Majestät.«
»Aus Ulso?« Irritiert nahm er das Schreiben entgegen, während der Bote verschwand. Alkijet brach das Siegel, lass sich in aller Ruhe die Zeilen durch, die mit einer eleganten geschwungenen Schrift auf dem Pergament zu sehen war.
»Mutter, das ... das solltest du dir bitte durchlesen.« Er reichte Tarija den Brief, die Naya widerwillig an Kara zurückgab.
Mit jeder Zeile, die seine Mutter las, wurde ihr Gesicht zu einer versteinerten Maske.
»Was steht drin«, murrte Alkje und beugte sich über Tarijas Schulter, um ebenfalls den Text zu studieren.
Ein unheimliches Schweigen erfüllte den Raum, bevor Tarija murmelte: »Das klingt nicht gut.«
»Was ist den los?«, entrüstete sich Alijana, die mit verschränkten Armen alle der Reihe nach ansah.
»Den Sehern von Ulso ist etwas in der Prophezeiung aufgefallen, dass nichts Gutes verheißt. Sie haben sogar den Absatz dazugeschrieben. Hört zu: Geboren wird ein zweites Kind, von Gram und Missgunst zerfressen. Es trachtet nach des Herrschers Thron, sollt das Erste die Aufgabe nicht erfüllen.«
Alle schwiegen. Nur Nayas leise Schmatzen war zu hören.
»Das hört sich für mich an, als würde es ein zweites Wolfskind geben. Aber wo?«, grummelte Alkje, während er sich aufrichtete.
»Ich könnte es herausfinden«, ereiferte sich Alijana, woraufhin Tarija ihr zweiflerische Blicke zuwarf.
»Was denn? Ihr wisst, ich komme gut allein zurecht. Umso eher wir wissen wo und wer, umso eher können wir es verhindern, dass der oder diejenige am Thron meines Bruders sägt.«
Alkijet wusste nicht, was er zu solchen euphorischen Worten sagen sollte, als sein Vater ihm die Bürde abnahm.
»Jetzt mach mal die Pferde nicht Scheu. Wenn dieses Kind, im gleichen Zeitraum auf die Welt kommt wie Naya, dann ist es die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Eher macht es Sinn, die Suche dann anzufangen, wenn Naya sich wandelt. Denn so, wie ich die Prophezeiung kenne, wird das dann auch das andere Kind tun.«
»Außer das Schicksal geht mal wieder seinen eigenen Weg«, murrte Tarija. Alkje verdrehte die Augen, sagte aber kein Wort dazu.
»Jetzt zu spekulieren wer, wo und wieso bringt vorerst nichts«, gab Tarija zu bedenken und erhob sie.
»Ich würde sagen, lasst uns alle zur Ruhe kommen. Vielleicht bringt der morgige Tag bessere Ideen und ausgeruht lässt sich auch besser über dieses Thema reden.« Niemand widersprach, weswegen sie sich zurückzogen.
Doch Alkijet fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Die Ereignisse überschlugen sich regelrecht, was seine Gedanken dazu brachten, sich im Kreis zu drehen.
Erst bewahrheitet es sich, dass seine Tochter ein Wolfskind war, und dann gab es angeblich auch noch ein Zweites. Warum nur. Bei Agin! Was hatten sie übersehen? Was hatten sie falsch gemacht in all den Jahren, dass die Prophezeiung so darauf reagiert? Innerlich fluchte er und suchte Ablenkung in der Bibliothek. Er schnappte sich irgendein Buch, blätterte wahllos darin herum, bis die Müdigkeit in endgültig übermannte.
Die Stimmung am darauffolgenden Morgen spiegelte deutlich wieder, wie sich jeder nach dem Brief des Sehers fühlte. Alle waren in ihre eigenen Gedanken vertieft, kaum jemand sagte etwas. Selbst seine Schwester, die sonst mit einem üppigen Redeschwall von ihren Ausflügen in die Wälder berichtete, schwieg.
