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Ein Half Pint und einen Mord, please! Boris de Beers geht im idyllischen Kent den Geheimnissen der Vinotherapie auf den Grund und stolpert über eine Leiche. Das Grape & Dragon ist ein kaum noch zu findendes Original, mit abgewetzten Holztischen, zugigen Sitzecken, einem rauchenden Kamin und fettigem, leicht versalzenem Essen. Hier ist der Schriftsteller Jeremiah Hell stets mit von der Partie, wenn es wieder einmal hoch her geht. Als die Anstreicher ihn eines Tages aus seinem kleinen Cottage vertreiben, quartiert er sich in Rose Hill Manor ein, dem Wellnesshotel seines Freundes. Auch den Wein-Journalisten Boris de Beers hat es nach Rose Hill Manor gezogen, in dem als Nebenprodukt des lokalen Weinanbaus eine Vinotherapie mit Traubenkernöl für Publicity sorgt. Darüber möchte er eigentlich einen Artikel verfassen, doch was ihm guttut, hat für den Fantasyautor fatale, tödliche Folgen. Jeremiah Hells nackte Leiche wird auf einer Massagebank gefunden. Zwischen der lieblichen Landschaft Kents und den rauen Gezeiten der Küste Cornwalls begeben sich Boris de Beers und seine Begleiterin Gianna nun auf Spurensuche.
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Seitenzahl: 268
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Ulrike Dömkes
Pub der toten Dichter
Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Chablis
Roter Riesling
Ulrike Dömkes, geb. in St. Tönis, wohnt in Wachtendonk. Sie absolvierte das Studium Textil-Design mit Diplomabschluss an der FH Niederrhein und eröffnete 1994 eine Buch- und Weinhandlung in Wachtendonk. 1998 besuchte sie die Wein- und Sommelierschule Koblenz und machte dort den Abschluss als Weinfachberaterin. Im Jahr 2000 verbrachte sie einen längeren Arbeitsaufenthalt im Weingut Aldo Vajra im Piemont und ist seit 2008 schriftstellerisch tätig. Ihre profunden Weinkenntnisse und ihr erzählerisches Talent fließen in ihre unterhaltsamen Weinkrimis ein.
www.ulrikedoemkes.de
Ulrike Dömkes
Originalausgabe© 2016 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 998 96-0Fax: 0 65 93 - 998 96-20Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von: © david hughes - www.fotolia.deLektorat: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-95441-318-8E-Book-ISBN 978-3-95441-335-5
Rose Hill Manor, Kent
Gianna Lerouge stöhnte wohlig. Sie wünschte, sie könne ewig so liegen bleiben, eingehüllt in die Erinnerung an die delikaten Berührungen. Eine warmes Gefühl umfing sie, sie rekelte sich wie eine Katze in der Sonne, lag auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, und öffnete das freie Auge.
Der Mann neben ihr ruhte, das Gesicht ihr zugewandt, die Arme nach oben, auf den weißen Laken ausgestreckt. Er war völlig entspannt, wie hingegossen, und schien in den Leintüchern zu versinken. Seine Haare standen zu allen Seiten ab, leicht verschwitzt durch die vergangenen Aktivitäten, er lächelte und zuckte mit den Lidern. Boris de Beers war eingeschlafen und wurde offenbar von süßen Träumen heimgesucht.
Sie betrachtete ihn müßig. Seine schlanke Gestalt war leicht gebräunt, ein Überbleibsel des Italienaufenthalts im Frühjahr. Während in nördlichen Gefilden noch heißer Kakao gekocht wurde, hatte jenseits der Alpen der Sommer vorbeigeschaut. Wenn auch nur für drei Wochen, so war es doch der Zeitraum gewesen, den Boris sich für einen Besuch bei seinen Freunden im Piemont ausgesucht hatte. Gianna war mitgefahren, das erste Mal, dass sie gemeinsam mehr als ein paar Tage verbracht hatten. Sie hatte geduldig die Begutachtung über sich ergehen lassen und die Zeit in ihrem Heimatland in vollen Zügen genossen.
Und jetzt war sie hier. Sie sah auf die pfirsichfarbene Wand mit den Kerzenleuchtern und hörte auf die entfernten Klänge eines Bandoneons. So süß und sehnsuchtsvoll, dass sie seufzte. So hatte sie es noch nie erlebt – so bemerkenswert. Nicht, dass sie keine Erfahrung gehabt hätte.
Schließlich war sie fast zwanzig Jahre verheiratet gewesen, mit Jean-Louis, ihrem geliebten Jean-Louis, in den sie sich innerhalb von drei Minuten verliebt hatte und nach drei Tagen wusste, dass sie ihm nach Frankreich folgen würde. Bis zu dem Tag vor neun Jahren, als er tödlich verunglückte und sie geglaubt hatte, nie wieder lachen zu können.
Ihr schöner, zärtlicher Winzer – der sie so fantasievoll verwöhnt hatte wie niemand zuvor. Sie lachte leise, als sie an seine Experimente dachte. Wie gerne war sie für ihn da gewesen, ma petite puce hatte er in ihr Ohr geflüstert, wenn sie sich auf der weichen Unterlage ausgestreckt hatte. Und der kleine Floh hatte es genossen, sich seinen Händen hinzugeben.
