Pure Desire - Nur du - Mia Williams - E-Book
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Pure Desire - Nur du E-Book

Mia Williams

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Beschreibung

Good Girls halten sich an Regeln – Bad Boys brechen sie Liz lebt mit ihren Schwestern in einem alten Holzhaus am wunderschönen Lake Tahoe. Doch auch das Leben am schönsten Ort der Welt kann hart sein. Seit dem Tod ihrer Eltern ist Liz für alles verantwortlich: ihre jüngeren Schwestern, das Haus und den verschuldeten Diner am See. Disziplin ist längst zu ihrer zweiten Natur geworden. Beziehungen? Liebe? Sex? Fehlanzeige. Das ändert sich schlagartig, als sie Cole kennenlernt. Er ist sexy, selbstbewusst und lässt sie in einem leidenschaftlichen Strudel aus Verlangen und Gefühlen alle Regeln vergessen. Was Liz nicht weiß: Diese heiße Affäre könnte sie schon bald sehr viel mehr kosten als nur ihr Herz. Der erste Band der aufregenden "Pure Desire"-Serie

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Seitenzahl: 371

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Mia Williams

Pure Desire – Nur du

Band 1

FISCHER E-Books

Inhalt

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Epilog

Kapitel 1

Mein Leben läuft nicht nach Plan. Das ist nichts Neues für mich. Viele Tage sind so, seitdem meine kleine Schwester Amber es sich im Epizentrum ihrer Pubertät gemütlich gemacht hat und ich durch den Tod meiner Eltern zum Familienoberhaupt eines liebenswerten, aber chaotischen Haufens aus fünf Schwestern geworden bin. Es ist verdammt schwer, unser Nesthäkchen davon abzuhalten, sich durch irgendwelche waghalsigen Aktionen umzubringen.

Eher unwillig verlasse ich den Platz unter der Patchworkdecke in meinem Bett, wo ein warmes Rechteck aus Sonnenlicht zum Verweilen einlädt, und schlurfe über den Dielenboden zum Bad. Ich spüre die Astlöcher unter meinen Füßen und die Erinnerungen, die jede Holzfaser dieses Hauses in sich trägt. Die an gestern Abend würde ich hingegen sehr gern mit einer heißen Dusche wegspülen.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy und seufze resigniert. Sieht so aus, als könnte ich direkt alles wegspülen, was mich und Peter jemals verbunden hat. Wir haben uns einige Male getroffen, und obwohl er gutmütig ist und einiges aushält, hat er nach gestern Abend wohl genug. Ich kann ihm nicht einmal böse sein. Amber hat ihm allen Ernstes nach einem heftigen Zusammenstoß die Radmuttern seines Wagens abgeschraubt, weil sie ihn nicht in unserem Haus haben wollte.

Unter der Dusche lasse ich das heiße Wasser meine verspannten Muskeln lockern und versuche, nicht traurig zu sein, dass mit Peter der vermutlich letzte annehmbare Anwärter auf eine Beziehung von meiner kleinen Schwester in die Flucht geschlagen wurde. Es klappt beängstigend leicht.

Peter und mich hat nie mehr verbunden als Freundschaft, die sich in der kurzen Zeit entwickelt hat, seitdem er hier lebt und arbeitet. Schmetterlinge im Bauch oder ein heißes Flirren, das meine Magengegend durchzieht, hatte ich bei ihm nie, obwohl ich als bekennende Leseratte genau diese alles verzehrende Liebe suche, der so viele Bücher gewidmet sind. Im Grunde sollte ich meiner kleinen, chaotischen, schrecklichen Schwester dankbar sein, dass sie Peter vertrieben hat. Ich wäre eh nicht glücklich mit ihm geworden.

Nachdem die Dusche beschlossen hat, dass sie nur noch kaltes Wasser ausspucken wird, trockne ich mich ab und schlüpfe in eine khakifarbene Shorts und ein gestreiftes Tanktop, das meiner Figur schmeichelt. Meine langen braunen Haare trocken zu bekommen würde ein halbes Jahrhundert lang dauern, und generell verträgt sich meine Naturkrause nicht mit dem Fön. Deswegen schlinge ich sie einfach zu einem feuchten Knoten an meinem Hinterkopf zusammen und laufe dann die breite Naturholztreppe hinunter, die aus den gleichen Bohlen gefertigt ist wie die Trägerbalken und die Wände des riesigen Blockhauses von Pinewood Meadows.

Ich mag es, dass ich jedes einzelne Knarren der Stufen im Voraus kenne. Das war sehr nützlich, als Mom und Dad noch lebten und nicht mitbekommen sollten, wenn ich die Sperrstunde mal wieder ausgedehnt hatte. Meistens, weil meine Schwester Fiona, nach mir die zweitälteste, nicht genug von der Party bekam, auf die ich sie begleitet hatte, und ich es nicht geschafft habe, sie aus dem Arm irgendeines Typen zu zerren.

Am Fuß der Treppe öffnet sich das lichtdurchflutete Erdgeschoss mit einem kleinen Gästebad, dem Büro, der großen Eingangshalle, Küche und Wohnbereich. Die Räume gehen alle ineinander über, und man kann vom Büro am einen Ende des Hauses bis zur Terrasse und dem dahinter angrenzenden See auf der anderen Seite sehen.

Ich gieße mir den letzten Rest Kaffee, den meine Schwestern übriggelassen haben, in einen Warmhaltebecher und sehe die Post durch, die vermutlich Hazel auf die freistehende Kücheninsel geworfen hat. Schon wieder ein Brief von der Immobilienfirma Harris & Sons aus New York. Ich stopfe ihn eilig zu den anderen, die in meinem Büro zwischen meine Bücher gequetscht sind. Dann schnappe ich mir Dads alte Sonnenbrille vom Küchentresen.

Vor dem Haus begrüßt mich das sanfte Wellenschlagen des Sees. Ich verharre sekundenlang. Dabei bin ich bereits spät dran und müsste dringend losradeln, um rechtzeitig zum Schichtbeginn im Lakeshore Diner, unserem familieneigenen, leicht kränkelnden Restaurant, zu sein. Aber es ist schon fast ein Ritual, dass ich immer einmal innehalte, wenn ich vor unsere Haustür trete. Der Tod unserer Eltern hat uns allen schmerzhaft vor Augen geführt, dass man das, was man liebt, von einem Tag auf den anderen verlieren kann und das Leben besser genießen sollte, solange man dazu in der Lage ist.

Obwohl ich schon mein ganzes Leben hier verbracht habe, haut mich das türkisfarbene Wasser des Lake Tahoe, das gegen einen perfekt weißen, feinpudrigen Sandstrand stößt, jedes Mal wieder um. Ich atme den Geruch der Pinien tief ein, die so dicht an unserem Haus stehen, dass Pinewood Meadows wirkt, als wäre es natürlich gewachsen und nicht nachträglich erbaut worden. Etwas weiter nördlich ragt der Gebirgszug der Sierra Nevada mit seinen selbst im Sommer schneebedeckten Gipfeln auf wie ein stummer Beschützer dieses Paradieses und schickt eine kühle Brise über die Ausläufer bis zum See hinunter.

