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Große Gefühle zwischen Darß und Bodden Nora, 35, ist erfolgreiche Fotografin und lebt mit ihrem Freund Phil im schönen Ahrenshoop. Das einzige, was Nora zu ihrem Glück noch fehlt, ist ein Kind. Leider will es nicht klappen. Auf einem Klassentreffen trifft sie ihre Jugendliebe Marco wieder, es kommt zu einer folgenreichen Nacht an der Ostsee. Als wäre das nicht genug, gibt Noras Vater ihr die Briefe ihrer verstorbenen Mutter. Sie offenbaren eine bittere Wahrheit, und Noras Bild von Familie wird in den Grundfesten erschüttert ...
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Das Buch
Die 35-jährige Nora ist nach Fischland zurückgekehrt, um sich nach dem Tod ihrer Mutter um ihren Vater zu kümmern. Gemeinsam mit ihrer großen Liebe Phil möchte sie in Ahrenshoop eine Familie gründen. Aber leider wird Nora nicht schwanger. Als sie auf einem Klassentreffen ihren Jugendfreund Marco wiedertrifft, knistert es gewaltig zwischen den beiden. Und es kommt zu einer folgenschweren Nacht, die Nora am liebsten ganz schnell vergessen möchte. Aber dann stellt sie fest, dass sie schwanger ist. Von Marco? Soll sie Phil alles beichten oder darauf hoffen, dass doch er der Vater ist? In dieser turbulenten Zeit findet Nora Briefe ihrer Mutter: War ihr bisheriges Leben eine einzige Lüge?
Die Autorin
Susanne Lieder wurde 1963 in Ostwestfalen geboren. Sie ist verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann auf einem kleinen Resthof in der Nähe von Bremen. Wenn sie könnte, würde sie sofort auf den Darß ziehen.
Von Susanne Lieder sind in unserem Hause außerdem erschienen:
Ostseewind und SanddornküsseHerzmuscheln und BernsteinnächtePusteblumensommer
SUSANNE LIEDER
Frühstück in den Dünen
Ostsee-Roman
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-1746-5
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Für Anne
Ahrenshoop auf Fischland
Vier Tage. Vier Tage voller Bangen, Hoffen und Wünschen. An diesem Morgen betrachtete Nora sich prüfend im Spiegel. Sah sie anders aus als sonst?
Sie putzte sich die Zähne, wusch ihr Gesicht und band ihre langen Haare zu einem Zopf.
Da! War das nicht ein Ziehen in ihrem Unterleib gewesen? Nein, das musste sie sich eingebildet haben. Genau wie das kurze Unwohlsein gleich nach dem Aufstehen.
Allmählich werde ich paranoid …
War das ein Wunder?
Auf Zehenspitzen lief sie ins Schlafzimmer und öffnete leise die Schublade ihres Nachtschranks. Sie nahm das Blatt mit ihrer Temperaturkurve heraus und starrte sekundenlang darauf. Vier Tage …
Phil hatte ihr den Rücken zugedreht und schien noch fest zu schlafen.
Nora schlüpfte in Jeans und Shirt und ging in die Küche, um Frühstück zu machen. Am Stuhl hing ihre Handtasche. Komm schon, du weißt die Daten inzwischen auswendig …
Trotzdem holte sie ihren Taschenkalender heraus und blätterte ein paar Seiten zurück und gleich wieder vor. Nein, sie hatte sich nicht verrechnet. Natürlich nicht.
Mit einem leisen Seufzen steckte sie den Kalender zurück in die Tasche und stellte sich ans Fenster. Es war gekippt, und lautes Vogelgezwitscher drang ins Zimmer, genau wie das leise Rauschen der nahen Ostsee.
Die Toilettenspülung war zu hören, Phil war offenbar aufgestanden.
Sie wollte aufspringen und zu ihm laufen.
Vier Tage, Phil, vielleicht hat es diesmal geklappt …
Nein, sie würde es ihm nicht sagen. Noch nicht. Ein, zwei Tage würde sie noch warten.
»Morgen, Schatz.« Er stand in der Tür, das braune, leicht gelockte Haar zerzaust, die linke Wange gerötet. »Gut geschlafen?«
Sie nickte und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss zu geben. »Und du?«
»Wie ein Baby.«
Sie schluckte. »Kommst du frühstücken?«
»Ich ziehe mir nur schnell was an.«
Es war Samstag, und sie freuten sich auf ein ausgiebiges, gemütliches Frühstück.
Gedankenverloren betrachtete Nora den gedeckten Tisch und stellte sich vor, dass auch ein Kinderteller darauf stehen würde. Gleich neben ihrem Teller.
Ach verdammt, sie hatte sich doch verboten, über so etwas nachzudenken! Das hatte Zeit bis …
Phil kam wieder herein, und sie fuhr zusammen.
»Du siehst so nachdenklich aus.« Er schenkte ihr Kaffee ein. »Alles in Ordnung?«
»Klar. Worauf hast du heute Lust? Wir könnten faul am Strand rumliegen«, schlug sie vor.
Er biss in sein Marmeladenbrötchen und nickte. »Klingt gut. Ich muss nur erst noch ein paar Hefte korrigieren. Bis zum Mittag müsste ich aber durch sein.« Er legte das Brötchen auf den Teller. »Wirklich alles okay?«
Er sieht es mir an. Er sieht es mir immer an …
»Ja, wirklich, Phil«, antwortete sie mit Nachdruck.
»Hast du Lust auf Musik?« Er stand auf und ging zur kleinen Stereoanlage, die im Regal stand. »Wie wär’s mit Jazz? Oder lieber Pop?«
»Am liebsten wäre mir Radio.«
Sie hörten dem Moderator zu, der berichtete, wie sommerlich das Wetter in den kommenden Tagen werden würde.