Sie sah wieder zu Boris hinüber, der im Schlaf einen Arm nach ihr ausstreckte. Sie schloss die Augen und bat Jean-Louis um Verzeihung, aber das, was sie vorhin erlebt hatte, übertraf sogar seine Künste.
Durch das An- und Abschwellen der Musik merkte sie, dass Jasmin eingetreten war. »Die goldene Jasmin« wurde sie hier genannt. Ein Name, der sich auf ihre Hände bezog und den sie mehr als verdient hatte, wie Gianna jetzt wusste. Wer in den Genuss ihrer legendären Traubenkernmassage gekommen war, wollte nichts anderes mehr.
»Mrs. Lerouge, Mr. de Beers.« Ein zartes Glöckchen erklang. »Jetzt müssen Sie leider aufwachen.« Jasmins Stimme war ganz sanft. Sie entfernte behutsam die wärmende Decke von Giannas Körper und stellte eine Tasse heißen, mit Zimt und Vanille gewürzten Traubensaft auf das Tischchen neben der Liege. Der Duft zog verführerisch in Giannas Nase, und langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück.
Boris knurrte und hielt die Decke fest. »Mr. de Beers!« Der sanfte Klang hatte einen leisen, unnachgiebigen Unterton. Boris ließ los und setzte sich auf. Er blinzelte zu Gianna hinüber, die an ihrer Tasse nippte.
»Köstlich, Boris, probier!«
Boris griff zu seinem Saft und sah träge Jasmin zu, die die Decken faltete.
»Trinken Sie in Ruhe, in zehn Minuten erwartet Sie Maud nebenan. Sie cremt ihren Rücken mit einer harmonisierenden Crème aus Extrakten der Traubenschale und Ringelblume ein. Dann sind Sie für heute fertig. Das Dinner wird im Wintergarten serviert, 20 Uhr, wie immer. Bis dahin, genießen Sie den schönen Tag, machen Sie einen Spaziergang.« Sie lächelte und verschwand.
Boris und Gianna sahen sich an und fingen an zu lachen.
»Die sanfte Jasmin, ich könnte wetten, dass ein Herz aus Stahl unter der Samtoberfläche schlägt.«
»Egal. Sie ist unglaublich. Boris, das war phänomenal. Jean-Louis hat viel mit Traubenextrakten und Kernen ausprobiert. Er war einer der Ersten, die erkannt haben, dass man mit Trauben mehr als Wein machen kann. Ich war sein Versuchskaninchen – und er war wirklich gut. Er hat sich tolle Sachen einfallen lassen, und dann, er war vielleicht zwei Wochen tot, hat das erste Weingut mit Vinotherapie und Hotel angefangen. Nicht bei uns, im Bordeaux-Gebiet.« Gianna seufzte. »Ich weiß noch, ich habe geheult vor Wut, dass er das nicht mehr erlebt hat. Er wäre sofort zum Telefon und hätte die Leute angerufen und ihnen gratuliert. Es bestätigte all seine Ideen. Er hatte so etwas Ähnliches im Sinn gehabt. Kleiner, aber in der Art. Na, war ja dann leider nichts.« Sie räusperte sich. »Ich habe mich nie getraut hinzufahren. Und soll ich dir was sagen? Er hat traumhaft massiert, aber an Jasmin kommt er nicht heran.«
»Er war ja auch Winzer und nicht Masseur, Gianna.« Boris biss sich auf die Zunge, bevor er fragen konnte, ob sie jetzt lieber ein Wellnessweingut im Burgund hätte. Das war genau die Art von Frage, die zu nichts führte.
Gianna und er waren seit drei Tagen Gäste auf Rose Hill Manor, mit seinem bekannten »Feel-Wine-Center«. Das Wellnesshotel gehörte zum Weingut von Lord Astilon in der Nähe von Tenterden. Es war in England einzigartig mit seiner Kombination von Weingut und Hotel mit Vinotherapie. Boris ließ sich zu Recherchezwecken verwöhnen, das Magazin ViniVin wollte eine Serie über die besten Wein-Spas Europas bringen, und das Rose Hill Manor war das erste in der Reihe.
»Feel fine, feel wine«, so der nahe liegende Slogan. Mehr als berechtigt, fand Boris, der sich nach den paar Tagen schon völlig der normalen Welt entrückt fühlte. Wenn Gianna und er das Parkgelände verließen, liefen sie durch Weingärten in der sanften Hügellandschaft Kents. Die zipfelmützigen Dächer der Hopfendarren lugten über hohe Hecken. Sie folgten schattigen Hohlwegen, und nach gut einer halben Stunde Fußmarsch öffnete sich von einer Hügelkuppe der Blick auf das weite, blaue Meer. Jetzt im Juni war das Wetter herrlich, keine Spur von englischem Regen, die Sonne wärmte und der leichte Wind blies die kontinentale Müdigkeit aus den Knochen. Lord Astilon, der Besitzer des Gutes, hatte ihnen geraten, wenn möglich auf Nachrichten aus der Welt zu verzichten. »Gönnen Sie sich ein paar Tage Ahnungslosigkeit«, hatte er gesagt, »Sie glauben nicht, wie erholsam das ist.« Dieser Ratschlag war für einen Journalisten wie das Unterbrechen der Blutzufuhr, aber Boris versuchte, sein Informationsbedürfnis auf eine Nachrichtensendung täglich zu beschränken. Das funktionierte besser, als er geglaubt hätte, und er merkte nach und nach, wie Anspannung und Hektik von ihm abfielen.