Seufzend reiße ich mich schließlich los und zerre mein Rad aus der Garage. Grace und Hazel brauchen unseren alten Buick später, um Besorgungen zu machen, und einen weiteren Wagen können wir uns nicht leisten. Mit der niedrigsten Übersetzung kämpfe ich mich die steile Schotterzufahrt hinauf, die von der Halfmoon Bay und unserem Zuhause zur Hauptstraße führt.

Als ich die Straße erreiche, geht es noch rund eine Meile sanft bergauf, bevor ich am Upper Eagle Point ankomme. Der höchste Punkt, an dem der Berg zu beiden Seiten steil abfällt und einen atemberaubenden Ausblick über die Bay, den Lake Tahoe und den westlich liegenden Cascade Lake bietet.

Auf dem Weg bergab treibt mir der Fahrtwind die Tränen in die Augen, aber in meinem Magen braut sich ein Juchzen zusammen und schlüpft mir über die Lippen, als ich mich in eine scharfe Kurve lege und das kleine Städtchen Cooper Springs vor mir erscheint. Häuser und Natur bilden hier eine Einheit. Ich mag die hellblau, rot und gelb gestrichenen kleinen Holzhäuser entlang der Hauptstraße genauso wie die naturbelassenen Blockhütten am Ortsrand. Kiefern, Pinien und jede Menge Grünflächen erstrecken sich zwischen den Gebäuden und lockern das Stadtbild auf. Cooper Springs mag auf Außenstehende verschlafen wirken. Ich aber liebe den Kleinstadtcharme, den die rissige Mainstreet mit ihren kleinen Läden, dem Eiscafé und dem Lakeshore Diner am Ende der Straße versprüht. Unser Diner. Er ist mein ganzer Stolz und gleichzeitig auch eine große Verantwortung. Nach dem Tod unserer Eltern hätte ich nie gedacht, dass wir der Herausforderung gewachsen sein könnten, ihn ganz allein zu führen. Aber zusammen mit meinen Schwestern habe ich alles gegeben, um den Laden am Laufen zu halten, und ich freue mich, dass er langsam, aber stetig, ein klein wenig mehr abwirft.

Ich parke mein Rad neben dem Eingang und gehe hinein. Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee, Pancakes mit Ahornsirup und das Stimmengewirr des Gastraums empfangen mich. An der rechten Wand befinden sich die alten Sitznischen, die noch immer mit den roten Polstern aus den Anfängen des Diners bezogen sind. Den Rest des Gastraums haben wir letztes Jahr neu gestaltet – hell und freundlich. Die Möbel haben wir in einer Nacht voll Musik und Lachen weiß lackiert, die Wände in einem hellen, warmen Grau gestrichen, auf dem jetzt Bilderrahmen im Shabby Look hängen. Fotografien des Lake Tahoe, die Grace geschossen hat, und Zeichnungen von Hazel sind darin eingerahmt. Mit ihrer sprühenden Kreativität gleichen die Zwillinge meinen vollkommenen Mangel an künstlerischem Talent aus. Zahlen sind da schon eher meins. Wir ergänzen uns perfekt, wenn es um den Diner geht.

Das Herzstück unseres Restaurants ist wie früher schon der breite Massivholztresen, dem wir ebenfalls ein Makeover verpasst haben und der nun nicht mehr den Raum mit seinem dunklen Holz dominiert, sondern sich perfekt in das Ambiente einfügt. Darüber haben wir auf der gesamten Länge des Tresens eine Tafel angebracht, auf der Hazel unsere Speisen, Getränke und die dazugehörigen Preise mit verspielten Kreidestrichen festgehalten hat. Je nach Jahreszeit umrahmen diese Karte Blumenranken, Schneelandschaften, bunte Herbstbäume oder frische Frühlingsbilder. Das dafür benötigte Arsenal an verschiedenen Kreidefarben bewahrt Hazel in einem riesigen Pappkarton im Schuppen hinter dem Diner auf.

Auf die Toilettentür hat sie ein Blütenmeer aus schwerer Lackfarbe gemalt. Antike Cowboyutensilien vereinen sich mit modernen Shabby-Chic-Elementen zu einem gemütlichen Ambiente. Und dann ist da natürlich noch Bob, ein ausgestopfter Elchkopf, der mittig über einer der Nischen thront und den Fiona zu einem Ganzjahresmistelzweig auserkoren hat.

Der Gastraum ist gut gefüllt. Wie fast jeden Tag sitzt Sam Hunter mit grimmiger Miene an einem Einzeltisch am Fenster und reagiert nicht darauf, dass ich ihm zunicke. Molly, die Besitzerin des Bed & Breakfast, das am Rande von Cooper Springs liegt, und ihre Freundinnen Ella und Betty haben sich wie jeden Montagmorgen zum Frühstücken getroffen und tauschen eifrig den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Ich begrüße sie mit einer Umarmung, unterhalte mich kurz mit ihnen über die derzeit angesagten Junggesellen Ü60 und bringe dann meine Jacke und Tasche hinter den Tresen. Zu guter Letzt schlinge ich eine schmale Schürze um meine Hüften, in der ich später Block, Stift und Portemonnaie aufbewahren kann. Das Logo des Diners prangt auf der linken unteren Ecke der schwarzen Schürze, unserer einzigen Arbeitskleidung. Ansonsten darf jeder, der hier arbeitet, tragen, was er mag. So ist die Atmosphäre im Diner nicht steif, sondern bunt wie unser Leben.

Ich bezweifle allerdings, dass es sich für meine beste Freundin Greta, die genau wie meine Schwestern und ich hier arbeitet, gerade bunt oder angenehm anfühlt, denn sie ärgert sich mit einem besonders unangenehm auftretenden Gast herum, der den urigen Diner ganz offensichtlich mit einem Fünf-Sterne-Restaurant verwechselt hat. Sein Ei ist nicht so wachsweich, wie er es sich vorstellt, der Orangensaft ist zwei Grad zu kalt und der Gipfel seiner lautstarken Empörung ist dem Umstand geschuldet, dass wir kein Evian führen, sondern Greta ihm einfaches Leitungswasser gebracht hat. Er tut gerade so, als würden wir ihn umbringen wollen.

Greta kehrt mit einem verzweifelten Augenrollen hinter den Tresen zurück und nimmt die Portion Hash Browns mit Würstchen, Toast und Butter für den Tisch des Touristen von Hank, unserem Koch, entgegen.

