Psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit - Dieter Wälte - E-Book

Psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit E-Book

Dieter Wälte

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Beschreibung

This volume provides the basic psychological knowledge that is essential for social work. Against the background of many years of experience in practical work, teaching and research, the authors concentrate on the psychological foundations that enable social workers to take practical action. Selected scientific findings from the fields of developmental psychology, social psychology and clinical psychology are presented, which contribute to a deeper understanding of the experience and behaviour of social work clients. Numerous illustrations and tables supplement the book=s educationally structured text.

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Die Autoren

 

Prof. Dr. Dieter Wälte, Jg. 1956, Dipl.-Psych, Psychologischer Psychotherapeut, Habilitation 2004 in der Klinischen Psychologie. Bis 2006 Ltd. Psychologe in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der RWTH Aachen, dort Leiter der Psychotherapiestation. Seit 2006 Professur für »Klinische Psychologie und Persönlichkeitspsychologie« am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein (Mönchengladbach). Seit 2007 Leiter der Psychosozialen Beratungsstelle an der Hochschule Niederrhein. Darüber hinaus seit 1998 tätig als Dozent, Supervisor, Prüfer und Selbsterfahrungsleiter in der Ausbildung von Psychotherapeuten nach dem Psychotherapeutengesetz. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Psychotherapie, Beratung, Diagnostik, Eingliederungshilfe. Zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Heimerziehung, Familientherapie, Psychiatrie und Psychosomatik.

Prof. Dr. Michael Borg-Laufs, Jg. 1962, Dipl.-Psych., Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychologischer Psychotherapeut. Dekan und Professur »Theorie und Praxis psychosozialer Arbeit mit Kindern« am Fachbereich Sozialwesen der Hochschule Niederrhein. Darüber hinaus Dozent, Supervisor, Selbsterfahrungsanleiter und Prüfer an verschiedenen psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten. Diverse berufs- und fachpolitische Aktivitäten. Mehr als zehn Jahre Leitung einer Erziehungsberatungsstelle, langjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Universität Wuppertal. Mehr als 200 wissenschaftliche Publikationen. Arbeitsschwerpunkte: Kindeswohlgefährdung, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Diagnostik, Psychische Grundbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen, Jugendhilfe, Psychosoziale Beratung.

Prof. Dr. Burkhart Brückner, Jg. 1962, Professur für »Sozialpsychologie incl. Psychosoziale Prävention und Gesundheitsförderung« an der Hochschule Niederrhein, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut. Ab 1992 Kriseninterventionsarbeit in Berlin, seit 1999 im Berliner Krisendienst, dort Aufbau und Leitung des Beratungsprojektes Zukunft im Alter. Zahlreiche Konferenzbeiträge und Veröffentlichungen, u. a. zur Beratungspsychologie, Biographieforschung, Psychosen-Psychotherapie und Psychiatriegeschichte, z. B. »Verstehende Beratung alter Menschen« (2006, Hrsg., mit S. Al Akel und U. Klein), »Delirium und Wahn« (2007, 2 Bde.), »Geschichte der Psychiatrie« (2010), »Die abklingende Psychose« (2017; mit J. E. Schlimme). Arbeitsgebiete in Forschung und Lehre: Klinische Sozialpsychologie, Krisenintervention und Suizidprävention, Beratungspsychologie, Geschichte der Psychiatrie.

Dieter Wälte, Michael Borg-Laufs, Burkhart Brückner

Psychologische Grundlagen der Sozialen Arbeit

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031643-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031644-7

epub:    ISBN 978-3-17-031645-4

mobi:    ISBN 978-3-17-031646-1

Vorwort zur Reihe

 

 

 

Mit dem so genannten »Bologna-Prozess« galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin »berufliche Handlungsfähigkeit« zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)-freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

 

 

 

Soziale Arbeit ist ein komplexes Tätigkeitsfeld und integriert verschiedene Wissens- und Erkenntnisbestände aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Dementsprechend wird die Qualität sozialarbeiterischen Handelns entscheidend dadurch geprägt, wie die aktuellen Ergebnisse der Bezugswissenschaften in die wissenschaftliche Konzeption der Sozialen Arbeit und im professionellen Alltag umgesetzt werden. Eine bedeutende Grundlage der Sozialen Arbeit ist die Psychologie als Wissenschaft vom Erleben und Verhalten der Menschen. Der vorliegende Band stellt das Basiswissen der Psychologie dar, das für die Tätigkeit in der Sozialen Arbeit besonders wichtig ist. Bei der Auswahl dieses Basiswissens waren wir uns als Autoren bereits im Vorfeld darüber bewusst, dass ein Buch in diesem Umfang die Psychologie nicht vollständig darstellen kann und soll. Vor dem Hintergrund langjähriger Erfahrungen in der Praxis, Lehre und Forschung haben wir den Schwerpunkt auf eine Auswahl derjenigen psychologischen Grundlagen gelegt, die Sozialarbeiter/innen in der Praxis handlungsfähig machen. Unabdingbar für ein vertieftes Verständnis des Erlebens und Verhaltens der Klientel in der Sozialen Arbeit sind die Ergebnisse aus den Teildisziplinen Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie und Klinische Psychologie.

Die Entwicklungspsychologie bereichert die Soziale Arbeit mit Erkenntnissen über die Bedingungen gelingender und misslingender Entwicklungsverläufe. Zentral sind hier die Fragen zu den relevanten Risiko- und Schutzfaktoren und zur Beeinflussbarkeit von Entwicklungsverläufen.

Aus der Perspektive der Sozialpsychologie gelingt es Fachkräften in der Sozialarbeit besser zu verstehen, wie Menschen im sozialen Kontext denken, fühlen und handeln. Die Problemfelder in der Sozialen Arbeit werden dadurch zum einen unter der Perspektive analysierbar, wie soziale Phänomene das individuelle Erleben und Verhalten beeinflussen, und zum anderen, wie umgekehrt einzelne Personen im sozialen Kontext, etwa in Gruppen, handeln und ihre gesellschaftliche Umwelt gestalten.

Im Mittelpunkt der Klinischen Psychologie stehen die Klärung und Bewältigung von psychischen Störungen: Woran erkennt man eine psychische Störung, welche Ursachen hat sie und wie kann dem Betroffenen durch Beratung oder Therapie geholfen werden, seine psychische Störung zu überwinden?

Klassische und aktuelle Ergebnisse aus diesen drei Feldern der Psychologie sollen die Leserinnen und Leser für die Arbeit mit den Klienten sensibilisieren, das notwendige Grundlagenwissen vermitteln und eine professionelle Praxis ermöglichen.

 

Dieter Wälte, Michael Borg-Laufs, Burkhart Brückner

Inhalt

 

 

 

Vorwort zur Reihe

Zu diesem Buch

1 Menschliche Entwicklung – Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie

Michael Borg-Laufs

1.1 Warum ist die Perspektive der Entwicklungspsychologie wichtig für die Soziale Arbeit?

1.2 Gelerntes Verhalten

1.2.1 Klassisches Konditionieren

1.2.2 Operantes Konditionieren

1.2.3 Modelllernen

1.3 Kognitive Entwicklung des Menschen

1.3.1 Entwicklung als aktiver Aneignungsprozess

1.3.2 Stadien der kognitiven Entwicklung

1.3.3 Kognitive Entwicklung im Erwachsenenalter

1.3.4 Intelligenz

1.4 Entwicklungsaufgaben, Risikofaktoren und Schutzfaktoren

1.4.1 Entwicklungsaufgaben von Individuen

1.4.2 Exkurs: Social Network Sites als neue Entwicklungsumgebung

1.4.3 Familienentwicklungsaufgaben

1.4.4 Risiko- und Schutzfaktoren menschlicher Entwicklung

1.5 Befriedigung und Verletzung psychischer Grundbedürfnisse

1.5.1 Erkenntnisse über psychische Grundbedürfnisse

1.5.2 Misshandlung und Vernachlässigung als Formen der Verletzung von Grundbedürfnissen

1.5.3 Kinder psychisch kranker Eltern

1.5.4 Psychische Störungen im Zusammenhang mit der Bindungsentwicklung

1.6 Entwicklung gesellschaftlich erwünschten und unerwünschten Verhaltens

1.6.1 Entwicklung prosozialen Verhaltens

1.6.2 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

1.6.3 Aggressives Verhalten

1.7 Entwicklung von Leistungsmotivation und Entwicklung von problematischen Verläufen im Bereich schulischer Anforderungen