Jeremiah Hell fuhr mit der Hand über seinen Bauch. Nicht wohlgefällig, sondern kritisch. Er musste ein paar Kilo abnehmen, sonst würden seine Anzugjacken bald spannen. Was ihm egal war. Nicht egal waren ihm die Blicke, mit denen Ann die strammen Knaben des Ruderclubs bedachte.
Er wurde durch ein Poltern aus seinen Gedanken gerissen. Vor dem Fenster stieg ein Mann die Leiter herunter und fluchte laut. Herrgott, wie sollte er sich da konzentrieren? Vielleicht miete ich mich bei Monty ein, dachte er. Wenigstens für diese Nacht. Er straffte den Rücken, zog den Bauch ein und ging zu der Mahagonikommode seiner Tante Marge hinüber, Regency, nicht allzu wertvoll, aber ein schönes Stück. Er fuhr mit der Hand über die seidenweiche Flanke und sah nach draußen. Der Mann stieg die Leiter wieder hoch, dabei schepperte ein Metallgriff, der aus seiner Hosentasche ragte, gegen jede der Sprossen. Seufzend griff Jeremiah nach dem Telefonhörer, nicht ohne vorher: »Darf ich, Mosterol?«, gefragt zu haben – so, wie er es immer tat.
»Monty, kannst du mich die nächsten Tage unterbringen? Die Anstreicher machen mich wahnsinnig. Ich brauche eine kleine Erholungskur mit Jasmin für den Rücken und Martha für den Magen.«
Montgomery Snake, der dritte Lord Astilon, lachte. »Wolltest du nicht abnehmen? Unsere liebe Ann mag doch keine Bäuche. Wann kommst du?«
»Heute Nachmittag, bis später, Monty.« Jeremiah Hell legte den Hörer wieder in Mosterols aufgesperrten Rachen, bedankte sich und ging ins Schlafzimmer, um eine Tasche zu packen.
Danach nahm er Mosterols Dienste noch einmal in Anspruch, um Ann Bescheid zu geben, wo er die kommende Woche verbringen würde. Ann war seine älteste Freundin, die sich seit vielen Jahren standhaft weigerte, ihn zu heiraten. Jeremiah hätte sich über ein weiteres Lebewesen im Haus gefreut. »Schaff dir einen Hund an«, sagte sie. Aber der würde sich mit seiner Katze Penelope fetzen und ihm kaum Kaffee bringen, wenn er mal wieder stundenlang am Schreibtisch saß, um seine Helden die wahnwitzigsten Abenteuer erleben zu lassen. Außerdem war sie die Einzige, die er länger als einen Tag im gleichen Haus ertrug. Ann sah das leider anders, ihr reichte ihre langjährige Freundschaft. Alles, was darüber hinausging, erledigte sie außerhalb von Jeremiahs Aufmerksamkeit.
Er sah sich noch einmal um, füllte die Näpfe von Penelope, die vorwurfsvoll vom Schrank auf ihn heruntersah, und schloss die Tür des Cottages hinter sich. Draußen stand der Anstreicher auf einem Gerüst und entfernte lose Putzstellen mit einem Spachtel. Jeremiah sprang zur Seite. »He, aufpassen!« Er gab dem Mann den Schlüssel und verabschiedete sich von ihm. »Sie kommen alleine klar, Matt, oder? Mrs. Simms kommt abends die Katze füttern.«
»Sicher, Mr. Hell. Wenn Sie wiederkommen, werden Sie Ihr Cottage nicht mehr wiedererkennen.«
Das hoffte Jeremiah dann doch nicht.
Penelope lag in Jeremiahs Bett. Sie hatte sich unter die Decke geschoben. Sie lag lang ausgestreckt. Gerne hätte sie sich eingerollt, aber dann wäre das winzige Luftloch zusammengefallen, das sich durch ihre Haltung unter der Decke gebildet hatte. So blieb sie starr und steif und unbequem liegen.
Mrs. Simms erlöste sie. Sie hörte aus der Küche das Scheppern des Trockenfutters.
»Penny, Penny, ts, ts, ts.« Mrs. Simms ließ es sich nicht nehmen, einen kleinen Samba-Rhythmus mit der Dose zu spielen. Als Penelope um die Ecke kam, sah sie gerade noch, wie Mrs. Simms hüftschwingend den Tisch umrundete, bevor sie die harten Knübbelchen in die Emaille-Schüssel rasseln ließ.
Jetzt wartet sie schon eine halbe Stunde!« Gianna sah zu der zierlichen Frau mit dem elegant verstrubbelten Haarschnitt hinüber, die zusehends ungeduldig wurde.
»Die würde ich nicht versetzen«, meinte Boris. »Außer mit einem triftigen Grund.«
»Sie scheint der gleichen Meinung zu sein.« Die Frau sah auf die Uhr, trank ihren Aperitif aus und winkte dem Kellner. Der schüttelte den Kopf, dann nickte er und verschwand. Die Frau begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln.
