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Charlotte Kristen ist Ende vierzig und allein erziehende Mutter von Malte, 14, einem Asperger Autisten. Die beiden leben glücklich zusammen in Wismar, und Charlotte baut sich gerade eine eigene Ziegenkäserei auf einer kleinen Ostseeinsel auf. Mit Männern hatte Charlotte immer nur Pech, und eigentlich hat sie mit dem Thema abgeschlossen. Bis sie - wegen eines dummen Sturzes - plötzlich ihr Gedächtnis verliert. Danach sieht sie den besten Freund und den längst abgelegten Ex nämlich in einem ganz anderen Licht... Und muss sich entweder ganz schnell an alles erinnern - oder eine längst fällige Entscheidung treffen.
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Das Buch
Mit Männern hatte Charlotte bisher nur Pech. Alle entpuppten sich früher oder später als Enttäuschung, Maltes Vater eingeschlossen, mit dem sie eine kurze Beziehung hatte. Auf Poel lernt sie den Biologen Johannes, Jo, kennen. Die beiden mögen sich auf Anhieb und werden sehr gute Freunde. Jo ist Mitte fünfzig und bezeichnet sich als eingefleischten Single, der sich ein klassisches Familienleben gar nicht vorstellen kann. Als plötzlich Charlottes Exfreund Rolf auf dem Hof auftaucht und Charlotte einen Unfall erleidet, bei dem sie ihr Gedächtnis verliert, ist das Chaos perfekt. Wird für Charlotte jemals der Traum ihres Lebens in Erfüllung gehen, eine richtige Familie zu haben?
Die Autorin
Susanne Lieder wurde 1963 in Ostwestfalen geboren. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann auf einem kleinen Resthof in der Nähe von Bremen. Wenn sie könnte, würde sie sofort auf den Darß ziehen.
Susanne Lieder
Pusteblumen-sommer
Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1508-9
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Sabine Lubenow/Getty Images (Haus, Garten u. Meer);© FinePic®, München (Himmel u. Möwen)
E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
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Für Lennart
Beinahe hätte Charlotte den Termin beim Klassenlehrer ihres Sohnes vergessen. Entsprechend überstürzt war sie von Poel zurück nach Wismar gefahren und hatte nicht nur die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Landstraße ignorieren, sondern anschließend auch noch im Halteverbot parken müssen. Mit wehendem Mantel schlitterte sie über den blank gewienerten Linoleum-Fußboden, um sich dann das pikierte Gesicht von Dr. Liedtke ansehen zu müssen, weil sie sich vier Minuten verspätet hatte.
Nach einer durchaus freundlichen Begrüßung sagte er etwas, das sie zunächst einmal sprachlos machte. Zwei, drei Sekunden lang starrte sie ihn fassungslos an. Ein heiseres, ungläubiges Lachen kam aus ihrer Kehle und blieb ihr schließlich regelrecht im Hals stecken. »Wie bitte? Was haben Sie da gerade …«
»Frau Kristen, bitte, wir wollen doch …«
Sie rang nach Luft. »Mein Sohn ist Asperger-Autist, Herr Dr. Liedtke, das heißt aber nicht, dass es ihm vollkommen egal ist, wenn er ausgeschlossen wird.«
Dr. Liedtke schwitzte, wie sie bemerkte. Mit einer Hand griff er nach seinem Hemdkragen und zupfte daran herum. »Ich fürchte, Sie haben mich missverstanden, Frau Kristen.«
»Das glaube ich nicht«, gab sie kühl zurück.
Er hatte tatsächlich vorgeschlagen, dass ihr Sohn nicht an der bevorstehenden Klassenfahrt teilnehmen sollte, weil Malte sich sehr wahrscheinlich sowieso nur im Zimmer aufhalten und die Unternehmungen schwänzen würde. Und das wiederum würde seine Mitschüler möglicherweise dazu anstiften, sich ebenfalls »zu verweigern«. Er hatte wirklich erst schwänzen und dann verweigern gesagt.
»Wollen Sie sich nicht wieder setzen?«, schlug er ein wenig kleinlaut vor. Sein Lächeln war nervös und eine Spur aufgesetzt.
Nein, sie wollte sich nicht setzen, sie wollte ihn vors Schienbein treten oder am Kragen packen und durchs Klassenzimmer schleifen. So wütend und aufgebracht war sie schon lange nicht mehr gewesen. Vielleicht sollte sie doch über einen Schulwechsel nachdenken. Dieses Gymnasium war schließlich nicht das einzige in Wismar.
Charlotte hatte die linke Hand, die sie in die Manteltasche gesteckt hatte, zur Faust geballt.
Atme tief durch, so ist’s gut. Aus und ein, aus und ein. Na siehst du …
»Herr Dr. Liedtke, Malte möchte mit auf diese Klassenfahrt. Er freut sich schon darauf. Sie wissen, wie naturbegeistert er ist.« Ihr war nicht entgangen, dass er bei ihren Worten vor sich hin genickt hatte. Hatte er vor einzulenken? »Außerdem dürfen Sie ihn gar nicht so ohne Weiteres ausschließen.«
Sie biss sich auf die Zunge. Das war überflüssig gewesen. Möglicherweise hatte sie jetzt sogar einen Fehler gemacht, den sie nicht wiedergutmachen konnte und den Malte später ausbaden musste. Doch sie brachte keine Entschuldigung heraus, es ging einfach nicht. Dazu war sie viel zu aufgebracht.
»Ich muss Ihnen nicht sagen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass wir Malte an dieser Schule aufgenommen haben. Mit seiner Behinderung wäre er an einer … speziellen Schule womöglich besser aufgehoben.«
Jetzt hatte Dr. Liedtke einen Fehler gemacht. Charlotte mochte es nämlich überhaupt nicht, wenn man im Zusammenhang mit ihrem Sohn von einer Behinderung sprach, auch wenn das grundsätzlich die richtige Bezeichnung für Asperger-Autismus war. Sie selbst hatte Malte nicht eine Sekunde seines Lebens als behindert angesehen. Er war überdurchschnittlich intelligent, überdurchschnittlich zurückhaltend und still und überdurchschnittlich ehrgeizig, mehr nicht.