Alkijet deprimierte diese Atmosphäre. Nicht nur, dass er sich damit abzufinden hatte, dass seine Tochter ein Wolfskind war und er sie an seine Eltern abgeben musste. Nein. Es kam sogar noch ein zweites Wolfskind ins Spiel und wenn er es richtig verstanden hatte, ein Gegenpart zu seinem Kind.
Er sah zu Kara, der man deutlich anmerkte, wie ihr all das zusetzten. Die ganze Nacht hatte sie sich hin und her gewälzt. War mehr als einmal schreiend aufgewacht, um zu der Liege zu eilen, wo Naya friedlich schlief. Er selbst war sich im Klaren, dass er die Kleine - sollte sie sich verwandeln - nicht weiter in der Burg halten konnte. Alkijet hatte die Erfahrung mit Wolfskinder zwar nur mit seinen Eltern und seinem Großvater gemacht, aber allein das reichte aus, um zu wissen, dass sie in der Form eines Wolfes unberechenbar waren. Das hatte er am eigenen Leib schmerzlich zu spüren bekommen, als er einmal zu heftig mit Gereon gespielt hatte.
Nachdem alle gesättigt waren, begaben sich Alkje und Tarija hinaus in den Burghof. Sie wollten noch heute zurückfliegen, denn die Ernte stand an.
Alkijet beobachtete den Aufbruch mit gemischten Gefühlen. Wie gerne hätte er sie ein paar Tage länger hiergehabt, damit sie ihm bei manchen Entscheidungen halfen. Vor allem, um gemeinsam die alten Schriften zu wälzen, die er oftmals nicht imstande war zu entschlüsseln.
Neben seinen Eltern hielt er inne. Tarijas Hand fühlte sich auf seiner Schulter wie eine Last an. Da brachte es auch nichts, dass sie ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte.
»Es ist noch nicht so weit. Aber sei dir bewusst, dass deine Tochter für das Kardianische Reich mehr als entscheidend ist.«
»Das ist mir klar und das ist es, was mir Sorgen bereitet.«
»Ach komm schon«, brummte Alkje. »Genießt die Zeit mit der Kleinen und schieb den Kummer beiseite. He … Alijana ...«
Seine Schwester trat zu ihnen, wobei sie Alkje skeptisch beäugte.
»Wetten, Vater heckt wieder was aus«, grummelte sie, ehe sie laut fragte: »Was ist?«
»Du könntest doch bei deinem Bruder und Kara bleiben. Ihnen bei Naya helfen, bis ...«, er sprach es nicht aus, aber sie begriffen, was er meinte.
Alijana sah jeden der Reihe nach mit ernstem Gesichtsausdruck an.
»Nein. Ich werde mich trotz allem auf die Suche nach dem anderen Wolfskind machen. Es muss ja nicht heißen, dass es genau wie Naya in diesem Zyklus auf die Welt kam. Vielleicht ist es ja schon älter und hat sich bereits gewandelt.«
Obwohl die Stimmung bedrückend war, so verstärkte sich jetzt dieser Eindruck noch mehr, denn ganz unrecht hatte sie mit ihrer Vermutung nicht.
Tarija wechselte einen flüchtigen Blick mit Alkijet, der ihm bewies, dass auch sie sich so ihre Gedanken darüber machte.
»Ich kann dich nicht davon abhalten, oder mein Kind«, hinterfragte Tarija mit einem mütterlichen lächeln.
Alijana schüttelte den Kopf.
»Nun, dann machen wir es so«, seufzte Tarija resigniert. »Ich komme euch so schnell wie möglich besuchen und Alijana begibt sich auf die Suche nach dem zweiten Wolfskind.« Keiner erwiderte etwas, womit das Gesagte beschlossene Sache war. Gleich darauf hüllten sich seine Eltern in das Schimmern und verwandelten ihre Form in die der Adler.
Mit einem kurzen Schrei stießen sie sich von der Treppe ab, glitten dem Himmel entgegen und entschwanden rasch aus dem Sichtfeld.