Boris widmete sich wieder seinem Teller. »Steak and Kidney Pie kann so köstlich sein.« Er kaute genussvoll und trank einen Schluck des hauseigenen Chardonnays. »Und der hier«, er hielt das Glas hoch. »Kann sich durchaus mit seinen Burgunder-Brüdern messen.«
»Ja, finde ich auch.« Gianna wirkte etwas unkonzentriert. Durch die Tür des Restaurants beobachtete sie Jasmin, die aufgeregt mit dem Kellner in der Halle flüsterte. Gianna wollte gerade etwas sagen, da stieß der Kellner einen kleinen Laut aus und lief zum Telefon an der Rezeption. Sie sah ihn gestikulieren. »Die benehmen sich komisch, Boris.«
Boris beugte sich zur Seite, um den gleichen Blickwinkel wie Gianna zu haben. Lord Astilon betrat das Foyer durch seine Bürotür, sprach mit Jasmin und ging mit ihr fort. Der Kellner wischte mit der Hand über seine Stirn und rang sichtlich um Fassung. Er kam zurück ins Restaurant und beugte sich zu der trommelnden Dame. Sie sah ihn an, griff zu ihrer Tasche und folgte ihm.
»Da ist etwas im Gange.« Boris fischte nach einem Stück zarter Niere. »Wahrscheinlich eine Nachricht von der verschollenen Verabredung.«
Der Kellner kam alleine zurück und flüsterte mit seinem Kollegen, dann drehte er sich um und schloss die Restauranttür. Der Blick in die Halle war jetzt versperrt.
»Wie heißt unser Kellner wieder?«, fragte Gianna.
»Jeff.«
Gianna gab Jeff ein Zeichen. Er eilte zu ihrem Tisch. »Madam?«
»Es ist ein wenig stickig, Jeff. Sind Sie so nett und öffnen die Tür wieder?«
»I’m so sorry, madam. Es ist ein frischer Wind aufgekommen, den Herrschaften an Tisch sieben zieht es sehr. Die alten Gemäuer«, schloss er mit bedauerndem Kopfschütteln.
»Natürlich, Jeff, wir wollen ja nicht, dass sie eine Lungenentzündung bekommen.« Gianna lächelte mit einem Blick auf die zwei drahtigen, alten Herren, die sich eine Roastbeef-Platte schmecken ließen – mit einem Bordeaux, wenn sie nicht alles täuschte.
Jeff trat einen Schritt beiseite, verbeugte sich leicht und zog sich an die Anrichte zurück. Er wirkte gefasst, wenn auch etwas verstört.
»The show must go on«, murmelte Gianna.
»Seh ich genauso, auch wenn ich nicht weiß, warum«, erwiderte Boris.
Als Gianna und Boris später die Halle durchquerten, hörten sie aus den hinteren Räumen Stimmen und Geschäftigkeit. Lord Astilon trat aus dem Gang, der zum Spa-Bereich führte. Er war bleich, seine Haltung wirkte gezwungen. Er trug eine alte Jeans und einen Pullover, das Gleiche wie immer, nur was sonst lässig an ihm wirkte, hing jetzt wie zufällig an seiner Gestalt. Er bemerkte Boris, schien kurz zu überlegen kam auf ihn zu.
»Mr. de Beers. Es gab einen Unglücksfall. Also im Spa, verzeihen Sie, ich bin etwas durcheinander. Also ein Herzinfarkt, ein Freund von mir, ja. In solchen Fällen rufen wir die Polizei, man kann nicht vorsichtig genug sein. Tragisch, aber so was kommt vor, ja, leider. Ich muss die Gäste informieren, sonst kommen sie auf falsche Gedanken, wenn sie die Polizei sehen. Das wäre fatal, ja. Ich möchte Sie bitten, nicht sofort Ihre Redaktion in Kenntnis zu setzen.« Die Aufregung hatte seine Ausdrucksweise verschraubt. Eine lange Rede für eine einfache Bitte, fand er. Boris’ Neugierde war jetzt erst recht geweckt.
»Ein tödlicher Infarkt, wenn ich Sie recht verstehe?«
Der Lord nickte unglücklich.
»Das tut mir sehr leid. Keine Sorge, Lord Astilon, ich arbeite nur für Gourmetmagazine. Können wir irgendwie helfen?«
»Nein, danke. Genießen Sie den Abend.« Er hob die Hand und eilte ins Restaurant.
Vor den Fenstern hielt ein Polizeiwagen, die Gäste reckten die Köpfe. Der Lord kam gerade rechtzeitig.
»Er wirkt nervös.« Boris sah ihm nach.
»Wenn du in deinem Hotel einen Toten hättest, wärst du das auch.«
»Sicher, aber gleich die Polizei?«
»Du kennst doch diese ganzen überzogenen Schadensersatzklagen. Er will sich absichern, kann ich verstehen. Und unsere versetzte Dame hat bestimmt damit zu tun.«
»Hm, sieht so aus.« Boris zog Gianna zur Tür. »Lass uns noch ein Stück spazieren.«
Der Juliabend war warm und hell, ein Polizeiwagen hatte vor dem Haus geparkt, drei weitere Wagen fuhren gerade die schmale Zufahrt entlang.
