Schuster und das Chaos im Kopf - Susanne Lieder - E-Book

Schuster und das Chaos im Kopf E-Book

Susanne Lieder

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Beschreibung

Die Kripo Bremen hat es offenbar mit einem Serientäter zu tun, der Frauen erwürgt und halbnackt auf einer Parkbank oder in einem leerstehenden Haus absetzt. Wo ist ihre Kleidung? Und was ist mit der toten Joggerin, die im Bürgerpark gefunden wurde? Geht auch sie auf sein Konto? Hauptkommissar Schuster und sein Team stochern im Nebel, nichts scheint zusammenzupassen. Da ist es wenig hilfreich, dass er sich ausgerechnet in die Exfreundin eines ersten Tatverdächtigen verguckt …

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Kurzbeschreibung

Die Kripo Bremen hat es offenbar mit einem Serientäter zu tun, der Frauen erwürgt und halbnackt auf einer Parkbank oder in einem leerstehenden Haus absetzt. Wo ist ihre Kleidung?

Und was ist mit der toten Joggerin, die im Bürgerpark gefunden wurde? Geht auch sie auf sein Konto? 

Hauptkommissar Schuster und sein Team stochern im Nebel, nichts scheint zusammenzupassen. Da ist es wenig hilfreich, dass er sich ausgerechnet in die Exfreundin eines ersten Tatverdächtigen verguckt …

Susanne Lieder

Schuster und das Chaos im Kopf

Kriminalroman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2018 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2018 by Susanne Lieder

Lektorat: Lennart Kolbe

Korrektorat: Tatjana Weichel

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-126-3

www.facebook.com/EdelElements/

www.edelelements.de/

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

1.

Bremen, Bürgerpark

Was für eine idiotische Idee, im Dunkeln und bei diesem Nebel im Bürgerpark joggen gehen zu wollen. Durch den dichten Nebel konnte man die Hand vor Augen kaum erkennen. Seit Tagen hatte es geregnet, der Boden war aufgeweicht und glitschig. Ein paar Mal war sie bereits ausgerutscht.

Weit und breit war niemand zu sehen, wahrscheinlich hatten sich alle wegen des scheußlichen Wetters in ihren Häusern verkrochen.

Sie musste stehen bleiben und die Arme über dem Kopf ausstrecken. Sie machte ein paar tiefe Atemzüge. Schon besser.

Ihr Schnürsenkel war offen. Sie beugte sich hinunter, um ihn neu zu binden.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch, ein leises Rascheln. Sie drehte den Kopf, doch sie konnte nichts erkennen.

Da war es wieder! Es klang wie Schuhsohlen auf nassem Laub.

Ach, komm schon, reiß dich zusammen …

Sie lief weiter, etwas schneller jetzt. Erneut ein Rascheln, und es schien näherzukommen.

Sie spürte ihren Pulsschlag im Hals pochen, und als sie einen Luftzug im Gesicht fühlte, hätte sie um ein Haar aufgeschrien.

Sie war jetzt auf dem Weg, der in den Park führte.

Während sie versuchte, locker und leichtfüßig weiterzulaufen, lauschte sie angestrengt. Nein, alles war still.

Du Angsthase. Fast hättest du dir in die Hosen gemacht …

Plötzlich versperrte ihr eine Gestalt den Weg.

Wer ist das? Oh Gott, was soll das …

In diesem Moment spürte sie etwas Kaltes, Hartes in ihrer Brust, einen dumpfen Schlag. Instinktiv riss sie den rechten Arm hoch.

Ein weiterer Schlag.

Sie ging zu Boden, schlug hart auf dem Schotterweg auf.

Seltsam unbeteiligt nahm sie wahr, wie die Gestalt sich über sie beugte …

Wenige Stunden später

Mit hochgekrempelten Jeans watete Hauptkommissar Heiner Schuster durch den Schlamm, die Kapuze seiner Jacke tief ins Gesicht gezogen. „Was für eine elende Sauerei!“, fluchte er. Der Regen lief ihm in die Augen, und er musste blinzeln.

Die Kollegen hatten alle Öljacken oder Anoraks an, nur er trug eine Fleecejacke. Immerhin hatte sie eine Kapuze.

Er war als Letzter zum Fundort gekommen, weil sein alter Peugeot mal wieder nicht angesprungen war. Nur eines der Dinge, die gerade schiefliefen.

Seit Silke ihn rausgeschmissen hatte, campierte er in einem heruntergekommenen Wohnwagen, den er sich von seinem Schwager ausgeliehen hatte. Ein Wohnwagen war immer noch besser als eine dieser Pensionen, in der er sich noch unwohler gefühlt hätte. Allein bei dem bloßen Gedanken an ein Bett, in dem wildfremde Menschen gelegen hatten, wurde ihm übel.

Moritz Kuhn, sein neuer Kollege, stand im Weg herum und wurde vom Rechtsmediziner Carsten Stello, den fast alle nur Doc nannten, angeschnauzt. „Mensch, Kuhn, gehen Sie doch mal zur Seite!“

Sein anderer Kollege Gunnar Grätsch, der ihm freundlicherweise seinen Garten als Campingplatz zur Verfügung stellte, schlug ihm zur Begrüßung kurz und schmerzhaft auf die Schulter. „Na, hast du diesmal schlafen können?“

Seit über 15 Jahren arbeiteten sie gemeinsam bei der Kripo Bremen, und im Laufe der Zeit war Grätsch eine Art väterlicher Freund für Schuster geworden.