»Wann wirst du aufbrechen?« Er sah seine Schwester an, die einen Blick zu ihrer Stute warf, die friedlich auf der Koppel stand.
»Morgen. Zuerst werde ich mich in der Stadt noch mit ein paar Sachen eindecken, die ich für so eine Reise brauche und Proviant wäre auch nicht schlecht.«
Alkijet schmunzelte, legte seinen Arm um Karas Taille, die alles nur unbeteiligt mitverfolgt hatte.
»Du kannst alles haben, was du brauchst, das weist du.«
Alijana nickte, woraufhin sie sich mit Kara zurück in die Burg begaben.
Seine Mutter hielt sich an das, was sie gesagt hatte. Sie kam in regelmäßigen Abständen zu Besuch, um sich für ein paar Tage auf Naya zu konzentrieren.
Alkijet ließ es sich nicht nehmen, hin und wieder seine Mutter zu bespitzeln, während sie sich mit Hingabe um seine Tochter kümmerte. Mit ihr spielte, sie wickelte, obgleich es die Aufgabe des Kindermädchens war, aber wenn Tarija auf der Burg weilte, waren einige Diener überflüssig.
Mit Genugtuung beobachtete er, das Naya die Zeit mit ihrer Großmutter genoss. Oftmals weinte sie heftig – war kaum zu beruhigen – wenn Tarija sie verließ. Das wiederum zeigte ihm deutlich, was für eine enge Bindung das Oma-Enkel-Gespann entwickelte.
Die Einzige, die dem Ganzen nach wie vor mit gemischten Gefühlen entgegensah, war Kara. Auf der einen Seite entzückte es Kara, dass Naya so oft ihre Großmama sah, aber zum anderen war ihr klar, dass es die gleiche Frau war, die ihr in Zukunft das Kind wegnehmen würde. Dieser Gedanke brachte Kara mehrmals dazu, in Tränen auszubrechen, wenn sie die Kleine im Arm wiegte.
Wann es nur möglich war, legte er seinen Arm um sie, tröstete seine Gemahlin, wobei sie gleichzeitig von den wachen Augen ihrer Tochter beobachtet wurden. Hin und wieder lächelte Naya, so als wolle sie ihnen damit sagen, sie brauchten nicht traurig zu sein.
Alkijet war sich bewusst, dass Kara versuchte, stark zu bleiben und ihre aufgewühlten Emotionen nicht zu deutlich zu zeigen. Er verstand sie, aber er wusste nicht, wie er ihr beistehen konnte, zumal er als König einiges um die Ohren hatte, um sich immer nur den Belangen seiner Gemahlin zu widmen.
So verflog das erste Jahr. Schneller als es Alkijet recht war.
An diesem Tag saß er in einem der Sessel im Audienzzimmer und fixierte seine Mutter. Ihre Gesichtszüge verhieß nichts Gutes, das hatte er schon erkannt, als sie hier mit einem Pferd angekommen war und nicht wie das restliche Jahr über in Form des Adlers.
»Was ist so dringlich, dass du mich unter vier Augen sprechen willst?«, knurrte er ungehalten.
Tarija beugte sich nach vorne, bettete ihre Ellbogen auf die Oberschenkel und verschränkte ihre Hände, auf die sie ihr Kinn ablegte.
»Du weißt, weswegen ich dich aufsuche.«
Er hatte gehofft, sie würden mehr Zeit haben.
»Ja. Dessen bin ich mir bewusst. Willst du sie wirklich jetzt schon zu dir zu holen? Sie ist erst knapp ein Jahr alt.«
»Alkijet. Ich verstehe, sie ist deine Erstgeborene und ihr beide hängt an ihr. Trotzdem, ich habe das untrügliche Gefühl, dass sie sich früher verwandelt als ich. Zumal ich noch nichts von Alijana gehört habe, zwecks dem zweiten Wolfskindes.«
Nachdenklich kratzte er sich am Bart, ehe er schwer seufzte.