»Ziemlich viel Aufwand für einen Herzinfarkt«, bemerkte Gianna.
»Das war bestimmt kein Herzinfarkt.« Boris dachte an frühere Tatorte. Das Gewusel, die zielgerichtete Geschäftigkeit – das waren Erinnerungen an Erlebnisse, auf die er auch hätte verzichten können.
Aus den Autos ergoss sich die Spurensicherung mit Koffern und Kameras. Die Männer eilten mit ernsten Gesichtern in die Halle, zwei uniformierte Beamte folgten. Einer fragte, wohin sie gingen und bat sie, später in der Halle zu warten.
Boris und Gianna gingen an ihnen vorbei den Weinbergspfad entlang. Gianna war still geworden, sie hatte sich an Boris’ Arm gehängt und lief gedankenverloren neben ihm her. Er hatte diese Stimmung schon mehrfach bei ihr erlebt. Immer wenn sie nachdachte, schien sie in ihrer eigenen Welt zu versinken. In Chablis, wo sie wohnte und wo er einige Zeit verbracht hatte, war ihm das nie aufgefallen. Darauf angesprochen antwortete sie, dass sie gewöhnt sei, allein zu leben und ihre Gedanken mit ihren Schweinen zu teilen. Sie züchtete eine Handvoll Duroc-Schweine und produzierte luftgetrocknete Schinken.
Boris blieb stehen und fuchtelte vor ihren Augen herum: »Hallo, sprich mit mir, lass mich dein Schwein sein.« Er grunzte und vergrub seine Nase an ihrem Hals, bis sie kicherte.
»Du willst bestimmt wieder herumstochern!?«
Boris antwortete nicht sofort. Sie kannten sich noch nicht gut genug, dass er einschätzen konnte, wie sie diese Frage meinte. Er wollte um nichts die Stimmung dieser Tage verderben – andererseits, wenn er nicht ehrlich sein konnte, war es gut, dies jetzt schon zu merken. »Ja, ich bin neugierig. Journalistenkrankheit.«
»Eher Voraussetzung, würde ich sagen. Wie gehen wir vor?« Gianna sah ihn an und grinste. Ihre lange Nase bewegte sich dabei ein wenig nach unten. Sie fand das furchtbar, Boris liebte es.
Er küsste sie mitten drauf. »Bis jetzt ist noch gar nichts passiert. Und was heißt hier ›wir‹?«
»Na, ich bin doch wohl auch hier. Also komm, wir gehen zurück, vielleicht erfahren wir etwas Neues.« Sie zog ihn am Ärmel in Richtung Hotel. Die Eingangstür stand auf, ein paar Gestalten liefen hin und her. An den Fenstern standen Gäste.
Boris hielt Gianna zurück. »Hat dir das Abenteuer in Lille nicht gereicht?«
»Soll ich dir etwas sagen? Ich hatte manchmal Angst, aber es war so spannend, es kribbelte. Ich konnte auf einmal Pero verstehen, auch wenn der natürlich auf der falschen Seite steht«, fügte sie hinzu.
Boris überkam ein flaues Gefühl, wie immer, wenn er an Paolo Pero dachte, den charmanten Betrüger, für den Gianna gearbeitet hatte – undercover, im Auftrag der Polizei. »Wo steckt der eigentlich?«, fragte er sie.
»Wieder in Parma, zu Hause.« Sie schien ganz selbstverständlich über seinen Aufenthalt informiert zu sein.
»Gut so!«
Gianna brach in Gelächter aus. »Sei froh, dass ich dich nicht ernst nehme.«
Boris wusste nicht, was er davon halten sollte. Im Allgemeinen neigte er nicht zur Eifersucht, bei Pero jedoch machte er eine Ausnahme.
Der Leichenwagen, den sie heranfahren sahen, bot die Gelegenheit, das Thema zu wechseln. »Er biegt ab, zum Hintereingang. Da sehen ihn die Gäste nicht.«
Sie schlenderten zum Haus zurück, Lord Astilon stand auf dem Vorplatz und winkte sie heran. »Der Inspector möchte Sie sprechen.«
Im Frühstücksraum saß ein uniformierter Beamter und nahm die Aussagen der Gäste auf. An der hinteren Wand lehnte ein missgelaunter Mann, der ein Buch hielt, dessen Seiten er immer wieder durch die Finger der linken Hand ratschen ließ. Ein ungeduldiges Geräusch, das zur Miene des Mannes passte. Er stieß sich von der Wand ab, kam ein paar Schritte näher und hielt Boris das Buch vor die Nase. Ein glitzernder, goldgrüner Drache bedrohte einen halbnackten Schönling mit einem Speer in der Hand. Die Umgebung war unwirtlich, felsig, von Nebelschwaden durchzogen.
»Was halten Sie davon?«, fragte der Mann.
»Die Jungfrau fehlt«, meinte Boris nach kurzem Nachdenken.
Der Mann drehte das Cover zu sich herum und nickte. »Stümper!«
Vermutlich der Künstler, dachte Boris und nickte ebenfalls.
Der Mann warf das Buch auf den Tisch. »Detective Chief Inspector Rail. Und Sie sind also Boris de Beers und Gianna Lerouge.« Er musste die Namen nicht nachsehen, er kannte sie auswendig.