Die Psychologin, die vor einigen Jahren die Diagnose gestellt hatte, hatte Charlotte darauf hingewiesen, dass Malte zum Beispiel Anspruch auf einen Behindertenausweis habe, etwas, das ihm, der es nicht gerade leicht im Leben gehabt hatte und in Zukunft auch nicht haben würde, etliche Vergünstigungen einbrächte. Doch Malte hatte einen solchen Ausweis nicht gewollt, bis heute nicht. Und sie hatte es verstanden.
Sie unterdrückte ein Seufzen und lächelte Dr. Liedtke an. »Sagten Sie nicht neulich, dass Malte zu den besten Schülern gehört, die Sie je unterrichtet haben? Und dass Sie stolz sind, ihn an der Schule zu haben?«
Seine Antwort musste sie nicht hören, weil sie sie kannte. Plötzlich durchfuhr sie ein ungutes Gefühl. »Hat einer der Mitschüler gesagt, dass er Malte nicht dabeihaben will?«
Dr. Liedtke schüttelte langsam den Kopf. »Nein, ich fürchte lediglich …« Er schien über etwas nachzudenken und sagte schließlich: »Na schön, ich bin einverstanden, dass Ihr Sohn mit in die Eifel fährt.«
Erwartete er, dass sie sich nun bedankte, ihm sagte, wie wunderbar sie seine Entscheidung fand und wie überaus großmütig er doch war?
Nun, da konnte er ewig warten.
Charlotte nickte knapp und wandte sich zur Tür.
»Ach, und Frau Kristen …«
Sie drehte sich zu ihm um.
»Die Reise wird nicht ganz billig sein.«
Reg dich jetzt bloß nicht wieder auf …
»Als alleinerziehende Mutter haben Sie natürlich Anspruch auf Beihilfe.«
Ihm schien es nicht mal unangenehm zu sein, sie auf dieses heikle Thema anzusprechen. Dabei hatte sie noch nie um finanzielle Unterstützung gebeten, bisher hatte sie immer selbst für ihren Sohn sorgen können.
»Nicht nötig. Trotzdem vielen Dank, Herr Dr. Liedtke.«
Damit öffnete sie die Tür und ließ sie hinter sich zufallen. Einen Moment lang musste sie stehenbleiben. Sie hatte ein sonniges Gemüt, aber es gab durchaus Momente, in denen sie kurz vor dem Explodieren stand. Sie verknotete den Gürtel ihres Trenchcoats, hängte sich ihre große Handtasche um und lief rasch den langen Flur entlang.
Zwei Schüler kamen aus einem der Räume und stießen beinahe mit ihr zusammen, weil sie die Köpfe zusammengesteckt und auf ihre Smartphones gestarrt hatten. Charlotte wich ihnen geschickt aus, drückte die Glastür auf und war unendlich froh, als sie draußen an der frischen Luft stand.
Die Kirchturmuhr von St. Georgen schlug zwölf, als Charlotte kurz darauf über den Marktplatz ging.
Sie hob nur kurz den Kopf und blickte in die Richtung, aus der die Schläge zu hören waren.
Nach einer, nein eigentlich zwei nervenaufreibenden Beziehungen war sie vor fünfzehn Jahren von Hamburg nach Wismar gezogen. Ihr Sohn war hier geboren worden.
Nach der Asperger-Autismus-Diagnose war sie zunächst wie vor den Kopf geschlagen gewesen, bald aber hatte sich ihr Gedankenknäuel aufgedröselt und jedes einzelne Puzzleteil sich in ein anderes gefügt.
Endlich hatte sie gewusst, warum Malte war, wie er war.
Warum er zurückhaltender, stiller war als andere Kinder, nervöser, abwesender. Warum er oft über Dinge lachte, die sie nicht lustig finden konnte. Warum er sie nur so selten ansehen mochte und sich nicht gern umarmen ließ. Seine Großeltern hatten sich häufig darüber beklagt, dass er ihnen nicht einmal die Hand geben wollte, von einer beinahe erdrückenden Umarmung gepaart mit feuchten Küssen ganz zu schweigen.
Malte war ausgesprochen klug, wissbegierig und neugierig. Er hatte immer auf alles eine Antwort gesucht, und als er in die Schule gekommen war, hatte ihr sein unglaublicher Ehrgeiz manchmal Angst gemacht. Für ihn grenzte eine Drei in einer Klassenarbeit an einen Weltuntergang. Der Sportunterricht war seit jeher die Hölle für ihn, da er eine andere Körperwahrnehmung hatte als andere.
Dafür gab es regelmäßig Momente, in denen Charlotte stumm und zutiefst beeindruckt in der Tür gestanden und ihm zugesehen hatte. Dann nämlich, wenn er bäuchlings auf dem Teppich gelegen und mit seiner Ritterburg gespielt hatte. Oder wenn er versonnen lächelnd am Fenster gestanden und die Spatzen beobachtet hatte, die sich draußen im Garten in kleinen Erdlöchern wälzten. Wenn er ein Puzzle gemacht hatte, bei dem sie kapitulieren musste oder wenn seine Augen geleuchtet hatten, weil sie ihm seinen heißgeliebten Tigerenten-Pudding gekocht oder seinen ebenso geliebten Plüschpinguin wiedergefunden hatte, der tagelang spurlos verschwunden gewesen war.
Hatte Malte sich darauf eingelassen, mit anderen Kindern zu spielen, so waren die hinterher der einhelligen Meinung gewesen, noch nie einen so phantasievollen, fairen Spielkameraden gehabt zu haben.
Sein Gerechtigkeitssinn war sehr ausgeprägt, nichts konnte ihn mehr bestürzen, als zusehen zu müssen, wie jemand schlecht und unfair behandelt wurde. Bei Tieren war es noch schlimmer. Einen verletzten oder gar überfahrenen Igel sehen zu müssen, ließ ihn in Tränen ausbrechen, und bei einer streunenden Katze drehten sich seine Gedanken tagelang darum, ob das arme Tier wohl etwas zu fressen finden würde.
Als sie damals nach Wismar gekommen war, war der Kirchturm von St. Georgen das Erste gewesen, was Charlotte gesehen hatte. Wismar hatte sie sofort ins Herz geschlossen.