»Wahrscheinlich kreuzigt er mich gleich, weil irgendetwas zu fettig, zu durch oder zu gewöhnlich ist.«

Greta zum Verzweifeln zu bringen, ist schwer, eigentlich sogar fast unmöglich. Der Typ muss ihr schon eine ganze Weile zusetzen. Ich beobachte, wie sie freundlich den Teller auf dem Tisch abstellt und dann eilig den Rückzug antritt. Ich glaube nicht, dass ich an ihrer Stelle so ausgeglichen geblieben wäre, aber deswegen führt Greta auch die Tabelle der Trinkgeldrekorde an und nicht ich.

Mit einem wütenden Blick in ihre Richtung knabbert der Typ an der Ecke seines Hash Browns herum und verzieht dann das Gesicht.

»Kein Wunder, dass der Diner eine Katastrophe ist, wenn hier nur Idioten arbeiten«, brummt er so laut, dass jeder im Diner es hören kann. »Ich sagte, ich möchte meine Hash Browns gebräunt, nicht verkohlt oder vor Fett triefend.« Er winkt Greta zu sich heran, dabei ist das Kartoffelgericht auf seinem Teller weder zu dunkel, noch zu fettig. Das sind superleckere, stinknormale Hash Browns.

»Ich habe immer noch kein vernünftiges Wasser auf dem Tisch«, sagt er kalt, und ich überlege, ob ich eingreifen soll oder ob Greta allein klarkommt. Sie regelt solche Dinge normalerweise lieber allein, aber dieser Gast ist ein besonders unangenehmes Exemplar. Hank nimmt mir die Entscheidung vorerst ab, indem er mir das Essen für Mollys Tisch durch die Durchreiche schiebt.

Greta atmet tief durch. »Es tut mir leid, wir führen kein stilles Wasser in Flaschen, aber das Leitungswasser hier am See hat durch das Gebirgswasser eine ausgesprochen gute Qualität, das versichere ich Ihnen.«

»Es ist mir ehrlich gesagt scheißegal, was Sie mir versichern. Sie scheinen nicht gerade kompetent zu sein. Ihr Laden ist eine reine Katastrophe, was mit Sicherheit auch an der Hippieart liegt, mit der Sie hier agieren, anstatt auf die Wünsche Ihrer Kunden einzugehen.« Er zeigt auf Gretas Kleidung und ihren Babybauch, der sich deutlich darunter wölbt. So langsam werde ich ernsthaft sauer.

»Es tut mir sehr leid, aber wir haben nun einmal kein Evian. Vielleicht kann ich Ihnen anstelle eines Wassers ein anderes Getränk anbieten?«

»Vielleicht kann ich Ihnen ein anderes Getränk anbieten«, äfft der Gast Greta nach. »Wenn ich Ihren plörrigen Kaffee wollte, hätte ich das gesagt.«

»Hey, Kumpel, das geht auch freundlicher. Kein Grund, so ausfallend zu werden. Sie hat gesagt, sie hat kein Evian, also wirst du dich damit abfinden müssen, heute mal normales Wasser zu trinken«, mischt sich ein anderer Gast ein, der in einer der Sitznischen in der Nähe sitzt. Direkt unter Bob dem Elch. Er ist groß, gutaussehend. Eine Spur zu gutaussehend, und er lächelt so entspannt, als würde er sich gerade nicht in ein Streitgespräch einmischen, sondern nett mit dem Störenfried über das Wetter plaudern. In seiner tiefen Stimme schwingt eine natürliche Autorität mit, und er hat eine einnehmende Lässigkeit, mit der er sein blondes, halblanges Haar durchfurcht, während er sich bereits wieder in ein Buch vertieft, das neben ihm auf dem Tisch liegt. Die Beschimpfungen des anderen lässt er komplett an sich abprallen.

Ich starre den Typen eine Spur zu lange an, bevor mich die immer lauter werdende Stimme des Meckerers in die Wirklichkeit zurückholt.

»Ich bin nicht Ihr Kumpel, und ich muss mich mit nichts abfinden. Ich will den Manager dieses Restaurants sprechen. Jetzt!«, fordert er Greta auf.

Den Manager kann er haben und zwar sofort. Ich stoße mich vom Tresen ab.

»Irgendwo in diesem Scheißladen muss es doch jemanden geben, der weiß, wie man richtig mit Kunden umgeht«, echauffiert der Idiot sich weiter.

Ich stoppe direkt vor dem Tisch des Gastes und strecke ihm meine Hand entgegen. »Elizabeth Carson, ich bin die Managerin. Sie wollten mich sprechen.«

»Das erklärt ja wohl alles«, bringt der Typ mit einem höhnischen Lachen hervor. »Eine Frau als Managerin. Kein Wunder, dass hier nichts funktioniert.« Er knallt seine Serviette auf den Teller. »Das, was Sie als Essen bezeichnen, ist bestenfalls Fraß, und Ihre Kellnerin eine Zumutung.«

»Mit dem Essen und dem Service ist alles in Ordnung«, sage ich mit Nachdruck und einem Blick auf unsere Stammgäste, die zustimmend murmeln. »Aber Geschmäcker sind verschieden«, füge ich betont ruhig hinzu, obwohl ich den Mann am liebsten mit einem Fußtritt vor die Tür befördern würde. »Ich respektiere, dass es Ihnen nicht schmeckt, und bringe Ihnen gern gleich die Rechnung, wenn Sie lieber woanders essen möchten.«

»Als würde ich für so etwas zahlen.« Der Kerl schiebt angewidert den Teller von sich weg. »Und von Service am Kunden haben Sie wohl noch nie etwas gehört. Wenn man Frauen, und so jungen noch dazu, ein Geschäft überlässt, muss das ja so enden.«

Ich hole ruhig das Ledermäppchen mit der Rechnung und lege es neben seinen Teller. »Am Ende ist hier nur eins, und zwar ihr Besuch in unserem Restaurant. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, auf ein Trinkgeld zu verzichten. Aber ich möchte Sie bitten, die unangemessene Beschimpfung unserer Angestellten zu unterlassen«, sage ich bestimmt. Den Blick halte ich starr auf den Typen gerichtet, der offensichtlich Probleme damit hat, von einer Frau in seine Schranken gewiesen zu werden.

Sekundenlang sieht er mich fassungslos an, bevor er seine Sachen zusammenrafft, ein paar Dollarnoten auf den Tisch knallt und wutentbrannt aus dem Restaurant läuft.

»Ich werde Sie schlecht bewerten. Ich sorge dafür, dass niemand mehr in dieses beschissene Restaurant kommt, das verspreche ich Ihnen«, wütet er weiter und versucht die Tür zuzuknallen, aber der Puffer verhindert das. Laut fluchend überquert er die Straße.

Greta legt ihren Kopf an meine Schulter und seufzt vernehmlich. »Der hatte lange, also sehr lange keinen guten Sex mehr«, murmelt sie leise lachend, und ich stimme mit ein. Ich liebe Greta genau für diese präzisen, trockenen Zusammenfassungen, die den Kern so gut wie immer treffen und mit denen es ihr gelingt, solche unschönen Situationen abzuhaken und ihre gute Laune wieder hervorzuholen.