»Mir kam auch noch nichts zu Ohren. Ich hoffe nur, ihr ist nichts zugestoßen.«
»Vertrau deiner Schwester. Sie ist zäher, als du denkst.«
Er lächelte verkniffen.
»Auch dessen bin ich mir bewusst. Nun, dann ist es so. Hast du schon einen genauen Zeitpunkt wann?«, fragte er niedergeschlagen, denn er wusste, dass er gegen seine Heerführerin nicht ankam. Nicht gegen die mächtigste Frau des ganzen Reiches.
»Nach ihrem ersten Geburtstag hole ich sie mit zu uns. Du solltest dich danach intensiv um Kara kümmern. Schieb die Regierungsangelegenheiten etwas beiseite, das tut dir auch gut.«
Er nickte, auch wenn er nicht wirklich davon überzeugt war. Aber es gab nichts mehr zu sagen. Er selber hatte sich ebenso mit dem Gedanken abzufinden, dass er sein bisher einziges Kind weggeben musste.
»Ach und Alkijet.« Tarija erhob sich, trat neben ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.
»Es ist euch beiden untersagt in den Wald zu kommen, ab dem Moment, wo ich Naya mitnehme. Bevor wir keine Ahnung haben, warum Naya ein Wolfskind ist, darf niemand wissen, wer sie wirklich ist.«
Alkijet atmete tief ein, gab ein kaum sichtbares Nicken von sich, auf das hin Tarija den Raum verließ. Er hingegen presste fest die Kiefer aufeinander und ballte seine Fäuste.
Verdammte Prophezeiung!
Alkijet sah mit gemischten Gefühlen zu den beiden Hengsten, die von zwei Stallburschen an den Zügeln gehalten wurden. Es waren prachtvolle Rappen und er wusste zu gut, zu wem sie gehörten, denn sein Vater stand bei einem der Tiere und wartete darauf, dass Tarija zu ihm kam.
»Ich werde mich gut um sie kümmern«, beteuerte sie ihm zum Tausenstenmal. Er sah zu seiner Mutter, schluckte den harten Kloß runter, ehe er – wenn auch nicht sehr überzeugt – bejahte. Neben ihm schniefte Kara, was ihm das Herz zusammenzog, doch er kannte Tarija. Kannte die gnadenlose Heerführerin, die ein Nein nicht akzeptierte, denn wenn sie sich was vornahm, zog sie es definitiv durch. In dieser Hinsicht brauchte man lediglich den Geschichten lauschen, die man über sie erzählte. Vor allem, wie sie Sarkon eingenommen hatte.
Seine Gedanken schweiften zurück zu Naya, die auf seinem Arm saß und mit den Bartperlen spielte. Unvermittelt hielt sie inne, um ihre Aufmerksamkeit auf Tarija zu richten.
»Kann sie nicht noch ein Jahr bei uns bleiben?«, wimmerte Kara. Ehe Alkijet zu seiner Mutter sah, ahnte er, dass sie verneinte.
»Kara. Wir müssen jeden Tag damit rechnen, dass sie sich verwandelt. Glaub mir. Eine Burg ist nicht der richtige Ort für einen Wolfswelpen.«
»Mooooma.« Naya streckte ihre zierlichen Hände nach Tarija aus, auf das hin sie die Kleine behutsam auf den Arm hievte.
»Ja, Oma ist da meine Kleine. Kara«, Tarija sah zuversichtlich zu seiner Gemahlin. »Ich werde für Naya stets die Oma bleiben. In einigen Jahren sage ich ihr, wer ihre Mutter ist. Ich erzähle ihr alles von euch, nur eines lasse ich aus.« Kara runzelte irritiert die Stirn, schmiegte sich, abermals den Tränen nahe an Alkijet, der sofort seinen Arm um sie schlang.