Sie und ihr Sohn hatten eine hübsche, urgemütliche Altbauwohnung mit einer Dachterrasse bezogen, von der aus man über die Dächer der Stadt blicken konnte. Eine Aussicht, um die sie noch heute jeder beneidete.
Ihr Handy klingelte. Das Ding mochte sie nach wie vor nicht besonders. Sie hatte es nur angeschafft, damit Malte sie jederzeit erreichen konnte. Und umgekehrt natürlich auch. Manchmal trieb er sich stundenlang irgendwo am Hafen oder in einem der Museen herum, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass sie sich Sorgen machen könnte. Wenn sie ihn dann später erleichtert kurz umarmt und ihm gesagt hatte, dass sie halb krank vor Sorge gewesen wäre, hatte er sie verwirrt und verständnislos angesehen und gemeint, er würde doch immer wieder nach Hause kommen, warum sie sich dann jedes Mal sorgen würde?
Sie warf einen Blick aufs Display. Eva ruft an …
»Hallo, Eva. Schön, dass du anrufst.« Sie beide hatten sich kennengelernt, gleich nachdem Charlotte in die Stadt gezogen war. Das Universum hatte ihr Eva gesandt, davon war sie noch heute fest überzeugt. »Wie geht’s dir?«
»Prima, ich bin auf dem Weg ins Theater.«
Ihre Freundin arbeitete als Maskenbildnerin.
Charlotte hörte eine schrille Fahrradklingel, dann ein »Huch!«. Wahrscheinlich hatte Eva Mühe, ihr Rad über das Kopfsteinpflaster zu lenken. »Und was machst du gerade, Charlie?«
»Ich hab mich mit Maltes Lehrer rumgeschlagen. Er wollte Malte von der Klassenfahrt ausschließen.«
»Wie bitte?«
»Er sagt, Malte würde sich ja doch nur zurückziehen und an nichts teilnehmen. Verweigern nannte er es.«
»Das ist die Höhe! Ich hoffe, du hast ihm gehörig den Marsch geblasen.« Eva lachte. Dann wieder ein »Huch!«, schließlich ein Schnaufen. »Dieses verflixte Kopfsteinpflaster!«
Charlotte warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss mich beeilen. Die Veterinärin kommt heute.«
»Dann bis später, Charlie. Wir telefonieren.«
Charlotte schloss die Haustür aus dunklem schwerem Holz auf und lief die mit kleinen Mosaiksteinchen geflieste Treppe zu ihrer Wohnung hoch. Malte hatte bis halb vier Unterricht und würde nicht vor halb fünf zu Hause sein. Vorausgesetzt, er nahm den direkten Weg nach Hause, und das war mehr als unwahrscheinlich. Meistens fiel ihm irgendetwas ein, das er sich ansehen wollte, und hatte gleich darauf die Zeit und alles andere um sich herum vergessen.
Charlotte lächelte vor sich hin, während sie aus ihrer hellen Hose und der weißen Leinenbluse schlüpfte. Sie nahm eine fleckige Jeans vom Bügel und suchte ein halbwegs sauberes Shirt aus. Sie zog sich im Gehen an, suchte ihre dunklen Sportschuhe, nahm ihre Handtasche und eine Strickjacke von der Garderobe und verließ die Wohnung.
Vor knapp zwei Jahren hatte sie sich ihren Traum erfüllt und auf der Insel Poel ein kleines, uraltes Backsteinhaus mit Stall und Scheune gekauft. Sie hatte Ziegen angeschafft und wollte irgendwann eine kleine Ziegenkäserei aufmachen. Bisher steckte das Projekt noch in der Erprobungsphase, und der Käse, den sie herstellte, war ausschließlich zum eigenen Verzehr gedacht.
Charlotte war aber optimistisch, dass sich das bald ändern würde. Vielleicht würde sie sogar die Scheune zu einem kleinen Hofladen umgestalten.
Hilfe hatte sie von ihrer Nachbarin Margarethe erhalten, einer älteren Frau, die Witwe war und deren großes Glück, wie sie selbst sagte, darin bestand, Charlotte bei allem zur Hand gehen zu dürfen. Die beiden Frauen hatten sich auf Anhieb verstanden, und als wäre es Schicksal gewesen, verstand Margarethe eine Menge vom Käsen, etwas, das Charlotte selbst erst hatte erlernen müssen.
Sie hatte zwei Berufsausbildungen gemacht: eine als Landschaftsgärtnerin und eine weitere als Tischlerin.
Vom praktischen Wissen beider Berufe profitierte sie bis heute.
Sie konnte einen Garten anlegen, wusste, wie man Obst- und Ziersträucher beschnitt, und sie konnte mit Holz umgehen. Außerdem hatte sie so die letzten Jahre überbrücken können, indem sie halbtags als Gärtnerin in einem Gartenbaubetrieb gearbeitet hatte. Diesen Job hatte sie vor Kurzem aufgegeben, jetzt war die Zeit gekommen, sich voll und ganz der Käserei zu widmen.
Sie stellte das Radio an, als sie die Landstraße entlangfuhr. Das Wetter war herrlich, die Sonne schien und ein lauer Wind wehte. Sie ließ das Fenster noch weiter herunter und atmete die salzige Seeluft ein. Sogar den Weg nach Poel liebte sie. Noch nie hatte es ihr etwas ausgemacht, jeden Tag dorthin fahren zu müssen.
Sie bog rechts ab in Richtung Malchow und musste einem jugendlichen Fahrradfahrer ausweichen, der fast die komplette Straße für sich in Anspruch nahm.
Charlotte stieß ein stummes Stoßgebet aus: Bitte lass Malte vernünftiger sein …
Sie machte einen großen Schlenker und blickte in den Rückspiegel. Der Junge zeigte ihr den Mittelfinger, und für einen kurzen Augenblick war sie versucht, das Gleiche zu tun.
Nein, sie war erwachsen und wohlerzogen. Sie schüttelte amüsiert über sich selbst den Kopf.
Sie fuhr weiter in Richtung Wangern, und je näher sie ihrem Ziegenhof kam, desto kribbeliger wurde sie. Es war jeden Tag wieder etwas ganz Besonderes, wenn sie die Ziegen auf der großen Weide sah. Ihre Ziegen. Mittlerweile zwanzig an der Zahl. Mittendrin die beiden Ziegenböcke Gustav und Karl.