»Ein Mai, der eigentlich ein Juli ist.« Phil zerknüllte seine Papierserviette. »Und mein erster Mai auf Fischland.«
Er war Stadtmensch durch und durch, und dennoch hatte er keine Sekunde gezögert, mit ihr hierherzuziehen.
Ihre Mutter war vor knapp einem Jahr nach längerer Krankheit und für ihre Familie trotzdem völlig überraschend gestorben. Als ihr Vater begonnen hatte, mehr zu schweigen, als zu reden, hatte Nora beschlossen, wieder nach Fischland zu ziehen, um in seiner Nähe sein zu können.
Dabei hatte sie in Berlin beruflich gerade Fuß gefasst, und privat hatten sie und Phil eine Menge Pläne gemacht. Es gab den Traum von einem kleinen Haus am Stadtrand, und sie wollten eine Familie gründen. Nora hätte ihrer Mutter gern ein Enkelkind geschenkt. Kinder waren ein Symbol für das Leben, und genau das sollte auch ihre Mutter: leben, gesund werden.
Sie waren zuversichtlich und optimistisch gewesen. Doch dann der Anruf ihres Vaters: Mama ist heute Nacht gestorben, Nora.
Dieser eine Satz hatte alles auf den Kopf gestellt und sämtliche Pläne von jetzt auf gleich zunichte- und damit völlig bedeutungslos gemacht.
Phil drückte ihre Hand. »Warum sagst du mir nicht, was los ist?«
»Ich musste nur gerade an meine Mutter denken.« Sie stand hastig auf. »Ich sehe mal nach meinem Vater.«
»Tu das.« Er seufzte. »Und ich erledige brav meine Pflichten als Lehrer.«
Ihr Vater wohnte nur ein paar Straßen entfernt.
Das Haus war inzwischen eigentlich viel zu groß für ihn allein, aber er hatte darauf bestanden, dass sie sich eine eigene Wohnung suchten. Ihr braucht Zeit und Platz für euch, hatte er gemeint, es wäre nicht gut, wenn wir drei ständig aufeinanderhocken.
Noch immer gab es Momente, wo Nora nicht glauben konnte, dass ihre Mutter nicht mehr da war. Es passierte, dass sie ihr Smartphone nahm, um sie anzurufen, oder dass ihr durch den Kopf ging: Das muss ich unbedingt Mama erzählen.
Die Sonne schien, es würde wieder ein warmer Tag werden.
Eine längere Autokolonne schob sich die Straße entlang.
Für gewöhnlich begannen die Touristenströme Mitte Mai und ebbten Ende September wieder ab.
Als Nora auf ihr Elternhaus zuging, wurde ihr bewusst, dass sie eine Hand auf ihren Bauch gelegt hatte. Ein vages, sehr flüchtiges Gefühl von Hoffnung vermischt mit Vorfreude durchströmte sie. Vielleicht hatte es diesmal ja wirklich geklappt.
Ihr Handy klingelte. Holger ruft an.
Sie hatten dieselbe Schule besucht, er war eine Klasse über ihr gewesen. Damals waren sie nicht befreundet gewesen, mittlerweile schon.
»Hallo, Nora. Alles klar?«
»Ja, und bei dir?«
»Alles bestens. Wo bist du gerade?«
»Auf dem Weg zu meinem Vater.«
»Ich würde gerne was mit dir besprechen. Kannst du vorbeikommen, dann können wir in Ruhe darüber reden?«
»Einverstanden. Sagen wir in zwei Stunden?«
»Gut, dann bis später.«
Ihr Vater stand bereits in der Tür, als sie den Weg entlangkam. »Morgen, Nora, wie schön.«
Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Tag, Paps. Gut geschlafen?«
»Einigermaßen. Zwei Katzen haben sich unter dem Fenster gebalgt. Irgendwann hab ich das Fenster aufgemacht und gebrüllt, dass ich ihnen die Ohren langziehe, da sind sie weggelaufen.«
Sie ging in die Küche. Offensichtlich war er gerade beim Frühstück. Wie immer war sie erleichtert, dabei hätte sie ruhig ein bisschen zuversichtlicher sein können. Er trauerte nach wie vor, das würde sich wahrscheinlich auch nie ändern, aber er blickte endlich wieder nach vorn. Optimistisch und zuversichtlich.
»Geht’s dir gut?«, fragte er sie.
Als Kind hatte sie geglaubt, er könne ihr direkt in den Kopf schauen und ihre Gedanken lesen.
»Ja, mir geht’s gut, Paps.«
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Der Rasen war frisch gemäht, sogar die Terrasse war gefegt und zwei Töpfe mit roten Blumen standen darauf. »Hast du die selbst eingepflanzt?«
Er stellte sich neben sie. »Natürlich, oder dachtest du, dein alter Vater kann so was nicht?«
»Du kannst doch alles«, erwiderte sie und zwinkerte ihm zu. Als kleines Mädchen hatte sie auch das geglaubt. »Was sind das für Pflanzen?«
»Geranien. Halten einem die Fliegen vom Leib.«
»Dann will ich auch welche.«
»Ich habe noch zwei oder drei, die pflanz ich dir ein.«
»Das kann ich doch selbst machen, Paps.«
Er blickte sie belustigt an. »Ach ja? Ich dachte, bei dir gehen sogar die Kakteen ein.«
»Das stimmt. Den grünen Daumen hab ich leider nicht von Mama geerbt.«
»Warum kommt ihr morgen Abend nicht zum Grillen vorbei?«, schlug er vor. »Du könntest deinen berühmten Kartoffel-Gurken-Salat machen.«
Sie musste lachen. »Auch kochen konnte sie besser. Aber ich gebe nicht auf.«
Sie öffnete die Terrassentür und atmete den Duft von gemähtem Gras ein. Es erinnerte sie jedes Mal an ihre Kindheit.