»Ich werde ihr nicht sagen, dass sie eine Thronerbin ist. Nicht bevor wir ihr wahres Schicksal kennen und eventuell Informationen von dem zweiten Wolfskind haben.«
Alkijet schwieg, denn sie hatten alles gesagt, wobei Kara lange brauchte, bis sie die Lage einsah. Mit einem schweren Seufzer legte Kara ihre Hand auf den gewölbten Bauch. Tarija warf ebenfalls einen flüchtigen Blick darauf, lächelte und wand sich zu den Pferden um.
Sie gab Alkje die Kleine, schwang sich in den Sattel, um Naya dann vor sich zu setzten. Sofort gluckste das Mädchen, zog an der Mähne des Hengstes, woraufhin Tarija sanft mit der Hand die schwarzen Haare des Kindes zauste. Danach richtete seine Mutter ihr Augenmerk wieder auf ihn und Kara.
»Passt gut auf Naya auf«, zwang er sich zu sagen, auch wenn es ihm unendlich schwerfiel. »Du weist selber, sie ist ein ordentlicher Wirbelwind.«
Tarijas Lachen kam aus der Tiefe ihres Herzen.
»Als wenn du kein Wirbelwind warst. Da ist Naya noch harmlos, wenn ich das so nebenbei bemerke. Nun denn.« Tarija packte mit der rechten Hand die Zügel, legte ihren linken Arm um die Kleine, so, dass Naya beschützt vor ihr saß.
Mit einem Schnalzen der Zunge gab Tarija das Kommando zum Aufbruch. Alkje erklomm rasch den Rücken seines Pferdes, hob grüßend die Hand und ritt Tarija hinterher.
Alkijet sah ihnen lange nach, während Zwiespalt in seinen Gefühlen herrschte. Er drückte Kara fest gegen sich, die ihre Tränen nicht mehr zurückhielt und haltlos an seiner Schulter schluchzte.
»Kara. Komm, lass uns reingehen«, flüsterte er ihr ans Ohr, gleich darauf führte er seine zitternde Gemahlin zurück in die Burg. Bevor er diese betrat, sah er zu dem sich schließenden Tor, hinter dem seine Eltern mit seiner Tochter verschwanden.
Wir sehen uns wider, meine Naya. Eines Tages, das schwöre ich dir.
Kapitel 1
Sie gähnte herzhaft, streckte ausgiebig ihre Glieder, als der Duft nach fruchtigem Haferschleim in ihre Nase drang, die sie schnuppernd in die Luft reckte. Augenblicklich meldete sich ihr Magen mit einem lautstarken Knurren zu Wort, während sie behäbig unter der dünnen Leinendecke hervorkroch.
In ihrem Zimmer herrschte das übliche Zwielicht, da es nur ein schmales Fenster gab, das gen Norden gerichtet war. Dafür aber einen angenehmen Blick auf den dichten Wald hinter der Hütte gewährte.
Verschlafen schaute sie sich um, bevor sie auf ihre Hände blickte und erschrocken aufjaulte. Hektisch rief sie nach ihrer Großmutter, doch alles, was sie hervorbrachte, waren sonderbare kläffende Laute.
Ihre Zimmertür wurde mit Schwung aufgerissen und ihr Großvater, gefolgt von ihrer Großmutter traten herein und blieben beide wie vom Donner gerührt stehen. Völlig überrascht sahen sie Naya an.
»Na so schnell habe ich jetzt nicht erwartet, dass du dich wandelst«, grummelte ihre Großmutter und ehe sich Naya versah, hüllte diese sich in ein Schimmer, bis eine dunkelbraune Wölfin vor ihr stand.
»Bleib ganz ruhig meine Kleine. Das ist völlig normal bei uns. Du hast heute zum ersten Mal deine wahre Gestalt angenommen.«
Naya starrte ihre Großmutter irritiert an, dann ihre Hände, die zu Pfoten geworden waren. Schwarze Tatzen, mit gleichfarbigen Krallen.