Für Karl hatte Charlotte eine ganz besondere Schwäche. Er war übermütig, frech und dreist und ein Ausbund an Lebensfreude und Energie. Gleichzeitig war er treu und verschmust. Sieben Ziegen waren im letzten Jahr von ihm gedeckt worden, und auch Gustav erledigte brav seine Pflichten. Ihn würde sie irgendwann abgeben müssen, damit er nicht seine eigene Töchterschar decken würde. Karl würde bleiben und sein Gnadenbrot bei ihr bekommen.
Charlotte fuhr auf den mit Natursteinen gepflasterten Hof und stellte den Motor aus. Sie hatte darüber nachgedacht, sich ganz auf der Insel niederzulassen, doch erst einmal würde sie das rote kleine Haus bewohnbar machen müssen.
Sie stieg aus ihrem Corsa und blieb auf dem Hof stehen. Die weißen Fensterläden am Haus mussten dringend repariert werden. Auch das rote Ziegeldach hatte schon bessere Tage gesehen. Der Garten war eigentlich gar keiner, vielmehr war er eine Ansammlung von alten Bäumen, riesigen Sträuchern, die schon lange niemand mehr beschnitten hatte, einer großen Streuobstwiese und alten Rosenstöcken, die an beiden Seiten des Hauses hochrankten. Blumenbeete und einen ordentlich gemähten Rasen gab es nicht.
Gegenüber dem Haus war eine Scheune mit einem Holztor, das grauenvoll ächzte und knarrte, wenn man es aufschob. Und direkt am Haus war ein größerer Stall mit Zugang zu einer Waschküche, die Charlotte als Melkstand umfunktioniert hatte. Daneben lagen ein Kühlraum und ein weiterer Raum, in dem der Käse hergestellt wurde. Das alles hatte auch den letzten Rest ihrer Ersparnisse aufgebraucht. So war für das Haus selbst, das saniert werden musste, vorerst kein Geld mehr da.
Charlotte hatte sich auf den ersten Blick in das Häuschen verliebt, und der Gedanke, hier Ziegen zu halten und Käse herzustellen, war so blitzartig in ihrem Kopf gewesen, dass sie sich gefragt hatte, warum sie früher nie darüber nachgedacht hatte. Es war wie ein stiller Traum, der sich nun zufällig erfüllt hatte, weil sie über dieses Haus, das seit Langem leerstand, regelrecht gestolpert war. So als habe es jemand hingestellt und gesagt: Schau, das ist deins. Gefällt’s dir?
Aber sie liebte auch ihre Altbauwohnung in Wismar, die Dachterrasse, das Bummeln über die Krämerstraße oder durch den Lindengarten und das abendliche Zusammensitzen mit Eva bei einem Glas Wein am Alten Hafen.
Charlotte ging zur Weide und stellte sich an den Holzzaun. Sofort hoben die Ziegen den Kopf und begrüßten sie mit einem freudigen Meckern. Gundula, eine der schwarz-weißen Thüringer-Wald-Ziegen, kam angelaufen und rieb den Kopf an ihrer ausgestreckten Hand. Gundula war zum ersten Mal Mutter geworden. Ihre Tochter, ein bildschönes hell geflecktes Ziegenlämmchen, kam ebenfalls angesprungen und drängte sich dicht an seine Mutter. Dann lief es wieder los und machte ein paar Sprünge.
Charlotte lächelte. Sie hatte allen Ziegen Namen gegeben und noch nie Mühe gehabt, die Tiere voneinander zu unterscheiden. Sigrid zum Beispiel hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Tante Sigrid, Moni einen weißen Kranz um die Nase und Hedwig einen hellen Fleck am Bein.
Charlotte stieg über den Zaun und wartete, bis auch die anderen Ziegen angelaufen kamen. Sie ging in die Hocke und ließ sich ausgiebig beschnüffeln. Hedwig machte zwei Runden um sie und beschnupperte ihre Hosenbeine. Als ihr Handy klingelte, vollführte die Ziege einen Satz.
Charlotte kannte die Telefonnummer nicht.
»Ja?«
»Hier ist Sandra Müller. Ich würde gerne ein Praktikum bei Ihnen machen. Geht das?« Eine sehr junge, etwas zaghafte Stimme.
»Ja, warum nicht«, erwiderte Charlotte. Sie hatte bereits drei Praktikanten dagehabt, die sich voller Elan und Begeisterung auf die Ziegen und die Arbeit mit ihnen gestürzt hatten. »Handelt es sich um ein Schulpraktikum?«
»Ja, aber erst nach den Herbstferien. Ich dachte, besser, ich frage schon mal.«
»Warum kommst du nicht einfach vorbei, und wir lernen uns kennen«, schlug Charlotte vor.
»Cool. Und wann?«
»Morgen Nachmittag um vier?«
»Supi, dann bis morgen.« Das Mädchen legte auf.
Charlotte kraulte noch ein paar Ziegenköpfe und stieg dann über den Zaun, um zur Scheune zu gehen. Am Vortag hatte sie zwei streunende, offensichtlich noch recht junge Kätzchen gesehen. Sie schob das Tor auf, das wieder grauenvoll knarzte, und lockte die Katzen mit säuselnder Stimme. Prompt erschien ein buntgeschecktes Köpfchen mit erstaunlich großen Ohren und blickte sie neugierig an. Charlotte ging auf die Knie und streckte die Hand aus. Sie freute sich, dass endlich ein paar Katzen auf dem Hof waren und auf Mäusejagd gehen würden. Das Kätzchen kam angesprungen, warf sich vor ihr auf den Rücken und rollte sich hin und her.
Charlotte ging ins Haus, füllte zwei alte Porzellanuntertassen mit einer Mischung aus Milch und Leitungswasser und stellte sie den Kätzchen hin. Sie würde noch etwas Dosenfutter besorgen müssen.
Das knallrote Auto der Veterinärin, einer sympathischen Frau in ihrem Alter, kam auf den Hof gefahren, und Charlotte lief hin, um sie zu begrüßen.