Gemeinsam kehren wir hinter den Tresen zurück, während Molly und ihre Freundinnen uns Beifall klatschen, in den fast alle Gäste einstimmen.

Mein Blick irrt zurück zu dem gutaussehenden Typen unter Bob, der jedoch keine Miene verzieht und für den Ausgang des Streits offenbar null Aufmerksamkeit übrig hat.

»Hi, Schwesterherz«, begrüßt mich Hazel, die bis eben in der Küche gewesen sein muss. Vielleicht ist sie auch nur dem Streit aus dem Weg gegangen. Hazel kann schlecht mit Konfrontationen oder so offen gezeigter Abneigung umgehen, wie der, die der Gast bis eben in unserem Diner versprüht hat.

Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange. »Was macht Peter?«, erkundigt sie sich nach dem Ausgang des gestrigen Dramas und mustert mich verständnisvoll. Hazel nimmt natürlich an, dass meine Welt in Scherben liegt, weil Amber mit dem Vorschlaghammer in meine angehende Beziehung mit Peter geschlagen hat, aber ich zucke nur mit den Schultern.

»Er montiert wahrscheinlich Radmuttern.« Ich lächle sie an, obwohl mir klar ist, dass ich nach Ambers Aktion vermutlich allein alt und runzlig werde. Außer Peter gibt es in Cooper Springs niemanden, der sich auf mich und das Chaos in meinem Leben einlassen würde, und auch niemanden, der meinem Männerideal auch nur annähernd nahekommt. Auf Tagesbesucher und durchreisende Touristen, wie das Exemplar in der Nische unter Bob dem Elch, lasse ich mich nie ein. Das ist eine meiner wichtigsten Regeln. Verstöße dagegen bedeuten gebrochene Herzen oder, wie im Falle von Greta, eine ungeplante Schwangerschaft, während der One-Night-Stand schon wieder bei seiner Familie in Santa Barbara weilt.

»Es ist in Ordnung, Haze. Peter war nicht der Richtige.«

Hazel nickt und tätschelt mir die Schulter.

»So, jetzt aber mal zu den wirklich wichtigen Dingen«, raunt uns Greta, die gerade mit einem leeren Tablett zurückkehrt, mit einem Zwinkern zu. »Habt ihr den Typ dahinten schon mal genauer angesehen? Als hätten sie ihn direkt aus der Men’s Health hierher gebeamt. Und er sitzt unter Bob!«

Unwillkürlich sehe ich erneut zu der Sitznische hinüber, während ein leises, unbestimmtes Prickeln durch meinen Körper flimmert.

Bob ist unser Ganzjahresmistelzweig. Wer immer sich darunter verirrt, muss damit rechnen, geküsst zu werden. In einer völlig verrückten Aktion hat Fiona diese Tradition eingeführt.

Fi ist unkonventionell, wild, anders – und außerdem ist sie weg. Wie immer versetzt mir ihre Abwesenheit einen Stich, der dumpf ausstrahlt und die Sehnsucht nach meiner Schwester begleitet, wann immer ich es zulasse, darüber nachzudenken. Derzeit ist sie in einem kleinen Ort in Südfrankreich und kocht in einem Restaurant direkt an der Küste.

Ich schließe die Augen und versuche, nicht an Fi zu denken, nicht an den Grund, warum sie gegangen ist und nicht vor hat wiederzukommen, obwohl sie den Lake Tahoe und unser Zuhause genauso sehr liebt wie ich.

Greta und Hazel diskutieren bereits angeregt darüber, wer von ihnen den Typen küssen darf. Mit einem Blick auf mich winkt Greta ab. »Du traust dich eh nicht. Bleiben nur noch wir zwei«, wendet sie sich wieder an Hazel, und die Diskussion entflammt erneut.

Greta liegt mit ihrer Einschätzung gar nicht so falsch. Normalerweise beteilige ich mich nicht an den Bob-Eskapaden. Eine von uns muss schließlich einen klaren Kopf bewahren. Aber je länger ich den Typen anstarre, desto deutlicher merke ich, dass heute kein normaler Tag ist.

Ich straffe meine Schultern. Heute habe ich die Ablenkung wohl am meisten verdient. Nicht nur, dass Peter und ich Geschichte sind, meine kleine Schwester zu einer pubertären Katastrophe mutiert und ich Ärger mit dieser blöden Immobilienfirma habe. Als erste Amtshandlung am Morgen einen Gast aus dem Diner schmeißen zu müssen, hat meinen bisherigen Tag nicht gerade verbessert. Ich werde Greta beweisen, dass ich sehr wohl über meinen Schatten springen kann. Am meisten will ich wohl mir selbst beweisen, dass ich mehr bin als nur die Summe meiner Probleme und die langweiligste und pflichtbewussteste Carson-Schwester.

Ich durchquere den gut gefüllten Gastraum und steure auf den Typen unter Bob dem Elch zu. Hinter mir höre ich Greta halb amüsiert, halb entrüstet mit Hazel darüber diskutieren, ob es rechtens ist, dass ich den heißen Typen für mich beanspruche, wo meine Schicht doch offiziell erst in dreißig Minuten beginnt.

Ich blende meine Schwester und Greta aus. Der Fremde löst seinen Blick von seinem Buch und sieht mich direkt an. Ich mag es, dass er nicht ausweicht. Seine tiefdunklen Augen, mit denen er mich von oben bis unten mustert, erwecken den Anschein, als würde er mich kennen, als wüsste er genug über mich, um seine Mundwinkel zu einem unwiderstehlichen Grinsen anzuheben, das meinen Magen auf eine Achterbahnfahrt schickt. Obwohl ich nichts sage und ihm das komisch vorkommen muss, sieht er mich unverwandt an, und ich bin mir sicher, dass der Typ noch mehr Ärger bedeuten könnte als Gretas Bob-Knutsch-Hottie, dem sie ihre stetig wachsende Babykugel zu verdanken hat.

Was ist bloß in mich gefahren? Ich sollte einfach gehen und die Sache mit dem Kuss sein lassen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Kuss von diesem Typen all die lästigen Gedanken an abgeschraubte Radmuttern und Immobilienfirmen eliminieren würde, die stetig durch meinen Kopf kreisen, und gerade ist mir sehr nach vergessen. »Danke für vorhin«, bringe ich schließlich hervor.

Er winkt ab. »Wenn ich mich nicht irre, hast du den Kerl ganz allein vor die Tür gesetzt.« Er lacht und mustert mich mit einem amüsierten Blick, bevor er sich wieder seinem Buch zuwendet.

Ich gebe mir einen Ruck und deute auf Bob den Elch. »Das ist unser Maskottchen.«

Meine Worte bringen ihn sekundenlang aus seinem ansonsten unerschütterlich scheinenden Gleichgewicht.