»Was bin ich?«
Die Wölfin stupste sie mit der Nase hinterm Ohr an, um ihr gleich darauf fürsorglich über das Gesicht zu lecken.
»Du bist ein Wolfskind. In deiner natürlichen Form ein Wolf, aber dazu fähig dich in einen Menschen zu verwandeln.«
»Aber ich bin ein Mensch«, begehrte sie auf.
Unablässig fuhr die Zunge der Wölfin über ihren Kopf und ihren Rücken, was eine beruhigende Wirkung auf sie hatte.
»Ja du bist ein Mensch, aber in deinem Herzen ein Wolf. Alkje«, die Wölfin sah zu ihrem Großvater, auch Naya richtete ihr Augenmerk auf ihn, um gleich darauf kurz zusammenzuzucken. Wo ihr Großvater gestanden hatte, weilte nun ein schwarzbrauner Wolf mit angegrauten Augenwinkeln.
»Kannst du auf die Jagd gehen und unserem Welpen etwas zu essen holen?« Es sah seltsam aus, als der imposante Wolf nickte, um sofort aus dem Zimmer zu verschwinden.
»Und du mein liebes Kind, stehst jetzt auf und erkundest mal deinen neuen Körper.«
Unschlüssig sah sie die Wölfin an, bevor sich Naya auf zittrigen Beinen erhob und unbeholfen von ihrem Bett heruntersprang, um augenblicklich auf die Nase zu fallen. Alles fühlte sich so falsch an. Ihre Sinne waren überempfindlich. Allein ihre Nase nahm Gerüche wahr, von denen sie noch nie etwas gewittert hatte. Ihre Ohren zuckten unkontrolliert bei jedem kleinsten Geräusch.
»Ich will wieder ein Mensch sein«, jammerte sie, während sie am Boden lag, doch ihre Großmutter hatte andere Absichten. Behutsam, auch wenn Naya halb so groß war wie die Wölfin, packte diese sie mit ihren Fängen im Genick und drängte sie mit sanfter Gewalt nach draußen.
»Großmutter, ich will nicht. Ich hab Angst. Warum bin ich so?«
Erst vor der Hütte gab ihre Großmutter sie wieder frei, stellte sich ihr gegenüber und sah ihr tief in die Augen.
»Weil du wie ich das Kind einer mächtigen Prophezeiung bist. Du brauchst keine Angst zu haben. Lass alles auf dich zukommen. Du stehst mit dieser Situation nicht allein da, denn wir sind immer an deiner Seite.«
Naya sah ihre Großmutter zweiflerisch an, als es plötzlich im Gebüsch raschelte und ihr Großvater zurückkam. In seinem Maul, ein erlegter Hase, bei dessen Anblick sich Nayas Magen zusammenkrampfte.
»Das ess ich nicht«, begehrte sie auf und rümpfte die Nase. Ihr Großvater ignorierte das Aufbegehren und legte ihr das tote Tier vor die Pfoten.
»Versuche es wenigstens, denn in dieser Form ernähren wir uns von dem, was wir jagen, und zwar ungekocht. Glaub mir, wir haben auch schon Gekochtes als Wölfe probiert und ich muss zugeben, es schmeckte fürchterlich.«
Angewidert starrte sie auf den Hasen, bevor sie sich demonstrativ hinsetze.
»Ich ess das nicht!«
Die beiden Wölfe wechselten einen kurzen Blick miteinander, ehe ihre Großmutter in die Hütte trottete. Als sie wieder herauskam, trug sie die Schüssel Haferschleim zwischen den Fängen und stellte sie vor ihr ab.
»Bitte, dann iss das.«
Sofort machte sich Naya über den Haferbrei mit Äpfeln her, doch bereits nach dem vierten Happen wurde ihr dermaßen schlecht, dass sie alles unter krampfhaftem Würgen erbrach. Entsetzt starrte sie auf die Schale, auf das Frühstück, das sie liebte.