Er schüttelte den Kopf und wischte sich den Regen aus dem Gesicht. „Schön wär’s. Wie lange liegt sie schon da?“

Stello seufzte. „Seit etwa neun, zehn Stunden. Bei dem Sauwetter kann ich das erst morgen ganz genau sagen.“

Schuster ging um die Leiche herum und versuchte, sich jedes Detail zu merken – auch wenn es kein schöner Anblick war. Seine obligatorische weiße Mütze war bereits durchnässt und klebte unangenehm am Kopf. Ohne diese Mütze verließ er das Haus nicht. Auch trug er seit einigen Jahren ausschließlich blaue Hemden oder Pullis. Aus einer Angewohnheit war eine Art Tick geworden, den er nicht mehr im Griff hatte, das wusste er wohl.

Kuhn hielt sich dezent im Hintergrund. Frisch von der Fachhochschule – mit einem Notendurchschnitt von 1,2 – war er erst seit wenigen Wochen bei der Kripo.

Ein echter Klugscheißer, aber die Hosen gestrichen voll, wenn er eine Leiche vor sich hat, dachte Schuster, während er ihn betrachtete. Sein junger Kollege lehnte an einem Baum und war ziemlich blass.

„Wer hat sie eigentlich gefunden?“ Schuster drehte eine weitere Runde.

Die Frau mochte um die vierzig sein, hatte lange dunkle Haare, jadegrüne Augen und einen durchtrainierten Körper. Sie trug eine schwarze Jogginghose mit den berühmten weißen Längsstreifen, ein lilafarbenes T-Shirt und eine anthrazitfarbene Kapuzenjacke. Genau so eine, wie auch Schuster sie heute anhatte.

Er ging erneut um die im Matsch liegende Frau herum.

Sie lag auf dem Rücken, ein Bein, das rechte, leicht angewinkelt, die Arme weit ausgebreitet, so als würde sie einen Schneeengel in den Schnee drücken.

Wenn Schnee liegen würde.

Aber es hatte seit Tagen wie aus Eimern geschüttet, und der Fundort sah entsprechend verwüstet aus. Jeder der hier Anwesenden hatte dazu beigetragen, aus dem ohnehin schon unebenen Gelände eine Matschlandschaft zu schaffen.

Seine nagelneuen Sportschuhe sahen inzwischen so aus, als habe er damit bereits mehrere Berge bestiegen. Seine Jeans waren bis zu den Knien vollgespritzt.

Die arme Frau tat ihm leid. Keine Frau der Welt hatte es verdient, tot im Matsch abgelegt zu werden.

Ihr lilafarbenes T-Shirt war bis zum schwarzen Sport-BH hochgerutscht, und auf ihrem Oberkörper waren mehrere Einstiche zu sehen. Außerdem trug sie nur einen Schuh.

„Hat man den zweiten Schuh gefunden?“ Er drehte sich zu den anderen um, aber niemand schien eine Antwort zu haben.

Kuhn lehnte noch immer am Baum. „Vielleicht hat er ihn mitgenommen. Als Trophäe sozusagen.“

„Sie und Ihr Profiler-Tick.“ Schuster beugte sich über die Frau. „Sie hat da was im Gesicht.“

Grätsch sah ihm über die Schulter. „Sieht aus wie ein Kratzer.“

Der Doc stellte sich neben sie. „Er hat sie wahrscheinlich von vorn angegriffen.“

„Und sie hat sich gewehrt“, überlegte Grätsch.

„Und bei dem Handgemenge hat er ihr den Kratzer verpasst.“

„Haben wir eigentlich irgendwelche verwertbaren Spuren in dieser Matschoase?“, fragte Schuster.

Er nahm seine Mütze ab und kratzte sich am Kopf.

Wie lange würde es wohl dauern, bis jemand die Frau als vermisst meldete? Kindern beizubringen, dass ihre Mutter nicht mehr nach Hause kommen würde, gehörte zu den Aufgaben, um die sich niemand riss.

Grätsch blickte in den Himmel und stöhnte. „Kann es nicht endlich aufhören zu regnen?“

Schuster hörte, wie Kuhn sich hinter dem Baum übergab und verdrehte angewidert die Augen.

„Sie ruinieren uns den ganzen Fundort, Kuhn! Reißen Sie sich mal zusammen!“, rief irgendwer.

„Ich brauche jetzt einen starken Kaffee.“ Schuster sah sich um. „Wer hat sie denn nun gefunden?“, fragte er noch mal.

Grätsch zeigte nach links. „Ein paar Jugendliche, warten da drüben. Sind ziemlich mitgenommen. Einer hat da vorn hingekotzt, nachdem sie die Frau gefunden haben.“

„Großartig, noch einer, der den Fundort kontaminiert hat.“ Schuster klopfte sich die Hose ab und ging zu Kuhn. „Kommen Sie, Kuhn, kümmern wir uns um die Presse.“

Er hasste die Kommunikation mit der Presse, die meistens mehr oder weniger einseitig war und darauf hinauslief, dass er sich hinterher fragte, warum er sich nicht einfach umgedreht und sie stehen gelassen hatte.

