Pufferstaat - Said Musa Samimy - E-Book

Pufferstaat E-Book

Said Musa Samimy

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Beschreibung

Eine umfassende historische Darstellung des Territoriums am Hindukusch, das nun seit etwa 150 Jahren Afghanistan heißt, gleicht einem Minenfeld, bei dessen Betreten man sich rasch verletzten kann. Vielfältige Faktoren, wie externe und interne Determinanten, bestimmen seither das Schicksal des Landes. Seit etwa 40 Jahren wird die kaum beherrschbare "institutionelle Anarchie" Afghanistans von sowohl geografisch kulturellen Überschneidungen, als auch von der ausgeprägten Diversität des eigenen Volkes bestimmt. Afghanistan gilt seither als Pufferstaat zwischen den rivalisierenden Großmächten. Welche Auswirkungen das auf die Rolle der Legitimation der Herrschaft Afghanistans hat, soll in diesem Buch aufgearbeitet werden. Angestoßen von der Machtübernahme der Taliban-Milizen im August 2021, beleuchtet Said Musa Samimy die historische Entwicklung Afghanistans von der Monarchie bis zur aktuellen Regierung. Dabei werden ethnische Konflikte, die Rolle der Religion und die Einflüsse von außen, insbesondere die politischen und militärischen Interventionen der USA und anderer Länder, ins Auge gefasst. Said Musa Samimy versucht in diesem Werk einen gründlichen Einblick in die Gesellschaft und Wirtschaft Afghanistans zu vermitteln und mit seiner chronologisch geordneten Analyse der Hintergrundereignisse die Ursache der heutigen mehrdimensionalen Krise zu skizzieren.

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Für Zakiah, meine Ehefrau

INHALT

Prolog

Einstieg in die Thematik: „politische Legitimation“ als Kriterium der Herrschaft

I. Kapitel: Zu Spezifika der historischen Entwicklung eines gebirgigen Raumes

Von der ferneren Vergangenheit bis zur erblichen Monarchie

II. Kapitel: Pseudolegitimation der Herrschaft im Namen der „Werktätigen"

Zur staatsbürokratischen Herrschaft der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1978‒1992

III. Kapitel: Zur theokratischen „Legitimation" der Machtausübung der Islamisten

Herrschaft Gottes auf Erden, 1992‒2001

IV. Kapitel: Defizitäre demokratische Legitimation der Herrschaft

„Anokratie der neu etablierten Oligarchie" im Namen der Demokratie, 2001‒2016

V. Kapitel: Historischer Rückblick: imperiale Beziehungen der USA zu Afghanistan

Zum ergebnislosen Versuch einer Imperialmacht, in Afghanistan Fuß zu fassen, 1919‒2021

VI. Kapitel: Das überraschende Finale des „demokratischen Gesellschaftsmodells"

VII. Kapitel: Rückkehr der „Tahrik Islami Taliban"

Afghanistan steuert auf eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes zu

Epilog: Von einer segmentären Gesellschaft zur Nation: eine Sisyphusarbeit

Quellen und Anmerkungen

Referenzen

Biografie und Werke des Verfassers

Prolog

Eine umfassende historische Darstellung des Territoriums am Hindukusch, das nun seit etwa 150 Jahren Afghanistan heißt, gleicht einem Minenfeld, bei dessen Betreten man sich rasch verletzen kann. Denn es sind vielfältige Faktoren, die als externe und interne Determinanten in einem komplizierten wechselseitigen Verhältnis das historische Schicksal des Landes bestimmt haben. Das Spektrum dieser Determinanten reicht von der geografischen Situation auf dem Kreuzweg der Kulturen über vielfach unterschiedliche topografische Konstellationen bis hin zur ausgeprägten Diversität der dort beheimateten Völkerschaften. Über die historisch-geografische Entwicklung hinaus ist Afghanistan nun seit etwa 40 Jahren als eine „institutionelle Anarchie" kaum beherrschbar.

Afghanistan gilt seit langem als strategisch wichtiger Pufferstaat zwischen den rivalisierenden Großmächten. Doch wie hat sich diese Rolle auf die Legitimation der Herrschaft in Afghanistan ausgewirkt? In meinem Buch „Pufferstaat ‒ Zum Debakel der ‚Legitimation' der politischen Herrschaft in Afghanistan" untersuche ich die Geschichte des Landes und die Auswirkungen der ausländischen Einmischung auf die Legitimation der Regierung.

Ich gehe dabei auf die verschiedenen Regime in Afghanistan ein, angefangen bei der Monarchie bis zur aktuellen Regierung. Hierbei untersuche ich die unterschiedlichen Faktoren, die die Legitimität dieser Regierungen beeinflusst haben, z. B. die soziale Hierarchie innerhalb der einzelnen Stammesstrukturen, die unterschiedliche Stadt-Land-Mentalität, die ethnischen Konflikte und/oder den Stellenwert der Religion. Gleichzeitig beleuchte ich die Einflüsse von außen, insbesondere die politischen und militärischen Interventionen der USA und die strategischen Interessen der russischen Föderation wie auch der Volksrepublik China und anderer Anrainerstaaten Afghanistans. Im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung, die mit der Machtübernahme der Taliban-Milizen im August 2021 das Land in eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes gestürzt hat, beleuchte ich die vielfältigen Hintergründe dieser Krise im Einzelnen.

Ich versuche in diesem Werk einen gründlichen Einblick in die Gesellschaft und Wirtschaft Afghanistans zu vermitteln und mit einer chronologisch geordneten Analyse der Hintergrundereignisse die Ursache der heutigen mehrdimensionalen Krise zu skizzieren. Bei meinem Vorhaben hat mich Dr. Peter Oesterdiekhoff von Anfang an begleitet. Für seine Unterstützung danke ich ihm herzlich. Es muss jedoch rasch hinzugefügt werden, dass für jeden Mangel allein der Verfasser verantwortlich zeichnet

Einstieg in die Thematik: „politische Legitimation" als Kriterium der Herrschaft

Das heutige Afghanistan verfügt als Staat über ein zusammenhängendes Territorium, ist aber als Nation ein zersplittertes und vielfach heterogenes Konstrukt, ein kompliziertes Produkt historisch bedingter interner und externer Determinanten: Formiert als eine „Satrapie", eine Provinz des Chorasan-Imperiums, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, hat das Land seither eine Variation von Ausdehnung und Schrumpfung seiner Fläche erfahren. Chorasan bedeutet in der persischen Sprache „woher die Sonne kommt" oder „die östliche Provinz". Die Herrscher dieses neu gebildeten Landes nannten sich „Könige Chorasans", das in der Historiografie der britischen Forscher erst im 19. Jahrhundert als „Kingdom of Kabul", Hauptstadt des heutigen Afghanistans, charakterisiert wurde (Elphinstone, 1991, 105 und Laslzad, 2019). In den Verträgen von 1838 und 1839 zwischen Großbritannien und Schah Schoja in Lahore und Kandahar wird Letzterer noch nicht als König von Afghanistan bezeichnet (Farhang, 1988, 554 und 555). Der britische Schriftsteller Gleig bezeichnete noch 1846 das paschtunische Territorium als „Kingdom of Cabul"; er schrieb wörtlich: „Es ist unmöglich, die gegenwärtigen Grenzen des ,Kingdom of Cabul', des Königreichs Kabul, mit einiger Genauigkeit festzulegen" (Gleig, G. B., 1846, 13). Erst im Vertrag von 1857 zwischen Großbritannien und Dost Mohammad Khan wird dieser als Emir von Afghanistan bezeichnet. Dies ist jedoch umstritten. Denn in anderen historischen Schriften wird Dost Mohammad Khan immer noch als ein Emir charakterisiert, der auf dem Thron des Landes Chorasan regiert (Mousavi, 1998, 3). In diesem Vertrag erklärte sich Großbritannien bereit, dem Emir monatlich einen Betrag in Höhe von einhundert Rupiah (zehntausend Pfund) zu bezahlen (Farhang, 1988, 556). Auch im Gandomak-Abkommen, das am 26. Mai 1879 zwischen Großbritannien und Afghanistan geschlossen wurde, wird der afghanische Herrscher Mohammad Jaqub Khan als „Emir von Afghanistan" bezeichnet (Ghobar 1980, 610).

Nach der Berliner Konferenz von 1887 wurde im Laufe des expansionistischen Vorwärtsdrangs des zaristischen Imperiums im Norden und des britischen Imperiums im Süden dem Land am Hindukusch (Siah Koh - dunkler Berg) das heutige geografische Korsett eines „Pufferstaates" aufoktroyiert.

Die imperialen Interessen der damaligen Großmächte und die Auseinandersetzungen zwischen der Zentralverwaltung in Kabul und den zentrifugalen Rivalen im Lande ließen nicht zu, dass sich ein zentralistisch strukturierter Staat dauerhaft etablierte. In Ermangelung eines konsequenten Prozesses von Nationenbildung geriet das Land nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen die Mühlsteine der sowjetisch-amerikanischen Blockbildung. Zunächst wurde Afghanistan durch das „nichtkapitalistische Entwicklungskonzept" zu einem Satellitenstaat des sowjetischen Imperiums. Nach einem tragischen kurzen Intermezzo degradierte der falsche Ansatz der Politik des „Neoliberalismus" Afghanistan zu einem peripheren, von den USA abhängigen Land.

Für eingeweihte Beobachter der politischen Szene des Landes war es keine Überraschung, als mit dem Einzug der Terrorgruppe der „Tahrik Islami Taliban" (Islamische Bewegung Taliban) am 15. August 2021 - aufgrund der imperialen Abhängigkeit, wie in Kapitel 5 ausführlich diskutiert wird - das Land wie ein Kartenhaus zusammenbrach. In Afghanistan als einem „Stammesstaat" herrschte unter der historischen Vorherrschaft der Paschtunen eine Art „institutionelle Anarchie", die der Soziologe Christian Sigrist, ehemaliger Professor an der Universität von Münster, einst als „regulierte Anarchie" charakterisiert hatte (Sigrist, 1967,9; die These der „regulierten Anarchie" wird im letzten Kapitel dieses Werkes behandelt). Von politischer Relevanz ist jedoch, dass Afghanistan mit Ausnahme einer zeitlich beschränkten chaotischen Vorherrschaft der Tadschiken (neun Monate im Jahr 1929 und vier Jahre von 1992 bis 1996) unter der Vorherrschaft paschtunischer Clans von einer Katastrophe in die nächste steuerte und damit quasi unregierbar wurde. Aus der Tatsache, dass der „Stammesstaat" Afghanistan jahrhundertelang von Paschtunen beherrscht wurde, leiteten paschtunische Machteliten im Namen der erblichen Monarchie einen historischen Anspruch auf den Thron von Kabul ab. Dieser Anspruch geriet allerdings 1978 zum ersten Mal ernsthaft ins Wanken.