»Wie bitte?«, fragt er irritiert, und ich mag den tiefen, dunklen Klang seiner Stimme. Ich stoppe meine Gedanken, bevor ich mir allzu bildlich vorstellen kann, wie es wäre, wenn er mit dieser Stimme ganz andere Sachen sagen würde.

Ich zeige auf den Elchkopf, der mal wieder abgestaubt werden müsste. »Bob, unser Maskottchen. Es heißt, es würde Glück bringen, wenn man denjenigen, der darunter sitzt, küsst.«

Sofort spüre ich, wie die Röte in meinen Wangen pulsiert, und ich frage mich, wann ich zuletzt wegen eines Typen rot angelaufen bin. Das ist doch idiotisch. Er ist nur ein Tourist.

»Ach, wirklich?«, fragt er und verzieht das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Wahrscheinlich glaubt er mir nicht.

Ich nicke. Bevor die Situation noch peinlicher werden kann, gebe ich mir einen Ruck und beuge mich zu ihm hinunter. Normalerweise geben selbst Greta und Grace niemandem mehr als eine flüchtige Andeutung eines Kusses, aber gerade, als ich mich lösen will, zieht mich Mister Perfect an sich und vertieft den Kuss. Seine Lippen sind sanft und seine Bartstoppeln kitzeln meine Haut. Er saugt ein winziges Stück meiner Lippe ein, bevor er mich wieder loslässt.

Ich atme zischend ein und weiche zurück. Weil er mich aus dem Konzept bringt. Weil ich ihn wieder küssen will. Weil das vermutlich das Letzte ist, was ich tun sollte. Und weil Greta und Hazel lachen und pfeifen, als hätte ich gerade einen Lapdance hingelegt.

»Entschuldige«, stammle ich und drehe mich dann auf dem Absatz um. Ich renne an meiner Schwester und Greta vorbei, lasse Hank links liegen und flüchte durch die Hintertür nach draußen. Bevor die Tür sich hinter mir schließt, höre ich Hank leise fluchen, dass so was eben dabei rauskommt, wenn man sich einen Witz daraus macht, wildfremde Menschen zu küssen. »Alle durch den Wind, die Mädels«, höre ich ihn noch brummen, aber mit dem Zuschlagen der Tür erstirbt seine Stimme.

Draußen erwartet mich das typische Bild eines Hinterhofs. Er ist vollgestellt mit gestapelten Kisten und zerdrückter Pappe, aber im hinteren Teil beherbergt er auch Gretas Version von Urlaub. Ein gestreifter Strandkorb, eine winzige Wanne voller Wasser, um die Füße zu kühlen, und eine Plastikpalme.

Ich atme tief durch und strecke das Gesicht Richtung Sonne. Die Wärme kitzelt die Sommersprossen auf meiner Nase, und eine leichte Böe verwirbelt meine Haare, während ich mich frage, was zum Henker mit mir los ist.

Als ich mich etwas beruhigt habe, kehre ich in den Diner zurück. Ich will nicht hinsehen, aber ich muss. Es ist, als würde mich der Typ magnetisch anziehen. Aber als ich es wage, endlich hinzusehen, ist die Nische leer. Er ist gegangen.

---

Der nächste Tag verläuft ruhig. Keine Kotzbrocken, keine zu gut aussehenden Typen, die alles durcheinanderbringen. Wir haben die ganze Zeit gut zu tun, ohne dass es stressig wäre. Zwischendurch schaffe ich es sogar, mich auf eine Kaffeelänge zu Gavin zu setzen, einem ehemaligen Schulkameraden, der vor einiger Zeit an den Lake Tahoe zurückgekehrt ist, um die Dachdeckerei seines Vaters zu übernehmen.

Gegen Mittag wird es voller, und Grace und ich haben alle Hände voll zu tun, um die Gäste zeitnah zu bedienen.

Ich bin gerade dabei, mit der Kasse um einen Storno zu kämpfen, als ein neuer Gast den Diner betritt. Die kleinen Glöckchen über der Tür bimmeln, übertönen aber kaum das Stimmengewirr im Gastraum. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich der Neuankömmling durch den Raum bewegt, und die Art, wie er sich kurz darauf in die Nische unter Bob schiebt, schickt ein Prickeln durch meinen Körper.

Langsam drehe ich mich um, und es ist tatsächlich der gutaussehende Typ von gestern. Er sieht gelassen zu mir herüber, und ein unergründliches Lächeln umspielt dabei seine Lippen. Ich ordne eilig meine Haare, überlege, wann ich zuletzt in den Spiegel gesehen habe, wie zerzaust ich wohl aussehe, und unterdrücke gerade noch den höchstpeinlichen Impuls, mich hinter den Tresen zu ducken.

»Kann ich an die Kasse?«, fragt Grace, zupft den Bon ab und reicht ihn mir herüber. Zum Glück war sie gestern nicht hier, als ich den Typen geküsst habe. Sie hätte meine Flucht sofort richtig einsortiert und mich vermutlich bis ans Ende meiner Tage damit aufgezogen, dass ich mich nachhaltig von einem Typen durcheinanderbringen lasse, den ich lediglich traditionshalber geküsst habe. Dabei habe ich auf keinen Fall vor, mich von irgendwem durcheinanderbringen zu lassen oder diesem Kuss mehr Bedeutung zuzugestehen, als er verdient.

»Ja, bin fertig«, bringe ich hervor und räume den Platz vor der Kasse. Den Storno stopfe ich in das Portemonnaie, ohne ihn zu überprüfen.

»Tisch acht ist neu gekommen«, sagt Grace und wackelt mit den Augenbrauen. »Ungewöhnlich heiß, selbst für einen Touri. Möchtest du, oder soll ich? Er sitzt unter Bob«, fügt sie hinzu.

Grace ist derzeit nicht für Bob-Küsse zu haben, weil sie mit einem Sportler aus dem Incline Village geht. Er trainiert für eine Kanu-Meisterschaft und ist ziemlich selbstverliebt, wenn man Grace’ Ausführungen glauben darf. Kennengelernt haben wir ihn, trotz der Tatsache, dass die Beziehung schon seit drei Monaten läuft, noch immer nicht. Ich bin nicht sicher, ob das von Grace oder dem Paddler, wie Greta ihn nennt, ausgeht.

»Der war gestern schon hier«, erwidere ich und vermeide es, den Typen anzusehen.

»Und?« Grace sieht mich herausfordernd an.

»Keine Ahnung«, sage ich. Und das ist nicht gelogen, auch wenn ich weiß, dass Grace wissen will, ob jemand ihn geküsst hat. Ich habe wirklich keine Ahnung, was in mich gefahren ist, dass ich mich zu so einem Schwachsinn habe hinreißen lassen oder warum ich noch immer an diesen Moment denken muss.

»Also gut, ich gehe«, sagt Grace und schüttelt belustigt den Kopf. Vermutlich, weil sie es von mir nicht kennt, dass ich so neben der Spur bin. Sie geht in Richtung Tisch acht, und ich versuche desinteressiert zu sein, aber es gelingt mir nicht.