Seitdem Kuhn in seinem Team war, hatte er sich angewöhnt, ihn mitzunehmen. Besser, sein junger Kollege lernte so früh wie möglich, wie man mit der Presse umzugehen hatte.

Eine junge Reporterin stand bereits an der Absperrung und tuschelte mit ihrem Fotografen. Als der Doc vorbeikam, hielt sie ihm das Mikro unter die Nase. „Was können Sie über die Tote sagen?“

„Woher wollen Sie wissen, dass es sich um eine Frau handelt?“

Sie verlor keine Sekunde die Fassung. „Dann handelt es sich um einen Mann?“

„Das hab ich nicht gesagt.“ Er ging einfach weiter, ließ sie links liegen und stieg in seinen Wagen.

Die Frau hastete nun, ihren Fotografen im Schlepptau, zu Schuster. „Herr Hauptkommissar, was können Sie uns über die Tat sagen?“

„Guten Morgen, so viel Zeit muss sein. Es wird eine Pressekonferenz geben, da erfahren Sie alles Weitere.“ Sein flüchtiges Lächeln sollte Bedauern ausdrücken, das er eigentlich gar nicht empfand.

Sie schien noch etwas sagen zu wollen, doch er saß bereits in seinem Peugeot.

Polizeipräsidium

„Die Spurensicherung hat so gut wie gar nichts gefunden.“ Grätsch stand vor Schusters Schreibtisch und blickte ihn stirnrunzelnd an, als er sah, dass sein Kollege den Telefonhörer abnahm. „Wen rufst du an, Heiner?“

Schuster zuckte mit den Schultern. „Silke. Ich muss einfach wissen, ob’s ihr gut geht.“

Es war kurz nach halb sieben, er hatte weder geduscht noch gefrühstückt, es hatte bisher noch nicht mal für einen Kaffee gereicht. Von lausigen zwei Stunden Schlaf ganz abgesehen.

Sein Telefongespräch dauerte keine zehn Sekunden. „Ja, ich weiß, dass ich dich nicht anrufen soll, Silke. Ja, schon gut. Ich wollte ja auch nur …“

Sie legte einfach auf.

Er starrte grimmig den Hörer an. Hatte sie wirklich gerade „Hol deinen Kram ab und verschwinde aus meinem Leben“ gesagt? Er nahm seine Mütze ab und schleuderte sie mit Schwung in die hinterste Ecke seines Büros.

Sein Kollege stellte ihm einen Becher mit dampfendem Kaffee hin. „Hier, wird dir guttun.“

Eine ganze Weile sagte keiner von beiden ein Wort. Grätsch sah den Regentropfen zu, die an der Fensterscheibe herunterliefen, und Schuster trommelte mit seinem Stift auf den Tisch, während er den Kaffee trank.

„Ich fahr noch mal zum Fundort.“ Er nahm seine Mütze vom Boden und lief aus dem Büro.

Bürgerpark

Früher war er mindestens dreimal die Woche durch den Park gelaufen. Seitdem Silke ihn rausgeworfen hatte, konnte er sich zu nichts mehr aufraffen, alles fiel ihm unendlich schwer. Jede kleinste Unternehmung war eine Hürde, ein Unterfangen, das er lieber aufschob. Ein Wunder, dass er seinen Job noch einigermaßen bewältigte.

Es regnete noch immer. Die Pfützen und Schlammlöcher im Park waren mittlerweile so tief, dass ein Dackel darin baden konnte. Es stank modrig. Selbst die Vögel machten einen frustrierten Eindruck, wie sie, die Köpfe geduckt und mit struppigem Gefieder, auf den Ästen hockten oder im aufgeweichten Laub scharrten.

Schuster fluchte vor sich hin und krempelte seine bereits verdreckten Jeans hoch. Breitbeinig stapfte er über die Pfützen.

Der Fundort war abgesperrt, auch wenn wohl kaum noch jemand daran glaubte, hier noch irgendeine Spur zu finden.

Mit einem Satz sprang er über eine besonders große Pfütze und landete trotzdem in tiefem Matsch. Er blieb stehen und betrachtete von hier aus den Fundort.

Wo hatte der Täter auf sie gewartet? Oder war sie ihm zufällig begegnet?

Schuster zog sich die Mütze tiefer ins Gesicht und blinzelte gegen den feinen Nieselregen an. Sein Handy klingelte.

Es war Grätsch. „Hier ist ein Mann, der seine Frau als vermisst gemeldet hat. Kannst du herkommen?“

Eine knappe Stunde später standen sie zu dritt in der Leichenhalle: Schuster, sein Kollege Grätsch und zwischen den beiden Albert Stolze, ein Mann in den Dreißigern.

„Sind Sie bereit?“ Schuster sah ihn fragend an.

Stolze nickte, und ein leichtes Zucken ging durch seinen Körper, als Schuster das Tuch beiseite zog.

„Ist das Ihre Frau?“

Der Mann starrte auf die Frau, die vor ihm auf dem Metalltisch lag. Nach einer ganzen Weile nickte er.

Grätsch legte ihm eine Hand auf den Arm. „Kommen Sie, ich lasse Sie nach Hause fahren.“

„Ich kann selbst fahren.“

„Sind Sie sicher?“

„Nein.“ Er ging an ihnen vorbei. „Wer hat ihr das angetan?“

Eine Antwort erhielt er nicht.