Seitdem hat das Land drei unterschiedliche Ansätze der Legitimation der politischen Macht erfahren: Legitimation im Namen der Werktätigen, Legitimation im Namen Allahs und Legitimation im Namen der Demokratie. Mit dem Einzug der Taliban-Milizen in Kabul am 15. August 2021 kehrte das Land am Hindukusch wiederum zum altbekannten Legitimationsmuster zurück, nämlich zum historischen paschtunischen Anspruch auf Vorherrschaft - allerdings mit dem fundamentalen Unterschied, dass die Taliban die monoethnische, monokulturelle und monolinguale Herrschaft der Paschtunen unter dem Deckmantel des militanten Islams durchsetzen wollen.

Das vorliegende Werk wird nach den verschiedenen Phasen der Legitimation politischer Macht in Afghanistan gegliedert. Zuvor aber werden im ersten Kapitel die internen und externen Determinanten der historischen Formation des Landes herauskristallisiert ‒ Faktoren, welche zur spezifischen Herausbildung der Produktionsverhältnisse des Landes am Hindukusch erheblich beigetragen haben. Die inhaltliche Konzeption dieses Kapitels beruht auf dem Versuch, sich anhand der Modalitäten der „hydraulischen Gesellschaftsformation" (Wittfogel, 1977) und unter Bezugnahme auf die Ansätze der „peripheren Handelsformation" (Amin, 2011, 120) mit der Auffassung der „unilinearen Evolutionsmodelle" auseinanderzusetzen. Auf der Basis der topografischen, historisch-geografischen und sozial-ökonomischen Komponenten sollen die wichtigsten Charakteristika der Produktionsverhältnisse des Raumes am Hindukusch zumindest in groben Zügen herausgearbeitet werden. Die Produktionsweisen des Landes am Hindukusch koexistierten in einem „Ensemble" unterschiedlicher, teilweise komplementärer Weisen der Ressourcennutzung (Oesterdiekhoff, 1978), das auch traditionellen, von neueren Entwicklungen (z. B. dem wachsenden Fernhandel im 19. Jahrhundert) überlagerten Modalitäten die Weiterexistenz erlaubte. So entstand von der fernen Vergangenheit bis zur Gegenwart eine Konfiguration, die - bildlich gesprochen - an einen vielfältig gefärbten und zerstückelten Mantel eines Derwischs erinnert. Dieses Phänomen lässt sich als ein ständiger Prozess von Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion interpretieren.

Im ersten Kapitel, in dem die historische Legitimation eines „dynastischen Staates" zur Diskussion steht, wird die monoethnische Vorherrschaft der Paschtunen als eines der Hauptstämme im Vielvölkerstaat exemplarisch am Beispiel von Mohammed Zahir, dem König, und von Mohammed Daoud, dem Präsidenten des „gottgegebenen Landes", kritisch beleuchtet.

Im zweiten Kapitel wird eine historische Phase der Herrschaft ins Auge gefasst, in der zum ersten Mal die Legitimation des „dynastischen Königtums" infrage gestellt wird. Mit der „April-Revolution" des Jahres 1978, die von der „Volksdemokratischen Partei Afghanistans" durch einen Militärputsch vollzogen wurde, wurde ein historisches Tabu gebrochen: Die „Demokratische Volkspartei Afghanistan" substituierte die historisch-erbliche Legitimation der Herrschaft der Paschtunen durch den Herrschaftsanspruch im Namen der „Werktätigen". Die aus der oberen Mittelschicht der Städte und gut situierten Landeigentümern bestehende Elite der Partei verwechselte ihren eigenen gesellschaftspolitischen Aufstiegsanspruch mit den berechtigten Interessen der „Werktätigen". Dazu kam nach langjähriger Invasion durch die Sowjetunion das massive Engagement der Kreml-Führung, um Afghanistan endgültig zu einem Satellitenstaat zu degradieren. Damit war beabsichtigt, die Grenzen des sowjetischen Imperiums in Richtung des Indischen Ozeans zu verschieben. In der Konsequenz jedoch wurde Afghanistan zur „blutenden Wunde" (Michail Gorbatschow] der Sowjetunion. Diese Phase, die sich von 1978 bis 1992 hinzog und schließlich in die erste Tragödie mündete, wird in drei Beiträgen beleuchtet.

Im dritten Kapitel wird das Einrücken der Mujahedin und danach der Taliban-Milizen in Kabul behandelt. Schon in den achtziger Jahren wurde der Widerstand der Afghanen gegen die Willkürherrschaft der „Volksdemokratischen Partei" bzw. gegen die sowjetische Besatzungsmacht in zweifacher Hinsicht manipuliert: Zunächst wurde er in der vorherrschenden Atmosphäre des islamischen Fundamentalismus im Iran, in Pakistan und in Saudi-Arabien als Djihad gegen die „Ungläubigen" in Kabul umgemünzt bzw. instrumentalisiert. Gleichzeitig wurde dieser Moment durch den Westen, besonders durch die Vereinigten Staaten von Amerika, als eine historische Chance wahrgenommen, um die Rote Armee in die afghanische Falle geraten zu lassen. Mit der Instrumentalisierung des afghanischen Widerstandes durch den Westen wurde aus der schwach geprägten islamistischen Bewegung in der Region eine schlagkräftige Kampftruppe. Afghanische Mujahedin als ein Produkt der bewaffneten Auseinandersetzung waren nicht prädestiniert dafür, nach ihrem eigenen Verständnis des Islam für die Befriedigung des Landes ein gesellschaftspolitisches Konzept zu erarbeiten. Im Gegenteil, mit dem Versuch der vage definierten „Herrschaft Gottes auf Erden" stürzte Afghanistan ins politische Chaos mit der Konsequenz der Entstehung ethnisch geprägter Machtinseln, Diese zweite Tragödie, von 1992 bis 2001, wird durch drei Beiträge kritisch beleuchtet

Im vierten Kapitel wird die defizitäre demokratische Legitimation der Herrschaft behandelt, was der Verfasser als „Anokratie der neu etablierten Oligarchie" im Namen der Demokratie charakterisiert. Hierbei wird ausführlich auf die Einzelheiten des implementierten Konzeptes des Neoliberalismus in einem „peripheren Staat" eingegangen.

Im fünften Kapitel werden die historischen Beziehungen zwischen Afghanistan und den USA von 1921 bis 2021 skizziert. Diese Periode der imperialen Beziehungen ist gegliedert in sechs Phasen, wobei jede Phase ihr eigenes Spezifikum aufweist, gekennzeichnet durch die jeweiligen historischen Umstände, vor allem in der Region.

Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit dem überraschenden Finale des demokratischen Modellversuchs, das zur Rückkehr der Taliban-Milizen führte. Hierbei hat die Mannschaft des Präsidenten Aschraf Ghani eine fundamentale Rolle gespielt.

Das siebte Kapitel behandelt die Auswirkungen der Machtübernahme der eklektizistischen Taliban-Milizen auf die regionale und internationale Politik. Die Rückkehr der „Tahrik Islami Taliban" nach Kabul stürzte Afghanistan in eine politische Krise ungeahnten Ausmaßes. Die Widersprüche und Defizite der Taliban werden im Zusammenhang mit dem historischen Widerstand am Hindukusch einerseits und den Staaten in der Region andererseits, von Russland über China, Indien und Pakistan bis zum Iran und den arabischen Golfstaaten, ausführlich behandelt. In Ermangelung einer Alternative zur monoethnischen Gewaltherrschaft der Taliban steht das Land vor einem historischen Dilemma: Balkanisierung oder angemessene Partizipation der nichtpaschtunischen Volksstämme an Politik und Ressourcen. Aufgrund der Erfahrungen der Vergangenheit, dass eine streng zentralisierte Regierung zum Scheitern verurteilt ist, schlägt der Verfasser vor, den Top-down-Ansatz von politischer Legitimation aufzugeben zugunsten eines Bottom-up-Ansatzes - von der Distriktebene über die Gouverneure von Provinzen bis hin zur Zentralregierung, jeweils auf der Basis demokratischer Legitimation.

Im Epilog erfolgen einige Erläuterungen zum Diskurs der „segmentären Gesellschaften", um zu verdeutlichen, dass die paschtunische Machtelite, die zum Teil selbst dem Staat feindlich gegenübersteht, keineswegs dazu berufen ist, einen funktionsfähigen Staat zu gründen, der ein friedliches und dauerhaftes Zusammenleben aller Völker am Hindukusch garantieren kann.

Dieses Werk wurde als Sammelband verschiedener Beiträge des Verfassers zusammengestellt. Bei den Kapiteln 2, 3 und 4 handelt es sich um Beiträge, welche der Verfasser in der Vergangenheit aus Anlass des jeweiligen Ereignisses geschrieben und veröffentlicht hat Sie wurden jedoch im Lichte der politischen Legitimation der Macht überprüft. Die Kapitel 1, 5, 6 und 7 wurden für dieses Werk neu verfasst.

Kapitel I:

Zu Spezifika der historischen Entwicklung eines gebirgigen Raumes

Von der fernen Vergangenheit bis zum Ende der erblichen Monarchie

1.1 Historischer Abriss der Herrschaft am Hindukusch (Sia Koh - dunkler Berg)Von antiken Imperialstrukturen zu einem abhängigen Pufferstaat1.2 Zur historisch-ethnischen Legitimation eines „dynastischen Pufferstaates"Traditionelle Herrschaft des Durani-Volksstammes, eines paschtunischen Subclans
1.2.1 Mohammed Zahir, allmächtig als „Schatten Gottes"Ein charakterschwacher Schah als Symbolfigur der Monarchie, 1933-19731.2.2 Mohammed Daoud, ein chauvinistischer Despot als „republikanischer Präsident"Zur Willkürherrschaft eines Machtbesessenen, 1973-1978

I. Kapitel:

Zu Spezifika der historischen Entwicklung eines gebirgigen Raumes

Von der ferneren Vergangenheit bis zur erblichen Monarchie

1.1 Historischer Abriss der Herrschaft am Hindukusch (Sia Koh - dunkler Berg)

Von antiken Imperialstrukturen zu einem abhängigen Pufferstaat

Der geografische Raum in Zentralasien, der mit einer Fläche von 650 000 Quadratkilometern Afghanistan heißt, ist ein Vielvölkerstaat Ethnologen sprechen von etwa 21 Ethnien am Hindukusch. Die Hauptethnien sind Aimaken, Belutschen, Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Kirgisen, Kasachen, Qisilbash, Türken und Usbeken (Dupree, 1980, 58-64). Da noch nie ein präziser und realistischer Zensus stattgefunden hat, ist weder die genaue Bevölkerungszahl noch der Anteil der jeweiligen Ethnien an der Gesamtbevölkerung des Landes bekannt. Dieses Defizit ist der Skepsis der paschtunischen Elite zu verdanken, was die Resultate einer genauen Zählung angeht, und ist schon seit jeher Gegenstand politischer Konflikte.