1.7.1 Entwicklung von Leistungsmotivation

1.7.2 Lese-Rechtschreib-Schwäche/Störung (LRS)

1.7.3 Schulabsentismus

2 Der Mensch im sozialen Kontext – Sozialpsychologie

Burkhart Brückner

2.1 Warum ist die Perspektive der Sozialpsychologie wichtig für die Soziale Arbeit?

2.2 Sozialer Einfluss

2.2.1 Das »Milgram-Experiment«

2.2.2 Sozialer Einfluss und Konformität

2.2.3 Studien zu Konformität und Nonkonformität

2.3 Soziale Wahrnehmung

2.3.1 Attributionen und Handlungserklärungen

2.3.2 Grundlagen der Vorurteilsforschung: Einstellungen

2.3.3 Stereotyp, Vorurteil und Diskriminierung

2.3.4 Strukturen und Abbau von Vorurteilen

2.4 Die Person in der Gruppe

2.4.1 Gruppenprozesse

2.4.2 Soziale Erleichterung und Hemmung

2.4.3 Teamarbeit

2.5 Prosoziales Verhalten

2.5.1 Notfälle und Hilfehandeln

2.5.2 Pluralistische Ignoranz und Verantwortungsdiffusion

2.5.3 Das kognitive Entscheidungsmodell des Hilfeverhaltens

2.6 Gesundheit

2.6.1 Soziale Unterstützung in Familien

2.6.2 Familienbegriff und familiäre Gesundheit

2.6.3 Ressourcenorientierte Krankheitsbewältigung

3 Der psychisch gestörte Mensch – Klinische Psychologie

Dieter Wälte

3.1 Warum ist die Perspektive der Klinischen Psychologie wichtig für die Soziale Arbeit?

3.2 Merkmale, Definition und Klassifikation psychischer Störungen

3.2.1 Merkmale und Definition

3.2.2 Klassifikation

3.3 Die häufigsten psychischen Störungen

3.3.1 Angststörungen

3.3.2 Affektive Störungen

3.3.3 Persönlichkeitsstörungen

3.3.4 Störungen durch psychotrope Substanzen

3.3.5 Zwangsstörung

3.3.6 Somatoforme Störungen

3.3.7 Psychotische Störungen

3.3.8 Posttraumatische Belastungsstörung

3.3.9 Essstörungen

3.4 Erklärungskonzepte für psychische Störungen

3.4.1 Biopsychosoziales Modell

3.4.2 Verhaltenstherapeutische Erklärungskonzepte

3.4.3 Neurobiologische Erklärungskonzepte

3.4.4 Systemische Erklärungskonzepte

3.5 Beratung von Klienten mit psychischen Störungen in der Sozialen Arbeit

3.5.1 Zeitpunkt der Beratung

3.5.2 Adressaten der Beratung

3.5.3 Wirkfaktoren

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

1          Menschliche Entwicklung – Entwicklungspsychologie und Entwicklungspsychopathologie

Michael Borg-Laufs

Was Sie in diesem Kapitel lernen können

Soziale Arbeit ist weniger ein ›Geschenk‹ der Gesellschaft an bedürftige Personen, vielmehr bietet sie gesellschaftlich relevante Angebote, deren Auswirkungen nicht nur ethisch-moralisch, sondern auch finanziell bedeutend sind. Damit Soziale Arbeit aber passgenau und qualitativ hochwertige Dienstleistungen anbieten kann, sind entwicklungspsychologische Informationen zu berücksichtigen, die Auskunft darüber geben können,

•  zu welchem Zeitpunkt im Lebenslauf welche Entwicklungsverläufe als günstig oder als abweichend zu bezeichnen sind,

•  welche Risikofaktoren im Lebenslauf eines Menschen bearbeitet werden sollten,

•  welche Schutzfaktoren gestärkt werden sollten,

•  welche Interventionen in welchem Entwicklungsalter greifen können.

Das menschliche Verhalten wird vor dem Hintergrund genetischer Veranlagung im Laufe des Lebens ausgeformt. Die Lernpsychologie liefert Theorien und Befunde, die in weiten Bereichen erklären können, auf welche Weise sich Verhalten im Lebenslauf entwickelt ( Kap. 1.2).

Die kognitive Entwicklung des Menschen vollzieht sich in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt. Erst im Alter von etwa sechs bis acht Jahren entwickelt sich die Fähigkeit zu logischen Schlussfolgerungen, die aber noch sehr einfach sind. Etwa ab dem Alter von zwölf Jahren ist das Gehirn reif für logisch-abstrakte Operationen. Im höheren Lebensalter entwickelt sich Intelligenz unterschiedlich: Während die Fähigkeit zu schneller Wahrnehmung und Reaktion bereits im frühen Erwachsenenalter absinkt, steigt die verbale Intelligenz bis ins hohe Alter an ( Kap. 1.3).

Aus dem Alter eines Menschen ergibt sich, welche übergeordneten Lebensziele und -aufgaben dieser vermutlich verfolgt. Diese Entwicklungsaufgaben sind von Altersstufe zu Altersstufe sehr unterschiedlich. Die Bewältigung dieser Aufgaben ist notwendig für eine gelingende Lebensgestaltung. Je günstiger das Verhältnis von Risiko zu Schutzfaktoren ist, desto eher können Entwicklungsaufgaben bewältigt werden ( Kap. 1.4).

Menschliches Wohlergehen kann wesentlich darauf zurückgeführt werden, dass die psychischen Grundbedürfnisse befriedigt werden. Verletzungen psychischer Grundbedürfnisse, etwa durch Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, haben weitreichende negative Folgen für den gesamten Lebenslauf. Auch andere schwierige Lebensbedingungen, etwa das Aufwachsen mit einem psychisch kranken Elternteil, bergen die Gefahr der Verletzung von Grundbedürfnissen ( Kap. 1.5).

Der Zusammenhang verschiedener psychischer Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Bindungsstörungen, Autismus, Hyperaktivität, Störungen des Sozialverhaltens, Lese-Rechtschreib-Störung, Schulvermeidung) mit den Entwicklungsbedingungen wird in diesem Kapitel dargestellt ( Kap. 1.5.4), sodass auch erkennbar werden kann, inwiefern durch (sozialarbeiterische) Interventionen günstigere Entwicklungsverläufe unterstützt werden können.

1.1       Warum ist die Perspektive der Entwicklungspsychologie wichtig für die Soziale Arbeit?

Menschliche Entwicklung ist kein gradliniger, standardisierter Prozess. Tatsächlich wirkt eine große Zahl von Einflussfaktoren auf die menschliche Entwicklung ein und prägt die Betroffenen. Zum Teil handelt es sich dabei um übliche, normative Ereignisse wie z. B. den Schuleintritt, den Wechsel der Schule nach der Grundschulzeit, die Aufnahme eines Studiums oder einer Berufsausbildung. Andere Ereignisse wiederum treffen nur einen Teil der Menschen, etwa die Geburt eines Geschwisterkindes, die Scheidung der Eltern oder bei Erwachsenen das Erlebnis eigener Elternschaft. Neben diesen besonderen Lebensereignissen müssen aber auch v. a. überdauernde Umgebungsfaktoren beachtet werden, die einen Menschen prägen. Als Beispiele seien genannt: die psychische Gesundheit der Eltern, die sozialökonomische Situation der Familie, die politischen bzw. gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Aufwachsens oder auch die Sozialstruktur des Stadtteiles, in dem ein Mensch lebt.