Stadtteil Findorff

Am Nachmittag saß Schuster bei Stolze in der Küche, auf dem Tisch zwei Becher Tee und ein Teller mit Keksen.

Schuster hatte den ganzen Tag noch nichts Vernünftiges gegessen und nahm sich einen Keks mit Schokoladenüberzug. Wahrscheinlich würde sein angeschlagener Magen gleich wieder rebellieren.

„Sind Sie schon in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?“

Stolze seufzte leise und nickte.

„Wann ist Ihnen aufgefallen, dass Ihre Frau noch nicht zu Hause ist?“

„Sie wollte nur laufen gehen. Das macht sie meistens, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig ist.“

„Ihre Frau ist … war Lehrerin.“

„Mathe und Chemie. Wir arbeiten am selben Gymnasium.“ Stolze räusperte sich. „Ich meine, wir haben am selben Gymnasium …“

„Sie ist also joggen gegangen. Und Sie?“

„Ich jogge nicht.“

„Nein, ich meine, was haben Sie in der Zeit gemacht?“

„Die Küche aufgeräumt.“

„Wissen Sie, wie spät es da war?“

„Kurz vor acht.“ Das kam wie aus der Pistole geschossen.

„Und das wissen Sie so genau?“, hakte Schuster nach.

„Ich wollte die Tagesschau gucken und hab auf die Uhr gesehen.“

„Wie lange läuft … lief Ihre Frau für gewöhnlich?“

„Eine knappe Stunde.“

„Dann hätte sie gegen neun zurück sein müssen.“

Stolze nickte. „Ja, war sie aber nicht.“

„Ist Ihnen irgendwas aufgefallen, Herr Stolze? Ich meine, war Ihre Frau anders als sonst?“

„Nein.“

„Es war also alles wie immer.“

Stolze starrte durch ihn hindurch. „Wir haben zusammen Abendbrot gegessen, und dann …“

Schuster wartete einen Moment, dann fragte er: „Und dann?“

„Wir haben gestritten, eine kleine Meinungsverschiedenheit, nichts Ernstes.“

„Weswegen?“

„Keine Ahnung.“

„Sie sind Ihrer Frau aber nicht hinterher …“

Stolze hob den Kopf. „Sie glauben doch nicht etwa, dass ich ihr nachgelaufen bin und sie dann … Es war ein harmloser Streit, meine Güte. Streiten Sie nie mit Ihrer Frau?“

Doch, ständig. „Meine Frau und ich leben getrennt.“ Erst jetzt fiel ihm auf, dass Stolze einen Kratzer am Kopf hatte. Vermutlich lag es an Stolzes längerem Haar, dass er es erst jetzt bemerkte. „Was haben Sie da?“

„Wo?“

„Na, an der Stirn?“

„Wo?“, fragte Stolze wieder und fasste sich an die Stirn. „Ach das, das ist … nur ein kleiner Kratzer.“ Er wich Schusters Blick aus. „Ich hab mich … gestoßen.“

„Na klar haben Sie sich gestoßen.“ Schuster beugte sich vor. „Woher haben Sie den Kratzer, Herr Stolze?“ Sein Magen knurrte. Was würde er jetzt für ein saftiges Steak mit einer Ofenkartoffel geben.

„Wenn ich gewusst hätte, dass ihr … dass so was passiert.“ Stolze rieb sich das Gesicht. „Ich wäre wirklich hinter ihr her und hätte sie … beschützt.“

„Der Kratzer, Herr Stolze“, erinnerte Schuster ihn und nahm sich einen weiteren Keks.

„Na schön. Heidi hat mit einer Tasse nach mir geworfen.“

„Tatsächlich? Und Sie finden, es war nur ein kleiner Streit?“

„War’s ja auch. Sie war sehr impulsiv und …“

„Hat öfter mit Tassen nach Ihnen geworfen?“ Schuster musste an den letzten Streit mit seiner Frau denken. Es war eine Banalität gewesen, wie meistens, und Silke hatte sich beleidigt zurückgezogen. Er hatte versucht, durch die geschlossene Tür mit ihr zu reden und sich zu versöhnen. Erfolglos.

Silke war nicht der Typ Frau, die mit irgendetwas um sich warf. Sie war der Typ Ich-bleib-in-meinem-Schneckenhaus.

„Unsere Ehe war gut. Wirklich“, beteuerte Stolze.

„Sie hätte Sie ernsthaft verletzen können.“

Stolze winkte ab. „Hat sie aber nicht. Ich bin in Deckung gegangen, dabei hab ich mir den Kopf an der Kühlschranktür gestoßen.“

„Und Ihre Frau?“

„Hat sich die Schuhe angezogen und ist los.“

„Und Sie sind ihr nicht gefolgt?“

„Nein!“

Schuster überlegte, ob er das glauben sollte. Heidi Stolze warf ihrem Mann eine Tasse an den Kopf, besser gesagt, sie hatte es versucht, und er sah ihr dabei zu, wie sie ungerührt in ihre Sportschuhe stieg und ließ sie ohne ein weiteres Wort aus der Tür?

„Kann jemand bezeugen, dass Sie hier waren?“

„Nein, ich war allein. Sie glauben nicht wirklich …“

Schuster erhob sich. „Ich muss Sie bitten, sich weiterhin zur Verfügung zu halten und die Stadt nicht zu verlassen.“

2.