Afghanistan grenzt auf 5529 km an folgende Staaten: Pakistan im Osten und Süden mit 2430 km und Iran im Westen mit 936 km; im Norden und Nordosten sind Tadschikistan mit 1206 km, Turkmenistan mit 744 km, Usbekistan mit 137 km und China mit 76 km die unmittelbaren Nachbarstaaten des Landes.

Renommierte afghanische Historiker ‒ von Ali Mohammad Kohsad (Kohsad, 1946) über Abdul Hai Habibi (Habibi, 1999) bis hin zu Gholam Mohammad Ghobar (Ghobar, 1980) ‒ beschreiben „Ariana" (Land von Ariern) und „Chorasan" (wo die Sonne aufgeht) als alte Imperien auf dem Boden des heutigen Afghanistans. Das heutige geografische Konstrukt Afghanistan ist aber erst im 19. Jahrhundert als ein Pufferstaat zwischen dem zaristischen Imperium im Norden und dem britischen Imperium im Osten und Süden entstanden.

Vor dem Eindringen des indogermanischen Volksstammes (etwa tausend Jahre vor Christus) war das Territorium am Hindukusch besiedelt von indigenen Völkern. Sie wurden durch indogermanische Volksstämme erobert, massakriert und vertrieben. Sicherlich handelt es sich bei Ariern um einen indogermanischen Volksstamm, der etwa 1500 bis 1000 Jahre vor Christus vom mittleren Kaukasus in die Gebiete des heutigen Irans, Afghanistans und der zentralasiatischen Staaten Usbekistan und Tadschikistan eingewandert ist.

„Chorasan" als historische Region und Reich umfasste ein riesiges Gebiet, das im Nordosten des Iran, im Süden Turkmenistans und im Norden Afghanistans lag. Die historische Region erstreckte sich im Norden vom Amudarya (Fluss Oxus) nach Westen bis zum Kaspischen Meer und im Süden von den Ausläufern der zentraliranischen Wüste bis an die Grenzen Indiens (Hudud al-Alem, 1970, 102).

Als geborene Reiter und ausgestattet mit überlegenen Waffen aus Hartmetall haben die Arier zunächst das Territorium am Hindukusch eingenommen. Im Laufe der Zeit sind sie zum Teil nach Indien weitermarschiert, haben dort die Mohenjo-Daro-Hochkultur der „Indus Valley Civilization" zerstört und die Indigenen nach Süden vertrieben (Basham, 1994, 27; und Garraty, 1987, 96).

Historischer Prozess von Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion

Die Imperien unter dem Namen „Groß-Chorasan" erstreckten sich in variierendem Umfang über verschiedene geografische Räume von Buchara und Samarkand (in Usbekistan) bis Delhi (in Indien) und Karachi (in Pakistan) im Süden, Qashqai (in China) im Osten und bis Isfahan (im Iran) im Westen. Bezeichnend ist jedoch, dass im historischen Verlauf um den Hindukusch herum bekannte Reiche entstanden und zerfallen sind, die die Namen der jeweiligen Gründer tragen, z. B. das Kuschan-Reich, das Hephtaliten-Reich, das Samaniden-Reich, das Ghaznawiden-Reich und das Ghoriden-Reich. Charakteristisch ist auch, dass Entstehung, Aufstieg und Fall dieser Imperien sich keinesfalls friedlich, langsam und sanft vollzogen haben. Jedes Imperium hat den Satrapien einen hohen Tribut abgepresst, der das ökonomische Potenzial der Peripherie zerrüttete und damit die Existenzbasis des Imperiums selbst schwächte bzw. zerstörte. Daher hat die gesellschaftspolitische Entwicklung historisch keinen linearen Verlauf genommen. Im Gegenteil treten diese Entwicklungen durch einen klar erkennbaren Verlauf von Konstruktion, Destruktion und Rekonstruktion in Erscheinung.

Zu dieser Entwicklung, die für die historische Stagnation verantwortlich gemacht werden kann, trugen auch geografische Faktoren bei. Darüber hinaus waren sowohl die Produktionsverhältnisse als auch die Eigenschaft der Multiethnizität des Raumes für diesen historischen Ablauf vor großer Tragweite. In diesem Kontext entfaltete sich die „tributäre Eigenschaft" der Dynastien, Beute aus den fremden Territorien zu erpressen, um durch Bestechung die zentrifugalen Kräfte an die Zentralmacht binden zu können. Die materielle Grundlage der Machterhaltung und Machterweiterung der Zentralinstanz basierte auf durch Raubzüge gemachter Beute, den von anderen Völkern erzwungenen Tributen und Abgaben auf Transithandel. Damit befanden sich die jeweiligen Imperien in kritischer Abhängigkeit von unsicheren Finanzquellen.

Das Land am Hindukusch am Knotenpunkt diverser Kulturen

Das heutige geografische Afghanistan liegt am Knotenpunkt verschiedener Kulturen. Historisch betrachtet haben in diesem Raum große Völkerwanderungen stattgefunden. Verschiedene Völker sind dorthin eingewandert, zum Teil dort sesshaft geworden und zum Teil auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen oder aufgrund politischer Motive weitergezogen. Diese Völkerwanderungen korrespondieren auch damit, dass zahlreiche Könige, Abenteurer und Imperatoren aus allen Himmelsrichtungen diesen Raum immer wieder überfallen, die vorhandenen Produktionsverhältnisse und Lebensweisen der dort beheimateten Völker zerstört und den Raum als „Satrapien" an die Peripherie ihres Imperiums angeschlossen haben. Manche von ihnen haben sich am Hindukusch niedergelassen und dort große Reiche gebildet, die wiederum in der zweiten oder dritten Generation durch internen Zwist der Prinzen, Reichsanwärter und Hauptkommandeure oder durch den Ausfall externer Tribute als ökonomischer Grundlage des Reiches wieder untergegangen sind. Diese Region hat den auf der Seidenstraße beheimateten Völkern große Chancen zur materiellen und geistigen Entwicklung, aber auch riskante Momente der Gefährdung ihrer Existenz beschert.

Gründung der Durani-Dynastie

Nader Schah Afschar, bekannt als Nader Qoli Beyg (August 1688 bis Juni 1747), war der Gründer der Afschariden-Dynastie in Chorasan und einer der mächtigsten Herrscher in der iranischen Geschichte, der von 1736 bis 1747 als Schah des Iran (Persien) regierte. Nach seiner Ermordung gründete Ahmad Khan, der Kommandant der Durani-Einheit in der Garnison von Nader Schah, im Jahr 1747 in Kandahar sein eigenes Reich.

Ahmad Khan, bekannt als Ahmad Schah Baba, gehörte zum Durani-Volksstamm, einem Clan der Paschtunen. Er wurde 1722 in Herat geboren und trat mit 20 Jahren in den Dienst von Nader Afschar. Ahmad Khan befehligte etwa 16 000 Ghilzai und Durani, zwei Hauptclans der Paschtunen (Brechna, 2005, 69). Nach der Ermordung von Nader Afschar nahm Ahmad Khan mit der Unterstützung seiner Tante, der Frau von Nader Afschar, einige Schätze des Hofes (u. a. den berühmten Koh-i-Noor-Diamanten) an sich und marschierte mit seiner Truppe nach Kandahar, wo er 1747 die Herrschaft seiner eigenen Dynastie gründete. Zur Beute von Ahmad Schah schreibt der Historiker Jonathan Lee: „Statt den Körper von Nader Afschar mit zu behandeln, entfernte Ahmad Schah den königlichen Siegelring von der abgetrennten Hand des Königs und stahl den Koh-i-Noor-Diamanten, der um seinen Arm gebunden war. Dies war kaum die Aktion eines loyalen Kommandanten und der Diebstahl dieser beiden wichtigen königlichen Insignien war eindeutig vorsätzlich und in voller Kenntnis ihrer Bedeutung erfolgt" (Lee, 2018, 103).

Seit der Gründung der paschtunischen Dynastie 1747 wurde die politische und sozioökonomische Entwicklung dieses Raumes einerseits durch die interne Zwietracht der Clans der Paschtunen (Durani und Ghilzai) und andererseits durch den Konflikt der zentrifugalen Kräfte des Reiches stark geprägt. Als ursprüngliches Ansiedlungsgebiet der Paschtunen gilt das Suleimangebirge, das zwischen dem Indus und der heutigen Durand-Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan liegt. Von dieser kargen Gegend expandierten sie in den Süden und Südwesten des heutigen Afghanistans, wo sie Steppen und Oasen eroberten und zum Teil ansässig wurden.

Die territorialen Grenzen des heutigen Afghanistans wurden im 19. Jahrhundert unter dramatischen Umständen im Konflikt der rivalisierenden imperialen Mächte gezogen. In der Rivalität zwischen dem zaristischen Russland und dem britischen Empire beschloss Großbritannien, den Expansionsdrang der Zaren in Richtung des Indischen Ozeans mit der „Forward Policy" zu beantworten. Diese Rivalität führte dazu, dass die paschtunischen Herrscher durch verschiedene Verträge große Teile ihres Territoriums an Großbritannien abtreten mussten und am Ende selbst als „moderne Satrapen" zu Almosenempfängern der Briten wurden. Anders jedoch als antike Satrapen, die den Tribut der Peripherie an die Zentralinstanz des Imperiums lieferten, benötigten die paschtunischen Herrscher selbst Finanzhilfen, um über die Deckung der kostspieligen Ausgaben des Königshofs hinaus die zentrifugalen Kräfte ihres Territoriums beschwichtigen zu können. Damit wurde das Land in der „Pufferzone" zwischen dem zaristischen und dem britischen Imperium zu einem Vasallenstaat degradiert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts, beginnend mit dem Jahr 1839, wurden u. a. folgende Verträge zwischen Durani-Herrschern und dem britischen Indien unterzeichnet: 1838 und 1839 das Lahore- bzw. Kandahar-Abkommen mit Schah Schuja, 1855 das Peschawar-Abkommen mit Dost Mohammad Khan, 1879 das Gandomak-Abkommen mit Jakub Khan und 1893 das Durand-Abkommen mit Emir Abdur Rahman Khan (Ghobar 1980, 448).