Am Abend fuhr sie erschöpft, aber glücklich wie immer zurück nach Wismar. Die Landstraße war leer, das würde sich jedoch in den nächsten Wochen ändern, wenn die Touristen wieder auf die Insel kommen würden.
Charlotte sang laut einen Popsong mit, der im Radio lief.
Hoffentlich hatte Malte sich das Essen aufgewärmt, das sie in den Ofen gestellt hatte. Nudelauflauf, sein Lieblingsessen, und eins der wenigen Dinge, die er überhaupt aß. Malte aß eigentlich immer das Gleiche: Nudeln mit Tomatensoße, Nudelauflauf mit viel Tomatensoße, und er liebte Pizza mit wenig Tomaten und viel Käse. Für Experimente war er nicht aufgeschlossen. Sah das Essen fremdartig und sonderbar aus, rührte er es nicht an. Gutes Zureden half da nicht, das hatte sie bereits begriffen, als Malte klein war. Manche Nahrungsmittel fühlten sich in seinem Mund »eklig« an, wie er behauptete. Früher hatte er sie einfach ausgespuckt und liegengelassen. Andere Sachen wiederum konnte er mehrere Jahre lang essen, ohne dass sie ihm zu viel wurden.
Für Charlotte gab es Schlimmeres. Wenn sie tagsüber auf Poel war, kochte sie Anfang der Woche einen riesigen Topf Tomatensoße und Unmengen an Pasta – Tiefkühlpizza war ohnehin immer im Eisschrank–, und ihr Sohn war zufrieden. Sie selbst aß einen Salat oder auch nur ein belegtes Brot, manchmal brachte sie sich auch von unterwegs einen Imbiss mit.
Malte um diese Zeit auf dem Handy anzurufen, konnte sie sich sparen, er würde doch nicht rangehen. Er spielte seit Monaten ein und dasselbe Computerspiel, wenn er aus der Schule kam. Auch das war ihm bisher nicht zu viel geworden.
Langeweile war ihm fremd. Es gab immer etwas, womit er sich beschäftigen konnte, weil er jemand war, der es einfach nur spannend fand, eine Spinne dabei zu beobachten, wie sie versuchte, eine Wand hinaufzuklettern. Während andere Teenager schnell etwas überhatten, fand Malte immer mehr Gefallen daran, und das, was andere als eintönig und öde bezeichnen würden, war für ihn lebenswichtige Routine. Sein Tag musste immer denselben Ablauf haben, sonst geriet er schnell in Panik. Er wurde jeden Morgen um dieselbe Zeit geweckt, zog am liebsten immer einen grauen Pullover und blaue Jeans an, dazu schwarz-weiße Sportschuhe. Er aß jeden Morgen Cornflakes mit wenig Milch und einem Teelöffel Zucker, und sein Schulbrot bestand grundsätzlich aus drei Scheiben Vollkornbrot mit Käse und einem Salatblatt. Dazu manchmal ein paar Cocktailtomaten oder Radieschen, am liebsten eine ungerade Zahl davon. Das war Maltes Routine und irgendwie auch Überlebensstrategie, und Charlotte hatte sich daran angepasst, ohne dass sie es als Belastung oder Einschränkung empfand.
Malte war im Grunde ein umgänglicher Mensch, wenn man ihn so sein ließ, wie er nun einmal war. Versuchte man, ihn an Neues zu gewöhnen oder seine liebgewonnene Eintönigkeit durcheinanderzubringen, verweigerte er sich, und zwar komplett. Er schloss sich in sein Zimmer ein, trat in den Hungerstreik und brachte es fertig, eine ganze Woche lang kein einziges Wort zu sprechen. Charlotte hatte es nur zweimal erlebt, dass er so reagiert hatte. Einmal, als seine Großmutter ihn gezwungen hatte, einen Kindergeburtstag zu besuchen, zu dem er eingeladen worden war, und das zweite Mal, als er von der Grundschule zum Gymnasium wechseln musste. Es hatte eine Ewigkeit gedauert, bis er seinen Trott wiedergefunden und sich neu eingewöhnt hatte.
Soziale Kontakte hatte er kaum. Er hatte einen besten Freund. Laurin nahm ihn so, wie er war.
Charlotte parkte ihren Corsa und blickte hoch zu ihrer Wohnung. Das Fenster in Maltes Zimmer war gekippt, also war er zu Hause. Sobald er in sein Zimmer kam, öffnete er das Fenster, ob Winter oder Sommer.
»Ich bin wieder da!«, rief sie fröhlich, als sie in den Flur trat.
Keine Antwort. Das hatte sie auch nicht erwartet.
Sie lief barfuß zu seiner Zimmertür und klopfte dreimal an. »Malte?« Sie schob die Tür auf.
Er saß an seinem Schreibtisch, Kopfhörer auf den Ohren. So hatte er sie natürlich auch nicht hören können.
Sie ging zu ihm und verzichtete darauf, sich hinter ihn zu stellen, weil sie wusste, wie schreckhaft er war.
»Ich bin wieder da.«
Er nickte ihr zu, lächelte flüchtig.
Sie nahm ihm den Kopfhörer ab. »Hast du gegessen?«
Er nickte erneut.
»Ist für mich noch was da?«
»Jepp.«
»Super. In der Schule alles in Ordnung?«
Ein lässiges Nicken.
»Und die Mathe-Arbeit?«
Er hielt den gestreckten Daumen hoch.
»Ich bin stolz auf dich.«
Mit einem liebevollen Lächeln ging sie wieder hinaus.
Da sie zu faul war, den Auflauf aufzuwärmen, aß sie ihn einfach kalt. Dazu ein kleines Glas Chianti, und sie war bereit für einen gemütlichen, entspannten Feierabend.
Malte wurde jeden Morgen um Punkt halb sieben geweckt.
Auch an diesem Morgen hatte er sich die Bettdecke so über den Kopf gezogen, dass nur sein hellbrauner Haarschopf hervorlugte. Er selbst bezeichnete sein Haar als rötlich, Charlotte hingegen nannte es zimtfarben. Sie würde es vor ihm nicht zugeben, aber sie beneidete ihn um diese wunderschöne Haarfarbe.