»Ja«, antwortete Boris zögernd.
Gianna starrte den Inspector an. »Stimmt, ja.«
Lord Astilon mischte sich ein. »Ich habe den Inspector schon darüber informiert, was Sie hierhergeführt hat, Mr. de Beers.«
Boris wartete.
»Sie waren die ganze Zeit im Restaurant, stimmt’s?«
»Ja, am Nachmittag im Spa, anschließend spazieren und ab 20 Uhr im Restaurant. Wir sind gegangen, als Lord Astilon uns entgegenkam, um die Gäste zu informieren.« Boris sah zu ihm hinüber.
Der Lord nickte. »So gegen 21.30 Uhr.«
»Gut«, Inspector Rails Betonung setzte einen Punkt. »Sie können gehen.« Er stand auf und wandte sich ab.
Gianna zog Boris mit sich nach draußen. »Kurz und schmerzlos. Komischer Kauz, was sollte das, mit dem Buch?«
»Kennst du den Autor? Irgendwas Hell?«
»Von diesem Fantasyschinken? Nein, nie gehört, ist aber auch nicht meine Welt.«
»Jeremiah Hell. Er ist der Tote.« Lord Astilon hatte den Raum verlassen und stand hinter ihnen. »Er war überaus erfolgreich, seine Reihe um den Drachen Mosterol ist in fünfzehn Sprachen übersetzt und soll verfilmt werden.« Er schluckte. »Jeremiah war ein guter Freund von mir.«
Gianna legte kurz ihre Hand auf seinen Arm. »War er herzkrank?«
»Wenn, dann wusste ich es nicht, Mrs. Lerouge. Es gibt eine Autopsie.« Er legte bekümmert die Stirn in Falten.
»Ist das üblich?«
»Nicht unbedingt. Aber Ann hat die Polizei verständigt, weil sie nicht an Herzinfarkt glaubt. Ann ist Ärztin, aber … mein Gott!« Der Lord schüttelte den Kopf, wie um seine Sätze zu entwirren, und entschuldigte sich, als er Jasmin und die nervöse Dame kommen sah. Er ging auf sie zu, sein rechter Fuß schlurfte leicht über das Parkett. Als er sie erreicht hatte, legte er den Arm um die Dame und begleitete sie nach draußen. Jasmin blieb an der Tür stehen. Nach einer Weile wurde ein Auto gestartet und fuhr an der Tür vorbei. Die Dame saß am Steuer eines betagten, dunkelroten Jaguars. Jasmin winkte ihr zu und kam wieder herein.
»Très chic«, schwärmte Gianna und sah Jasmin an.
»Der alte Wagen? Den hat unsere Ärztin noch von ihrem Vater.«
»Ach, war das die Ärztin? Wir haben schon von dem Unglück gehört.«
»Es ist so schrecklich«, seufzte Jasmin. »Die arme Ann. Sie war mit Jeremiah verabredet, hier im Restaurant. Sie sind Freunde, Ann, Jeremiah und Lord Astilon, ewig schon.« Jasmin schniefte und zögerte. Ihr schien wieder einzufallen, dass sie mit Gästen sprach. Boris mit seiner Erfahrung mit zaudernden Interviewpartnern lächelte ihr zu, aufmunternd und harmlos wie ein Weihwasservertreter.
»Aber er kam nicht«, fuhr sie fort.« Er hatte sich hier eingemietet, weil sein Haus renoviert wurde. Seit vorgestern ist er hier, nachmittags ging er ins Spa. Janet hat ihn behandelt. Aber sie ist schon weg. Als der Kellner mich nach Jeremiah fragte, hab ich nur so zur Vorsicht unten nachgesehen. Er hätte ja längst weg sein müssen. Aber da lag er noch auf der Massagebank.« Sie schüttelte sich. »Furchtbar, er muss Krämpfe gehabt haben. Herzinfarkt, dachte ich und bin sofort hoch, aber als Ann – der Kellner hat sie dann geholt – also, als sie ihn sah, hat sie gleich gemerkt, dass da was faul war. Der Polizeiarzt schneidet ihn auf.« Sie betonte den letzten Satz dramatisch, ihre ganze professionelle Coolness war dahin. »Da ist es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Wie in seinen Romanen.« Sie schauderte, riss die Augen auf und nickte energisch mit dem Kopf.
Penelope putzte sich. Sie saß aufrecht, den Schwanz so eng um die Pfoten geschlungen, dass sie genau auf einen karierten DIN-A5-Block passte. Ein kleiner Sonnenfleck lag dicht daneben, aber vor die Wahl gestellt, hatte sie sich doch für das Papier entschieden. Sie hob die rechte Pfote und leckte sie hingebungsvoll, um dann mit einer einzigen Drehbewegung über ihr Ohr nach vorne zu wischen. Klapp, machte das Ohr beim Zurückschnellen. Klapp … klapp … klapp. Plötzlich erstarrte sie, die Pfote auf halber Höhe, die Zunge herausgestreckt.