Sie ging zu dem Kräuterbeet, das ihre Mutter vor ein paar Jahren angelegt hatte. Es wimmelte nur so von Hummeln und Bienen, auch ein paar Tagpfauenaugen flatterten umher.
»Der Borretsch blüht.« Ihr Vater hatte sich hinter sie gestellt. »Sonja hat manchmal kleine Sträuße gepflückt und im Haus verteilt.«
Nora bückte sich, um ein paar Stängel abzupflücken. Was schwierig war, die ersten hatte sie bereits völlig verbogen.
»Warte, ich hole ein Messer.« Ihr Vater verschwand im Haus.
Hier an diesem Kräuterbeet fühlte sie sich ihrer Mutter näher als irgendwo sonst. Sie ging zwar regelmäßig zum Friedhof, spürte dort aber nicht dieses intensive Gefühl.
Ihr Vater kam zurück und legte ihr ein kleines Messer in die Hand. »Pass auf, dass du dich nicht schneidest. Es ist frisch geschliffen.«
Sie schnitt vier kleine Stängel ab und roch daran. Auch dieser Geruch erinnerte sie an ihre Mutter.
»Wie geht’s Phil?«
Sie drehte sich zu ihrem Vater um. »Er korrigiert gerade Mathearbeiten.«
Er schmunzelte und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Manchmal frage ich mich noch immer, wie du ausgerechnet an einen Mathematiklehrer geraten konntest.«
Sie musste lachen. Zahlen waren schon immer ein rotes Tuch für sie gewesen. »Ja, das frage ich mich hin und wieder auch. Mit dem Rechnen, dem Kochen und den Pflanzen hab ich’s nicht so, aber ansonsten bin ich unglaublich talentiert.«
Er legte den Arm um sie, und sie lachten beide. Dann wurde er wieder ernst. »Ich habe mir übrigens überlegt, ein bisschen kürzerzutreten.«
Sie war erleichtert. Wie lange hatte sie ihm in den Ohren gelegen, die Tischlerei zu verpachten oder wenigstens nur noch halbtags zu arbeiten. Immerhin war er inzwischen fünfundsechzig. Doch sie wusste, dass er die Arbeit brauchte, nicht nur, weil sie ihn ablenkte. »Gute Entscheidung, Paps.«
»Ich könnte Hermann fragen, ob er sie nicht pachten will.«
Nora schaute ihn überrascht an. »Wirklich?«
Er zuckte mit den Schultern. Er mochte darüber nachgedacht haben, aber sie kannte ihn viel zu gut und ahnte, dass er den Gedanken wieder verwerfen würde. Trotzdem war sie froh, dass er wenigstens in Erwägung zog, weniger zu arbeiten.
Als sie klein gewesen war, hatte sie viel Zeit in der Tischlerei verbracht. Sie liebte den Geruch von Holz und hatte erstaunlich gut damit umgehen können. Eine Weile hatte es tatsächlich so ausgesehen, als würde sie die Tischlerei ihres Vaters übernehmen. Wie froh und stolz ihn das gemacht hätte. Doch dann hatte sie einen Fotoapparat in die Hand bekommen und alle Pläne über Bord geworfen.
Ihr Vater hatte verständnisvoll wie immer reagiert: Ich möchte, dass du glücklich und zufrieden bist und einen Beruf ergreifst, der dich erfüllt.
Zwei Spatzen stritten um einen Regenwurm, und der Nachbarskater machte seinen morgendlichen Spaziergang.
Nora zeigte auf ihn und lachte. »Das ist die Gelegenheit, Paps.«
»Er ist keiner der Übeltäter. Jeden Morgen streift er durch den Garten und hat schon so manche Wühlmaus gefangen. Und er hält mir die Maulwürfe vom Leib.« Er lachte ebenfalls. »Na ja, nicht alle.«
Der schwarz-weiße Kater war vor einem Maulwurfshügel stehen geblieben, die Ohren nach vorn gelegt.
Noras Vater wurde wieder ernst. »Ständig denke ich, sie kommt gleich ins Zimmer und schimpft, weil ich meine dreckigen Arbeitsschuhe wieder zu den sauberen ins Regal gestellt habe. Oder ich höre mich fragen, was wir zu Mittag essen wollen. Ich weiß, sie fehlt dir genauso, Nora.« Er seufzte. »Wir müssen es irgendwie hinkriegen, an sie denken zu können, ohne jedes Mal traurig zu werden.«
»Es wird besser, Paps, irgendwann wird es leichter. Ich glaube fest daran.«
Er nickte abwesend. »Ich habe übrigens gestern eine alte Schulkameradin von dir getroffen.« Er kratzte sich am Kinn. »Wenn mir doch bloß ihr Name einfallen würde, verflixt und zugenäht«, brummte er. »Ich fürchte, ich werde allmählich doch vergesslich.«
»Du doch nicht, Paps. Wie sah sie denn aus?«
»Tja … rötliches Haar, ungefähr so groß wie du, hübsch. Sie hat mich beim Bäcker angesprochen: Sind Sie nicht der Vater von Nora? Bitte grüßen Sie sie von mir. Und dann hat sie mir ihren Namen gesagt, und ich alter Schussel hab ihn gleich wieder vergessen.«
Nora winkte gleichmütig ab. Bestimmt würden sie sich auf dem Jahrgangstreffen über den Weg laufen. Dumm nur, dass sie eigentlich gar nicht vorhatte hinzugehen, auch wenn sie sich angemeldet hatte.