»Malte, aufstehen.«
Müde wandte sie sich ab, blieb aber alarmiert stehen, als er nicht wie üblich »Hmm« brummte und seine Nasenspitze nicht zum Vorschein kam.
»Alles in Ordnung?«
Keine Antwort.
»Malte? Bist du krank?«
Ohne Vorwarnung schlug er die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Sein Haar stand in alle Richtungen ab, und er war so blass, dass sie ihn am liebsten fest an sich gezogen und auf den Scheitel geküsst hätte. Doch wenn er Berührungen überhaupt zuließ, dann mussten sie von ihm ausgehen.
»Ich hab geträumt, ich sitze in einem riesigen Bus, und der Busfahrer fährt wie ein Irrer.« Gähnend stand er auf und schnappte sich Jeans und Shirt. »Und ich konnte nicht raus. Suboptimal.«
Charlotte hob eine Hand. »Du willst doch nicht etwa die Sachen von gestern anziehen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«
Sie verzichtete darauf, ihm zu sagen, was sie davon hielt. Ganz einfach, weil er es wusste.
»Ich geh duschen.«
Schon war er an ihr vorbei und verschwand im Bad.
Einen kurzen Augenblick lang war sie versucht, ihm einfach frische Sachen hinzulegen. Nein, meine Güte, er war kein Baby mehr, sondern ein Teenager. Gerade vierzehn geworden.
Wenn er Lust hatte, in denselben Klamotten zur Schule zu gehen, dann sollte er das tun.
Charlotte ging in die Küche und deckte den Tisch. Sie stellte das Radio an und summte leise einen aktuellen Song mit, der neuerdings ständig gespielt wurde. Eigentlich konnte sie ihn schon längst nicht mehr hören.
Das Wasser im Bad rauschte und rauschte und rauschte. Ihr Sohn verpasste hin und wieder den Punkt, den Wasserhahn zuzudrehen. Dann blieb er minutenlang unter dem Wasserstrahl stehen, unfähig das Wasser abzudrehen und aus der Dusche zu steigen. Es hatte Phasen gegeben, da war es besonders schlimm gewesen. Charlotte hätte sich gewünscht, er wäre mit einer Therapie einverstanden gewesen. So aber hatte er sich etliche Monate mit diesem Kontrollzwang abgequält. Auch hatte es Zeiten gegeben, wo er unzählige Male zu seiner Zimmertür gegangen war, um sich zu vergewissern, dass er sie auch wirklich zugezogen hatte. Es wäre vollkommen egal gewesen, Charlotte betrat sein Zimmer nur mit seinem Einverständnis, außerdem hätte sie die Tür schließen können. Doch das alles hatte keinen Sinn gehabt. Malte hatte wieder und wieder kontrolliert, dass er sie zugemacht hatte.
Jetzt ging sie zur Badezimmertür und klopfte zweimal an.
»Malte? Alles in Ordnung?«
Durch das Wasserrauschen war ein gedämpftes »Jepp« zu hören. »Brauchst du Hilfe?«, fragte sie dennoch.
»Nein.«
Nach einer kleinen Weile wurde das Wasser abgestellt und die Schiebetür geöffnet.
Charlotte ging zurück in die Küche und trommelte etwas nervös mit den Fingern auf der Tischplatte. Hoffentlich würde er nicht zu spät kommen, denn das hasste er ganz besonders.
Den Klassenraum zu betreten, in dem bereits alle versammelt waren, war unerträglich für ihn.
Charlotte wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war und schenkte sich eine große Tasse ein.
»Malte?«, rief sie laut. »Du musst dich beeilen.«
Hunger hatte sie nicht, sie könnte mit Grete frühstücken.
Ihr fiel ein, dass die Praktikantin heute kommen und sich vorstellen wollte. Wie hieß sie gleich? Sonja, Sabrina?
Himmel noch mal, sie hätte sich den Namen aufschreiben sollen.
»Hast du das Geld für die Klassenfahrt schon überwiesen?«
Sie fuhr zusammen, als ihr Sohn hereinkam. Sein Haar war nass, um die Schultern hatte er sich ein dunkelgrünes Handtuch gelegt.
»Was? Ach so, nein, aber ich gehe heute zur Bank.«
Sie hatte ihm natürlich nicht erzählt, dass sein Klassenlehrer es gern gesehen hätte, wenn er nicht mitfahren würde. Genauso wenig wie sie ihm sagen würde, dass sie seinen Lehrer nicht besonders gut leiden konnte.
Er setzte sich an den Tisch und schüttete eine Handvoll Cornflakes in seine Müslischale, dazu ein Teelöffel Zucker und etwas Milch.
»Wenn du dich etwas beeilst …«
Er nickte.
»Ich war noch nie in der Eifel«, sagte sie gedankenverloren und nippte an ihrem Kaffee.
»Ich will dort Versteinerungen suchen.«
Sie lächelte ihn an und setzte sich, den Kaffeebecher in der Hand, zu ihm. Die Tischplatte demonstrierte sehr deutlich, dass häufig daran gegessen und gespielt worden war.
Als Malte fünf gewesen war, hatte er mit einem Stift seinen Namen hineingeritzt und war fassungslos gewesen, als sie nicht in Jubel ausgebrochen war, weil er seinen Namen schon schreiben konnte. »Du hättest ein Blatt Papier nehmen können, Spatz«, hatte sie gemeint, und er hatte sie mit großen Augen angeschaut und gesagt: »Auf dem Tisch sieht es viel schöner aus.«
Mit einem Finger strich sie über die krakeligen Buchstaben.
»Was?«, fragte er und schob seine leere Schale über den Tisch.
Sie zeigte auf das schiefe M in der Tischplatte. »Da warst du kaum fünf.«
Es schien ihn nicht besonders zu interessieren, wahrscheinlich hatte sie ihm diese kleine Anekdote auch schon gefühlte hundert Mal erzählt.
Er stand auf und zeigte auf eine weitere Schramme in der Tischplatte. »Und hier neun.«
Sie musste kurz überlegen. Dann fiel ihr ein, dass er damals mit einem Feuerwehrauto auf dem Tisch herumgefahren war. Die kleinen Reifen hatten diese Rillen hinterlassen.
»Das weißt du noch?«, fragte sie verblüfft.