Liest sich die bisherige Aufzählung so, als ob menschliche Entwicklung v. a. durch äußere Ereignisse und Rahmenbedingungen geprägt würde, so muss dieser Eindruck dahingehend korrigiert werden, dass diese äußeren – häufig sozialen – Faktoren jeweils auf ganz spezielle individuelle biologische und psychologische Merkmale einzelner Personen treffen und mit diesen interagieren. Die gleichen äußeren Umstände können also bei verschiedenen Menschen aufgrund ihrer biologischen und psychologischen Verfasstheit ganz unterschiedliche Wirkungen entfalten. Die Geburt eines Geschwisterkindes etwa kann je nach Alter, Selbstwertgefühl, Temperament, erlebter Sicherheit der Beziehung zu den Eltern und vielen anderen Faktoren sowie deren jeweiliger Interaktion miteinander bei einem betroffenen Kind eher entwicklungshemmende oder entwicklungsfördernde Auswirkungen haben. Stellen wir uns etwa ein sechsjähriges, selbstbewusstes Kind mit einer sicheren Bindung zu beiden Elternteilen vor, welches ein ruhiges und ausgeglichenes Temperament aufweist und vergleichen dessen mutmaßliche Reaktion mit der eines vierjährigen, sich seiner Beziehung zu den Eltern nicht sicheren Kindes, welches ein unstetes Temperament und wenig Selbstbewusstsein hat. Während das erstgenannte Kind die Geburt seines kleinen Geschwisters vermutlich zu einer Ausweitung seiner Fähigkeiten (Umsorgen eines kleinen Kindes, Rücksichtnahme auf die belasteten Eltern, Aufbau einer neuen Beziehung) nutzen wird, könnte bei dem anderen Kind befürchtet werden, dass es mit Angst und vermehrter Unsicherheit auf die Geburt seines Geschwisters reagiert und Entwicklungsrückschritte macht (Regression), möglicherweise auf einmal selber wieder gefüttert werden will und aggressiv mit dem Baby umgeht. Das gleiche Ereignis führt also bei den beiden Kindern in Abhängigkeit von ihren psychologischen (Selbstwertgefühl, Bindungsstatus) und biologischen (angeborenes Temperament) Dispositionen einmal zu einer Entwicklungsförderung und ein anderes Mal zu einer Entwicklungshemmung.

Menschen können weder rein über ihre sozialen Erfahrungen, noch über ihre psychologischen Charakteristika, noch über ihre angeborenen Eigenschaften hinsichtlich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten eingeschätzt werden, vielmehr ist ein biopsychosoziales Modell menschlichen Verhaltens und Erlebens anzuwenden, um sie zu verstehen und ggf. auch angemessen beeinflussen zu können.

Entwicklungspsychologen versuchen herauszufinden, wie Menschen sich unter verschiedenen Rahmenbedingungen entwickeln. Sie beachten dabei verschiedene Dimensionen, z. B. die kognitive, emotionale oder soziale Entwicklung. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei, möglichst allgemeine Entwicklungsgesetze zu entdecken und die unterschiedlichen Bedingungen für gelingende Entwicklungsverläufe zu erfassen. In der Entwicklungspsychopathologie hingegen konzentrieren sich die Forscherinnen auf die Frage, wie es zu abweichenden Entwicklungsverläufen kommt, wie diese aussehen können und unter welchen Bedingungen auch abweichende Pfade wieder verlassen werden können. Diese Forschungsrichtung kombiniert Fragestellungen und Herangehensweisen der Entwicklungspsychologie und der Klinischen Psychologie ( Kap. 3).

Es sind also viele Faktoren, die den Entwicklungsverlauf eines Menschen beeinflussen. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, deren Beruf es ist, Menschen dabei zu helfen, auch unter schwierigen Rahmenbedingungen eine möglichst gelingende Entwicklung zu durchlaufen bzw. im Falle abweichender Entwicklung die Betroffenen dabei zu unterstützen, wieder günstigere Wege einzuschlagen, müssen sich, um effektiv helfen zu können, mit diesen Faktoren auskennen. Nur dann können sie professionell entscheiden, bei welchem Klienten unter welchen Rahmenbedingungen in welchem Alter welche Interventionen hilfreich sein können: Soll dem Klienten geholfen werden, seine Beziehungen besser zu gestalten? Soll seine räumliche Umgebung geändert werden? Muss er zu sinnvollerer Freizeitgestaltung angeregt oder in der Schule unterstützt werden? Ist der Medienkonsum ein Ansatzpunkt für Veränderungen oder eventueller Drogenkonsum? Und welche Interventionen sind genau bei einem Menschen in welchen Lebensbedingungen und in welchem Alter Erfolg versprechend? Welche Risikofaktoren müssen minimiert, welche Schutzfaktoren optimiert werden?

Die Hilfe, die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter mit diesem Hintergrundwissen ihren Klienten zuteilwerden lassen können, ist nicht nur durch eine ethisch-moralische Verpflichtung legitimiert. Auch wenn der Wert eines Menschen und menschlichen Glücks keinesfalls in dieser Weise umgerechnet werden kann, so lässt sich dennoch zeigen, dass passgenaue Jugendhilfemaßnahmen in erheblichem Maße gesellschaftliche Folgekosten minimieren. Roos (2005; vgl. im Überblick Roos/Petermann 2006) hat eine Modellrechnung durchgeführt, bei der er nicht nur – wie dies kurzsichtiger Weise häufig gemacht wird – die Kosten von Jugendhilfemaßnahmen berücksichtigt hat, sondern auch die in Folge der Maßnahme entstehenden gesellschaftlichen Erträge. Er hat dabei drei Zielbereiche von Jugendhilfe berücksichtigt. Demnach sollen durch die Hilfen Verbesserungen in folgenden Bereichen erzielt werden:

•  Bildung, Ausbildung, Arbeitsfähigkeit, Produktivität

•  Legalverhalten

•  gesundheitsbezogenes Verhalten

Das bedeutet, geeignete Jugendhilfemaßnahmen sollen die Gefahr von Schulabbrüchen und späterer Arbeitslosigkeit, die Gefahr massiv aggressiven und kriminellen Verhaltens und auch gesundheitsschädigendes Verhalten minimieren. In Abbildung 1.1 wird der Zusammenhang dargestellt: Jugendhilfemaßnahmen verursachen einerseits Kosten, verbessern aber entsprechend ihrem Auftrag die Eigenverantwortung, die Gemeinschaftsfähigkeit und Aspekte der Persönlichkeit ihrer Klienten. Wenn diese Parameter positiv beeinflusst werden, dann wirkt sich das wiederum günstig auf die Arbeitsfähigkeit, den Erwerb eines Schulabschlusses sowie den Abschluss einer Ausbildung aus, sorgt dafür, dass die Betroffenen in höherem Maße gesellschaftlich gewünschte Normen übernehmen und die Wahrscheinlichkeit psychischer und physischer Gesundheit zunimmt. Dadurch werden wiederum die Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt von Arbeitslosigkeit, Delinquenz und Krankheit verringert und die Wahrscheinlichkeit für produktive Arbeitsleistung erhöht ( Abb. 1.1).

Die gesamtgesellschaftlichen finanziellen Auswirkungen lassen sich im Rahmen einer Modellrechnung ermitteln. Roos (2005) vergleicht verschiedene Lebensläufe hinsichtlich der sich ergebenden Kosten bzw. Erträge für die Gesellschaft miteinander ( Abb. 1.2). Dabei hat er berechnet, wie die gesellschaftlich relevante finanzielle Gesamtbilanz zu verschiedenen Lebenszeitpunkten aussieht.

Abb. 1.1: Kosten-Nutzen-Modell für die Jugendhilfe nach Roos (© Peter Lang: Roos, K. (2005): Kosten-Nutzen-Analyse von Jugendhilfemaßnahmen. Frankfurt: Peter Lang)

Abb. 1.2: Kumulierte Erträge und Kosten über den Lebenslauf in drei Varianten (Roos, K./Petermann, F. (2006): Kosten-Nutzen-Analyse von Heimerziehung. In: Kindheit und Entwicklung, 15 (1), 45–54, dort Abb. 1)

Bei einer ›Normalbiographie‹ ohne besondere Auffälligkeiten fällt das Ergebnis seiner Berechnungen folgendermaßen aus: In den ersten 20 Lebensjahren kostet ein Mensch die Gesellschaft Geld, denn er besucht öffentlich finanzierte Einrichtungen wie Kindergarten und Schulen und nimmt das Gesundheitssystem in Anspruch, gleichzeitig erwirtschaftet er noch kein Geld. Kurz darauf, mit dem Eintritt ins Erwerbsleben, wandelt sich die Bilanz. Obwohl er in den ersten Lebensjahren nur Geld verbraucht hat, ohne selbst etwas beizutragen, ist die Zwischenbilanz schon im Alter von 30 Jahren deutlich positiv: Nachdem die Sozialisation dieses Menschen die Gesellschaft zunächst etwa 200.000,– Euro gekostet hat, erwirtschaftet er bis zum Alter von 30 Jahren bereits Werte im Umfang von 400.000,– Euro, sodass die Zwischenbilanz mit etwa 200.000,– Euro im Plus liegt. Die Entwicklung geht nun bis ins mittlere Lebensalter so weiter. Zwischen 50 und 60 Jahren übersteigen die Kosten, die nun durch medizinische Betreuung und ggf. Frühberentung zu verzeichnen sind, die Erträge und diese Trendumkehr setzt sich bis zum Lebensende fort. Die Abschlussbilanz von Erträgen einerseits (Steuern, Sozialabgaben) und Kosten andererseits fällt aber deutlich positiv aus, knapp 400.000,– Euro hat dieser Mensch am Ende seines Lebens für die Gesellschaft netto erwirtschaftet.