Gleichzeitig näherten sich zaristische Truppen durch die Eroberung der großen Gebiete in Zentralasien, z. B. durch die Einnahme von Taschkent, Buchara, Samarkand und Kokand, dem afghanischen Territorium als Einflusssphäre der Briten. Mit weiteren Verträgen, zunächst dem „Kooperationsvertrag" mit Emir Habibullah Khan im Jahre 1905 und dann dem „Unabhängigkeitsvertrag" mit Emir Amanuliah Khan, wurden die abgeschlossenen Verträge zwischen dem britischen Imperium und den Durani-Herrschern offiziell bestätigt bzw. anerkannt Durch diese Verträge verloren paschtunische Herrscher zunächst große Teile ihres Herrschaftsbereichs im Westen und Süden, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Teilung des indischen Subkontinents Bestandteile Pakistans wurden. Dieses verlorene Territorium liefert jedoch heute immer noch latent gefährlichen Konfliktstoff zwischen Afghanistan und Pakistan aufgrund der Ansprüche der jeweiligen Herrscher in Kabul. Das gegenwärtige Schweigen der Taliban-Administration zu diesem Thema ist allein ihrer umfassenden Abhängigkeit von Islamabad zu verdanken.

Erst nach dem Unabhängigkeitskrieg mit den Briten (1919-1929) gelang es Amanullah Khan, das Land politisch vom Joch des britischen Imperiums zu befreien. Mit seinem geringen Wirtschaftspotenzial blieb es jedoch in seiner Abhängigkeit vom Imperium gefangen. Das durch die Rivalität zwischen den britischen und zaristischen Imperien entstandene Korsett wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Systemrivalität zwischen den USA und der Sowjetunion zum Spielball im „New Great Game". In der Krise des heutigen Afghanistans spielen interne soziale und politische Faktoren eine Rolle, sie ist aber zugleich ein Produkt dieses „New Great Game". Hinzu kommt die regionale Rivalität zwischen Indien, Pakistan, dem Iran und den arabischen Golfstaaten, vor allem dem totalitären Staat Saudi-Arabien. Sie wollen mit politischen, finanziellen und geheimdienstlichen Mitteln durch Einflussnahme auf die Konfliktparteien im Inneren Afghanistans das Schicksal der Völker am Hindukusch zumindest mitbestimmen.

Beschwichtigung der zentrifugalen Kräfte durch externe Finanzquellen

In Ermangelung interner Ressourcen war der Fortbestand des „dynastischen Staates" Afghanistans stets von den Möglichkeiten des Einzugs externen Tributs abhängig, nicht nur um die kostspieligen Ausgaben von Haram bzw. Hof zu finanzieren, sondern darüber hinaus die Loyalität der zentrifugalen Kräfte durch materielle Zuwendungen sicherzustellen. Mit dem Ausfall des auswärtigen Tributs (vor allem aus indischen Provinzen) wurde die Autorität des Emirs in Kabul in Gefahr gebracht, es sei denn, die Lücken konnten durch die „Beschwichtigungsgelder" der imperialen Kräfte, vor allem die der britischen Imperialmacht, kompensiert bzw. überkompensiert werden. Die regelmäßigen finanziellen Leistungen an Könige seitens Großbritanniens am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellen typische Beispiele dar, wie die Loyalität der afghanischen Emire gekauft wurde. Sie konnten ihrerseits durch diese Finanzgeschenke zentrifugale Kräfte an sich binden. Nach der formalen Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1919 blieb diese Finanzspritze aus. Die für die Funktionsfähigkeit des Staates erforderlichen Finanzen konnten aber durch die spärlichen Staatseinnahmen aus der schwach entwickelten Landwirtschaft und dem geringen Volumen der Viehzucht nicht aufgebracht werden. Daher stand die Bildung eines stabilen Staats auf wackeligen Beinen. Erst durch die Rivalität der Supermächte nach dem Zweiten Weltkrieg, wodurch externe Finanzen als „Entwicklungshilfe" ins Land flossen, konnten zumindest auf ökonomischer Ebene Voraussetzungen für eine relativ stabile Entwicklung geschaffen werden. Jedoch wurde diese Entwicklungshilfe zunächst von der Staatsführung, vor allem dem autokratischen Regime in den fünfziger Jahren, zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und damit zur Aufrechterhaltung des „dynastischen Staates" instrumentalisiert

Vielschichtige soziale Hierarchie als systemimmanenter Faktor

Am Hindukusch spielt schon seit jeher die Schicht der Korangelehrten - vom Großmullah über den Imam (Vorbeter) bis hin zum kleinen Dorfmullah - eine wichtige Rolle. Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit dem Adel und dem Klerus im europäischen Feudalismus hat diese Schicht am Hindukusch einen anderen Stellenwert Sie pflegt eine andere sozialpolitische Beziehung zu ihrer Klientel. Der „afghanische Adlige", beispielsweise der Khan, genießt zunächst alle Vorzüge, die ihm die patriarchalische und patrilineare Gesellschaft nach der Tradition der jeweiligen Stammesstruktur gewährt. Er ist als Oberhaupt der Großfamilie an Freuden, Glück, Sorgen und Leiden des gesamten Clans beteiligt Gegenüber anderen trägt er als Repräsentant des Clans die Hauptverantwortung. Er vermittelt zwischen den Angehörigen seines Clans und den Repräsentanten des Staates, seien es Sicherheitskräfte, Steuereintreiber oder Verwalter des Bezirks. Die Mitglieder des Clans sind jedoch auf einer gewissen Ebene gleichgestellte Mitglieder der Clangemeinde und nicht abhängige Arbeitskräfte in der Verfügung des Khans. Die anderen Mitglieder des Adels, beispielsweise der Mirow (Wasseraufpasser) oder Malek (Oberhaupt des Dorfes), stellen in ihren Funktionen urdemokratische Institutionen dar, die von allen Mitgliedern der Gemeinde getragen werden. Seit dem Staatsstreich von 1978, in dem das autoritäre Regime von Mohammed Daoud durch die „Volksdemokratische Partei Afghanistans" (DVPA) liquidiert wurde, geriet der traditionelle Stellenwert der Adligen ins Wanken. Vor dem Hintergrund der religiösen Atmosphäre in der Region verlor diese Schicht zugunsten des Klerus ‒ nicht der traditionellen Islamgelehrten, sondern des importierten Fundamentalismus ‒ an Bedeutung.

Trotz der regionalen und ethnischen Unterschiede genießen im afghanischen Raum der Adel und die Geistlichen immer noch einen Sonderstatus. Der Adel besteht aus Khan, Malek (Dorfbürgermeister), Naser (Verwalter), Mirow (Wasseraufpasser), Arbab (Einflussreiche) und Rischsafid (Weißbärtige). Die Geistlichen setzen sich zusammen aus Sayeds (Nachkommen des islamischen Propheten), Sahebsada (Nachkommen des zweiten Kalifen), Achond (geistliche Lehrer), Achondsade (Nachkommen bekannter geistlicher Lehrer) und Pier (Sufi-Meister). Der soziale Stellenwert des Klerus hat im Laufe der Jahre einen gravierenden Wandel erfahren. Im Zeitalter der archaischen Herrschaft vor Christi Geburt standen „Raschide" (Weise) den religiösen Zeremonien der Gesellschaft vor. Mit der Verbreitung der Religionen des Zoroastrismus und des Buddhismus entfaltete sich diese Schicht mit gewissen Privilegien, war aber dennoch auf Abgaben der Gemeinde angewiesen. Nach der Islamisierung des Raumes ab dem 8. Jahrhundert genossen die Geistlichen, die im Dienst der Imperatoren und Emire standen, große Privilegien. Dagegen waren die Geistlichen, welche die offizielle politisch-religiöse Position nicht vertraten, Schikanen und Verfolgung ausgesetzt. Dies war z. B. bei der „Khawarej" ‒ einer islamischen Glaubensrichtung im Sistan ‒ und der „Qermatia" ‒ einer anderen islamischen Glaubensrichtung ‒ zur Zeit der Ghaznawiden-Dynastie bis zum 11. Jahrhundert der Fall.

In späteren Jahrhunderten stand, von einigen Ausnahmen abgesehen, der Klerus in den Diensten des Khans und der politischen Herrscher. Er fungierte quasi als religiöser Interpret der Taten bzw. Untaten von Herrschern. Diese Geistlichen legitimierten am Hofe des dynastischen Staates den religiösen Charakter der Herrschaft In den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts verursachte eine Gruppe konservativer Mullahs, die sich vom Reformkönig Amanullah (1919-1929) verprellt fühlten, mit der unmittelbaren Rückendeckung des britischen Imperiums den Sturz des Emirs. Danach genossen alle Regimes am Hindukusch bis zum Staatsstreich des Jahres 1978 die religiöse und politische Unterstützung des Klerus, wenn auch in unterschiedlichen Graden. Befand sich das autokratische Regime von Daoud (1973‒1978) in einer gewissen Spannung mit dem Klerus, so zielte der „real existierende Sozialismus" der Volksdemokratischen Partei Afghanistans ab 1978 zunächst auf frontale Verfolgung, Verhaftung und Tötung der Geistlichen. Erst später, in einer zweiten Phase der Aprilrevolution und nach der Invasion der sowjetischen Truppen, versuchte die bürokratische Partei den Kurs zu korrigieren und ein einvernehmliches Verhältnis zu den Geistlichen herzustellen.

Doch die Versäumnisse waren zu gravierend und der Revisionskurs nicht korrigierbar. Denn die Geistlichen hatten sich inzwischen parteipolitisch organisiert, genossen die Rückendeckung der „islamischen Welt" und zum großen Teil die politische Solidarität der Bewegung der Blockfreien. Sie wurden massiv ‒ militärisch und finanziell ‒ im Geiste des Kalten Krieges vom Westen unterstützt. Dies führt konsequenterweise dazu, dass sich 1992 erstmals in der Geschichte des Landes der Klerus aus dem Schatten von Herrschern herauswagte. Er übernahm selbst die politische Macht und legitimierte seine Herrschsucht auch theokratisch als „Herrschaft Gottes auf Erden". Nach einer kurzlebigen Herrschaft des Tadschiken Habibullah Kalakani im Jahre 1929, die nur etwa neun Monate dauerte, kam 1992 mit Burhanuddin Rabbani ein Tadschike und relativ gemäßigter Fundamentalist an die Macht. Als Absolvent der Al-Azhar-Universität in der ägyptischen Hauptstadt Kairo genoss er eine gewisse religiöse Autorität. Seine langjährige politische Praxis hatte ihm eine gut organisierte Partei beschert. Zudem hatte er mit Ahmad Schah Massoud, dem „legendären Kommandeur" in den achtziger Jahren, eine starke militärische Hausmacht. Dass sich Rabbani nicht an der Macht halten konnte, war u. a. deswegen vorprogrammiert, weil sein Rivale Gulbuddin Hekmatyar, der Emir der „Hezbe Islami", im Namen des Islam, jedoch hauptsächlich als selbsternannter Vertreter der Paschtunen dem Tadschiken Rabbani in Kabul die Herrschaft streitig machte. Hekmatyar setzte erfolgreich auf die „ethnische Karte", womit er im afghanischen Vielvölkerstaat auf Resonanz stieß. Auf diese Praxis wurde von selbsternannten Vertretern der politischen Elite des Landes immer wieder zurückgegriffen.