»Vielleicht seht ihr euch auf dem Klassentreffen.«
Sie schaute ihren Vater kopfschüttelnd an. »Manchmal bist du mir unheimlich, Paps. Ich glaube nicht, dass ich hingehen werde.«
»Ach ja?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich interessiert’s mich überhaupt nicht, wer verheiratet oder geschieden ist, Kinder hat …« Sie verstummte.
Ihr Vater grinste. »Eigentlich. In Wahrheit bist du viel zu neugierig, was aus deinen ehemaligen Klassenkameraden geworden ist.«
»Nein.«
»Auch nicht, wie es Marco geht?«
»Nein.«
Marco und sie waren damals ein Paar gewesen, fast zwei Jahre lang. Eine Jugendliebe, nichts weiter. Sie hatte erst wieder an ihn gedacht, als die Einladung zum Jahrgangstreffen gekommen war.
»Und was ist mit Jasmin?« Er legte die Hand über die Augen, weil die Sonne ihn blendete.
Nora verdrehte die Augen. »Sie läuft mir manchmal über den Weg, und wenn ich ehrlich bin, reicht mir das völlig.«
Damals waren Jasmin und sie Freundinnen gewesen, ziemlich gute sogar. Jasmin war auf Fischland geblieben, um eine Ausbildung zur Hotelfachfrau zu machen, während Nora nach Berlin gezogen war, um Fotografie zu studieren. Ihr Kontakt war immer unregelmäßiger geworden, bis er schließlich ganz abgebrochen war. Inzwischen arbeitete Jasmin im Strandhotel, wo das Treffen stattfinden sollte.
»Christina … Karina«, murmelte ihr Vater vor sich hin, »wenn mir doch bloß dieser verflixte Name einfallen würde.«
»Katharina?«, half Nora ihm auf die Sprünge.
Sein Gesicht hellte sich auf. »Katharina! Ja, das war’s!«
Nora lächelte. »Katha Bertram, Englisch- und Deutsch-Leistungskurs.« Besonders gemocht hatten sie beide sich nicht. Katha war immer etwas spröde und unnahbar gewesen. »Seltsam, dass du mir Grüße ausrichten sollst. Ich glaube, Katha konnte mich damals nicht ausstehen.«
Er hob verwundert die Augenbrauen. »Den Eindruck hatte ich nicht. Und du? Mochtest du sie?«
»Nein, ehrlich gesagt nicht.«
Er machte »Hmm«, dann sagte er: »Ich gehe heute Abend übrigens Skat spielen.«
»Wie schön.« Sie drückte seinen Arm. »Das freut mich.«
»Du tust ja gerade so, als wäre es Jahre her, dass ich das letzte Mal Karten spielen war.«
Sie betrachtete ihn liebevoll. »Es ist Jahre her, Paps. Komm, lass uns ins Haus gehen. Ich muss auch gleich wieder los. Holger möchte was mit mir besprechen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Und ich muss noch alles für den Kartoffelsalat einkaufen.«
Auf dem Weg nach Stralsund fiel Nora die Fernsehsendung ein, die sie neulich gesehen hatte. Ein evangelischer Pfarrer hatte darüber gesprochen, wie wichtig es sei, dass trauernde Hinterbliebene über ihren Verlust sprechen.
Ob er eine Ahnung davon hatte, wie anstrengend das für die Mitmenschen des Trauernden war? Wie schwierig es war, ständig signalisieren zu müssen, noch immer zuhören zu wollen, egal, wie gern man manchmal sagen würde, dass die Zeit alle Wunden heilt und es besser wird, erträglicher? Wie sehr das eigene Leben ins Hintertreffen geriet, wenn man jemandem zur Seite stand, der lange trauerte?
Nora wusste das alles, weil sie selbst noch immer trauerte und über ihre Mutter sprechen wollte. Weil sie befürchtete, sie könnte sonst vergessen werden, egal, wie absurd das war.
Sie konnte die mitleidigen und oft auch ungeduldigen Blicke manchmal nicht ertragen, dieses Wie-lange-ist-das-jetzt-eigentlich-her?, das niemand laut aussprach, aber immer in der Luft lag. Sie hatte häufig das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen, weil sie immer noch traurig und niedergeschlagen war. Aber es würde besser werden, leichter, das hatte sie eben selbst gesagt, um ihren Vater aufzumuntern.
Sie ließ das Seitenfenster herunter.
Wie ihr Leben sich ändern würde, wenn sie ein Kind hätten.
Seit fast anderthalb Jahren maß sie Morgen für Morgen ihre Temperatur, zählte die fruchtbaren Tage und achtete auf ihre Ernährung. Von dem Sex »auf ärztlichen Rat« ganz zu schweigen. Davon, miteinander zu schlafen, weil sie Lust aufeinander hatten und die Stimmung ganz besonders romantisch war, waren sie inzwischen meilenweit entfernt. Es ging nur noch um Zeugung und Fortpflanzung und nicht mehr um Leidenschaft.
Wie lange würden sie das wohl noch durchhalten können?
Phil hatte sich noch nie beklagt, aber sie wusste, dass es auch ihm einiges abverlangte.
Sie war so in Gedanken, dass sie falsch abbog.
Als sie schließlich vor der Doppelhaushälfte hielt, die Holger und Steffi vor einem halben Jahr gekauft hatten, blieb sie noch einen Moment im Auto sitzen.
Montag würde sie einen Termin bei ihrer Ärztin machen. Und bis dahin versuchen, nicht mehr daran zu denken, was wäre, wenn.
Ein Häuschen im Neubaugebiet, ein täglicher Plausch mit den Nachbarn zur Linken und dreimal im Jahr ein gemeinsames Grillfest, das war nichts für sie und Phil.