Ganz anders dagegen die Bilanz bei einem Menschen, dessen Entwicklungswege bereits früh abweichen. Ohne Bildung, ohne stabile Arbeitsfähigkeit, mit erhöhter Wahrscheinlichkeit für delinquentes Verhalten und mit einem ungünstigen gesundheitsbezogenen Verhalten fällt die finanzielle Belastung für die Gesellschaft insgesamt sehr hoch aus (etwa 500.000,– Euro über den gesamten Lebenslauf). Bei rechtzeitig einsetzenden, effektiven Jugendhilfemaßnahmen hingegen sind die Kosten für die Gesellschaft bis zum 20. Lebensjahr zwar am höchsten von allen drei Varianten, im Verlauf des Lebens profitiert die Gesellschaft aber deutlich von den Auswirkungen der sozialarbeiterischen Hilfen.

Auch die Daten aus der großen Jugendhilfe-Effekte-Studie (Schmidt et al. 2002) belegen (mit etwas niedrigeren Zahlen) den bedeutenden Effekt von stationären Jugendhilfemaßnahmen auch nach Abzug der Kosten, die diese verursacht haben. Dabei zeigte sich, dass die höchsten Kosteneinsparungen bei hohen Tagespflegesätzen und geringer Verweildauer zu erzielen waren.

Diese Daten verdeutlichen, dass in der Jugendhilfe hohe spezialisierte Kompetenz vorhanden sein muss (vgl. etwa Beck/Strempel/Werner 2006, Schmid/Goldbeck/Fegert 2006). Darüber hinaus wird evident, dass Forschungsergebnisse zur Wirkung von Jugendhilfemaßnahmen von herausragender Bedeutung sind.

Wer mit Kindern und Jugendlichen aber auch mit Erwachsenen in verschiedenen Lebensaltersstufen effektiv arbeiten will, muss insbesondere entwicklungspsychologische Kenntnisse haben, die es ermöglichen, entwicklungsangemessene Interventionen auszuwählen. Ganz verschiedene Entwicklungsbereiche müssen hier – je nach geplanter Intervention – beachtet werden (vgl. Borg-Laufs/Trautner 2007), z. B.:

•  Basale Lernfähigkeiten: Möglicherweise soll ein Belohnungsprogramm zur Verhaltensmodifikation eingesetzt werden, etwa zur Verminderung aggressiven Verhaltens in einer Kindertagesstätte. Ab welchem Alter ist dies in welcher Form sinnvoll einsetzbar ( Kap. 1.2)?

•  Kognitive Fähigkeiten: Eine Sozialarbeiterin möchte einem Kind etwas logisch erklären. Ab welchem Alter kann das Kind einer logischen Argumentation folgen? Welche kognitiven Fähigkeiten kann ich bei der Arbeit mit alten Klienten voraussetzen ( Kap. 1.3)?

•  Soziale Perspektivenübernahme: Ein aggressives Kindergartenkind soll angeleitet werden, sich in seine Opfer hineinzuversetzen. Kann es das? Oder ist das erst bei einem Schulkind möglich ( Kap. 1.3)?

•  Beziehungsaufbau: Auch die Frage, wie sich die Beziehungsfähigkeit von Menschen entwickelt, kann bei vielen sozialarbeiterischen Interventionen wichtig sein: In welchem Alter sind welche Beziehungssituationen für ein Kind wichtig? Wie kann ich einschätzen, ob die Beziehungsgestaltung der Eltern ihrem Kind gegenüber angemessen ist ( Kap. 1.5)?

•  Motivation/Handlungssteuerung: Um einem Kind mit Leistungsschwierigkeiten helfen zu können, muss eine Sozialarbeiterin über die Entwicklung der Leistungsmotivation bei Kindern informiert sein ( Kap. 1.7).

•  Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen (ca. 70 %), die etwa im Rahmen stationärer Jugendhilfe betreut werden, leiden unter psychischen Krankheiten (Schmid 2010). Damit diesen Kindern und Jugendlichen angemessen geholfen werden kann, müssen die professionellen Helfer die jeweiligen psychischen Störungen mit ihren Ursachen und aufrechterhaltenden Bedingungen verstehen.

Offensichtlich ist Jugendhilfe eine enorm wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Vor diesem Hintergrund ist die Erforschung von Jugendhilfemaßnahmen von großer Bedeutung. Da die Hilfesysteme in verschiedenen Ländern auch unterschiedlich organisiert sind und unterschiedlich arbeiten, sind hier insbesondere nationale Untersuchungen von Bedeutung. Es gibt inzwischen einige größere Studien zur Jugendhilfewirkungsforschung in Deutschland (BMFSFJ 1998, 2002, Macsenaere/Knab 2004, Macsenaere/Arnold 2008), die mit einiger Übereinstimmung zusammengefasst etwa folgende zentrale Ergebnisse erbracht haben:

•  Jugendhilfe wirkt. Alles in allem über verschiedene Hilfen hinweg ist festzuhalten, dass Jugendhilfe positive Effekte bei ihren Klientinnen und Klienten bewirkt. Dies mag banal erscheinen, ist es aber nicht. Nicht jede gut gemeinte Maßnahme bewirkt auch Gutes. Es ist wichtig, dieses allgemeine Ergebnis erst einmal festzuhalten: Die enormen Aufwendungen, die mit Jugendhilfe verbunden sind, führen auch tatsächlich zu Verbesserungen.

•  Jugendhilfe benötigt Zeit. Es zeigt sich in den Untersuchungen, dass Jugendhilfemaßnahmen umso mehr bewirken, je länger die jeweilige Hilfe dauert. Dieses Ergebnis ist auch plausibel, denn substanzielle Änderungen geschehen naheliegender Weise nicht in kürzester Zeit. Dazu passt auch der Befund, dass vorzeitig abgebrochene Hilfen keine oder nur sehr geringe Effekte erbrachten.

•  Der Erfolg von Jugendhilfemaßnahmen lässt sich durch eine breite pädagogische und therapeutische Angebotspalette steigern, die auch spezialisierte therapeutische Angebote enthält.

•  Jugendhilfe wirkt dann besser, wenn sie transparent gestaltet wird und die Kinder bzw. Jugendlichen auch selber über die Maßnahmen mitentscheiden können (Partizipation).

•  Als besonders wichtig erweist sich, dass den Kindern und Jugendlichen stabile und gute Beziehungsangebote gemacht werden. Hilfeverläufe waren dann besonders erfolgreich, wenn die Betroffenen die Beziehungen zu ihren Helferinnen oder Helfern als gut einschätzten.

In einer eigenen Langzeituntersuchung (Borg-Laufs/Dittrich 2016) mit 131 Kindern und Jugendlichen, deren Fortschritte im Rahmen von sechs unterschiedlichen erzieherischen Hilfen (sozialpädagogische Familienhilfe, Tagesgruppe, stationäre Regelgruppe, stationäre Intensivgruppe, Vollzeitpflege, Mutter-Kind-Einrichtung) in jährlichem Abstand untersucht wurden, zeigte sich über alle Hilfen hinweg nach einem Zeitraum von zwei Jahren ebenfalls eine signifikante Verringerung der Problemwerte. Eine differenziertere Analyse der Daten zeigte allerdings auch überraschende Ergebnisse. So war aus Sicht der Jugendlichen selber bereits nach einem Jahr eine Verbesserung zu erkennen, die aber nach zwei Jahren wieder deutlich rückläufig war. Auch zeigte sich, dass sich das Ausmaß, in dem die Kinder und Jugendlichen unter psychischen Störungen litten, kaum verringerte. Eine Analyse der in den Hilfeplänen aufgestellten Ziele ergab allerdings dazu passend, dass die Behandlung der psychischen Krankheiten in den meisten Fällen nicht als Ziel formuliert wurde.

Weitere Ergebnisse der Studie waren, dass belastete Familien stärker von Jugendhilfe profitierten als Mittelschichtsfamilien, dass berufserfahrene ASD-Mitarbeiterinnen mehr Erfolge vorweisen konnten als weniger berufserfahrene Kolleginnen, dass sich entgegen der Erwartungen kein Zusammenhang zwischen der Qualität der Zielformulierung und dem Erfolg der Maßnahmen ergab und dass die Erfolge bei Kindern psychisch kranker Eltern eher gering ausfielen.