Stadtteil Horn-Lehe

Grätsch hatte mit dem Doc telefoniert und erfahren, dass Heidi Stolze mit zwei Messerstichen direkt ins Herz getötet worden war. Drei weitere Stiche hatte man auf ihrem rechten Oberarm gefunden, offenbar hatte sie versucht, die Stiche abzuwehren.

Er hatte spät Feierabend gemacht und war gerade dabei, etwas aus der Garage zu holen, als er Schusters alten Peugeot röhren hörte. Neuerdings stotterte der Motor, und es gab manchmal Fehlzündungen, wenn sein Kollege den Motor abstellte. Auch jetzt knallte es einmal kurz, wenig später hörte er eine Tür zuschlagen und eilige Schritte auf dem Kies.

Bestimmt würde sich sein Kollege still und leise, wie das so seine Art war, in seinen Wohnwagen zurückziehen, einen Sechserpack Bier unterm Arm.

Grätsch stieß die Garagentür auf. „In einer halben Stunde gibt’s Abendessen! Sei pünktlich.“ Er zog die Tür wieder zu.

Wenig später klopfte es, und Schuster kam herein. „Ich kann wirklich im Wohnwagen …“

„Klar kannst du das. Du kannst die Einladung aber auch annehmen. Geli hat gekocht, und wenn du absagst, wird sie ganz schön wütend auf dich sein.“

„Oha, das kann ich natürlich nicht zulassen.“

„Braver Junge.“

Sie grinsten sich an.

„Darf ich dich dann auf ein Bier in meinem gemütlichen Übergangsheim einladen?“, fragte Schuster.

„Da sag ich ungern nein, Heiner.“

„Dann sag doch einfach Ja.“

Schuster war vorangegangen und hielt ihm die Tür auf. „Kopf einziehen.“

„Du wirst dich bestimmt noch einleben.“

„Warum sollte ich? Hab nicht vor, hier ewig zu wohnen.“ Er hatte keine Lust, über sich zu reden. Viel lieber würde er sich einen antrinken, damit er nicht mehr nachdenken musste. Es war stickig und viel zu eng im Wohnwagen, dauernd stieß er sich den Kopf oder die Ellbogen. Mit seinen eins einundneunzig war er einfach zu groß für dieses Ding.

„Hast du deinen ganzen Kram inzwischen abgeholt?“, wollte sein Kollege wissen.

Er schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich hat sich ihr Neuer schon bei ihr eingenistet.“

„Vielleicht solltest du ’nen glatten Schnitt machen“, schlug sein Kollege vor.

„Ich wohne hier, reicht das nicht?“

„Wie war’s eigentlich bei Stolze?“

„Seine Frau hat gern mit Geschirr nach ihm geworfen.“

„Was? Glaubst du, er ist hinter ihr her und hat sie dann …?“

„Nein, eigentlich glaub ich das nicht.“

Grätsch nickte vor sich hin und machte „Hmm“.

Schuster hatte sich bisher auf seine Menschenkenntnis verlassen können. Vor einigen Jahren hatten sie es mit einer älteren Dame zu tun gehabt, die Stein und Bein geschworen hatte, nichts mit dem tödlichen Unfall ihres Lebensgefährten zu tun zu haben. Er war die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich dabei den Hals gebrochen. Während Grätsch nicht eine Sekunde an ihrer Unschuld gezweifelt hatte, war Schuster misstrauisch gewesen und hatte nicht locker gelassen. Er hatte ihr so lange auf den Zahn gefühlt, bis sie endlich mit der Wahrheit rausgerückt war: Sie hatte ihren Freund als Heiratsschwindler entlarvt und die Treppe hinuntergestoßen.

„Meistens haben wir es doch mit Beziehungstaten zu tun.“ Grätsch ging zur Tür, wobei der Wohnwagen schwankte. „Mann, hier wird man ja seekrank.“

Schuster lag auf dem Bett, die Augen geschlossen.

„Wenn wir doch bloß irgendwelche Spuren hätten. Wir sollten noch mal die gesamte Gegend absuchen lassen, was meinst du? Vielleicht findet sich ihr zweiter Schuh ja doch noch irgendwo“, meinte Grätsch. „Wollen wir?“

„Jetzt noch?“

„Abendessen, meinte ich.“

Am nächsten Tag durchkämmte eine Suchmannschaft erneut den Bürgerpark. Es regnete noch immer, und sie kamen nur schleppend voran.

Schuster und sein junger Kollege Kuhn gesellten sich dazu.

Natürlich hatte auch die Presse Wind davon bekommen, und als Schuster die Reporterin mit ihrem Fotografen ganz in der Nähe entdeckte, legte er die Hand auf Kuhns Schulter. „Kommen Sie, Kuhn, bringen wir’s hinter uns.“ Mit großen Schritten ging er auf die Reporterin zu.

„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar.“ Sie hatte ihr Mikro bereits in Position gebracht. „Darf man fragen, was die Polizei hier gerade macht? Glauben Sie, dass der Mörder noch mal zuschlagen wird?“

„Wie kommen Sie dann darauf? Wie ist Ihr Name doch gleich?“

„Deisterkamp, Sabine Deisterkamp.“

„Lassen Sie uns unsere Arbeit machen, ja? Wenn wir etwas Konkretes haben, sind Sie die Erste, die ich das wissen lasse.“

Der Fotograf ging geduckt um ihn herum, wobei sein Schuh im schlammigen Boden versank. Er musste stehen bleiben, um ihn zu befreien.