Jemand hatte die Eingangstür geöffnet und betrat den Flur. Die Schritte näherten sich dem Arbeitszimmer. Penelope drehte sich und sprang geräuschlos vom Tisch auf den Bücherschrank. Hier versteckte sie sich hinter dem geschnitzten Gesims.
Der Besucher trat ein und verharrte in der Mitte des Raumes. Er sah sich um, dann nahm er verschiedene Gegenstände in die Hand, die er wieder zurückstellte. Beim Telefon auf der kleinen Kommode blieb er stehen. Er nahm den Hörer aus dem Maul eines Plastikdrachens und lachte leise. Mosterol sah aus wie die Illustration auf den Büchern. Er gab ihm den Hörer zurück und lachte wieder. Dann öffnete er die Schubladen des Tisches. Keine war verschlossen, sie bargen allerdings auch nur ein Geheimnis – dass ihr Besitzer an Bleistiften nagte. Der Besucher verließ das Zimmer, die Tür schlug zu.
Penelope sprang zurück auf die Tischplatte. Der Sonnenfleck war auf den Block gewandert. Schnurrend leckte sie ihre Pfote.
Boris und Gianna hatten von Jasmin und später auch von Lord Astilon erfahren, dass Jeremiah Hell nach einer Traubenkernmassage gestorben war. Die Leiche war ins gerichtsmedizinische Institut gebracht worden. In der offiziellen Version des Hotels war die Todesursache ein Herzinfarkt. Tragisch, aber alltäglich. Der Restaurant- und Wellnessbetrieb normalisierte sich wieder. Die »Totenkammer«, wie Gianna den Massageraum respektlos nannte, war geschlossen worden und sollte erst in ein paar Wochen wieder benutzt werden. »Wenn die aktuellen Gäste weg sind«, bemerkte Boris. »Das ist so üblich bei unangenehmen Ereignissen. Die Neuen wissen von nichts, oder haben es nur gehört. Nie gesehen, nie geschehen – altes keltisches Sprichwort.«
Sie waren auf dem Weg ins Nachbardorf, das über ein legendäres Pub verfügte. Legendär nicht im Sinne der Reiseführer, also weder pittoresk, noch country like. Das Grape& Dragon war normal. Ein kaum noch zu findendes Original, mit abgewetzten Holztischen, zugigen Sitzecken, einem ungenutzten Kamin und fettigem, leicht versalzenem Essen. Der Wirt hielt sich an die längst abgeschaffte Sperrstunde, die Frotteetücher auf der Theke trugen das Emblem der gängigen Biermarken und troffen vor übergeschwapptem Schaum. Hier war nichts appetitlich, gemütlich oder einladend. Die Deko bestand aus Fußballfahnen und verstaubten Strohblumen. Auf Hintergrundmusik wartete man vergebens. Für Stimmung mussten die Gäste selber sorgen. Und das taten sie, sie schienen wild entschlossen, ihren Pub zu verteidigen – und wenn er dreimal auf der Liste der bedrohten Arten stand.
Gianna und Boris traten durch die Pendeltür in Lärm, Bierdunst und Bratfettgeruch. Zwanzig, dreißig Gäste, ein Drittel davon Frauen, drängten sich um die Theke. Ein paar hingen auf Barhockern. Die Tische waren besetzt, die meisten Leute spülten eine undefinierbare, braune Pampe mit Guinness herunter. Gianna zupfte an Boris’ Ärmel. Er sah sie an, sie zeigte auf zwei Barhocker, die gerade frei wurden.
Nach kurzer Zeit war ihr Bein eingeschlafen, sie rutschte wieder herunter und stellte sich hin. Der Hocker wurde auf der Stelle von einer gefärbten Blondine besetzt. Boris ertappte sich, wie er auf ihr überquellendes Hinterteil starrte. Er überließ seinen Sitz ihrer Begleitung, einem spindeldürren Kerlchen im speckigen Anzug. Boris stellte sich vor, wie er, gefangen in ihren weichen Gebirgen, nach Luft schnappte.
»Grins nicht so dreckig!«, zischte Gianna. Sie lächelte Miss Piggy freundlich zu, die ebenso freundlich zurücklächelte.
Boris bestellte zwei Lager. »Unser Lord hat mir erzählt, dass hier Haggis gekocht wird.« Er deutete auf die Teller. »Der Wirt ist Schotte, er hat das Rezept von seiner Urgroßmutter.«
»Was ist das?«
»Hauptsächlich Schafsinnereien und Hafermehl, gekocht in einem Schafsmagen.«
»Und das essen die Engländer?«
»Er hat sie überzeugt«, sagte Boris und deutete auf den stämmigen Mann an den Zapfhähnen. »Sonst hätte er den Bierpreis erhöht, sagt der Lord.«
Gianna beobachtete den Gastwirt, drehte sich dann weiter und nahm die Gäste in Augenschein. Die allgemeine Stimmung war lebhaft, eher heiter als bedrückt, obwohl das Gespräch sich offensichtlich um ihren toten Nachbarn Jeremiah Hell drehte.
»Willst du das probieren? Sieht aus wie recycelt.«
»Ich probiere es auf jeden Fall.«
»Das sollten Sie«, sprach sie ein schlaksiger Mann an, der neben ihnen stand. »Das war das Lieblingsgericht von Jeremiah. Wenn Burns Night war, hat er das Gedicht vorgetragen. War ja sein Kollege.«
Gianna blickte Boris fragend an. Boris wandte sich an den Mann.