Das Stammes-Wirgefühl prägt das Schicksal des labilen „Pufferstaates"

Das Schicksal der Bevölkerung am Hindukusch war schon immer durch Stammeszugehörigkeit geprägt. Die Hauptethnien in Afghanistan, mehr als 20 Volksstämme, befinden sich in einem historisch labilen Gleichgewicht. Viele Afghanen fühlen sich nicht unbedingt als frei handelnde Subjekte, die unabhängig vom vermeintlichen Schicksal ihres Volksstammes Entscheidungen treffen können. Das Stammes-Wirgefühl wird im Vergleich zur religiösen und parteipolitischen Zugehörigkeit in der afghanischen Gesellschaft höher bewertet. Es ist gleichzeitig ein ausgeprägtes Indiz für einen schwach entwickelten Bezug zu einem Nationalstaat, in dem alle Einwohner des Landes als gleichberechtigte Bürger betrachtet werden. Das solidarische Stammesgefühl kommt vor allem bei den meisten politischen Eliten unabhängig von ihrem ideologisch-politischen Bekenntnis zum Tragen.

Die Machtergreifung von Mohammed Daoud durch den Staatsstreich im Jahre 1973 gegen seinen Neffen Mohammed Zahir, den König von Afghanistan, wird oft als Auftakt der ersten Tragödie des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt. Doch hatte sich schon die Dekade der „Demokratie" in den sechziger Jahren äußerst widersprüchlich entwickelt: Teile der politischen Elite, die sich mit Lippenbekenntnissen zu den Demokraten rechneten, glaubten keineswegs an die Demokratie und konterkarierten die Entwicklung hin zur Abschaffung der „demokratischen Ansätze". Vielmehr bahnte sich eine ideologische Polarisierung zwischen „kommunistisch" orientierten und „islamisch" gesinnten Kräften an. Das politische Bild der künftigen Entwicklung bestimmte eigentlich diese Polarisierung, wobei zunächst die an Moskau orientierten Genossen an die Macht geputscht wurden, denen später die islamisch ambitionierten Mujahedin folgten.

Defizite der ideologischen Ausrichtung der Demokratischen Volkspartei Afghanistans

Das Stammes-Wirgefühl beherrschte die politische Elite der „Sozialrevolutionäre" ebenso wie die islamisch orientierten Eliten. Trotz ihres verbalen Bekenntnisses zum „Klassenkampf" und zum „proletarischen Internationalismus" grenzten sich beispielsweise Mitglieder der DVPA untereinander nach Zugehörigkeit zu ethnischen und Sprachgruppen ab. Große Teile der Paschtu sprechenden Kader sammelten sich in der Fraktion Chalq (Volk). Demgegenüber konzentrierten sich Dari sprechende Mitglieder in der Fraktion Partscham (Fahne). Sicherlich gab es weitere Kriterien, welche die Unterschiede noch vertieften. Rekrutierten sich die Mitglieder der Partscham-Fraktion in ihrer Mehrheit aus der urbanisierten Elite großer Städte, vor allem aus Kabul, so handelte es sich bei den Mitgliedern der Chalq-Fraktion eher um aufsteigende Provinzler, die in ländlichen Gebieten verankert waren. Auf gewisser Ebene waren selbst ihre ideologischen Prägungen aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen beeinflusst: Die Partscham-Fraktion mit ihrem Chef Babrak Karmal speiste ihre vermeintliche Ideologie des Kommunismus unter Zuhilfenahme von Schriften der iranischen kommunistischen Partei „Hezbe Todah" und zum Teil direkt aus der Sowjetunion. Die Chalq-Fraktion mit ihrem Chef Nur Muhammad Taraki war, bedingt durch dessen jahrelangen Arbeitsaufenthalt in Indien, in ihrem ideologischen Standpunkt von der kommunistischen Partei Indiens geprägt. Er hatte sich selbst die Parole der indischen Kommunisten „Roti, Kapra or Makan" als „Dodai, Kali und Kor" (Nahrung, Kleider und Unterkunft) zu eigen gemacht. Trotz alledem waren beide Fraktionen Moskau-hörig und bestrebt, sich mit mehr „revolutionärem Geist" - sprich politischem Abenteurertum - zu profilieren. Beide verkannten die vorherrschenden Verhältnisse der traditionellen Gesellschaft in ihrem sozialpolitischen Kontext. Letztlich stürzte ihre defizitäre Strategie der Überführung Afghanistans aus dem „Feudalismus" unter Umgehung des Kapitalismus in den Sozialismus das Land am Hindukusch in den Abgrund. Ihr ideologisches Verständnis der vorherrschenden Produktionsweise lief darauf hinaus, die afghanische Gesellschaft als nur „feudalistisch" zu charakterisieren. Dabei gab es am Hindukusch Feudalverhältnisse, Vorfeudalbeziehungen, archaische und selbst kapitalistisch geprägte Bereiche, die sich in einem komplizierten sozioökonomischen Geflecht gegenseitig beeinflussten. Sie stürzten damit Afghanistan in eine historische Tragödie, denn erst ihre Politik hat den Boden für die Erstarkung der islamistisch geprägten Kräfte entscheidend mit vorbereitet.

Die Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) setzte mit der Machtübernahme durch den Staatstreich von 1978 der Tradition des dynastischen Staates vorerst ein Ende. Die Herrschaft von Präsident Daoud von 1973 bis 1978 wurde als Fortsetzung der paschtunischen Dynastie mit dem sarkastischen Ausdruck „königliche Republik" charakterisiert. Daoud als Vetter und Schwager des Exkönigs Mohammed Zahir regierte zusammen mit seinem Bruder Mohammad Naim das Land am Hindukusch eigenmächtig und behandelte es quasi als Privateigentum seines Clans. Ironischerweise hätte die DVPA ohne den Staatsstreich von Daoud 1973 kaum die Chance gehabt, sich an die Macht zu putschen. Erst im Schatten des Autokraten Daoud und im Einklang mit der Afghanistan-Strategie der Sowjetunion konnte sie das Ruder in die Hand nehmen. Ihre willkürliche Herrschaft spiegelte den politischen Monopolanspruch einer kleinen Schicht der Machtelite wider, die gegen die Privilegien der anderen dünnen Schicht der Oberklasse aufgestanden war: Sie war gefangen in der Anmaßung, mit ihren selbstherrlichen Entscheidungen, die gegen alle Andersdenkenden gerichtet waren, das Schicksal der Menschen am Hindukusch allein bestimmen zu können. Die politischen Zerwürfnisse zwischen beiden Fraktionen und ihre gesellschaftspolitische Ignoranz trieben das Land in den Ruin. Zehntausende Andersdenkende wurden willkürlich verhaftet, systematisch gefoltert, verschwanden spurlos und wurden ohne Prozess hingerichtet. Die Machtelite der DVPA versagte damit auf ganzer Linie.

Nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums, der dem klassischen Geist des Kalten Krieges ein Ende setzte und als ein Triumph des amerikanischen Imperiums gefeiert wurde, zog sich der Westen aus Afghanistan zurück, wo er gegen die Sowjetunion einen erfolgreichen Stellvertreterkrieg geführt hatte. Es gab nicht einmal ansatzweise ein gesellschaftspolitisches Konzept für das vom Krieg zerstörte Land. Die Konsequenzen, die aus der undurchdachten Strategie der Förderung bewaffneter Mujahedin in den achtziger Jahren resultierten, wurden im Westen entweder verdrängt oder ‒ zumindest offiziell - nicht wahrgenommen. Das Schicksal der Afghanen wurde praktisch den mächtigen Anrainerstaaten überlassen.

Die Einleitung der „Herrschaft Gottes auf Erden" - das Scheitern des theokratischen Ansatzes der Islamisten

Im Grunde ist die Frage der politischen Legitimation von Macht Dreh- und Angelpunkt des gesamten Spektrums der Konflikte innerhalb der islamischen Welt seit dem Tod des Propheten Mohammed im Jahre 632. Selbst wenn die Machtausübung in der islamisch dominierten Welt nicht unbedingt ausdrücklich auf der Scharia (islamische Gesetzgebung) beruht und faktisch säkular ist, wird sie religiös legitimiert. In Ermangelung demokratischer Traditionen stellt es daher kein politisches Novum dar, wenn neben „islamistischen Kreisen" despotische Könige, militärische Machthaber und bornierte Sultane in der islamischen Welt den Islam als Legitimationsinstrument beanspruchen. Trotz der dramatischen Entwicklung, die sich seit der Machtübernahme der islamisch orientierten Kräfte in Afghanistan im Jahre 1992 vollzogen hat, begründen sowohl die „aufgeklärten" islamischen Kräfte als auch obskure Islamisten in Afghanistan ihren Anspruch auf die Führungsposition im Lande nach wie vor „islamisch". Diese Position ist insofern konsequent, als sie die politische Überzeugung dieser Kräfte über die Zukunft Afghanistans ebenso wie eine umfassende islamisch geprägte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung widerspiegelt Zudem würde eine etwaige Abkehr von dieser Position realpolitisch fatale Folgen nach sich ziehen. Sie würde eine klare Negation ihres Djihads bedeuten, was einer tatsächlichen Selbstverleugnung der islamischen Kräfte gleichkäme und eine praktische Selbstentmachtung zur Folge hätte.

In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts instrumentalisierte Mullah Omar, der Chef der Taliban, den Islam für die Begründung der Alleinherrschaft seiner Bewegung. Hingegen bemühte sich Rabbani, der Chef der Jamiati Islami, vor allem in den letzten Jahren, die islamische „Legitimation" der Führungsstruktur als eine angemessene Beteiligung aller islamisch orientierten Kräfte zu interpretieren. Aus ethnischer Perspektive mündet dieser Dissens in die monoethnische Strategie der Taliban-Milizen, die auf die Alleinherrschaft der Paschtunen im Namen des Islams abzielt, während die „Vereinigte Front" Rabbanis daraus den Ansatz einer multiethnischen Herrschaft ableitet. Daraus resultieren schier unüberwindbare Differenzen. Mullah Omar erhebt den Monopolanspruch auf eine „himmlische Mission" und Rabbani plädiert für eine parteipolitisch-pluralistische Gestaltung der Theokratie. Damit wurde die Zersplitterung des Landes besiegelt: An der Spitze des „Islamischen Emirats" kämpfte der Paschtune Mullah Omar als Emir der Gläubigen gegen den Tadschiken Rabbani als Präsident des „Islamischen Staates Afghanistan". Um seine Kampfansage gegen die „Islamische Vereinigte Front zur Rettung Afghanistans", eine Front, die später als „Nordallianz" bekannt wurde, wiederum islamisch zu begründen, ließ Omar die seit zwei Jahrzehnten für die Errichtung einer islamischen Theokratie kämpfenden Parteien schlicht als „unislamisch" deklarieren. Das war in jeder Hinsicht erforderlich, denn Mullah Omar als Muslim durfte gegen Rabbani, einen anerkannten Moslemgelehrten, nicht den Djihad erklären. Er konnte auch nicht im Namen der Paschtunen seine Soldateska gegen Angehörige anderer Volksstämme marschieren lassen. Um einen Ausweg aus dem politischreligiösen Dilemma zu ermöglichen, instrumentalisierte Omar den politischen Islam und erklärte Rabbani zum Ungläubigen, der zu liquidieren war.