»Ich habe es dir gesagt, Naya. Nun? Willst du jetzt doch den Hasen probieren?«
Völlig mit der Situation überfordert fing sie an zu heulen und zu wimmern. Sie kauerte sich wie ein Häufchen Elend auf den Boden, zitterte am ganzen Leib, bis sie von beiden Seiten eine behagliche Wärme wahrnahm. Ihre Großeltern hatten sie in ihre Mitte genommen, spendete ihr Trost und Geborgenheit, die sie jetzt dringend brauchte.
Den restlichen Tag verbrachten sie damit, ihr zu helfen mit den neuen, empfindsameren Sinnen klarzukommen. Doch erst zum Abend hin überwand Naya ihren Ekel ein totes Tier zu essen, denn der Hunger quälte sie zunehmend, woraufhin ihr Großvater einen zweiten erlegten Hasen brachte, der zu ihrer Verwunderung gar nicht mal so komisch schmeckte.
Gesättigt und behütet von ihren Großeltern schlief sie zu später Stunde vor Erschöpfung ein.
Naya fand sich mit den Tagen damit ab, dass sie vorerst in dieser Form umher wandelte. Wobei sie von Tag zu Tag mehr gefallen daran hatte, denn diese Gestalt eröffnete ihr Möglichkeiten, sich heimlich davonzuschleichen und die Welt auf ihre Art zu erkunden. Was allerdings jedes Mal eine heftige Standpauke seitens ihrer Großmutter mit sich brachte. Doch Nayas Neugierde war unersättlich.
Nur am Rande bemerkte sie, wie eine Taube ihrer Großmutter eine Nachricht überbrachte, denn Naya selbst war vollauf damit beschäftigt, sich vor ihrem Großvater zu verstecken.
»Naya, jetzt komm schon raus. Du kannst dich doch nicht ständig davor drücken jagen zu lernen.«
Ihre Großmutter trat neben ihn, vergrub flüchtig ihre Schnauze unter seinem Halsfell und seufzte erleichtert: »Noela zeigt weiterhin keinerlei Anzeichen.«
»Das sind gute Nachrichten«, erwiderte ihr Großvater und nun war Naya neugierig geworden. Vorwitzig streckte sie ihre Nase aus einem dichten Brombeerbusch, den sie als ihr Versteck auserkoren hatte.
»Wer ist Noela?« Beide Wölfe sahen sie an, wobei es ihre Großmutter war, die zu ihr kam, um ihr mütterlich über das Gesicht zu lecken.
»Das ist deine kleinere Schwester.«
»Ich hab eine Schwester?« Erneut fuhr die Zunge über ihre Nase, weswegen sie sich schüttelte.
»Ihhh Großmutter, lass das.« Mit einem wölfischen Grinsen schleckte ihre Großmutter abermals über Nayas Kopf.
»Ja das hast du. Aber du musst dich noch eine Weile gedulden, bis du sie kennenlernen darfst. Zuerst lerne, ein Wolf zu sein, dann dich wieder in einen Menschen zu verwandeln, danach werden wir sehen, wie es weitergeht.«
Gefrustet über diese Worte, schnaubte Naya und wandt sich unter der Fürsorge ihrer Großmutter.
Widerstrebend trottete sie doch mit ihrem Großvater mit, nur, um außer Reichweite ihrer Großmutter zu kommen. Dabei stellte sie fest, dass ihr das Jagen ziemlichen Spaß bereitete.
Die Mondphasen zogen dahin. Der Winter kündigte sich unbarmherzig an, indem morgens alles zu Eis erstarrt war. Ihre Großeltern hatten sich in der Erntezeit oftmals gewandelt, um die Vorräte zu versorgen und winterfest zu machen.
Während ihre Großmutter Kräuter verarbeitete, flackerte im Kamin ein wohltuendes Feuer, vor das sich Naya allzu gerne legte. Die Wärme lullte sie bald in den Schlaf und so auch in einen unruhigen Traum.