Zu ihnen passte ein windschiefes Fachwerkhaus mit einem verwunschenen Garten, in dem sie Dutzende Vogelhäuser und Insektenhotels aufstellen und abends unter einem Birn- oder Apfelbaum sitzen und den Mond beobachten konnten.
Ein adrettes Vorgärtchen mit gestutzten Mandelbäumchen und in Form geschnittenen Buchsbaumkugeln war ebenfalls nichts für sie.
Das ging Nora durch den Kopf, als sie kurz darauf mit Holger auf der Terrasse saß. Er hatte Kaffee gekocht und ihr ein Stück Marmorkuchen mit Schokoladenüberzug auf den Teller gelegt. »Selbst gekauft.«
Sie musste lachen. »Schokokuchen um diese Zeit?«
Holger schaute sie verwirrt an. »Du hast recht. Ich war mit meinen Gedanken wieder ganz woanders. Entschuldige. Das Vaterwerden hab ich mir nicht so aufregend vorgestellt.«
Es versetzte ihr einen leisen Stich, aber sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ist Steffi gar nicht da?«
»Sie hat sich hingelegt. Das Wetter macht ihr ein bisschen zu schaffen.«
Nora nickte mitfühlend. Den heißen Stich im Magen ignorierte sie weiterhin eisern, fast wütend. Sie sah, dass Holger bereits ein rot-blaues Schaukelgestell mit Klettergerüst im Garten aufgestellt hatte. »Schokokuchen am Vormittag und eine Schaukel, obwohl das Baby noch nicht mal auf der Welt ist.«
Er grinste und zeigte auf die Schaukel. »Ich muss zugeben, dass es mich in den Fingern gejuckt hat.«
»Das verstehe ich.« Und wie sie das verstand. »Als Kind hatte ich eine Schaukel in einem unserer Apfelbäume. Ich hab oft stundenlang dagesessen und geschaukelt. Heute wird mir schon nach zwei Minuten schlecht.«
Er sprang auf. »Ich hab die Milch vergessen, entschuldige.« Er verschwand im Haus, und Nora stand auf und ging zur Schaukel.
Vorsichtig setzte sie sich auf das schmale Brett und stieß sich mit den Füßen ab. Sie lehnte sich zurück so wie früher und nahm Schwung. Ihr Zopf löste sich, und ihr blondes Haar flatterte wie ein Segel.
Holger kam zurück und grinste. »Brauchst du einen Eimer?«
»Nein, geht schon.« Sie baumelte mit den Beinen und sprang ab. Als kleines Mädchen hatte sie manchmal im Stehen geschaukelt, wenn ihre Mutter nicht in der Nähe gewesen war.
Sie setzte sich wieder. »So, und jetzt bin ich gespannt, was du mit mir besprechen wolltest.«
Er lehnte sich bequem zurück und faltete die Serviette ordentlich zusammen. »Könntest du dir vorstellen, auch Hochzeitsfotografie zu machen?«
»Klar.«
»Ich spreche nicht von diesen langweiligen Fotos, wenn die Ringe getauscht werden oder die Torte angeschnitten wird.«
»Du meinst Fotos, auf denen Braut und Bräutigam bis zur Hüfte im Heu stehen oder beim Fallschirmspringen Ja sagen?« Sofort war sie neugierig geworden.
Holger nickte. »Ein Bekannter hat mich angesprochen und gefragt, ob ich nicht einen guten Fotografen wüsste. Es gäbe allerdings ein kleines Problem.«
»Die Hochzeit ist in Afrika, was bedeuten würde, dass ich in ein Flugzeug steigen müsste.« Er wusste von ihrer Flugangst.
»Nein, nein, keine Sorge.«
»Du verlangst eine Vermittlungsprovision. Wie viel?«
Jetzt lachte er lauthals. »Darauf hätte ich auch selbst kommen können. Was würdest du von fünfundzwanzig Prozent halten?«
Sie zeigte ihm einen Vogel. »Du spinnst, Holger. Zehn.«
»Zehn Prozent? Willst du, dass unser Kind betteln gehen muss?«
»Schön, dann fünfzehn.«
Er streckte die Hand aus. »Abgemacht.«
»Ach komm, lass uns noch ein bisschen feilschen«, bat sie noch immer ernst.
»Ich würde natürlich keinen Cent von dir nehmen«, meinte er genauso ernst.
Sie tat so, als würde sie das überraschen. »Das ist aber großzügig. Was ist jetzt mit dem kleinen Problem?«
»Ich weiß ja, wie enorm flexibel du bist. Und einfühlsam. Und zimperlich bist du auch nicht …«
Sie hob lachend die Hand. »Das klingt nach einem größeren Problem. Nun sag schon.«
»Die Braut ist etwas … schwierig.«
»Wie schwierig?«
»Steffi würde sagen: Sie ist die größte Zicke auf diesem Planeten.«
»Mit Zicken werde ich schon fertig.«
»Genau das hab ich meinem Bekannten auch gesagt. Dann müssen wir nur noch den Preis aushandeln.« Er stand auf. »Darauf stoßen wir an.«
Nora hatte nur am Sekt genippt, dann verabschiedete sie sich von Holger und ging die Holztreppe hoch, um nach Steffi zu sehen.
Die Tür vom Kinderzimmer stand offen, und sie warf einen Blick hinein. Auf der Tapete waren kleine Teddybären mit blauen und roten Schleifen um den Hals, und an der Wand standen eine Wickelkommode und ein niedlicher Kleiderschrank.
Vor dem Fenster stand eine Wiege. Nora ging hin und betrachtete die Spieluhr, die am Himmel befestigt war. Sie zog am Band und »Weißt du, wie viel Sternlein stehen?« erklang.
Ihr Magen zog sich zusammen, und sie drehte sich abrupt um.
Nein, sie würde sich keinen weiteren Gedanken an ein eigenes Kind, ein Baby, gestatten.