Damit scheiterte aber der „islamische Ansatz" in seiner real existierenden Prägung zur Lösung des Konfliktes am Hindukusch auf ganzer Linie. Mit der problematischen Machtübernahme der Mujahedin 1992 wurde die zweite Tragödie am Hindukusch eingeleitet Außenpolitisch gesehen wurde Afghanistan zum Spielball der Regionalmächte, unter denen Iran, Pakistan und die arabischen Golfstaaten, darunter das totalitäre Regime in Saudi-Arabien, die ausschlaggebenden Rollen spielten. In dieser Phase der massiven Einmischung in Afghanistan fühlte sich vor allem Pakistan als ehemaliger Frontstaat und „Gastgeber" der Mujahedin-Gruppen dazu berufen, die künftige Regierung und damit die politische Richtung in Kabul entscheidend mitzugestalten. Islamabad setzte von Anfang an auf die Karte von Hekmatyar, dem Emir der Hezbe Islami. Pakistanische Ambitionen korrespondierten mit der religiösen Richtung und den strategischen Motivationen der konservativen arabischen Staaten. Damit sah vor allem das wahhabitische Saudi-Arabien seine Chance gekommen, im Konkurrenzkampf gegen den schiitischen Iran zunächst in Afghanistan Fuß zu fassen. Es rechnete damit, dann auch in den neu entstandenen mittelasiatischen Republiken religiös stärker agieren zu können. Damit geriet die politisch labile Koalition um Rabbani zunehmend unter politischen Druck. Rabbani versuchte, einen adäquaten Verbündeten gegen die Unterstützung der Taliban durch Pakistan und arabische Golfstaaten in der Region zu finden. Hierbei bot sich notgedrungen zunächst der Iran an, der ohnehin am Hindukusch sehr engagiert war und seine eigene Strategie der Ausbreitung seiner Machtsphäre in der Region verfolgte. Dazu kam auch für die Rabbani-Koalition das immer noch imperial denkende Russland infrage, das zumindest die südasiatischen Republiken als Einfluss- und Schutzzone betrachtete.

Unter der Verwaltung der Taliban-Milizen (ab 1996) wurde Afghanistan zum Zentrum der internationalen Mujahedin. So verlagerten viele Terrorgruppen aus Pakistan ihre Netze nach Afghanistan, wo sie sich ohne Einschränkungen frei entfalten konnten. Das günstige Ambiente für freie Bewegung und Entfaltung nutzte vor allem der Chef der al-Qaida, Osama bin Laden, aus. Er etablierte im Machtbereich der Taliban einen zentralen Ausbildungsplatz für Terrorristen und holte etwa zehntausend Djihadisten ins Land. Neben ideologischer Indoktrination bekamen diese als „afghanische Araber" bekannt gewordenen Djihadisten unmittelbare Kampferfahrungen, indem sie auf der Seite der Taliban an vorderster Linie gegen die „Front zur Rettung Afghanistans" kämpften.

Die Ermordung von Ahmad Schah Massoud, dem Chef des militärischen Zweigs der „Nordallianz", am 9. September 2001 geht auf das Konto von bin Laden. Er bezeichnete die Tat als sein Geschenk an Mullah Omar. Aber noch wichtiger waren für die internationale Gemeinschaft die Terroranschläge in New York am 11. September 2001, die wiederum zur Revision der Politik der USA gegenüber den Taliban führten.

Errichtung einer neuen Ordnung in Afghanistan als Nebenprodukt der Bekämpfung des internationalen Terrorismus

Zum vorprogrammierten Scheitern einer „demokratisch konzipierten und streng strukturierten Zentralinstanz"

Die Terroranschläge des 11. September 2001 in New York und Washington haben die politische Landschaft der internationalen Gemeinschaft in vielfältiger Hinsicht geändert. Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der mit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und auf das Pentagon in Washington neue, bislang ungeahnte Dimensionen erreichte, wurde zum obersten Ziel der US-Administration. Ohne Zweifel hatte die enge Zusammenarbeit der Taliban mit dem Terrornetz von al-Qaida zur Durchführung terroristischer Aktivitäten im Weltmaßstab beigetragen. Damit gerieten die militärische Infrastruktur der Milizen und die Verstecke der al-Qaida im Hindukusch ins Visier der militärischen Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Die Militärschläge der internationalen Koalition unter dem Oberkommando der USA in Afghanistan stellten in ihren politischen Folgewirkungen eine historische Wende in der leidvollen Geschichte des seit Jahrzehnten von erbitterten Kämpfen heimgesuchten Landes dar. Mit der Vertreibung der Einheiten der Taliban aus den großen Städten und dem Einrücken der bis dato in Opposition stehenden Kräfte wurden die erforderlichen Voraussetzungen für eine neue Gestaltung des Vielvölkerstaates geschaffen. Trotz vielfältiger Skepsis einer beachtlichen Reihe von Militärstrategen und Afghanistan-Experten, die im Fall eines aktiven US-Militäreinsatzes in Afghanistan Horrorszenen eines zweiten Vietnam befürchteten, war das Pentagon - im Gegensatz zur Clinton-Administration - nicht davon abzuhalten, mit Militärschlägen konsequent gegen al-Qaida und die Milizen vorzugehen. Die Skeptiker gingen davon aus, dass jede ausländische Militärintervention in Afghanistan zum Scheitern verurteilt sei. Hinzu kam das Argument, dass dadurch in erster Linie die Zivilbevölkerung leiden werde. Letzten Endes waren die US-Militärschläge am Hindukusch auch innerhalb der politisch dominanten Kräfte Afghanistans umstritten.

Im Rahmen der direkten und massiven Intervention der USA wurde ein dysfunktionales zentralisiertes System im Namen der Demokratie etabliert. Außerdem kamen neoliberale Wirtschaftskonzepte zur Anwendung, was die Entstehung einer „neuen Oligarchie" begünstigte. Letzten Endes wurde Afghanistan zu einem militärisch und ökonomisch abhängigen Peripheriestaat, der mit Massenarmut und verbreiteter Unzufriedenheit zu kämpfen hatte. Es ist daher nicht überraschend, dass nach dem fehlgeleiteten „Friedensabkommen" mit den Taliban das „anokratische System" am Hindukusch nach dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten wie ein Kartenhaus zusammenfiel.

1.2 Zur historisch-ethnischen Legitimation eines dynastischen Pufferstaates

Herrschaft der Yahya-Familie des paschtunischen Subclans der Mohammadzai, 1930-1978

Nach den turbulenten Ereignissen der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die König Amanullah als Reformkönig (1919-1929) scheitern sahen, und nach einer neunmonatigen Herrschaft von Habibullah Kalakani kam Mohammed Nadir in Kabul 1930 an die Macht Als Angehöriger der Mohammadzai, eines Subclans der Durani-Paschtunen, war er schon zur Zeit von Amanullah ein einflussreicher Mitspieler im dynastischen Staat Mohammed Nadir (1889-1933) war unter Amanullah Verteidigungsminister, fiel aber während seiner Zeit als afghanischer Botschafter in Frankreich in Ungnade und blieb dort als Exilant. Mit Unterstützung der paschtunischen Volksstämme und der Rückendeckung Großbritanniens gelang es ihm nach dem Sturz Amanullahs, den Tadschiken Habibullah, der den Thron in Kabul den Paschtunen streitig gemacht hatte, zur Aufgabe zu zwingen.

Mohammed Nadir brachte seine Brüder auf Schlüsselposten des Staates: Mohammed Haschim als Premierminister, Schah Mahmud als Oberbefehlshaber der Armee und Minister der Verteidigung, Schah Wali als Botschafter in London und Mohammed Aziz als Botschafter in Moskau.

Im Oktober 1931 legte Nadir eine Verfassung vor, in der die Scharia als Grundlage des staatlichen Rechtssystems deklariert wurde. Um sicherzugehen, dass alle Gesetze mit dem islamischen Recht in Einklang standen, wurde „Jamiati Ulema", die Gesellschaft der Geistlichen, gebildet. Zur Durchsetzung der Scharia, von Moral und religiösen Praktiken im Alltag wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ein Amt für Moral gegründet. Am 8. November 1933 wurde Mohammed Nadir bei einer Zeremonie zur Vergabe von Zertifikaten an Schüler ermordet Sein Nachfolger wurde Sohn Mohammed Zahir, „ein schüchterner, introvertierter Neunzehnjähriger mit sehr wenig Regierungserfahrung" (Lee, 2018, 531).

In diesem Kapitel wird nach einer kurzen Skizzierung der umstrittenen Herrschaft von Mohammed Zahir Schah, dem ehemaligen König von Afghanistan, die Machtergreifung von Mohammed Daoud durch den Staatsstreich gegen seinen Neffen im Jahre 1973 als Auftakt der ersten Tragödie des Landes dargestellt. Die eigentliche Krise setzte erst mit der Aprilrevolution der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) im Jahre 1978 ein, die in die sowjetische Invasion im Dezember 1979 mündete.