Schuster grinste amüsiert. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Frau Deistermann …“

„Deisterkamp.“

„Oder so. Schreiben Sie nichts von dem, was Sie sich da zusammenreimen. Sie würden die Bremer Bevölkerung nur aufwiegeln. Und das wollen Sie doch nicht, oder?“ Er lächelte sein nettestes Lächeln. „Ich kann auch sehr lieb zur Presse sein.“

„Ach ja?“

Der Fotograf hatte seinen Schuh endlich befreit und machte weiter, seine Runde um Schuster zu drehen.

„Wir suchen nach dem zweiten Schuh der toten Frau.“ Schuster zeigte hinter sich. „Ich könnte Sie ein bisschen über die Schulter des Suchtrupps sehen lassen …“

Die Reporterin war nicht abgeneigt, das sah man deutlich. „Sie kooperieren mit uns, wenn wir das schreiben, was Sie wollen?“

„Na na, so würde ich das nicht nennen, Frau Deiselkamp.“

„Deisterkamp.“

„Ach ja. Ich bitte Sie nur darum, sich nichts aus den Fingern zu saugen. Möchten Sie den Suchtrupp begleiten?“

Sie schien hin- und hergerissen. „Na schön.“ Sie gab ihrem Fotografen einen Wink. „Los, Guido, mach schon. Der Herr Kommissar lässt uns nah ran.“

Schuster fuhr zurück ins Büro, schrieb seinen Bericht, machte sich danach auf den Heimweg und freute sich auf eine heiße Dusche.

Er ging früh schlafen, stellte sich sein Glas Wasser ans Bett, etwas, das seit seiner Kindheit zu einem festen Ritual geworden war, und verschränkte die Hände im Nacken. Er brauchte das Gefühl, das Wasser neben seinem Bett zu wissen. Morgen für Morgen nahm er das Glas und goss den Inhalt aus, um es dann am Abend erneut zu füllen.

Er wälzte sich fast zwei Stunden herum, bis er endlich in einen unruhigen Schlaf fand, begleitet von seltsamen Träumen. Um halb sechs stand er stöhnend auf, sein Rücken schmerzte grauenhaft. Gebückt ging er zum Wandschrank, in dem seine Klamotten zerknüllt herumlagen, und zog ein dunkelblaues Hemd heraus.

Andersfarbige Hemden würden ihm Unglück bringen, davon war er felsenfest überzeugt. In einem grauen Pulli könnte er beim Überqueren einer Straße von einem Lkw erfasst werden.

Als er fertig angezogen war, stieg er in seinen alten Peugeot und machte sich auf den Weg zu seiner Frau, besser gesagt, seiner Nochfrau. Er hatte ihr versprochen, seine restlichen Sachen abzuholen.

Bei dem Gedanken, das Haus zu betreten, das er so geliebt und mit Hingabe renoviert hatte, wurde ihm ganz elend. Wahrscheinlich hatte Silke recht, und er war ein durchgeknallter Kerl, der so viele Macken und Neurosen hatte, dass man sie kaum aufzählen konnte.

Bereits in der späten Jugend hatte es angefangen, dass er etwas seltsam wurde. Er hatte einen Kontrollzwang entwickelt, musste sich manchmal zehnmal hintereinander vergewissern, dass er sein Radio ausgestellt hatte. Immer wieder hatte er es berühren müssen, begleitet von einem leisen Zählen. Erst bei dreißig hatte er sein Zimmer verlassen können.

Später hatte er auf Wunsch seiner Eltern mit einem Psychologen darüber gesprochen, der glaubte, es könnte an seiner übervorsichtigen, ängstlichen Mutter liegen, die in ständiger Sorge um ihren einzigen Sohn war. Danach war Schuster nicht mehr hingegangen. Das Stochern in seiner Seele machte ihm Angst, und die Ursachenforschung war ihm ziemlich egal. Was sollte das auch bringen?

Silke hatte irgendwann genug von seinen Marotten gehabt. Deine Neurosen sind nicht auszuhalten. Ich ertrage deine Hypochondrie und deine Unfähigkeit zur Spontaneität nicht mehr. Sogar die Dinge, die sie früher an ihm geliebt hatte, hatte sie nun auf ihrer Negativ-Liste.

Und er hatte dagestanden wie ein gescholtenes Schulkind und die Welt nicht mehr verstanden.

Ja, vielleicht war er ein Hypochonder, auch wenn er das Wort furchtbar fand. Er hatte einfach Angst vor Krankheiten, deswegen warf er ständig Vitamine ein. Und ja, vielleicht übertrieb er hin und wieder mit seinem ständigen Händewaschen. Richtig schlimm geworden war es vor ein paar Jahren. Er hatte nicht gewusst, dass es Silke so gestört hatte.

Als er jetzt in die vertraute Straße einbog, drohte ihn das beklemmende Gefühl in seiner Brust zu übermannen. Hier hatte er acht Jahre lang mit Silke gewohnt. Acht schöne Jahre. Aus seiner Sicht.

Er fuhr auf den Hof und griff sich kurz an die Stirn, so als wolle er sich vergewissern, dass seine Mütze da war, wo sie hingehörte. Beim Aussteigen stolperte er über seine eigenen Füße, seine Beine waren wie aus Blei, schwerfällig und steif. Er kramte nach seinem Hausschlüssel.