Während ich frischen Kaffee aufsetze, ertappe ich mich dabei, wie ich zu den beiden hinüberschiele. Genau in dem Moment, in dem Mister Perfect über irgendetwas lacht, das Grace sagt. Sie stimmt in sein dunkles Lachen ein, während er zu mir herübersieht, anstatt sich Grace zuzuwenden. Sein Blick ist durchdringend, dunkel und heiß.

Bevor mich dieser Blick vollständig aus dem Konzept bringen kann, wende ich mich hastig ab und zwinge mich dazu, zu arbeiten. Ich bediene die übrigen Kunden, bespreche mit Hank die fürs Wochenende benötigten Waren und gebe die Bestellung an den Großmarkt durch. Ich bin normalerweise sehr gut darin, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ansonsten würden meine Schwestern und ich wohl regelmäßig im Chaos versinken, aber der Typ schafft es tatsächlich, diese Fähigkeit allein mit seiner Anwesenheit auszuhebeln.

Sobald ich mich nicht darauf konzentriere, ihn zu ignorieren, wandert mein Blick wie von selbst zu seiner hoch aufragenden Gestalt, den schlichten, aber sicherlich teuren Klamotten, den feinen Bartstoppeln, die sein Grinsen so einnehmend und lässig machen. Er versucht gar nicht zu verbergen, dass er mich beobachtet, dass er meinetwegen hier ist und sein Buch heute lediglich als Tarnung fungiert.

Ich bin verdammt froh, als es am frühen Nachmittag ruhiger wird und ich endlich meine Pause machen kann. Normalerweise setze ich mich gern für einen Plausch mit Gästen oder meinen Schwestern in den Gastraum und esse eine Kleinigkeit, aber heute schlüpfe ich entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten in den Hinterhof.

Ich bleibe auf der Veranda stehen und atme tief durch. Die Luft riecht nach frisch gemähtem Gras, den Pinien, die Cooper Springs umgeben, und nach dem nahen See.

»Hi!«

Um ein Haar wäre ich von der untersten Stufe der Verandatreppe gefallen, durch deren Beton sich Unkraut zwängt. Mein Abenteuer von gestern steht vor mir und sieht mich eindringlich an. Er ist von der Straße aus zwischen den Gebäuden hindurchgekommen und sieht nicht so aus, als würde er sich Gedanken darüber machen, ob er das Recht hat, hier zu sein. Dabei ist der Hinterhof Privatgrund.

Er ist größer als ich und hat beeindruckend breite Schultern. Am liebsten würde ich ihn berühren, was natürlich vollkommen abwegig ist. Er muss sowieso schon denken, dass ich nicht alle beieinander habe. Ich schließe die Augen und öffne sie sofort wieder, als mir klar wird, dass er mich vermutlich mit jeder Minute merkwürdiger findet.

»Cole Parker«, stellt er sich vor, und ich finde sogar seinen verfluchten Namen sexy.

»Liz Carson«, bringe ich etwas umständlich heraus und sehe, wie er nickt.

»Ich weiß«, sagt er.

Unsicher sehe ich mich um, denn Cole sagt kein Wort mehr und ich kann Stille generell schlecht aushalten. Und noch weniger, wenn ein Typ wie er sie allein mit mir in einem Hinterhof verbreitet.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, frage ich, einfach nur, um überhaupt etwas zu sagen und das aberwitzig pulsierende Vakuum zwischen uns zu füllen.

»Ich denke schon. Mir hat gestern ein Elch den Kopf verdreht, und das ist mir ehrlich gesagt noch nie passiert.« Er legt den Kopf schief, als würde er in seinem Gedächtnis graben, um sicher zu sein, und schüttelt ihn dann, ohne eine Miene zu verziehen. »Wirklich noch nie. Ich brauche also vermutlich dringend Hilfe.«

Er ist schlagfertig und witzig. Das gefällt mir. Vielleicht sogar noch eine Spur mehr als sein Lächeln und seine dunklen Augen, die mich auf eine aufreizende Art fixieren.

»Der Elch also, ja?«, frage ich und meine Stimme wackelt ein wenig. »Da müssen wir wirklich dringend etwas tun. Das kann sehr ernst werden.« Ich kann nicht glauben, dass ich mich wirklich auf dieses Spiel einlasse.

Er nickt, nimmt eine meiner Locken zwischen seine Finger und lässt sie dann wieder fallen. Ich sollte verschwinden und anfangen zu arbeiten, anstatt mich von einem wildfremden Typen so berühren zu lassen. Das Problem ist, ich mag es. Ich mag seine Stimme, sein Lachen und seinen Humor. Und ich bin derzeit in der Stimmung, genau wie meine kleine Schwester, alle Regeln über Bord zu werfen und ausnahmsweise einmal zu machen, was ich will.

Ich hebe den Kopf und sehe Cole direkt an. Die meisten Menschen halten so einen intensiven Blickkontakt nicht aus. Sie gucken weg oder tun etwas, um ihre Unsicherheit zu überspielen. Cole aber bleibt ganz ruhig stehen und erwidert meinen Blick, bevor er mit einem großen Schritt die Distanz zwischen uns überwindet und mich so küsst, wie er es schon einmal getan hat. Allerdings ist der letzte Rest Zurückhaltung, der mich gestern gerettet hat, verflogen.

Seine Lippen pressen sich hart auf meine. Normalerweise sollte es mich erschrecken, aber das Gegenteil ist der Fall.

Ich sollte aufhören und sehen, dass ich verschwinde, aber stattdessen erwidere ich Coles schwere, heiße Küsse. Ich vergrabe meine Hände in seinem Haar. Das Blond sieht verwaschen aus und so, als hätte die Sonne es gebleicht. Vielleicht kommt er tatsächlich von der Küste? Seine Arme umfassen mich und er streicht mit einer quälend langsamen Bewegung meinen Rücken hinunter. Verlangen ballt sich in meinem Unterleib zusammen, und sein Atem stolpert in demselben unsteten Rhythmus wie meiner.

Bevor ich noch einen klaren Gedanken fassen kann, hält Cole mit einem Mal inne und sieht über meine Schulter hinter mich.

Ich brauche einige Augenblicke, bis ich aus dem Wirbel von Gefühlen auftauche. Erst dann schaue ich mich um und erkenne augenblicklich, warum Cole seine Hände von mir gelöst hat. Amber.

Meine jüngste Schwester steht an der Bruchkante zwischen Helligkeit und Dunkelheit, die den Diner und den Hinterhof voneinander trennen, und starrt mich vollkommen versteinert an. Ihre schräge Frisur reflektiert das Sonnenlicht. Sie trägt wie immer zerfetzte Klamotten. Ein modisches Statement und Ausdruck ihrer Seele, nicht aber die Folge eines Autounfalls, wie man annehmen könnte. Das Bild wird von zwei Zentnern schwarzer Schminke abgerundet. Sie sagt nichts, und das, obwohl sie sonst nie auf den Mund gefallen ist.