Sie verließ das Zimmer und stellte fest, dass die Schlafzimmertür nur angelehnt war. Leise klopfte sie an. »Steffi? Schläfst du?«
»Komm rein, Nora.«
Steffi saß aufrecht im Bett, zwei Kissen im Rücken, die Wangen gerötet, das helle Haar zerzaust. Sie wirkte zart und zerbrechlich, aber Nora wusste, dass sie alles andere als das war. Im Zimmer war es warm und stickig. Wie hielt Steffi das bloß aus?
»Darf ich ein Fenster aufmachen?«
»Liebend gern. Holger hat immer Angst, ich könnte mich erkälten.« Sie klopfte neben sich auf die Matratze. »Setz dich zu mir.«
»Geht’s euch beiden gut?«
Steffi nickte und nahm Noras Hand, um sie auf ihren kugelrunden Bauch zu legen. »Er ist wach. Spürst du das?«
»Er? Dann wisst ihr doch schon, was es wird?«
»Nein, wir sagen meistens ›er‹. Keine Ahnung, wieso.«
»Ich vermute mal, weil dir dein Bauchgefühl sagt, dass es ein Junge ist.«
»Schon möglich. Und ja, Bauchgefühl trifft es ziemlich gut.« Ihr Bauch bewegte sich plötzlich, und auf der unteren rechten Seite erschien eine kleine Beule. »Er spielt wieder Fußball.«
Nora lächelte, als sie einen leichten Stoß unter ihrer Hand spürte. Wie glücklich Steffi sein musste! Sie hatte die Pille abgesetzt und war drei Monate später schwanger geworden.
Nicht alle hatten so viel Glück.
Für einen kurzen Moment erfasste Nora blanke Panik. Was, wenn sie und Phil niemals ein Kind haben würden?
Auf einmal wollte sie nur noch weg, raus aus diesem Zimmer mit der strahlenden werdenden Mutter.
»Alles okay, Nora? Du bist ganz blass.«
Hastig stand sie auf. »Ich glaube, ich brauche ein bisschen frische Luft.« Ihre Knie waren butterweich. Mit zittrigen Fingern strich sie ihr Shirt glatt. »Bis dann, Steffi. Pass auf dich auf. Und auf das Baby natürlich.«
Sie zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich für einen Moment dagegen. Sie sollte sich etwas mehr zusammenreißen.
Sie war froh, als sie wenig später in ihrem Auto saß. Hier fühlte sie sich sicher, weil sie sich nicht verstellen musste.
Phil
Phil saß im Arbeitszimmer, vor sich auf dem Tisch einen Stapel Mathematikhefte, die noch korrigiert werden mussten.
Ein paar Arbeiten hatte er bereits durchgesehen.
Es war stickig im Zimmer, dabei hatte er das Fenster weit geöffnet. Die Blätter seiner krummen und schiefen Yuccapalme flatterten im Wind. Er hatte sie vor einigen Jahren vor einem Müllcontainer entdeckt und mitgenommen.
Er nahm das obere Heft vom Stapel und schlug es auf.
Isabel Schumann. Ein hoffnungsloser Fall. Das war nicht seine Meinung, nein, sie selbst bezeichnete sich so. Dabei bräuchte sie nur einen kleinen Schubs, eine ordentliche Portion Selbstvertrauen und einen guten Nachhilfelehrer.
Aber davon wollte sie nichts hören. »Das Abi hab ich mir eh längst abgeschminkt«, hatte sie heute zu ihm gesagt und die Schultern gezuckt. »Wozu also sollte ich mich abstrampeln? Ich mach eine Ausbildung bei meiner Mutter in der Praxis, und gut ist.«
In dieser Hinsicht war sie vielleicht wirklich ein hoffnungsloser Fall. In dem Mädchen steckte so viel mehr.
Philipp Weinreich gehörte zu der Sorte Lehrer, die sich am liebsten jedes Schülerschicksals annehmen würden und früher oder später dann doch kapitulieren mussten.
Er seufzte und nahm den roten Stift in die Hand.
Als er Noras Schlüssel in der Tür hörte, hatte er nur noch drei Hefte vor sich. Er streckte sich und gähnte.
Sie schaute zur Tür herein. »Hallo, du bist ja immer noch fleißig.«
Er nickte träge. »Und ich hab einen Mordskohldampf. Wie war’s bei Holger?«
»Er hat einen Auftrag für mich. Eine Hochzeit. Und er hat mich vorgewarnt, die Braut soll ziemlich anstrengend sein.«
Er betrachtete sie. Wie hübsch sie war, wenn sie so strahlte und ihre Augen leuchteten. Dabei hatte sie heute Morgen noch einen zerstreuten, fahrigen Eindruck gemacht, und er hatte überlegt, ob sie etwas belastete.
»Damit wirst du doch locker fertig.«
Sie lächelte. »Das hab ich Holger auch gesagt. Soll ich uns was kochen?«
Er stutzte. Sie wollte etwas kochen? Freiwillig?
Er stand auf, nahm einen Stift vom Tisch und ging zum Wandkalender.
»Wichtige Termine?«, fragte sie hinter ihm.