1.2.1 Mohammed Zahir, allmächtig als „Schatten Gottes"

Ein charakterschwacher Schah als Symbolfigur der Monarchie Zum Pokerspiel in der „Dynastie" der Mohammadzai, eines Subclans der Durani-Paschtunen

Der letzte König von Afghanistan, Mohammed Zahir Schah, starb am 25. Juli 2007 im Alter von 92 Jahren in Kabul. Vierzig Jahre lang (1933‒1973) hatte er in Afghanistan als Monarch geherrscht. Mohammed Zahir, bekannt als Zahir Schah, war ein umstrittener Monarch, dessen amibivalente Politik das Gesicht Afghanistans ein ganzes Jahrhundert lang stark geprägt hat Als König besaß er kein Durchsetzungsvermögen. Er scheute politische Entscheidungen und vermochte kein politisches Risiko einzugehen. Sein Name war eng verbunden mit der turbulenten Entwicklung Afghanistans in den letzten sieben Jahrzehnten. Mohammed Zahir war stets umgeben und beherrscht von Personen, die in seinem Namen umstrittene und autoritäre Politik machten, was letzten Endes das Land in den politischen Abgrund führte. Geboren am 15. Oktober 1914 in Kabul, stammte Mohammed Zahir aus der Paschtunen-Dynastie der Mohammadzai, deren Stammesgebiet im Süden in der Umgebung der Oase von Kandahar liegt, die seit dem 18. Jahrhundert die Vorherrschaft über Afghanistan ausgeübt hat. In Frankreich ausgebildet, wurde der Prinz nach seiner Rückkehr mit 18 Jahren zum stellvertretenden Verteidigungsminister und wenige Monate später zum Erziehungsminister ernannt. Nach der Ermordung seines Vaters Mohammed Nadir am 8. November 1933 bestieg er den Thron. Als erste Amtshandlung unterschrieb Mohammed Zahir das Todesurteil der 16 mutmaßlichen Mörder seines Vaters. In den fünfziger und sechziger Jahren, als politische Turbulenzen im Lande aktives Handeln des Königs erforderlich machten, sorgte er dafür, dass seine Herrschaft als „Zellellah" (Schatten Gottes auf Erden) auch in der neuen Verfassung als „Tolwak" (Allmächtiger) legitimiert wurde. Damit konnte der König alles allein entscheiden, zur Verantwortung durfte er nicht gezogen werden. 1964 kam es mit der Verabschiedung der neuen Verfassung durch die Loja Dschirga, die traditionelle Stammesversammlung, zur Einführung der konstitutionellen Monarchie. Das Parteiengesetz, das für die Etablierung einer demokratischen Ordnung von fundamentaler Bedeutung war, hat der König nie unterschrieben. Trotzdem gründeten sich Parteien, doch Parteipolitiker, die dem König nicht genehm waren, sahen sich Schikanen ausgesetzt. Auch kritische Berichterstattung wurde verboten und die Verantwortlichen wurden aus fadenscheinigen Gründen inhaftiert 1973 wurde Zahir Schah während eines Aufenthaltes in Italien durch einen Militärputsch des langjährigen Ministerpräsidenten Mohammed Daoud (1953‒1963) gestürzt. Danach verfolgte er die politischen Ereignisse in Afghanistan aus dem Exil: einer Villa an der Peripherie der italienischen Hauptstadt Rom.

Er unternahm jedoch keinen ernsthaften Versuch, auf die Entwicklung in „seinem" Land Einfluss zu nehmen. Nach dem Abzug der sowjetischen Invasionstruppen aus Afghanistan 1989 kam das Land nicht zur Ruhe. Afghanistan stürzte immer tiefer in chaotische Zustände. In dieser Situation schlug Zahir Schah vor, eine in der Tradition der Afghanen verankerte Loja Dschirga, eine Stammesversammlung, einzuberufen. Und er sagte auch, wer daran teilnehmen sollte: „Die Teilnehmer dieser Loja Dschirga werden sich zusammensetzen aus Vertretern der Djihadi-Organisationen, den Vertretern der Kommandeure, Vertretern anderer Pro-Djihad-Organisationen, berühmten afghanischen Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland, politischen afghanischen Persönlichkeiten und Stammesältesten aus dem In- und Ausland." Diese außerordentliche Dschirga sollte über das Schicksal des Landes entscheiden. Doch der Vorschlag stieß weder in Afghanistan auf Unterstützung noch fand er international ein positives Echo. Nach dem von den USA geführten Krieg in Afghanistan gegen das despotische Taliban-Regime und das mit ihm verbündete Terrornetzwerk al-Qaida bot sich der greise Ex-Monarch im November 2001 als Vermittler an. Sein als Rom-Gruppe bekannt gewordener Beraterkreis trug mit drei anderen afghanischen Gruppen zu den Bonner Vereinbarungen über Afghanistan erheblich bei. Am 18. April 2002 kehrte Mohammed Zahir als „Bürger" nach Afghanistan zurück. Wie auf dem Petersberg vereinbart, erklärte er seinen Verzicht auf das Amt des Staatsoberhaupts. Sein Stellenwert wurde in der neuen Verfassung des Landes im Jahre 2004 als „Baba-e Mellat" (Vater der Nation) verankert. Seine angeblich große Popularität im Lande erwies sich jedoch als trügerisch, als sein Kandidat und Schwager Homayoun Schah Asefi bei der Präsidentschaftswahl im Oktober 2004 weniger als ein Prozent der Stimmen bekam. Im Vielvölkerstaat Afghanistan sahen die nichtpaschtunischen Volksstämme in Asefi den Stellvertreter Mohammed Zahirs. Sie hatten nicht vergessen, dass sie in dessen 40-jähriger Amtszeit (1933‒1973) unterdrückt und diskriminiert worden waren. Hinzu kam, dass sich ebenso viele Paschtunen von Zahirs Rückkehr in der Person seines Schwagers Homayoun Schah Asefi nicht viel versprachen und keinen autoritären Regierungsstil mehr billigen wollten.

1.2.2 Mohammed Daoud, ein chauvinistischer Despot als „republikanischer Präsident"

Zur Willkürherrschaft eines Machtbesessenen

Für die Bevölkerung der Stadt Kabul schien zunächst mit dem 17. Juli 1973 (26. Saratan 1352) ein üblicher, von Erwartungen und Sorgen des Lebens begleiteter Tag hereingebrochen zu sein. Dies erwies sich jedoch bald als ein Trugschluss. Einige früh aufgestandene Menschen eilten zur Arbeit und andere in gewohnter Manier am frühen Morgen in die Nähe des Königspalastes Arge Schahi. Sie beobachteten Panzer und Mannschaftswagen der Armee, die den Palast, einige Ministerien und Radio Kabul umzingelt hatten. Hinzu kam, dass Radio Kabul nicht wie üblich um 6 Uhr Ortszeit mit seiner Erstsendung anfing, sondern erst nach 40-minütiger Verspätung mit Marschmusik bzw. mit der Melodie des bekannten afghanischen Nationaltanzes seine Hörer überraschte. Seit Tagen kursierten Gerüchte, dass in der Abwesenheit des Königs Mohammed Zahir Schah entweder Sardar Wali, der Schwiegersohn des Königs, oder Musa Schafiq, der Premierminister des Landes, die Macht übernommen habe. Etwa um 7:30 Uhr setzte Mehdi Zafar, der renommierteste Moderator von Radio Kabul, diesen Spekulationen ein Ende, indem er Mohammed Daoud ankündigte, angeblich aus Opportunitätsgründen mit dem Titel „Sardar". Eine den Afghanen bekannte und für die männlichen Mitglieder der Zahir-Schah-Familie typische Donnerstimme verkündete entschlossen die Abschaffung der Monarchie und proklamierte im selben Atemzug die Republik. Erst dann wurde der Bevölkerung von Kabul klar, dass der von der warmen Sonne beschienene Tag mit heißer Politik eines Staatsstreichs seitens des als „Sardare Dewana" (verrückter Sardar) berüchtigten Vetters des Königs einherging. Der Staatsstreich von Daoud 1973 war nicht das Ergebnis einer Reihe unglücklicher Zufälle. Im Gegenteil, er war das konkrete Produkt einer langfristig angelegten, im Einzelnen durchdachten und abgestimmten Strategie, deren Ursprung aus den fünfziger Jahren datierte. Trotz kontroverser Diskussionen über die Begleitumstände der Machtübernahme, die militärische Durchführung und die Einzelheiten der Programmatik war dieser Staatsstreich eindeutig und ohne Zweifel auf die autoritär geprägte Denkweise eines ambitionierten Politikers zugeschnitten: Mohammed Daoud, nicht nur bekannt als Schwager und Vetter des Königs, war schon in den fünfziger Jahren als autoritärer Premierminister bekannt gewesen.

Die Grundzüge seines Regierungsprogramms stellte Daoud am 22. August 1973 in seiner historischen Rede „Khetab ba Mardom" (an das Volk) vor. Er verkündete darin ein ehrgeiziges Reformprogramm, darunter vor allem eine gründliche Umgestaltung der Wirtschaft und Gesellschaft, eine Ausweitung der demokratischen Rechte und Freiheiten, einen Kampf gegen Korruption, die Durchführung einer Landreform, die Bekämpfung des Analphabetismus und die Ausweitung des Erziehungs- und Gesundheitswesens. Daoud, der den Titel „Rahbar" (Führer) annahm, bekleidete über das Präsidentenamt hinaus die Positionen des Premierministers und des Verteidigungsministers. Sein Bruder Mohammad Naim war De-facto-Außenminister. Die versprochene Demokratie mündete in die Auflösung des demokratisch legitimierten Parlaments und das Verbot der freien Presse. Er ließ Andersdenkende brutal unterdrücken. Bekannte Gesichter aus der demokratischen Szene, religiös orientierte Politiker und einige Persönlichkeiten aus linken Bewegungen, insbesondere aus der Reihe der nicht an Moskau orientierten Bewegungen, fielen der Willkürherrschaft des autokratischen Daoud zum Opfer. Einige wurden verhaftet und blieben jahrelang im Gefängnis, andere wurden sogar ohne Prozess hingerichtet. Aus der Reihe der politischen Gruppierungen stellte sich die „Demokratische Volkspartei Afghanistans" (DVPA) in den Dienst der politischen Willkürherrschaft von Daoud. Die DVPA betrachtete die Abschaffung der Monarchie und die Ausrufung der Republik per se als Fortschritt. Später verstand sie die Grundzüge der Daoud-Rede „Khetab ba Mardom" als identisch mit ihrem eigenen Parteiprogramm. Es wurden Hunderte junger Parteikader zur Propagierung der Ziele bzw. zur Stabilisierung der Verhältnisse auf die wichtigsten Posten gesetzt. Die Kader der DVPA, insbesondere die der Partscham-Fraktion, wollten aufgrund der Nähe der Daoud-Politik zur Sowjetunion ihre Solidarität mit dem Daoud-Regime auch zur Zerschlagung anderer politischer Kräfte instrumentalisieren. Daoud ging mit der DVPA eine Zweckehe ein in der Überzeugung, dass er daraus im Sinne der Stabilisierung seines Regimes profitieren würde. Als Ergänzung ließ sich Daoud außenpolitisch auf ein Pokerspiel mit der Sowjetunion ein. Es bestand kein Zweifel daran, dass der Kreml Afghanistan zum Satellitenstaat des sowjetischen Imperiums machen wollte. Daoud erkannte jedoch die Gefahr der Umklammerung des russischen Bären zu spät. Als er anfing, die Beziehung mit Pakistan zu normalisieren und als Ersatz für die Abhängigkeit von dem mächtigen Nachbarn im Norden die Beziehungen mit den anderen Staaten in der Region auszubauen, erlitt er eine tödliche Bruchlandung.