»Amber«, spreche ich sie an, nicht sicher, was ich sonst sagen soll.

Meine Stimme reißt Amber aus ihrer Erstarrung. »Sag mal, geht’s noch? Das ist echt widerlich«, presst sie hervor, und ihr Blick schreit mir absolutes Unverständnis entgegen.

Ich fahre mir reflexartig mit der Hand über die Lippen. Was ist hier gerade passiert? Ich erkenne mich kaum wieder. Gerade eben noch hat mich ein Wildfremder um den Verstand geküsst. Mich, die ich mich sonst nie auf so etwas einlassen würde. Schon gar nicht mit einem Touristen. Und trotzdem kann ich mich nicht dazu aufraffen, mich schuldig zu fühlen. Stattdessen würde ich lieber seine Hand berühren, die nur Zentimeter neben meiner baumelt, aber ich fürchte, dass Amber dann einen ihrer gefürchteten Tobsuchtsanfälle bekommt, und auch wenn ich mittlerweile ziemlich gut damit klarkomme, will ich Cole dem nicht aussetzen, und vermutlich wäre es sowieso fehl am Platz, ihn auf diese Art und Weise zu berühren. Mit Sicherheit war das hier nichts, von dem Cole wollte, dass es in Händchenhalten mündet.

»Amber, ich …«

»Ich wollte mich eigentlich nur wegen gestern entschuldigen, aber weißt du was? Fick dich!« Amber lacht ein tonloses Lachen. »Ich meine, bist ja schon dabei.« Sie schüttelt den Kopf, dreht sich auf dem Absatz um und läuft mit ausholenden, wütenden Schritten den Weg zurück, den sie gekommen ist.

Ich will ihr nicht folgen, aber ich weiß, dass ich muss. Ich bin seit dem Tod unserer Eltern Ambers Fels in der Brandung, auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, eher ein zu klein geratener Kiesel zu sein. In jedem Fall bin ich verantwortlich für sie, und die Stimmung hat sowieso einen gewaltigen Amber-Riss bekommen, der es unmöglich macht, fortzuführen, was mich eben mitgerissen hat. Ich sehe Cole an, der sich zu mir umgedreht hat, und hoffe, dass er versteht.

Er zuckt die Schultern, lächelt mich an und deutet Amber hinterher. Bedauern steht in seinen Augen, was mich verdammt nochmal nicht so diebisch freuen sollte. Ich sollte Cole stattdessen schnellstmöglich vergessen, denn mehr als diesen kurzen, atemlosen Moment, den Amber beendet hat, wird es zwischen uns nicht geben. Er ist nur ein Gast in Cooper Springs. Er wird wieder gehen, und ich habe weiß Gott andere Dinge zu tun, als mich einem Typen an den Hals zu schmeißen und alle meine Prinzipien über Bord zu werfen.

Ich berühre kurz seinen Arm, unschlüssig, was ich noch sagen soll. Wie ich ausdrücken könnte, dass ich wünschte, es wäre anders gelaufen, ohne mich kitschig und unrealistisch anzuhören. Also drehe ich mich einfach um und verschwinde wortlos im gleißenden Licht des Hinterhofs.

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Amber ist nicht nach Hause gekommen.

Ich sitze auf dem Steg, der vom Strand der Halfmoon Bay in den Lake Tahoe führt und die kleine, versteckte Bucht mit unserem Haus verbindet. Meine Beine baumeln dicht über der Wasseroberfläche. Durch mein leichtes Sommerkleid spüre ich die raue Struktur der Holzplanken.

Eigentlich hätte Amber schon längst wieder da sein sollen, denn es ist bereits nach zehn Uhr und morgen ist Schule. Wenn sie überhaupt noch kommt, werde ich sie zurechtweisen müssen, und ich hasse es, das zu tun.

Ich nehme einen großen Schluck Rotwein aus dem Glas, das den Platz auf dem Steg mit mir teilt, und schließe die Augen. Das Seewasser gluckst leise gegen die Pfeiler des Stegs, ansonsten ist es still. So still, wie es nur in der Halfmoon Bay sein kann.

Ich liebe den Frieden an diesem Ort, in dem die Erinnerungen an meine Eltern Platz haben. Niemals werde ich die Möglichkeit, ihnen nahe zu sein, verkaufen.

Meine Hände verkrampfen sich um das Schreiben von Harris & Sons, das ich heute Morgen zwischen die Bücher gestopft habe und das mir seitdem keine Ruhe gelassen hat.

Der Ton der Immobilienfirma wird rauer. Laut Greta ein Indiz dafür, dass sie keinerlei Möglichkeiten haben, ihren Willen durchzusetzen, uns aus unserem Zuhause zu vertreiben, um an dieser Stelle ein Luxusresort zu bauen. Für einen Moment haben mich die Begegnung mit Cole und die Tatsache, dass Amber uns erwischt hat, davon abgelenkt, dass ich trotzdem nicht glaube, dass die Immobilienhaie aufgeben werden. Das Schriftstück hat mich zurück in die Wirklichkeit geholt.

Ich strecke meinen Zeh aus, tauche ihn in das kühle Wasser des Sees und rapple mich dann auf. Ich blase die Kerzen aus, die ich vorhin neben der Eingangstür angezündet habe, und räume sie im Dunkel der Nacht in die kleine, runde Hütte, die mein Dad damals für meine Mom auf dem Steg errichtet hat. Ein Rückzugsort für sie, denn er wusste, wie schwer wir fünf Kinder es Mom manchmal gemacht haben. Hier konnte sie sich ausruhen und malen. Sie hat nie eines ihrer Bilder verkauft, aber Dad hat ihr Hobby trotzdem nie belächelt. Er wusste, dass sie diesen Ausgleich brauchte. Jetzt hängen einige ihrer Arbeiten an den Wänden.

In der Mitte des Raums liegen wild verstreut Decken und Kissen, in die ich mich kuscheln kann, wenn ich lese. Jake Hunter, mein bester Freund, hat sie mir mitgebracht, als ich kurz nach dem Tod meiner Eltern nur noch in dem Häuschen auf dem Steg gelegen habe. Er hat sie wortlos auf dem Boden drapiert und war einfach da, hat mit mir getrauert. Wir brauchten keine Worte, nur einander.

Jake ist mehr oder weniger mit uns zusammen in Pinewood Meadows aufgewachsen. Er war ständig hier, hat jede freie Minute genutzt, um seinem Dad, Sam, und der düsteren Atmosphäre zu Hause zu entkommen und ein wenig Carson-Fröhlichkeit zu tanken. Er hat meine Eltern geliebt, als wären sie seine eigenen gewesen. Ihr Tod hat ihn getroffen. Nicht so sehr wie Fi, Hazel, Grace, Amber und mich, aber stark genug, um ihn aus der Bahn zu werfen. Er ist Fi sehr ähnlich. Wahrscheinlich einer der Gründe, warum er wie sie fortgegangen ist.