Er legte den Finger auf einen weiteren Kratzer. »Und das da ist passiert, als Jule hier war.«
Charlotte betrachtete den Kratzer mit zur Seite geneigtem Kopf. »Stimmt. Wir haben Backgammon gespielt, und Jule ist der Kerzenleuchter umgekippt. Gott sei Dank war keine brennende Kerze drin. Das Ding war verdammt schwer.« Sie blickte ihren Sohn an. »Dass du dich daran noch erinnerst.«
»Ich war sieben oder acht.«
»Stimmt. Jule hatte dir diesen kleinen Betonmischer mitgebracht, weißt du noch?«
Juliane, Jule genannt, war Charlottes drei Jahre ältere Schwester. Sie lebte mit ihrem Mann Thomas und den beiden Töchtern Sarah und Lena in der Nähe von Schleswig. Malte mochte seine einzige Tante sehr, was auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Den hab ich noch.«
»Wirklich?«, fragte Charlotte ungläubig und musste lachen. Dann warf sie einen Blick auf die Wanduhr. »Ach herrje, jetzt wird’s aber Zeit!«
Sie verstaute seine Schulbrote in seinem Rucksack und beantwortete brav seine Fragen, ob es auch wirklich drei Scheiben Vollkornbrot mit Salat und Käse waren. Wie jeden Morgen. Und wie jeden Morgen versuchte sie, geduldig abzuwarten, bis er seine Jacke angezogen hatte – wenn er denn eine brauchte – und sich nicht anmerken zu lassen, dass es eigentlich schon höchste Eisenbahn war. Für sie beide.
Ihre Ziegen schätzten es auch nicht besonders, wenn sie zu spät zum Melken kam.
»Heute soll’s warm werden.«
Er sah sie verwirrt an. »Keine Jacke?«
»Nimm sie ruhig mit.«
Skeptisch blickte er aus dem Fenster.
Der Himmel war strahlendblau, nicht eine Wolke war zu sehen. Der Wetterdienst hatte Sonnenschein und bis zu zwanzig Grad vorhergesagt.
»Regen?«
»Heute eher nicht. Ach, da fällt mir ein: Heute kommt eine Praktikantin, um sich vorzustellen. Ich werde nicht pünktlich zu Hause sein.«
Er blieb unschlüssig an der Tür stehen.
»Kannst du noch mit zu Laurin gehen?«
Darüber schien er nachzudenken. Schließlich nickte er. »Das geht. Bis fünf spielen wir das Computerspiel, und dann gehe ich nach Hause.«
Überraschungen dieser Art schätzte er natürlich nicht besonders, sie brachten seinen durchgeplanten, routinierten Ablauf durcheinander. Wenn sie nicht zur gewohnten Zeit zu Hause sein konnte, versuchte sie immer, ihm rechtzeitig Bescheid zu geben, damit er sich darauf einstellen konnte. Als er noch klein gewesen war, hatte sie alles stehen und liegen lassen, um pünktlich zu sein. Inzwischen ging er wesentlich lockerer damit um.
Charlotte versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert sie dennoch war.
»Soll ich dich abholen?«
Er schüttelte den Kopf, nickte, lächelte sogar flüchtig und zog die Tür hinter sich zu.
Puh, das wäre geschafft.
Schnell räumte sie den Tisch ab und das Geschirr in den Geschirrspüler. Dann nahm sie ihr Handy, hörte die Mailbox ab, und als keine nennenswerten Nachrichten darauf waren, die sofort beantwortet werden mussten, stieg sie in ihren Corsa und machte sich auf den Weg nach Poel.
Sabrina? Oder Saskia? Verflixt, wie hieß das Mädchen gleich noch? Irgendwas mit S, und der Nachname war einer dieser ganz Gewöhnlichen, etwas wie Meier oder Schulze.
Die ganze Fahrt über hatte Charlotte gegrübelt und stieg nun aus dem Wagen, ohne eine Antwort gefunden zu haben.
Moni und Karl kamen an den Zaun und begrüßten sie freudig. Sie kraulte die beiden unterm Kinn, dort wo sie es gern hatten, und ging dann zum Haus, um sich ihren Overall und die Gummistiefel anzuziehen.
Am Wochenende würde sie mit ihrem Sohn herkommen. Malte fühlte sich auf der Insel sehr wohl, und auch er liebte die Ziegen. Aber er liebte im Grunde alle Tiere, sogar Ameisen und Käfern konnte er etwas abgewinnen. Vor der Arbeit hatte er sich auch noch nie gedrückt. Er mistete die Ställe aus und reparierte die Zäune und Unterstände.
Ein paar Ziegen warteten schon im Melkstand, die anderen kamen angelaufen, als Charlotte einen schrillen Pfiff auf zwei Fingern ausstieß. Hedwig streckte ihren Kopf durch die kleine Öffnung, wo die Schale mit dem Kraftfutter stand, und begann sofort hingebungsvoll zu fressen. Hinter ihr kletterte Elise in den Melkstand, und gerade als Charlotte Tamara an die Melkanlage anschloss, kam Grete auf ihrem rostigen Fahrrad auf den Hof gefahren.
»Bin zu spät. Entschuldige, Charlotte!«, rief sie schon von Weitem. Sie trug ihre obligatorische karierte Kittelschürze und das hellblaue Kopftuch auf dem kurzgeschnittenen grauen Haar. »Alles gut bei dir zu Hause?«
Womit sie wissen wollte, ob es Malte gut ging.
»Alles bestens, Grete.«
»Und selbst?«
»Und selbst auch.« Charlotte zeigte auf Lotti, die ebenfalls ihr erstes Junges bekommen hatte. Lotti war eine hingebungsvolle, zärtliche Mutter, die ihre kleine Tochter keine Sekunde aus den Augen ließ. »Sieh dir unsere Lotti an.«
Grete schnalzte mit der Zunge. »Man muss ja froh sein, dass sie uns an ihr Kind überhaupt rangelassen hat, damit wir wissen, ob’s ein Mädchen oder Junge ist.«
Lotti drehte den Kopf, so als wisse sie, dass über sie gesprochen wurde. Malte hatte ihr den Namen gegeben, weil er meinte, eine der Ziegen müsse unbedingt den Namen seiner Mutter haben. Charlotte hatte gedroht, einen der jungen Böcke Malte zu taufen, es dann aber doch bleiben lassen.