Naya rannte durch einen Wald. Einen, den sie nicht kannte und der ihr unheimlich war. Plötzlich tauchte ein Schatten neben ihr auf. Sie wandt ihren Blick dorthin und erkannte einen zweiten Wolf. Pechschwarz.
Als er sie ebenfalls ansah, starrte sie in Augen so blau wie er Sommerhimmel.
»Es kann nur ein Wolfskind geben«, knurrte eine tiefe Stimme, die wohl von dem Wolf stammte. Gleich darauf sprang er sie an, während Naya versuchte, sich so gut sie konnte zu wehren.
Ein brennender Schmerz durchzuckte ihren Rücken und ihre linke Schulter, woraufhin sie mit einem Jaulen aus dem Traum hochschrak.
»Naya!«, hörte sie den erschrockenen Schrei ihrer Großmutter. Erst jetzt erkannte sie, was so höllisch schmerzte.
Sie war im Schlaf zu dicht an den Kamin gekommen. Flammen waren auf ihr Fell übergesprungen, versengten es, was einen beißenden Geruch in ihrer Nase hinterließ.
Das Feuer fraß sich gnadenlos in ihre Haut. Naya jaulte, wandt sich unter der Pein, rollte sich hin und her, doch nichts half. Nichts außer das eiskalte Wasser, das über sie geschüttet wurde. Sie japste nach Luft, bevor sie mit einem Wimmern zusammensackte.
»Alkje«, kreischte ihre Großmutter, was wie aus weiter Ferne klang.
»Hol mir sofort Efeublätter! Schnell!«
Die Höllenqual an ihrem Rücken, an ihrer Schulter umnebelte ihre Wahrnehmung. Der Schmerz verstärkte sich, als etwas Warmes, Feuchtes auf die pochenden Stellen gelegt wurde.
»Naya? Naya hörst du mich?«
Sie blinzelte, sah mit verschleiertem Blick – durch die Tränen – in das besorgte Gesicht ihrer Großmutter.
»Agin sei Dank, du bist bei Bewusstsein. Pass auf, wir heben dich jetzt behutsam hoch und bringen dich weg vom Feuer.«
Mehr als ein Wimmer kam nicht aus ihrem Maul, nachdem ihre Großeltern sie vorsichtig anhoben und Naya schwarz vor Augen wurde.
Naya rannte schon wieder durch einen Wald, den sie nicht kannte. Hinter sich riefen irgendwelche Menschen ihren Namen, doch der Tonfall deutete darauf hin, dass sie ihr nicht wohlgesonnen waren.
Ein Rascheln neben sich erweckte ihre Aufmerksamkeit und sie sah zum zweiten Mal den schwarzen Wolf mit den himmelblauen Augen.
»Du entkommst uns nicht«, knurrte er sie bedrohlich an und verringerte im gleichen Maße den Abstand zu ihr. Angst schnürte ihr die Kehle zu, gleichzeitig setzte sie zu weiteren Sprüngen an und ... der Schmerz holte sie brutal in die Wirklichkeit zurück. Sie winselte und versuchte aufzustehen, doch zwei große Hände drückten sie unbarmherzig auf eine Strohmatratze nieder. Panik erfüllte sie, woraufhin sie sich aufbäumte, aber sie hatte keine Möglichkeit, sich zu befreien.
»Naya, beruhige dich wieder. Wir tun dir nichts, aber du musst liegen bleiben, damit ich deine Wunde versorgen kann.« Wie aus weiter Ferne hörte sie die Stimme ihrer Großmutter, während sie sich langsam beruhigte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie zitterte am ganzen Körper und die Pein in ihrem Rücken, in der Schulter pochten im Gleichklang mit ihrem Herzschlag.
»Alkje halt sie still, damit ich den Kamillenverband erneuern kann.« Pranken drückten sie unbarmherzig auf die Matratze, während etwas Kühles anfing, den Schmerz zu lindern.
»Was ist passiert?«, winselte sie und sah zu ihrer Großmutter.