Literaturempfehlungen

Borg-Laufs, M./Dittrich, K. (Hrsg.) (unter Mitarbeit von Schüpp, D./Teicke, M.) (2016): Mönchengladbacher Jugendhilfestudie. Mönchengladbach: Schriften des Fachbereichs Sozialwesen der Hochschule Niederrhein.

Roos, K. (2005): Kosten-Nutzen-Analyse von Jugendhilfemaßnahmen. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Schmid, M. (2010): Psychisch belastete Heimkinder – eine besondere Herausforderung für die Schnittstelle zwischen Klinischer Sozialarbeit und Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie. In: Gahleitner, S./Hahn, G. (Hrsg.): Klinische Sozialarbeit. Gefährdete Kindheit – Risiko, Resilienz und Hilfen. Bonn: Psychiatrie Verlag, 113–121.

1.2       Gelerntes Verhalten

1.2.1     Klassisches Konditionieren

Der russische Physiologe Iwan Pawlow (1849–1936) hatte herausgefunden, dass man einen Hund dazu bringen konnte, auf ein Glockensignal hin so zu speicheln, als ob ihm ein Stück Fleisch vorgelegt würde. Dies konnte er erreichen, indem er dem Hund vorher mehrmals Fleisch gab, während gleichzeitig die Glocke läutete. Unter anderem für diese Arbeiten wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Aber warum ist diese Entdeckung für das Verständnis menschlichen Verhaltens so wichtig? Auch unser Verhalten und das unserer Klient/innen wird durch diesen Prozess der so genannten klassischen Konditionierung geprägt. Gerade Verhalten mit stark physiologischem Anteil (dies können einfache Reflexe sein, aber auch emotionale Reaktionen) wird häufig auf dem Wege der Koppelung von Reizen erworben. Da Hunde nicht lernen müssen, bei der Wahrnehmung von Fleischgeruch zu speicheln, sondern dies reflexhaft und ungelernt tun, handelt es sich dabei um eine so genannte unkonditionierteReaktion(UCR) auf einen unkonditioniertenStimulus(UCS), nämlich das Fleisch. Bei der Koppelung des UCS mit einem neutralen Stimulus (hier der Glocke) wird dieser vormals neutrale Reiz dann zum konditioniertenStimulus(CS), der den Speichelfluss dann als auf die Glocke bezogene konditionierteReaktion(CR) auslöst ( Abb. 1.3).

Abb. 1.3: Das Prinzip klassischer Konditionierung nach Pawlow (eigene Darstellung)

Bei Pawlows Hund handelte es sich um einen einfachen Reflex (Speichelfluss), auf ähnliche Weise können aber auch emotionale Reaktionen erworben werden. In Kapitel 3.3.1 wird auf die Bedeutung der klassischen Konditionierung im Rahmen der Entstehung von Angsterkrankungen eingegangen. Aber auch alltägliche Verhaltensweisen unserer Klientinnen und Klienten können vor diesem Hintergrund verstanden werden. So wird ja z. B. nicht selten von Lehrern geklagt, dass gerade die Eltern, deren Kinder problematisch sind und bei denen es wichtig wäre, dass es einen guten Kontakt zwischen Eltern und Lehrern gibt, häufig nicht zu Elternabenden und Elternsprechtagen erscheinen. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsmöglichkeiten, aber einen Beitrag kann auch das Prinzip der klassischen Konditionierung leisten. Dies könnte z. B. dann relevant sein, wenn die Eltern nicht aus mangelndem Interesse oder bestimmten Überzeugungen folgend den Kontakt mit der Schule vermeiden, sondern wenn sie durch den Kontakt mit der Schule emotional hoch belastet sind. Der Gedanke, einen Elternabend zu besuchen, löst bei manchen der betroffenen Eltern Ängste und Unwohlsein aus. Diese unguten Gefühle sind vielleicht schon in der eigenen Kindheit entstanden, wenn der ursprünglich vermutlich neutrale Reiz »Schule« mehrfach mit emotional belastenden Ereignissen verknüpft wurde (Abwertung durch Lehrer aufgrund schlechter Noten; peinliche Situationen usw.). Vielleicht gab es auch bereits unangenehme, belastende Ereignisse im Zusammenhang mit dem eigenen Kind und der Schule. Die Entscheidung, einen Elternabend nicht zu besuchen, ist in diesen Fällen weniger eine durchdachte Entscheidung und auch kein Zeichen von mangelndem Interesse, vielmehr löst der Gedanke an den Besuch eines Elternabends ganz automatisch massiv negative Gefühle aus und die Eltern schaffen es dann – trotz Interesse und Einsicht – nicht, sich diesen negativen Gefühlen zu widersetzen und den Elternabend zu besuchen.

Von großer Bedeutung für das Verständnis besonders veränderungsresistenten Verhaltens sind Entdeckungen des Emotionspsychologen LeDoux (2004). Er konnte im Tierversuch feststellen, dass emotionale Reaktionen konditioniert werden können, ohne dass höhere kognitive Prozesse beteiligt sind. Dazu durchtrennte er bei Ratten die neuronalen Verbindungen zwischen der Amygdala (dem für Emotionen zuständigen Teil des Gehirns) und dem sensorischen Cortex (dem für die Aufnahme und Verarbeitung von Körperempfindungen zuständigen Teil des Gehirns) und führte dann mit Erfolg Konditionierungsversuche mit ihnen durch. Er stellte auch fest, dass die auf diesem Wege konditionierten Tiere schnellere Reaktionen zeigten als die Tiere, bei denen der operative Eingriff nicht vorgenommen wurde ( Abb. 1.4; Immisch 2004) und dass sie auf ein breiteres Reizspektrum mit der konditionierten Reaktion reagierten.

Abb. 1.4: Konditionierung kann ohne Beteiligung höherer kortikaler Strukturen erfolgen. Die Reaktionen werden dann schneller ausgelöst (eigene Darstellung)

Die Funktion dieser schnellen und ungenauen Reaktion im Rahmen der Evolution ist schnell nachvollziehbar: In Gefahrensituationen soll schnell Fluchtverhalten ausgelöst werden, auch wenn noch nicht ganz sicher ist, ob die Gefahr wirklich ernsthafter Natur ist (besser einmal zu oft weglaufen als einmal zu wenig). Dass Konditionierungsreaktionen ohne Beteiligung höherer kortikaler Prozesse schneller erfolgen, ist aber auch für die Frage der Veränderungsresistenz mancher Verhaltensweisen von Klienten Sozialer Arbeit hoch bedeutsam: In den ersten Lebensjahren sind die höheren geistigen Prozesse noch wenig ausgereift, gleichzeitig eignet sich das Kind seine Welt über eine Fülle von Konditionierungsvorgängen an. Gerade bei Kleinstkindern, aber auch noch während der folgenden Jahre, bildet sich so ohne Beteiligung komplexerer kognitiver Bewertungsprozesse ein emotionales Gedächtnis aus. »Das in dieser Zeit Erlebte prägt sich tief in das emotionale Gedächtnis ein und formt dasjenige, was man Persönlichkeit oder Charakter nennt« (Roth 2001, 228).

1.2.2     Operantes Konditionieren

Während beim klassischen Konditionieren das Verhalten eines Menschen durch den vorausgehenden Stimulus ausgelöst wird, steuert beim so genannten operanten (oder auch: instrumentellen) Konditionieren die dem Verhalten nachfolgende Konsequenz das Verhalten. Insbesondere der amerikanische Psychologe Burrhus F. Skinner (1904–1990), der als einer der einflussreichsten Forscher in der Geschichte der Psychologie gelten kann, hat sich dieser Lernvariante angenommen und eine Vielzahl beeindruckender Experimente vorgelegt. Er konnte u. a. zeigen, dass Tauben, bei konsequenter Anwendung dieses einfachen Lernprinzips, Tischtennis spielen lernen konnten, aber auch geschriebene Wörter wie »turn« und »peck« umsetzen konnten. Dass Menschen ihr Verhalten in hohem Maße danach ausrichten, welche unmittelbaren Konsequenzen ihr Verhalten hat, ist unmittelbar einsichtig. Lerntheoretiker haben aber die genauen Bedingungen des Lernens anhand von nachfolgenden Konsequenzen in unzähligen Experimenten sowohl mit Tieren als auch mit Menschen äußerst differenziert herausgearbeitet (vgl. im Überblick Kanfer/Phillips 1975). Während klassische Konditionierungsprozesse schon bei Neugeborenen greifen können (Cole/Cole 1989, 162), entwickelt sich die operante Konditionierbarkeit im Laufe der ersten Lebensmonate (Hayne, Rovée-Collier/Perris 1987).