Das hätte er sich sparen können, er passte nämlich nicht ins Schloss. Also drückte er auf den Klingelknopf.

Kurz darauf stand Silke in der Tür. Sie sah toll aus, hatte ihr langes braunes Haar hochgesteckt, und sie trug Lippenstift in einer ungewöhnlichen Farbe, was ihm sofort auffiel. Seit wann benutzte sie Lippenstift?

Mühsam schluckte er gegen den Kloß in seinem Hals an. „Hallo, Silke. Ich, ähm, mein Schlüssel klemmt.“

Sie verzog keine Miene. „Er klemmt nicht, Heiner. Ich hab das Schloss auswechseln lassen.“

„Was? Warum tust du so was?“

Sie schnappte nach Luft. „Du stellst vielleicht Fragen. Ich will nicht, dass du hier einfach so reinplatzt. Also hab ich das Schloss auswechseln lassen.“ Sie trat zur Seite und ließ ihn vorbei. „Deine Sachen stehen oben.“

Mit hängenden Schultern lief er die Treppe hoch. Seine Reisetasche stand oben im Flur, daneben drei Kisten Bücher und CDs und zwei weitere Kartons mit Klamotten.

„Das müsste alles sein.“ Silke war ihm gefolgt.

Er drehte sich zu ihr um. „Das war’s dann also? Du lachst dir einen anderen Kerl an, packst meine Sachen, wechselst das Schloss aus und aus die Maus?“

Sie sagte kein Wort, sah ihn nicht mal an.

Das sollte die Frau sein, mit der er zwölf Jahre verheiratet war? Die, die noch vor zwei Jahren mit ihm nach Kanada hatte auswandern wollen?

„Was ist mit uns passiert, Silke?“ Er versuchte, ihren Blick einzufangen, aber sie schaute an ihm vorbei. „Was hab ich getan?“

„Wo soll ich anfangen, Heiner?“

Okay, es reichte. Er schnappte sich seine Reisetasche, warf sie sich über die Schulter, griff nach der Bücherkiste und stolperte die Treppe hinunter. Er schmiss alles in den Kofferraum, dann holte er den Rest.

Die ganze Zeit stand sie mit stoischem Gesichtsausdruck unten an der Treppe. Er hatte Lust, sie übel zu beschimpfen oder anzuschreien, einfach, weil er sich für den Moment besser gefühlt hätte. Aber hinterher hätte er es garantiert bereut. Also ignorierte er sie und den Druck in seinem Magen, und er ignorierte, dass er sich eine neue Beule holte, weil er sich den Kopf beim hastigen Einsteigen anstieß.

Er ließ den Motor an, der sofort ansprang, als könne selbst sein Auto nicht schnell genug von hier wegkommen. Beinahe verursachte er einen Auffahrunfall, weil er immer wieder gegen ein paar ausgesprochen hartnäckige Tränen anblinzeln musste. Er war niedergeschlagen, enttäuscht und wütend.

Er stellte das Radio an, und bei einem Lied von Joe Cocker sang er laut mit, um das Gefühl in seiner Kehle loszuwerden. Dann fuhr er zur Schlachte hinunter, parkte den Wagen im Halteverbot und ging in die nächste Kneipe.

3.

Sein Peugeot war abgeschleppt worden, er musste ihn am nächsten Morgen abholen.

Er war wütend auf sich selbst, er hatte doch gewusst, dass der Wagen im Halteverbot stand. Wie konnte man so blöd sein? Erstaunlich war, dass diese Wut besser auszuhalten war als das beklemmende Gefühl, mit dem er seit Wochen herumlief.

Während er zu seinem Wagen ging, murmelte er vor sich hin, wie verblödet man eigentlich sein musste, so abzustürzen. Er massierte sich die Schläfen. Er hatte hämmernde Kopfschmerzen, selbst zwei Aspirin gleich nach dem Aufstehen hatten bisher nicht geholfen.

Sein Peugeot stotterte einmal, zweimal, würgte und spuckte und beschloss dann, keinen Piep mehr von sich zu geben. Er haute mit der Faust aufs Lenkrad und löste damit die Hupe aus. „Wenn du nicht SOFORT anspringst, du verfluchte, elende Mistkarre, verschrotte ich dich noch heute!“

Der Motor rührte sich nicht.

„Du hast es nicht anders gewollt.“ Fluchend stieg er wieder aus dem Wagen, trat mit dem Fuß in die Fahrertür, ließ den Scheibenwischer einmal zurückklatschen und machte sich auf den Weg.

Es hatte angefangen zu regnen, und als er ein paar Meter gegangen war, schüttete es wie aus Eimern. Binnen weniger Minuten war er klatschnass.

Polizeipräsidium

Grätsch saß bereits am Schreibtisch. „Wie siehst du denn aus? Regnet es etwa schon wieder?“

Er biss sich auf die Zunge, um sich nicht schon am frühen Morgen mit seinem Lieblingskollegen anzulegen. Dann machte er kehrt und ging zum Klo, nahm einige Blatt Papier aus dem Apparat und rubbelte sich die Haare einigermaßen trocken. Am Ende wusch er sich dreimal hintereinander die Hände.