Ich weiß, dass er immer ein wenig verknallt in sie war, und ich weiß, dass er gehofft hat, es würde doch einmal mehr aus den beiden werden, obwohl Fi nie mehr in ihm gesehen hat als einen Bruder. Dann starben erst Mom und Dad, kurz darauf ging Fiona weg, weil sie die Wucht der Erinnerungen, die in Pinewood Meadows und dem Diner liegen, nicht ertrug.

Von da an eskalierte der ständige Streit zwischen Jake und seinem Dad immer mehr. Auch wenn sie, was die Hunter-Werft anging, sehr erfolgreich zusammenarbeiteten, kamen sie menschlich kaum miteinander aus. Jake ist ein überaus talentierter Bootsbauer und Sam ein verdammt harter Geschäftsmann, der etwas von den Abläufen des Handwerks versteht. Aber die Zusammenstöße, die nach alledem folgten, hatten es in sich. Vielleicht weil Jake aufgrund seiner Trauer nicht mehr in der Lage war, Dinge zu ignorieren und seinen Dad links liegen zu lassen, wenn er ihn kritisierte. Der letzte Streit endete in Handgreiflichkeiten, die den Sheriff auf den Plan riefen und Jake eine Nacht in einer Zelle bescherten.

Und jetzt ist er weg, am anderen Ende der Welt, und unsere Freundschaft ist auf einige wenige Skype-Telefonate beschränkt. Ich mache mir Sorgen um ihn, und ich habe das dumpfe Gefühl, dass er nicht vorhat, jemals wieder zurückzukehren. Ich schlucke die Tränen hinunter, die mir bei diesem Szenario in die Augen treten.

Ich fahre über die Decken und Kissen und stehe so lange im fahlen Mondlicht, das sich auf dem See bricht, bis mich ein wütendes Heavy-Metal-Stakkato aus meinen Gedanken reißt. Amber.

Die Musik wird lauter und lauter, während ich eilig die Tür schließe und zum Haus hinauflaufe. Sie wird Hazel und Grace aus dem Schlaf reißen. Mit der Lautstärke, die mittlerweile die Wände von Ambers Zimmer erzittern lässt, könnte sie immerhin den kompletten See beschallen. Ich bin mir sicher, dass man die Bässe selbst am Ostufer noch hören kann.

Ich schalte das Licht an, das sich warm in jeden Winkel des Blockhauses ergießt, und pralle fast gegen Grace, die sich mit zusammengekniffenen Augen und zerstrubbelten Haaren wie ein Zombie über die Treppe nach unten bewegt.

»Sie macht die verdammte Tür nicht auf«, stöhnt sie und beginnt in den Küchenschränken nach Limetten und braunem Zucker zu suchen. Caipirinhas sind Graces Antwort auf so ziemlich alles.

Ich nicke, weil das nichts Neues in Ambers Verhaltensrepertoire ist. Wenn sie ihren Unmut kundtut, dann so, dass jeder von uns etwas davon hat.

Hazel ist trotz ihres gesegneten Schlafs ebenfalls aufgewacht und setzt sich auf die oberste Treppenstufe. Sie hält sich die Ohren zu. »Kann man sie nicht einfach zur Adoption freigeben?«, jammert sie.

»Ich fürchte nicht«, erwidere ich düster. »Das Rückgaberecht ist leider schon längst abgelaufen.« Ich springe, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und folge dem Flur bis zu Ambers Zimmer. Nicht nur, weil ich als älteste Schwester die Erziehung von Amber in die Hand genommen habe, sondern vor allem, weil ich schuld an dem Heavy-Metal-Überfall bin, werde ich diesen Lärm abstellen und die Sache wieder geradebiegen müssen.

Als ich gegen die Tür klopfe, erhalte ich keine Reaktion. Wie sollte ich auch. Sie hört mich vermutlich nicht. Ich nehme die Faust und schlage so hart gegen die Massivholztür, dass eine Furnierholzvariante sicher nachgegeben hätte. Wieder nichts.

»Amb, mach bitte auf.« Obwohl ich längst weiß, dass sie abgeschlossen hat, drehe ich am Türknauf. »Amb, mach die verdammte Musik aus!«, brülle ich. »Ich kriege Ohrenkrebs.« Genau genommen ist das nicht mal Musik. Ich bezweifle sogar, dass sie Amber gefällt. Sie mag Country, genau wie ich. Diesen unsäglichen Radau holt sie nur hervor, wenn sie uns ärgern oder für etwas bestrafen will.

Für den Bruchteil einer Sekunde schnellt die Erinnerung an Cole heiß durch meine Eingeweide. Ich schließe die Augen.

»Amber!«, schreie ich noch einmal, aber ich komme nicht gegen die hämmernden Bässe an.

Dad hatte eine Wunderwaffe gegen so ein Verhalten. Ich räume meinen Platz vor ihrer Tür, schnappe mir eine Taschenlampe und tue, was er getan hätte.

»Ich hole die Kerzen«, bemerkt Grace seufzend, als sie mich wie einen Racheengel mit der Taschenlampe Richtung Keller laufen sieht.

Fünf Minuten später ist es still im Haus, und nur der weiche Schein von Kerzen und der Lichtkegel meiner Taschenlampe erhellen das dunkle Erdgeschoss. Wir haben zwar kein Licht mehr, aber Amber kann dank der rausgedrehten Sicherungen auch die Anlage nicht mehr aufdrehen.

Ich lasse meine Schwestern in der Küche allein, wo sie Caipirinhas mixen, und kehre an meinen Platz vor Ambers Zimmertür zurück. Ein leises Scharren und ein dumpfer Plumps sagen mir, dass Amber sich auf der anderen Seite der Tür niedergelassen hat. Näher werde ich vermutlich heute Abend nicht mehr an eine Unterhaltung unter vier Augen kommen, auch wenn uns nach wie vor eine Tür aus Kiefernholz trennt.

»Amby-lamby«, sage ich leise und benutze bewusst Dads Spitznamen für sie. Kleines Schäfchen. Sie hat nie verwunden, dass sie so wenig Zeit mit unseren Eltern hatte. Für mich waren dreiundzwanzig Jahre schon zu wenig, als Mom und Dad vor fünf Jahren starben, wie sollten ihre elf Jahre je ausreichend sein?

»Du hättest mich heute nicht so sehen sollen.« Ich räuspere mich. »Ich hätte mich gar nicht auf ihn einlassen dürfen, aber ich war wütend auf dich wegen Peter und irgendwie allein, und er …«

Ich lege die Hand an die Tür, als könnte ich ihr so durchs Haar fahren, und erspare ihr die nicht jugendfreie Schilderung von dem, was Cole in mir ausgelöst hat. »Er ist nur auf der Durchreise, und ich hatte einen Scheißtag. Ich bin nicht auf der Suche nach einer neuen Beziehung. Versprochen.«