Darauf aufbauend wurde die funktionale Verhaltensanalyse entwickelt, deren Grundzüge für das Verstehen menschlichen Verhaltens essenziell sind. Im Rahmen der Verhaltenstherapie ist die funktionale Verhaltensanalyse selbstverständlicher Standard für die diagnostische Einschätzung (vgl. etwa Borg-Laufs 2016, Kanfer et al. 2012), aber auch in der Sozialen Arbeit ist dies ein probates Mittel, um ungünstiges Verhalten von Klienten anhand der Funktion, die es für diese hat, zu verstehen. Üblicherweise wird Verhalten demnach mit der Verhaltensformel S-O-R-K-C beschrieben, deren einzelne Bestandteile nachfolgend beschrieben werden (vgl. ausführlich Blanz/Schermer 2013, Borg-Laufs 2018).

S – Stimulus

Der Stimulus ist diejenige Situation, die einem Problemverhalten unmittelbar vorangeht. Es können externe Stimuli und interne Stimuli unterschieden werden. Externe Stimuli liegen außerhalb der Person. So könnte bei einem aggressiven Jugendlichen, z. B. dem beobachtbaren Verhalten, dass er einen anderen Jugendlichen verprügelt, der Stimulus »Jugendlicher sieht ihn an« vorausgehen. Interne Stimuli hingegen liegen innerhalb der Person. Bei einem anderen Jugendlichen könnte der interne Stimulus »Langeweile« z. B. regelmäßig einer aggressiven Handlung vorausgehen.

O – Organismus

In der Organismusvariablen werden alle zur Person gehörenden, überdauernden Merkmale festgehalten, die in Bezug auf das zu erklärende Verhalten wichtig sein könnten. Denkbar wären hier etwa körperliche Merkmale wie chronische Krankheiten, aber auch überdauernde psychische Merkmale, wie etwa verletzte Grundbedürfnisse ( Kap. 1.5), irrationale Überzeugungen (z. B. »Wer nicht zeigt, dass er der Stärkste ist, ist ein Loser«) oder ein niedriges Selbstwertgefühl.

R – Reaktion (Verhalten)

Das Verhalten eines Menschen wird in der funktionalen Verhaltensanalyse auf verschiedenen Ebenen beschrieben:

•  motorisches Verhalten (Rmot) (z. B. zuschlagen, schreien, rennen, trödeln, …)

•  kognitives Verhalten (Rkog) (die Gedanken, die einer Person in der Situation

•  durch den Kopf gehen, z. B. »Das lass ich mir von so einem Penner nicht bieten!«)

•  emotionales Verhalten (Rem) (z. B. Wut, Trauer, Freude, …)

•  physiologisches Verhalten (Rphys) (z. B. Herzrasen, Veränderung der Hauttönung, …)

C – Consequences (Konsequenzen)

Die lernpsychologische Forschung hat deutlich gezeigt, dass v. a. kurzfristige Konsequenzen verhaltenswirksam sind, während langfristige Konsequenzen kaum zur Verhaltenssteuerung beitragen. Dieses Phänomen lässt sich an einer Fülle alltäglicher Verhaltensweisen immer wieder beobachten: Kurzfristige positive Konsequenzen einer Handlung führen häufig dazu, dass dieses Verhalten ausgeführt wird, auch wenn es langfristig negative Konsequenzen hat. Eine Studentin, die eine Party besucht, obwohl sie lernen müsste, wird kurzfristig für ihr Verhalten belohnt (gute Stimmung, angenehme Kontakte usw.), während die langfristigen Konsequenzen (schlechtere Prüfungsleistung) sie kaum davon abhalten können. Bei den Klienten Sozialer Arbeit gibt es ebenfalls eine Vielzahl möglicher Beispiele: So ist es kurzfristig angenehm, die gefühlsmäßige Belastung durch Probleme mittels übermäßigem Alkoholkonsum zu betäuben; dass dies längerfristig die Probleme verstärkt und aufrechterhält (negative Konsequenzen), hält Betroffene dann doch nicht vom übermäßigen Trinken ab. Das gleiche gilt auch für die Verhaltenswirksamkeit von Strafen, die unser Justizsystem zu bieten hat. Auch dabei handelt es sich um langfristige (und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eintretende) Konsequenzen, während die Tat, z. B. ein aggressiver Angriff, unmittelbar belohnt wird.

Bei den Konsequenzen ist – wie bei den Stimuli – auch dahingehend zu unterscheiden, ob es sich um interne (z. B. Verringerung von Angst, Verringerung von Langeweile, Steigerung des Selbstwertgefühls) oder externe (Lob oder Bewunderung durch andere, materielle Belohnung) handelt. Die wichtigste Unterscheidung besteht aber darin, ob es sich bei den Konsequenzen im psychologischen Sinne um Verstärker oder Bestrafungen handelt ( Tab. 1.1). Verstärker sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das vorausgehende Verhalten zukünftig wahrscheinlicher machen. Bestrafungen hingegen hemmen die Verhaltensausführung. Bei den Verstärkungen wird zwischen positiver und negativer Verstärkung unterschieden: Positive Verstärkung (C+) bedeutet, dass jemand für seine Handlung mit etwas Positivem belohnt wird, z. B. eine materielle Belohnung erhält. Negative Verstärkung hingegen bedeutet, dass ein unangenehmer Zustand beendet wird, etwa: Durch meine Handlung verringert sich meine Langeweile oder meine Angst. Ähnlich wird bei den Strafen zwischen direkter und indirekter Bestrafung unterschieden: Bei der direkten Bestrafung (C–) handelt es sich um direkt negative Konsequenzen, etwa Schmerzen, ausgeschimpft werden u. Ä. Bei der indirekten Bestrafung wird ein positiver Zustand beendet, etwa eine angenehme Tätigkeit (gemeinsames Spiel) endet als Konsequenz daraus, dass ein Kind sich beim Spiel unangemessen verhält.

Tab. 1.1: Systematik verstärkender und hemmender Verhaltenskonsequenzen

(eigene Darstellung)

K – Kontingenz

Schließlich ist es wichtig zu wissen, wie das Verhältnis von Konsequenzen zu Verhalten ist, m. a. W., wie regelmäßig die Verstärkung oder Bestrafung des Verhaltens erfolgt. Für unsere Zwecke ist es ausreichend, zwischen kontinuierlicher und intermittierender Verstärkung zu unterscheiden. Bei kontinuierlicher Verstärkung wird ein Verhalten jedes Mal verstärkt, wenn es gezeigt wird. Dies ist für den Verhaltensaufbau besonders günstig, schafft aber kaum stabiles Verhalten. Bleibt die Verstärkung nämlich aus, wird das Verhalten schnell eingestellt. Ein Kind etwa, welches regelmäßig die Erfahrung macht, dass es bei Wutanfällen seinen Willen durchsetzen kann, wird dies ganz schnell als Mittel der Willensdurchsetzung einzusetzen lernen. Bleibt die kontinuierliche Verstärkung aber aus, so wird das Kind nach einer kurzen Phase der Intensivierung seiner Bemühungen das Verhalten recht schnell wieder einstellen, weil es durch den mangelnden Erfolg schnell entmutigt wird. Anders verhält es sich bei intermittierender Verstärkung. Das Verhalten wird nicht jedes Mal, sondern nur in (meist unvorhersehbaren) Abständen belohnt, so wie etwa beim Glücksspiel. Das enorme Suchtpotential von Glücksspielen liegt darin begründet, dass die Spieler immer hoffen können, dass der Gewinn kurz bevor steht, auch wenn sie gerade eine ganze Serie von Verlusten erfahren haben. Ähnlich auch bei dem vorhin beschriebenen Fall des Kindes, das sich mit Wutausbrüchen durchsetzt. Wenn es sich bislang nicht jedes Mal, sondern nur von Zeit zu Zeit mit seinen Wutausbrüchen durchsetzen konnte, dann wird es »langem Atem« beweisen, wenn die Eltern sich vorgenommen haben, sich konsequent gegen die Wutausbrüche zu behaupten, denn es wird lange Zeit hoffen, dass es doch noch »gewinnen« kann. Bei der Konstruktion einer funktionalen Verhaltensanalyse beginnt man mit dem Verhalten (R), welches man verstehen bzw. erklären möchte, und versucht, dies möglichst genau zu beschreiben. Würden wir uns also mit einem aggressiven Jugendlichen beschäftigen, so würden wir uns zunächst genau von ihm und ggf. anderen Beobachtern schildern lassen, wie er sich verhält und was er empfindet. Möglicherweise würden wir erfahren, dass er sehr wütend war (Rem), sich gedacht hat »Dem werde ich zeigen, wo seine Grenzen sind!« (Rkog), dass sein Puls sich beschleunigt hat (Rphys) und dass er zu seinem Opfer rannte und es mit mehreren Faustschlägen zu Boden schlug (Rmot). Anschließend müsste versucht werden, die Situation genau zu erfassen, in der das Verhalten auftritt, schließlich verprügelt unser jugendlicher Klient ja nicht alle Menschen, die er auf der Straße trifft. Wir erfahren möglicherweise, dass das Opfer den Täter herausfordernd angelächelt und angeschaut hat und dass dies häufig der Anlass für seine Schlägereien ist (S). Nun wollen wir wissen, was dem Verhalten unmittelbar folgte. Das Opfer wurde besiegt (C+), die Freunde des Täters klopften ihm auf die Schulter (C+), seine Freundin machte ihm eine Szene und schrie ihn an (C–), er fühlte sich aber gut, weil er eine Selbstwerterhöhung erlebte . Da er nicht jede Schlägerei ›gewinnt‹ und somit auch nicht immer in seinem Selbstwert bestätigt wird, ihm die Freunde auch nicht immer auf die Schulter klopfen und die Freundin nicht immer eine Szene macht, folgen diese Konsequenzen also intermittierend (K). Durch den Hinweis auf das gestiegene Selbstwertgefühl erfahren wir möglicherweise durch behutsames Nachfragen, dass der Jugendliche in seinem Leben häufige Erfahrungen von Misserfolg und Erniedrigung machen musste, woraus wir auf ein verletztes Bedürfnis nach Selbstwertschutz (O) schließen können ( Abb. 1.5). Dies macht es wiederum wahrscheinlich, dass die Steigerung des Selbstwertgefühls für ihn eine außerordentlich verhaltenswirksame Konsequenz seines Verhaltens ist. Die fertige funktionale Verhaltensanalyse würde nun so aussehen:

Abb. 1.5: Beispielhafte funktionale Verhaltensanalyse (eigene Darstellung)

Die funktionale Analyse kann nun helfen, Ansatzpunkte für Veränderungen zu finden. So könnte es in diesem Fall wichtig sein, an der Organismusvariable, also am Selbstwert des Klienten, zu arbeiten, indem ressourcenorientiert andere Möglichkeiten der Selbstwertsteigerung erarbeitet werden, sodass der Jugendliche die Schlägereien nicht mehr »benötigt«, um seinen Selbstwert zu steigern. Andere mögliche Ansatzpunkte ergeben sich ebenfalls aus der Analyse: Die Verstärkung durch seine ebenfalls delinquenten Freunde müsste entfallen oder weniger wichtig werden. Hier wäre zu versuchen, den jungen Mann aus seiner Clique zu lösen und ihn in andere soziale Beziehungen zu integrieren. Die Freundin wiederum scheint hilfreich zu sein. Sie sollte dazu ermuntert werden, auch zukünftig seinen Gewalttaten negative Konsequenzen folgen zu lassen.

1.2.3     Modelllernen

In den 1970er Jahren war es v. a. Albert Bandura (*1925), der die beiden Konditionierungsansätze um einen weiteren Lernmodus ergänzte, das Lernen am Modell. Er konnte zeigen, dass Verhalten nicht nur durch Erfahrungen ›am eigenen Leib‹ entwickelt wird, sondern dass Menschen auch stellvertretend, am Modell, lernen. Erstmals zeigten er und sein Team dies im Rahmen der »BoboDoll-Experimente«. Drei Kindergruppen sahen einen Film, in dem eine Person (»Rocky«) in einem Raum mit Spielzeug aggressiv mit einer großen Plastikpuppe (»Bobo«) spielte, sie schlug, trat und bewarf. Die erste Gruppe sah nur diesen Teil des Films. Die zweite Gruppe sah ein Ende des Films, in dem Rocky für sein Verhalten belohnt wurde, die dritte Gruppe sah, wie Rocky für sein Verhalten bestraft wurde (Gruppe 3). Die Kinder der Gruppen 1 und 2 zeigten anschließend spontan in einer vergleichbaren Situation (ein Raum mit gleichen Spielangeboten wie im Film) eine erhöhte Rate aggressiver Verhaltensweisen, während die Kinder der Gruppe 3 kaum aggressives Verhalten zeigten. Wurde den Kindern eine Belohnung dafür in Aussicht gestellt, wenn sie Verhaltensweisen aus dem Film nachahmten, so verhielten sich die Kinder aller drei Gruppen aggressiv (vgl. Bandura 1979). Dieses Experiment konnte also zeigen, dass Verhaltensweisen durch das Beobachten eines Modells gelernt werden können, aber auch, dass es anschließend nur unter bestimmten Bedingungen auch gezeigt wird.

Durch Modelllernen können verschiedene Dinge bewirkt werden: Das Modell kann Verhaltensweisen demonstrieren, die die zuschauende Person bis dahin noch gar nicht im Verhaltensrepertoire hatte, d. h., über Modelllernen kann neues Verhalten erworben werden. Es kann aber auch sein, dass das Modell ein Verhalten ausübt, welches nicht ›neu‹ für den Zuschauer ist, dass aber durch die Beobachtung des Modells die Motivation steigt, das Verhalten selber zu zeigen.

Tatsächlich lernen Menschen in ihrer Entwicklung in erheblichem Ausmaß am Modell. Kinder schauen sich das Verhalten ihrer wichtigsten Bezugspersonen (in der Regel ihre Eltern) an und imitieren das Verhalten. So ist z. B. zu erklären, dass Eltern, die ihre Kinder mit Schlägen erziehen, häufig auch besonders aggressive Kinder haben. Jugendliche schauen sich bei Gleichaltrigen ab, welche Verhaltensweisen gut ankommen und erfolgreich sind und Erwachsene orientieren sich ebenfalls an dem Verhalten, welches sie bei anderen beobachten können. Nur so ist zu verstehen, wie wir komplexe kulturell erwartete Verhaltensweisen erwerben können (etwa angemessenes Benehmen in verschiedenen Subkulturen und zu verschiedenen Anlässen). Auch problematisches Verhalten, etwa Angst, wird häufig durch Modelllernen erworben ( Kap. 3.3.1).

Über die verschiedenen Untersuchungen zum Lernen am Modell konnte herausgearbeitet werden, welche Bedingungen besonders wichtig sind, damit es zu Modelllernprozessen kommen kann. Es gehört auch zu den Wirkprinzipien Sozialer Arbeit, dass Sozialarbeiter ihren Klienten als Modell für angemessenes Verhalten zur Verfügung stehen. Um solche Prozesse zu ermöglichen, sollte man sich die Prinzipien für gelingendes Modelllernen vor Augen führen:

Aufmerksamkeit

Menschen lernen dann gut am Modell, wenn sie die wichtigen Merkmale des Verhaltens auch wirklich wahrnehmen. Dazu ist es notwendig, dass sie ihre Aufmerksamkeit dem Modell und seinem Verhalten schenken. Dies wird in hohem Maße dann der Fall sein, wenn die Sozialarbeiterin von ihrer Klientin als kompetent und sympathisch eingeschätzt wird. Erste Voraussetzung für eine gelingende Modellwirkung der Sozialarbeiterin ist daher der Aufbau einer guten Beziehung zur Klientin. Auch wird gerade bei Jugendlichen aufmerksam verfolgt, wie sich Gleichaltrige verhalten. Dies ist eine Chance für Modelllernprozesse in Gruppen (allerdings sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht).

Behalten

Menschen nehmen permanent wahr, aber nur die wenigsten Ereignisse, die sie wahrgenommen haben, bleiben auch langfristig im Gedächtnis. Durch Nachbesprechung modellierten Verhaltens lässt sich das Wahrgenommene besser langfristig speichern.

Reproduktionsfähigkeit

Klient/innen können nur solche Verhaltensweisen lernen, für die sie auch alle notwendigen Teilfertigkeiten besitzen. Sozialarbeiter müssen ihr Verhalten daher, wenn sie wollen, dass die Klienten aus dem Beobachteten lernen, den Verhaltensmöglichkeiten ihrer Klienten anpassen. Wenn es etwa um die angemessene Durchsetzung eigener Interessen geht und der Sozialarbeiter zeigt seinem kognitiv eher schwachen Klienten, der bislang hauptsächlich mit den Fäusten seine Interessen gewahrt hat, wie er hoch eloquent verbale Überzeugungsarbeit leistet, so wird sein Klient davon nicht profitieren können.