Er grinste in sich hinein. »Wie man’s nimmt. Ich hab eingetragen, dass du was kochen möchtest.«
Er hörte die Zeitung rascheln, duckte sich, und als sie geflogen kam, verfehlte sie ihn um Längen. »Gut, dass du Fotografin und nicht Handballspielerin geworden bist.«
»Und jammerschade, dass du Lehrer und nicht Koch geworden bist«, gab sie zurück. »Dann könnte ich mich nämlich jetzt auf den Balkon setzen und die Füße hochlegen. Aber du hast recht, im Ballwerfen bin ich mindestens genauso lausig wie im Kochen.«
»Nun übertreib mal nicht. Deine Spiegeleier sind eine Wucht.«
Mit einem Satz hatte er sie gepackt und an sich gezogen. »Du riechst nach Schokoladenkuchen.« Nicht nur das, sie roch auch nach Aprikosen und Honig. Er küsste sie. »Soll ich uns eine Flasche Wein aufmachen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mir ist heute nicht nach Wein.«
»Nicht? Fühlst du dich nicht gut?«
»Nein, ich … liegt bestimmt am Wetter.«
Ihm wurde klar, was sie beschäftigte, weshalb sie am Morgen so durcheinander gewesen war. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und ein Anflug von kindlicher Vorfreude durchströmte ihn. »Sag bloß, du …?«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Schsch, sprich’s nicht aus, Phil, bitte. Es sind erst vier Tage. Wir haben schon so oft gedacht, dass ich endlich schwanger geworden bin. Lass uns noch ein bisschen abwarten, ja?«
Ihre Worte, ihre leise Stimme rührten ihn. Wie sehr es ihn selbst aufwühlte, verschwieg er. Er hatte sie nicht nur ein Mal schon so erlebt. Er legte die Arme um sie, das Kinn auf ihren Scheitel. »Du ruhst dich jetzt aus, und ich mache uns was zu essen.«
Sie hob den Blick. »Aber …«
»Keine Widerrede«, sagte er entschieden und schob sie vor sich her zur Couch. »Du legst dich brav hin.«
Später beim Abendessen machte Nora einen aufgeräumten, fast aufgedrehten Eindruck. »Ich hab schon ein paar Ideen im Kopf«, erzählte sie, »die Braut barfuß auf rostigen Bahnschienen, das weiße Kleid mit beiden Händen hochhaltend, der Bräutigam hat ihre Schuhe in der Hand, die Hosenbeine bis zum Knie hochgekrempelt, auch er barfuß. Oder die Braut am Strand, ihr Kleid klatschnass und voller Sand.«
Er war froh, dass sie so guter Laune war und Pläne schmiedete, das würde sie wenigstens vorübergehend von ihren Gedanken ablenken. Gedanken, die sich seit mehreren Monaten fast ausschließlich um Schwangerschaft drehten. Es tat ihr nicht gut. Ihm selbst allerdings auch nicht, aber darüber sprach er nicht. »Haben wir eigentlich noch Eiscreme im Gefrierfach?«
»Glaub schon«, murmelte sie abwesend.
Bestimmt sah sie sich im Geiste schon Brautpaare ablichten. »Haben wir auch Sahne da?«
»Hmm …«
»Ich esse mein Eis am liebsten mit geriebenem Käse und Oliven.«
»Hmm …«
»Oder mit Katzenstreu.«
»Ja, lecker …«
Er musste lachen. »Interessant.«
Verwirrt hob sie den Kopf. »Was ist interessant?«
»Deine geschmacklichen Vorlieben.« Er warf einen Blick ins Eisfach.
»Was für Vorlieben?«, fragte sie verwundert.
Ah, da war noch eine Packung Zitroneneis, ihrer beider Lieblingseissorte. Er nahm sie heraus und stellte sie auf den Tisch. »Du warst abwesend, Nora. Schon gut, ich verstehe das.«
Er holte zwei Dessertschalen aus dem Schrank und setzte sich wieder.
Sie strich ihm mit dem Handrücken über die Wange. »Du bist unglaublich.«
»Unglaublich nett oder unglaublich witzig?«
»Beides.«
»Also, ich wäre sofort bereit.«
»Wofür?«
»Für ungewöhnliche, schräge Hochzeitsfotos.« Er zwinkerte ihr zu. »Das würde natürlich bedeuten, dass du mich heiraten müsstest.«
»Ich werde drüber nachdenken«, erwiderte sie vage.
»Nein, wirst du nicht.«
Über das Heiraten und die Ehe hatten sie schon oft gesprochen. Beide fanden es gut, so wie es war. Wozu brauchten sie einen Trauschein?
Er reichte ihr die Dessertschale.
»Soll ich das alles allein essen?«
»Als hättest du jemals Eis stehen lassen. Stell dir ein Foto vor, auf dem das Brautpaar eine Torte anschneiden will, die in sich zusammengefallen ist. Die Braut hat Schokolade im Gesicht, der Bräutigam Sahne. Und um sie herum stehen die Gäste und brüllen vor Lachen. Oder das Brautpaar tanzt Tango oder Salsa anstatt Walzer.«
Sie lächelte ihn an. »Eine schöne Vorstellung. Du hast Fantasie. Vielleicht solltest du umsatteln.«
»Nein, danke, ich bin ganz zufrieden. Du bist die Künstlerin. Ich bin nur ein schnöder Mathe- und Musiklehrer, der versucht, seinen Schülern zu zeigen, wie spannend die Mathematik ist und wie viel Spaß es macht, selbst Musik zu machen, anstatt sie nur zu hören.« Er hob einen Finger. »Und der manchmal auch noch Geschichte unterrichten darf.«
Was ihm großen Spaß machte. Er liebte die griechische Mythologie. Schon als kleiner Junge hatte er alles über den Trojanischen Krieg gelesen, was er in die Finger bekommen konnte. Sein heimlicher Held war Aeneas. Wie gern wäre er so mutig und draufgängerisch gewesen.
»Vergiss nicht, dass du ganz nebenbei auch noch ein ziemlich guter Sänger und Gitarrist bist.« Nora griff nach seiner Hand. »Im Ernst, ich wünschte, ich hätte einen Lehrer wie dich gehabt.«
»Du hättest dich womöglich in mich verliebt, und wir wären zusammen durchgebrannt.« Er drückte ihre Hand. »Das finde ich eine total schöne Vorstellung.«
Am Montagmorgen wurde Nora von Geschirrklappern wach.