»Es hat noch keinen Namen, Grete. Ich finde, du solltest ihm einen geben.«
»Meinst du das ernst, Charlie?«
Inzwischen nannte auch sie Charlotte so, wobei sie es Scharlie aussprach.
»Sicher meine ich das ernst.«
Grete hatte ganz rosige Wangen bekommen. Ob sie sich so darüber freute?
»Dann würde ich’s Lenchen nennen.«
Charlotte gab Karl einen kleinen Schubs, weil er ihre Stiefel etwas zu genau inspizieren wollte. »Lenchen? Ein hübscher Name.«
Eine knappe Stunde arbeiteten die beiden Frauen schweigend weiter, bis alle Ziegen gemolken und wieder auf die Weide getrabt waren. Dann schlüpfte Charlotte aus ihrem Overall und nahm die Haube ab. Die Gummistiefel zog sie wieder an. Sie wusch sich gründlich die Hände.
»Kaffee?«, fragte sie Grete.
»Gerne.« Grete stellte den letzten Milchbehälter in die Kühlung.
Charlotte war schon fast aus der Tür, als ihr die Katzen wieder einfielen, die sie am Vortag gesehen hatte. »Da sind mindestens zwei Kätzchen im Stall. Hab sie gestern entdeckt.«
»Endlich kümmert sich einer um das Mäusepack.«
Charlotte wusste, dass ihre Nachbarin schreckliche Angst vor Mäusen hatte. Ihr selbst machten die kleinen Fellknäuel nichts aus, nur hier, wo gemolken, und nebenan, wo gekäst wurde, hatten sie nichts zu suchen.
Grete wusch sich ebenfalls die Hände. »Dann will ich mal sehen, ob ich sie finde.«
Charlotte ging in die Küche, den größten Raum im ganzen Haus, und setzte Wasser auf.
Im ganzen Haus waren Holzböden, die knarrten, wenn man darüberging. Nur in der Diele gab es einen Mosaikfußboden, der sehr gut erhalten war. Hier stand auch ein alter Kachelofen, der noch funktionierte und vermutlich das komplette Haus beheizen würde.
Die Wände der Küche waren so schief, dass man wohl nie eine gewöhnliche Einbauküche dort unterbringen konnte. Doch das würde Charlotte auch gar nicht wollen.
Sie nahm zwei Tassen aus dem Regal, das sie neu angeschafft hatte, damit sie wenigstens etwas Geschirr unterbringen konnte. In der Küche stand auch eine alte Küchenhexe, die sicherlich ewig nicht mehr benutzt worden war. Ein echtes Schätzchen. Charlotte war damals in lautes Jubeln ausgebrochen, als sie sie entdeckt hatte.
Außerdem gab es eine große Keramikspüle, auch die uralt und verkratzt. Charlotte hatte sie geschrubbt und poliert, aber auch danach sah sie noch immer genauso alt aus, wie sie vermutlich war.
In der Mitte des Raums hätte ein riesiger Tisch mit mindestens sechs Stühlen darum Platz. Charlotte gab sich hin und wieder romantischen Träumen und Phantasien hin: Sie umgeben von Familie und Freunden in dieser großen Wohnküche, versammelt um einen langen Holztisch mit verschiedenen Stühlen, luftige Vorhänge an den Fenstern, die nie zugezogen werden mussten, weil es keine Nachbarn gab, die neugierige Blicke hereinwerfen konnten. Grete war die einzige Nachbarin, und selbst sie wohnte so weit entfernt, dass es sich lohnte, das Rad zu nehmen. In der Diele würde ein Bauernschrank stehen, und die Holztreppe wäre ausgebessert, abgeschliffen und neu gestrichen worden, genau wie die alten Holzfußböden.
Ihr eigener lauter Seufzer riss sie unsanft aus ihren Gedanken.
Grete stand in der Tür und blickte sie erstaunt an. »Was seufzt du denn so?«
»Ich hab gerade darüber nachgedacht, was man aus diesem Häuschen alles machen könnte.«
»Das hat mein Fritz auch immer gesagt.«
Gretes Mann war ein Jahr zuvor gestorben. Charlotte hatte ihn als freundlichen, überaus warmherzigen Menschen kennengelernt.
Sie stellte den Keramikfilter auf die Porzellankanne, die sie erst neulich auf dem Flohmarkt erstanden hatte, und ließ das kochende Wasser durchlaufen. Sofort erfüllte ein würziger Kaffeeduft den Raum.
»Hast du die Katzen gefunden?«
Grete nickte schmunzelnd. »Drei. Eine hübscher als die andere.«
»Drei? Na, Hauptsache, sie fangen ordentlich Mäuse. Hast du schon gefrühstückt?«
»Hast du was mitgebracht?«, fragte Grete zurück.
Charlotte wusste, wie sehr Grete frische Brötchen liebte, ganz besonders die mit Rosinen. Sie zeigte auf den Korb, den sie auf einen der Stühle gestellt hatte. »Frische Rosinenbrötchen.«
»Wie du mich wieder verwöhnst.«
Lohn hatte Grete von Anfang an nicht gewollt. »Was brauch ich groß«, hatte sie gemeint. »Wenn ich mir ab und zu ein bisschen Käse mitnehmen darf, reicht mir das.«
Charlotte stellte zwei Teller auf den Tisch, dazu zwei unterschiedliche Kaffeebecher. Dann holte sie ein Stück Butter aus dem großen Kühlschrank.
»Oben bei mir auf dem Speicher hab ich einen Schrank und eine Frisierkommode«, erzählte Grete, während sie sich ein Rosinenbrötchen mit Butter bestrich. »Kannst sie dir ja mal anschauen. Würden prima hier reinpassen.«
Charlotte hatte im Geiste schon einige aufgearbeitete Möbel in den Räumen gesehen.
Grete strich ihr über den Handrücken. »Irgendwann machst du dir das Haus fertig.«
Hatte sie Charlottes Gedanken gelesen?
»Wenn ich im Lotto gewonnen habe.« Charlotte verzog das Gesicht. »Dazu müsste ich aber erst mal Lotto spielen.«
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