Motivation

Schließlich müssen Menschen auch motiviert sein, das beobachtete Verhalten zu zeigen. Die Umsetzung in eigenes Verhalten erfolgt also nicht automatisch. Vielmehr ist es z. B. wichtig, ob das Modell mit seinem Verhalten erfolgreich war, um die Motivation zur Imitation zu erhöhen. Aber auch äußere Anreize im Sinne der Verhaltensverstärkung ( Kap. 1.2.2) können hier motivierend wirken.

Bereits Kinder im Alter von etwa 18 Monaten sind zu verzögerter Imitation und somit zum Modelllernen im engeren Sinne in der Lage (Cole/Cole 1989).

Das Modelllernen ist Teil einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Sicher sollte noch erwähnt werden, dass Menschen auch über verbale Instruktionen (mündlich oder schriftlich) und gedankliche Verarbeitung Verhalten lernen können, dass also auch inhaltliche Auseinandersetzung im sozialarbeiterischen Gespräch Verhalten verändern kann. Die Wichtigkeit der in diesem Kapitel 1.2 dargestellten Lernprozesse darf aber nicht unterschätzt werden. Gerade die vielen Situationen, in denen wir selbst, aber auch unsere Klienten sich wider besseren Wissens suboptimal oder gar selbstschädigend verhalten, zeigen, wie begrenzt die verhaltenssteuernde Macht intellektueller Einsicht ist.

Literaturempfehlungen

Blanz, M./Schermer, F. J. (2013): Methoden der verhaltensorientierten Sozialen Arbeit. In: Blanz, M./Como-Zipfel, F./Schermer, F. J. (Hrsg.): Verhaltensorientierte Soziale Arbeit. Grundlagen, Methoden, Handlungsfelder. Stuttgart: Kohlhammer, 63–102.

Immisch, P. F. (2004): Bindungsorientierte Verhaltenstherapie. Behandlung von Veränderungsresistenz bei Kindern und Jugendlichen. Tübingen: dgvt.

1.3       Kognitive Entwicklung des Menschen

1.3.1     Entwicklung als aktiver Aneignungsprozess

Bei der Auseinandersetzung mit der kognitiven Entwicklung von Kindern gelten die grundlegenden Arbeiten von Jean Piaget (1896–1980) auch heute noch als wegweisend. Er hat beschrieben, wie die kognitive Entwicklung des Menschen sich in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt vollzieht (vgl. Piaget 2003). Diesen Anpassungsprozess bezeichnet er als Adaptation, welche auf zwei verschiedenen Wegen erfolgen kann: Zum einen wird die Umwelt dem Organismus und seinen Bedürfnissen angepasst (Assimilation), zum anderen wird der Organismus der Umwelt angepasst (Akkomodation). Der Mensch ist somit nicht passiv einer Umgebung ausgesetzt, in der er nur von ihr beeinflusst wird, sondern er eignet sich die (Um-)Welt durch aktive Auseinandersetzung mit ihr an.

Dabei gehen Assimilation und Akkomodation oft ineinander über bzw. sind gleichwertig an der kindlichen Weiterentwicklung beteiligt ( Abb. 1.6). So lernt ein Kind z. B. Sand für sich zu nutzen, indem es ihn mit einer Hand von einem Platz zum anderen schaufelt. Es lernt auch, den Sand auf diese Weise mit seinem Spielzeug zusammen zu nutzen, etwa, indem es ein Förmchen mit Sand füllt. Von der Erfahrung mit dem Sand ausgehend, wird es vielleicht weitere Materialien auf die gleiche Art und Weise (erfolgreich) behandeln. Bis zu diesem Zeitpunkt hat das Kind im Wesentlichen assimiliert, d. h., es hat die Dinge für sich nutzbar gemacht und seinen Strukturen angepasst. Nun will es die gleiche Strategie, die schon bei vielen Materialien funktioniert hat, auch beim Spiel mit Wasser anwenden. Dies kann aber nicht gelingen, da ihm das Wasser aus der Hand rinnt und so nicht nach seinem Sinne anwendbar ist. Nun muss es sich selber anpassen (Akkomodation), eine neue Greiftechnik entwickeln (Wasser mit den Händen schöpfen) oder Hilfsmittel (Eimer) zur Hand nehmen. Ähnlich wie in diesem einfachen Beispiel kann man die ganze Entwicklung als Wechselspiel von Assimilation und Akkomodation betrachten.

Abb. 1.6: Der Prozess der Adaptation/Äquilibration nach Jean Piaget (eigene Darstellung)

Piaget geht davon aus, dass Individuen danach streben, einen internen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Versucht ein Kind nun – mit den ihm zur Verfügung stehenden kognitiven Strukturen –, sich ein Objekt anzueignen (Assimilation) und dies gelingt nicht, so entsteht ein Ungleichgewicht. Das Kind wählt dann andere Wege (Akkomodation) und erarbeitet sich neue interne Strukturen, die dem Gegenstand eher entsprechen. Dieses Streben nach Gleichgewicht nennt Piaget Äquilibration. Sie ist aus seiner Sicht die treibende Kraft für den Entwicklungsprozess eines Menschen.

1.3.2     Stadien der kognitiven Entwicklung

Von Piaget stammt auch die heute noch gebräuchliche Einteilung der kognitiven Entwicklung in vier Stufen (Piaget 2003, Sodian 2008). Er unterscheidet die sensumotorische Entwicklungsphase (null bis ca. zwei Jahre), die Phase des voroperatorischen Denkens (ca. zwei bis ca. sieben Jahre), die Phase der konkreten Operationen (ca. sieben bis ca. zwölf Jahre) und die Phase der formalen Operationen (ab ca. zwölf Jahre). Das Denken der Kinder in den verschiedenen Altersgruppen unterscheidet sich tatsächlich auf dramatische Weise voneinander, und Sozialarbeiter, die mit Kindern und Familien arbeiten, profitieren sehr davon, die kognitiven Möglichkeiten der Kinder in den verschiedenen Lebensaltersstufen angemessen einschätzen zu können.

Sensumotorische Entwicklungsphase (0–2 Jahre)

Die kognitive Entwicklung in den ersten beiden Lebensjahren ist bereits von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Umwelt geprägt. Zunächst, im ersten Lebensmonat, üben die Kinder ihre angeborenen Reflexe (Schluck-, Saug- und Greifreflex). Dann gehen Sie dazu über, die von Piaget so genannten Kreisreaktionen durchzuführen: Kinder wiederholen Tätigkeiten, die ihnen angenehme Gefühle vermitteln (primäre Kreisreaktion). Etwa ab dem Alter von vier Monaten setzen sie dieses Verhalten nicht nur aus direkter Funktionslust ein (etwa, dass eine bestimmte Bewegung Freude bereitet), sondern auch, um mit einer Bewegung (als Mittel) ein bestimmtes Ziel zu erreichen (z. B. dass eine Glocke am Kinderbett ertönt, sekundäre Kreisreaktion). Bereits bei den Kreisreaktionen ist erkennbar, dass Kinder nach dem Schema des operanten Konditionierens lernen können ( Kap. 1.2.2). Etwa ab dem achten Lebensmonat gehen die Kinder dazu über, Objekten gegenüber ein scheinbar prüfendes Verhalten an den Tag zu legen. Spielzeuge werden systematisch daraufhin ›untersucht‹, welche Tätigkeiten mit ihnen angenehm sind (in den Mund nehmen, greifen, werfen, schütteln, usw.). Kinder im zweiten Lebensjahr verfeinern dies zu den von Piaget so genannten tertiären Kreisreaktionen: Sie entdecken immer neue, kreative Handlungsmöglichkeiten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Objekten und erweitern ihr Verhaltensrepertoire zur Erlangung ihrer Ziele deutlich. Der Übergang zur zweiten Phase der kognitiven Entwicklung (vor-operatorische Intelligenz) beginnt etwa mit dem achtzehnten Lebensmonat. Es kommt nun zu Denkvorgängen im engeren Sinne. Kinder beginnen, Handlungen zu verinnerlichen und die Ergebnisse bewusst vorherzusehen. An ihrer Mimik ist nun zu erkennen, dass sie Handlungsergebnisse vorhersehen können, denn sie lächeln bereits, ohne eine Handlung wirklich durchführen zu müssen.

Voroperatorisches Denken (ca. 2–7 Jahre)