Hatte sie verschlafen?
Sie setzte sich auf und nahm den Wecker vom Nachtschrank. Nein, es war kurz vor sieben, genau die Zeit, zu der sie immer aufstand. Meistens wurde sie von allein wach, den Wecker brauchte sie nur selten.
Am gestrigen Abend, nachdem sie von ihrem Vater zurückgekommen waren, hatte sie vor dem Spiegel gestanden, ein Kissen unterm Shirt. Sie war sich vorgekommen wie in einer der Filmszenen, die sie immer schon unglaublich albern gefunden hatte.
So würde ich also schwanger aussehen …
Sie hatte sich hin- und hergedreht und von allen Seiten betrachtet. Schließlich hatte sie das Kissen kopfschüttelnd auf die Couch geworfen.
Irgendetwas ist anders, dachte sie, während sie den Wecker zurück auf den Nachtschrank stellte. Aber was? Es war ein eigenartiges, vages Gefühl von Unbehagen.
Als sie die Beine aus dem Bett schwang, wusste sie es plötzlich. Es war wie eine leise Vorahnung, die sich bestätigt hatte.
Nein! Bitte nicht!
Nora schlug die Bettdecke zurück und erstarrte. Auf dem Laken war ein hellroter Blutfleck.
Sie presste die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien.
Mit einem einzigen Griff hatte sie das Laken abgezogen und in den Wäschekorb gestopft. Ihre Finger zitterten dabei, und ihr Herz schlug so heftig, dass ihr übel wurde.
Sie war wieder nicht schwanger geworden.
Diese Tatsache traf sie wie ein Keulenschlag. All die Bilder, die sie in den vergangenen Tagen vor Augen gehabt hatte, auch wenn sie es nicht zulassen wollte, zerplatzten in diesem Augenblick wie große Seifenblasen, erschienen ihr mit einem Mal lächerlich, verrückt, absurd. Sie würde nicht in einigen Monaten ein Baby im Arm halten, seinen Duft einatmen, über sein weiches Haar streichen.
Jedes Mal, wenn sie gehofft hatte, schwanger zu sein, und es wieder nur ein Irrtum gewesen war, hatte sich die Erde vor ihr aufgetan und sie verschlungen. Sie war sich nutz- und wertlos vorgekommen. Ein kleiner roter Fleck auf einem Laken konnte mit einem Schlag alles auslöschen.
Nach der sprachlosen Ohnmacht folgte jedes Mal die Wut. Auf ihren nutzlosen Körper und die offensichtliche Unfähigkeit, Mutter zu werden.
Nora biss so fest auf ihre Unterlippe, dass es wehtat. Der Schmerz tat gut, er war echt, real und lenkte sie von dem ab, was sie eigentlich schmerzte.
Phil stand plötzlich in der Tür, und er schien sofort zu verstehen. Wortlos breitete er die Arme aus und zog sie fest an sich.
Eine ganze Weile schwiegen sie, bis er schließlich leise sagte: »Wir werden ein Kind haben, Nora.«
Sie machte sich unwirsch los. »Und wann? Wann, Phil?«
»Vielleicht machst du dir zu viel Druck.«
»Druck? Ich bin gerade fünfunddreißig geworden, Phil, kein junges Ding mehr, das noch alle Zeit der Welt hat!«
Er wiegte sie wie ein Kind, und sie begann zu schluchzen wie ein Kind. »Ich kann nicht mehr, Phil, ich kann einfach nicht mehr.«
»Schsch …«
»Immer und immer wieder werden wir enttäuscht, ich halte das nicht mehr aus.« Jetzt war sie wütend auf ihn. Er hatte doch überhaupt keine Ahnung, was in ihr vorging, wie es sich anfühlte, immer wieder feststellen zu müssen, dass man unfähig war, Mutter zu werden.
»Dann lass uns eine Pause machen.«
»Nein!«
»Wir kümmern uns einfach nur um uns selbst, Nora. Vielleicht fahren wir irgendwohin …«
»Nein, Phil, alles, was ich will, ist ein Baby!«
»Wir haben uns ein bis zwei Jahre Zeit gegeben«, erinnerte er sie. Sie wusste, dass er recht hatte und es vernünftig war, eine Pause einzulegen.
»Ich weiß, Phil, aber ich höre inzwischen meine biologische Uhr so laut ticken, dass ich bald einen Hörsturz habe. Ich werde mich untersuchen lassen, vielleicht stimmt irgendwas nicht.«
»Wenn du willst, lasse ich mich auch untersuchen. Würde dich das beruhigen?«
Nun redete er auch noch mit ihr, als sei sie ein Kind, das traurig war und ein Bonbon zum Trost bräuchte.
Heile, heile Gänschen, es ist bald wieder gut?
Sie übertrieb, dramatisierte, auch das wusste sie.
»Nora?«
Sie nickte. »Ja, das würde mich beruhigen.«
»Wir sind nicht das einzige Paar, das etwas Geduld braucht.«
Sie funkelte ihn an, wollte ihm entgegenschleudern, dass es Paare gab, bei denen es sofort klappte. Steffi und Holger zum Beispiel. Doch sie biss sich auf die Zunge. Sie würde ihm unrecht tun.
»Eine Pause würde uns wirklich guttun.«
Sie nickte schweigend. Eine Pause, das klang für sie wie »später, irgendwann, vielleicht, hoffentlich«. Wütend schluckte sie den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Du hast ja recht«, sagte sie leise und zwang sich zu einem Lächeln. »Du musst dich beeilen.«
»Ich lasse dich doch jetzt nicht allein.«
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