Sein Waschzwang machte ihm schwer zu schaffen, doch er kam nicht dagegen an. Mehrmals die Stunde musste er sich die Hände waschen, wenn er nervös war zum Beispiel, sich unwohl fühlte oder über irgendetwas den Kopf zerbrach.

Zurück im Büro zog er seine triefnasse Kapuzenjacke aus und hängte sie an den Garderobenständer, der in der Ecke stand und unter dem einseitigen Gewicht zweier Jacken bedrohlich wackelte.

Er setzte sich, schaltete den PC an, nahm aus der Schublade einen Marsriegel, aß ihn mit drei Bissen und lehnte sich mit einem lauten Seufzen zurück.

Sein Kollege hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugesehen.

Schuster stand wieder auf, nahm die weiße Tasse aus dem Schrank, die er vor einiger Zeit zu seiner Privattasse erklärt hatte, und schenkte sich Kaffee ein. Heute sah der Kaffee aus, als hatte er ursprünglich schwarzer Tee werden wollen.

Schuster schob sich zwei Vitaminpillen in den Mund und überlegte kurz, ob er sein Neurosenprogramm – so nannte er es selbst – damit für heute erledigt hatte.

„Was macht dein Kopf?“, erkundigte sich Grätsch.

„Wehtun.“

„Hast du letzte Nacht wenigstens mal geschlafen?“

Er blickte vom Bildschirm zu Grätsch. „Ich war total blau, Gunnar. Ich weiß kaum, wie ich nach Hause gekommen bin.“ Er verzog das Gesicht. „Nach Hause.“

„Ist nicht so gut gelaufen gestern mit Silke, was?“

„Kannst du laut sagen. Sie hat meine Sachen gepackt und das Schloss auswechseln lassen.“

„Oh, verdammt.“

„Sie will nicht, dass ich plötzlich auftauche und sie mit ihrem neuen Loverboy bei Turnübungen überrasche.“

Verflucht, schon wieder dieses ekelhafte Gefühl in der Kehle. Nervös trommelte er mit dem Stift auf seinen Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.

„Sag jetzt nicht, du rufst sie wieder an.“

„Wen, Silke? Nein, ich rufe in der Werkstatt an.“

„Vielleicht solltest du dir ein neues Auto anschaffen“, schlug sein Kollege vor.

Er nickte. „Und ich werde mir so schnell wie möglich eine Wohnung suchen, Gunnar. Ich hab eure Gastfreundschaft lange genug strapaziert.“

In der Nacht wälzte er sich von einer Seite auf die andere, und immer wieder griff er zum Wecker und warf einen Blick aufs beleuchtete Zifferblatt.

Es ist aus, Heiner …

Mann, warum konnte er diesen verdammten Satz nicht endlich aus seinem Kopf kriegen?

Um kurz nach fünf schwang er sich aus dem Bett. Mit der Faust schlug er an den Hängeschrank und zog das erstbeste Hemd heraus, das er fand. Mit dem Hemd unterm Arm ging er durch den Garten, machte leise die Hintertür auf und schlich dann auf Zehenspitzen zum Badezimmer.

Sein Kollege hatte auf ihn gewartet und hielt ihm die Wagentür auf.

„Mein Wagen soll morgen fertig sein.“

„Und übermorgen verreckt er dir wieder.“

„Ja, wahrscheinlich“, knurrte er. Er sollte sich wirklich dringend um einen neuen Wagen kümmern. Er stieg ein und verfluchte schon jetzt den Tag.

Grätsch plauderte von seinem Sohn Tobias, der frischgebackener Kriminalhauptkommissar bei der Kripo Hamburg war. „Wir hatten schon befürchtet, dass er das Handtuch wirft. Er hat früher in der Schule immer so geschludert.“

Schuster hörte kaum hin, außerdem kannte er Tobias’ Werdegang bereits.

Grätsch erzählte die Geschichte gern und oft. „Ich bin wirklich stolz auf den Jungen.“

„Das verstehe ich, Gunnar“, murmelte er, „hätte ich einen Sohn, wäre ich stolz, wenn er auch Bulle werden wollte.“ Er stutzte. Ach ja? Wäre er nicht vielmehr erleichtert, wenn sein Sohn – so er denn einen gehabt hätte – etwas ganz anderes machen wollte? Er selbst hatte schon als kleiner Junge Polizist werden wollen, und er wusste, dass seine Eltern alles andere als begeistert gewesen waren.

„Toby ist ein feiner Kerl“, erklärte er schnell. „Klar bist du stolz auf ihn.“

Sein Kollege strahlte und wurde dann ernst. „Der Zug ist noch nicht abgefahren, Heiner. Wer sagt denn, dass du nicht doch noch Vater werden wirst? Eines Tages.“

„Ich bin über vierzig, Gunnar.“

„Na und?“

Er seufzte verhalten. Sie sollten das Thema lassen, es würde ja doch nichts bringen. Seine Ehe war am Ende, er selbst irgendwie auch ein bisschen, und es war besser, sich mit dem anzufreunden, was war und nicht irgendeiner Seifenblase, einem Traum nachzurennen. „Kannst du mich am Gymnasium absetzen?“

Er wollte Heidi Stolzes Kollegen auf den Zahn fühlen.

Es war kurz nach acht, der Unterricht hatte gerade begonnen.

Er klopfte an der Tür zum Lehrerzimmer an und öffnete sie nach einem lauten „Herein“.