Daoud trat anstelle der versprochenen demokratischen Freiheiten für ein repressives Einparteiensystem ein und gründete seine eigene politische Partei „Melli Ghorzang" (Nationale Bewegung). Statt einer demokratischen Legitimation durch freie Wahlen setzte er zur Fortsetzung seiner Herrschaft auf die traditionelle Machtlegitimation durch die Loja Dschirga, die große Ratsund Stammessitzung. Ende Januar/Anfang Februar 1976 wurde die im Auftrag von Daoud formulierte Verfassung von der einberufenen Loja Dschirga verabschiedet und Daoud als einziger Kandidat als Präsident bestätigt. Auf die Frage des Präsidenten der Loja Dschirga Azizullah Wasefi, ob der „verehrte Daoud" die Wahl annehme, antwortete Daoud mit Ja, jedoch mit einer Einschränkung, nämlich solange er gesundheitlich dazu in der Lage sei. Damit krönte sich Daoud nach der üblichen Manier autoritärer Führer zum Präsidenten auf Lebenszeit.

Nach einer gewissen Zeit und nach intensiven Kontakten mit den Nachbarstaaten, dem Iran, Pakistan und den arabischen Golfstaaten, beabsichtigte Daoud, sich von der Sowjetunion abzuwenden. Um der Abhängigkeit Afghanistans von der Sowjetunion zu begegnen, hatten Iran und Saudi-Arabien große finanzielle Rückendeckung für Kabul in Aussicht gestellt. Gleichzeitig sollte die politische Einflussnahme der DVPA eingeschränkt werden. Inzwischen hatte sich jedoch die DVPA durch konspirative Arbeit und Infiltration in der Armee und der Verwaltung tief verankert. Sie schlug zu, ihr Schlag war hart und tödlich. Mit der Aprilrevolution am 27. April 1978 endete die Herrschaft von Sardar Mohammed Daoud und Sardar Mohammed Naim, zwei Brüdern, die Afghanistan quasi als ihr Eigentum betrachteten und das Schicksal des Volkes nach eigener Willkür bestimmten. Die DVPA beendete die 37-jährige Herrschaft des Mohammadzai-Clans.

Daoud war ein selbstherrlicher Politiker, dessen autoritäre Denkweise, falsche Einschätzung der politischen Entwicklung im Inneren des Landes und defizitäre Außenpolitik letzten Endes das Land am Hindukusch nachhaltig ruinierten. Daoud war umgeben von Jasagern, politischen Opportunisten und unfähigen Politikern, die ihre Karriere nur ihrer Loyalität zum „Führer" (Rahbar) verdankten. Daoud duldete keine Kritik. Er ging machiavellistisch nach dem Motto „Der Zweck heiligt jedes Mittel" vor. Unmissverständlich war seine politische Praxis geprägt vom paschtunischen Chauvinismus; daraus machte er auch keinen Hehl. Er war durch und durch egozentrisch. Er überschätzte seine Urteilskraft und entschied bei strittigen Fragen letzten Endes im Alleingang.

Durch den Staatsstreich von Daoud im Jahre 1973 wurde ein Tabu gebrochen, als die durch historische Kontinuität legitimierte Monarchie des Durani-Volksstammes infrage gestellt wurde. Trotzdem sahen einige Kreise in der Person Daouds den Fortbestand der Vorherrschaft des paschtunischen Subclans gewährleistet. Im historischen Rückblick gesehen wäre ohne die von Daoud eingeleitete Entwicklung, die auf einer vielfachen Fehleinschätzung basierte, der Bevölkerung am Hindukusch die verheerende Zukunft höchstwahrscheinlich erspart geblieben.

Ein afghanisches Sprichwort lautet: Wer mit Löwen spielt, muss damit rechnen, zerfleischt zu werden.

II. Kapitel:

Pseudolegitimation der Herrschaft im Namen der „Werktätigen"

Zur staatsbürokratischen Herrschaft der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1978‒1992

2.1 Zur April-Revolution der Demokratischen Volkspartei AfghanistansAuftakt einer turbulenten Phase in der Geschichte des Landes2.2 Zum endgültigen Abzug der sowjetischen Soldaten aus AfghanistanHistorischer Rückblick2.3. Der bittere Abgang von Dr. NadschibullahZum tragischen Schicksal des letzten Generalsekretärs der Partei

II. Kapitel: Pseudolegitimation der Herrschaft im Namen der „Werktätigen"

Zur staatsbürokratischen Herrschaft der Demokratischen Volkspartei Afghanistans, 1978‒1992

In diesem Kapitel wird eine historische Phase der Herrschaft ins Auge gefasst, in der zum ersten Mal die Legitimation der Durani-Dynastie ernsthaft infrage gestellt wurde. Mit der April-Revolution des Jahres 1978, die von der DVPA durch einen Militärputsch vollzogen wurde, wurde ein historisches Tabu gebrochen: Die DVPA substituierte die historisch-erbliche Legitimation der Herrschaft der Paschtunen durch den Anspruch der Herrschaft im Namen der „Werktätigen". Die aus der oberen Mittelschicht der Städte und gut situierter Landeigentümer stammende Elite der Partei verwechselte ihren eigenen gesellschaftspolitischen Aufstiegsanspruch mit den berechtigten Interessen der Werktätigen. Hinzu kam das massive Interesse der Kreml-Führung, nach einer langen Phase schleichender Invasion Afghanistan endgültig zu einem Satellitenstaat zu degradieren. Damit war beabsichtigt, dem Ziel des sowjetischen Imperiums, seine Grenzen in Richtung des Indischen Ozeans zu verschieben, näher zu kommen. Eine Konsequenz dieses Unterfangens war jedoch, dass Afghanistan zur „blutenden Wunde" der Sowjetunion (Michael Gorbatschow) wurde. Im Folgenden wird diese Phase von 1978 bis 1992 in drei Beiträgen erörtert.

2.1 Zur April-Revolution der Demokratischen Volkspartei Afghanistans

Auftakt einer turbulenten Phase in der Geschichte des Landes

Dieser Teil wurde 1980 geschrieben und erschien in Samimy 1983, 1‒51

Am 27. April 1978 wurde der Palast des Präsidenten Daoud durch eine Panzerabteilung der Kabuler Garnison „Puli-Tscharchi" unter dem Kommando von Panzermajor Mohammad Aslam Watanjar gestürmt Es schlossen sich Teile der Luftwaffe unter dem Befehlshaber Oberst Abdul Qadir an. Nachdem etwa zehn Stunden lang Panzer durch die Straßen Kabuls gerollt waren und sowjetische MiG-21 Ziele im Präsidentenpalast in schauspielartiger Inszenierung angegriffen und bombardiert hatten, wurde der Umsturz militärtechnisch einwandfrei vollzogen. Politisch wurde er erst zum Erfolg, als eine Stunde nach dem Sturz das neue Regime von der Sowjetunion offiziell anerkannt wurde. Mit dem Staatsstreich, bei dem Daoud, einige seiner Kabinettsmitglieder und der Kern seiner Familie ums Leben kamen, wurde die DVPA an die Macht geputscht

Der recht blutig verlaufene Umsturz wurde von der DVPA als „Modell-Revolution" hochgejubelt. So wurde das Ende der fünfjährigen Regierung Daoud und das der fünfzigjährigen Mohammed-Nadir-Familie sowie der Herrschaft des Mohammadzai-Clans eingeleitet. Die Eroberung des Regierungssitzes, der von der 2000 Mann starken bewaffneten Palastgarde bewacht wurde, verlief mit solcher Präzision, dass man mit Recht „dahinter die Regie der in Kabul seit langem etablierten sowjetischen Berater vermutet hat" (Bonn, 1978, S. 360).

Mit welchen konzeptionellen Vorstellungen wurde die DVPA an die Macht geputscht und mit weichem Ziel wurde das Drehbuch zu dieser Aktion in die Tat umgesetzt? Und schließlich: Was ist die Bilanz der DVPA? Das sind die Hauptthemen, die nun im Einzelnen erörtert werden.

2.1.1 Konzeptionelle Vorstellungen der DVPA

Die politischen Ideen der DVPA lassen sich aus der im Jahre 1966 erschienenen Parteizeitung unter dem Namen Chalq (Volk), dem Nachfolgeblatt Partscham (Flagge) und aus den zu anderen Anlässen von der Partei herausgegebenen Materialien leicht herauskristallisieren. Von Bedeutung ist hierbei die am 9. Mai 1978 vom Generalsekretär der Partei, Nur Muhammad Taraki, gehaltene Antrittsrede, in der nicht nur ein gesellschaftspolitisches Konzept der Partei artikuliert, sondern darüber hinaus die künftige Strategie der an die Macht gelangten Partei umrissen wird.

Aus der Sicht der DVPA ist Afghanistan als ein Entwicklungsland einzustufen, dem es trotz der politischen Dekolonisation im Jahre 1919 nicht gelungen ist, wirtschaftliche Unabhängigkeit und sozioökonomischen Fortschritt zu erzielen. (1) Dass in Afghanistan nur feudale Verhältnisse herrschten, konnte von der Partei nicht oft genug hervorgehoben werden. Zur Überwindung der Feudalstrukturen sei als entwicklungspolitische Strategie der „nichtkapitalistische Entwicklungsweg" einzuschlagen, wobei eine Intensivierung staatlichen Engagements im sozioökonomischen Leben ein notwendiges Element dieser Strategie darstelle. Politisch wurde für Parlamentarismus und „nationale Demokratie" plädiert. Während der Liberalisierungsphase von 1963 bis 1973 war die DVPA im „aristokratisch-feudalen" Parlament vertreten, auch bekannte Parteifunktionäre wie Babrak Karmal, Hafizullah Amin und Anahita Ratebzad saßen im Parlament. Die offiziellen Thesen der Sowjetunion zum einzuschlagenden Weg der Entwicklungsländer steckten das Spektrum der politisch-ökonomischen Vorstellungen der DVPA ab: von der Beseitigung des Einflusses von Neokolonialismus und Imperialismus über den Schutz der Industrie und Inlandsproduktion vor Importkonkurrenz bis zur Beseitigung „aller Arten und Formen der Unterdrückung, der Arbeitslosigkeit, das Analphabetentums, der Korruption, des Papierkrieges und des Schiebertums". (2)

Die DVPA erhob den Anspruch, die Demokratie im Interesse des Volkes zu sichern, die Rechte und demokratischen Freiheiten zu garantieren und die ökonomischen und beruflichen Forderungen des Volkes zu erfüllen. Da sich die DVPA als „Avantgarde der Arbeiterklasse" verstand, sollten wirksame Maßnahmen im Sinne der Realisierung der Interessen der Werktätigen eingeleitet werden, die ihrerseits zur Etablierung einer Gesellschaft führten, die frei von Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sei.