»Wir sind da nicht so ganz im Bild.«
»Sorry, Sie sind ja Fremde. Robert Burns, den kennen Sie doch, der berühmte Schotte, hat ein Gedicht auf Haggis geschrieben, Address to a Haggis. Jedes Jahr an seinem Geburtstagsabend wird es gelesen und Haggis gegessen. Genau bei Zeile zwei in der dritten Strophe wird der Haggis mit einem Schwert aufgeschnitten.« Der Mann trat einen Schritt zurück und machte mit seinen Armen Platz, holte Luft und rezitierte:
»Auf einen Haggis«
Dein feines Gesicht sei von Glück erhellt,
du Häuptling in der Würstewelt!
Bist hoch über alle anderen gestellt,
ob Pansen, ob Darm:
Verdienst, dass man dein Lob erzählt,
so lang wie mein Arm.
Die ächzende Schüssel da füllst du aus,
dein Hintern schaut wie ein Bergrücken raus,
Dein Holzspieß hülf als ʼne Rad-Achse aus,
in Zeiten der Not.
Und aus deinen Poren tritt Tau heraus,
wie Bernstein rot.
Sieh, wie der Bauer sein Messer wischt;
er schneidet dich auf, wenn aufgetischt«.
Er hob den Arm – die Leute hinter ihm wichen zurück – und zerteilte den imaginären Haggis mit einem beherzten Schlag in zwei Teile.
»Und in dein saftiges Inneres er bricht,
dem Pflüger gleich;
Und dann, o welch gesegnete Sicht,
warm-dampfend, reich«.
Die Zuschauer waren während seines Vortrages still geworden und applaudierten jetzt. Sie drückten ihm ein Glas Bier in die Hand und klopften auf seine Schulter.
»Natürlich wird dann Whisky dazu getrunken«, sagte er zu Boris. »Und Jeremiah hat das Gedicht vorgetragen, die ganzen acht Strophen konnte er auswendig.« Er hob das Glas. »Auf Jeremiah.«
Unter Murmeln wurden die Gläser gehoben und feierlich ein Schluck getrunken. Dann gingen die Gespräche in unverminderter Lautstärke weiter.
»Hat Mr. Hell auch das Schwert geführt?«, erkundigte sich Boris. Er stellte sich und Gianna vor.
Der Rezitator machte große Augen. »Nein, das macht Don. Und mein Name ist Matt Plaggy. Sie wohnen also bei Lord Monty, so nennen wir ihn hier.« Er zwinkerte. »Ich hab von Ihnen gehört. Sie waren dabei, als Jeremiah starb?«
»Na ja, nicht gerade dabei, aber im Hotel.«
»Ich hab ihn gut gekannt, er ist meinetwegen ins Hotel gezogen. Also, weil ich sein Haus anstreiche.«
Gianna lachte. »Sind Sie das: ›Schmutz, Schwamm und Insektenleichen, müssen Plaggys Farbe weichen!‹ Ich habe draußen den Lieferwagen gesehen.«
»Yes, madam, das ist meiner. Der Spruch ist gut, nicht? Ich hab oft mit Jeremiah über Poesie gesprochen. Ich dichte auch, Jeremiah fand meine Gedichte sehr gut, er mochte, wie sie den Kern treffen, hat er immer gesagt.« Mr. Plaggy sah versonnen in sein Bier.
»Dann ist der Werbespruch von Ihnen?« Gianna blinzelte ihn an, ihre Nase zuckte nach unten. Boris betete, dass sie die Beherrschung behielt.
»Yes, madam, das ist er.« Er begann, in der Innentasche seiner Jacke zu kramen und holte ein paar Blätter hervor. Boris ahnte Schreckliches. Aber Matt Plaggy hatte ein untrügliches Gespür für die Liebhaberin der Poesie und ließ ihn links liegen. Er zog Gianna sanft am Ärmel in eine ruhigere Ecke und begann ihr vorzulesen. Boris verstand nichts, sah aber ihre Nase immer munterer auf und ab tanzen. Er schnappte sich ein neues Bier und brachte es zu Mr. Plaggy.
»Bitte, Mr. Plaggy, auf die Poesie!«
Matt Plaggy trank notgedrungen und dankte Boris für das Bier, Gianna dankte Matt für die wunderbaren Gedichte und Boris dem Wirt für den schönen Abend. Sie verabschiedeten sich etwas hastig und verschwanden durch die Pendeltür. Einige Wortfetzen drangen noch mit hinaus, dann schloss sich der Vorhang vor dem Grape & Dragon mitsamt seinem Haggis, dem Bier und der Poesie.
Auf dem Rückweg zum Hotel kamen sie an einem Cottage vorbei, das in einem sehr hellen Gelb gestrichen war. Das Gerüst stand noch davor, die Hälfte der Fensterstürze war schon basaltgrau, ebenso die Lamellenläden.
»Das muss das Haus sein«, bemerkte Gianna. »Wird hübsch. Was wohl damit geschieht?«
»Irgendjemand wird es erben.«
»Der Lord sagt, er lebte allein. Keine Frau, keine Kinder.«