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Über die Jahrtausende entwickelt, in Klöstern und im täglichen Leben praktiziert und gepflegt sowie als Schutz vor Krankheiten hoch gelobt, erfahren die Bewegungsformen des Kranich-Qigong zunehmend mehr Beachtung. Die in diesem Buch vorgestellte Übungsfolge ist die von Dr. Zhao Jin Xiang wiederbelebte und aus der Erfahrung des eigenen Heilungsprozesses weiterentwickelte Form des Fliegenden Kranich. Der Kranich steht für langes Leben. Ihm gleich, wird es die Frucht dieser Übungen sein, sich ruhig und kraftvoll, dynamisch und gelassen, leicht und natürlich zu bewegen und eine starke Gesundheit zu fördern.
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Seitenzahl: 272
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Petra Hinterthür & Astrid Schillings
DER FLIEGENDE KRANICH
Die selbstheilende Kraft meditativer Bewegungsübungen
Wichtiger Hinweis: Dieses Buch sollte weder als Grundlage für Behandlungen, Diagnosen oder Verordnungen dienen, noch sollen oder können die hier vorgestellten Informationen und Methoden ärztlichen Rat und medizinische Behandlung oder die Konsultation eines autorisierten Therapeuten ersetzen. Der Buchinhalt wurde von den Autorinnen mit größter Sorgfalt erarbeitet und nach bestem Wissen und Gewissen vorgestellt. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden. Ebenso ist eine Haftung der Verfasserinnen bzw. des Verlages und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ausgeschlossen. Alle in diesem Buch vorgestellten Informationen sind für Interessierte zur Weiterbildung gedacht.
9. Auflage 2017
© 1989 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf© 7. überarbeitete Auflage, 2023, BACOPA Handels- und Kulturges.m.b.H., BACOPA Verlag 4521 Schiedlberg / Austria, Waidern 42 e-mail: [email protected] / [email protected] www.bacopa.at / www.bacopa-verlag.atAlle Rechte vorbehaltenKein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und Wiederherstellung, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.Umschlaggestaltung: Andrea Barth – Guter Punkt/Agentur für GestaltungBildquelle Cover: © iStockphoto / ThinkstockFotos im Innenteil: Dorcas Platt Wagenknecht © 2005 (Abb. 25, 62, 62a, 64a, 65, 67, 73a-h, 99a, 100, 101, 103, 107, 108, 123a-b, 142a, 160-163, 167, 174-183, 194a-h, 204, 205, 208, 211, 212, 212a-b, 212e-g, 213), Michael Bässler © 1989 (alle anderen Fotos)Kranich-Zeichnungen: Petra HinterthürLektorat: Lektorat Bücherwurm, UlmSatz und Layout: Marx Grafik & ArtWork
eISBN 9783991140658
Vorwort – Petra Hinterthür –
Vorwort – Astrid Schillings –
2. Vorwort – Petra Hinterthür –
2. Vorwort – Astrid Schillings –
I. Teil – Die Grundlagen
von Petra Hinterthür
1. Kapitel
Was ist Qi Gong?
2. Kapitel
Kurzer geschichtlicher Überblick
3. Kapitel
Die Bedeutung des Kranichs in der ost-asiatischen Mythologie und Geschichte
4. Kapitel
Die 12 Meridiane, die 8 Extra-Energiebahnen und ihre Energie-Zentren
Die 12 Haupt-Meridiane
Die 8 Außergewöhnlichen-Energie-Bahnen (Ba Mai)
5. Kapitel
Yin und Yang und die 5 Elemente
II. Teil – Übungen
von Petra Hinterthür und Astrid Schillings
6. Kapitel
Übungszeiten für Qi Gong
7. Kapitel
Was bei Qi Gong zu beachten ist
8. Kapitel
Vorbereitung auf die Qi-Gong-Übungen
9. Kapitel
Beschreibung der 5 Übungsformen
1. Form – Das Öffnen zu den sechs Richtungen: Süden, Osten, Westen, Norden, Himmel und Erde
2. Form – Das Öffnen zum Himmel und zur Erde.Das Harmonisieren von Yin und Yang
3. Form – Kranichkopf und Drachenhaupt bringen das Qi im Kleinen Kreislauf zum Fließen
4. Form – Der Kranich streift das Wasser
5. Form – Zur kosmischen Einheit zurückkehren
10. Kapitel
Die 6. Übungsform: Das Qi-geführte Üben aus der Stille (Zifa-Gong)
Wenn das Qi die Bewegung führt: Methodische Beschreibung
11. Kapitel
Wer das Fliegende Kranich Qi Gong nicht praktizieren sollte
12. Kapitel
Das Atmen im Qi Gong
13. Kapitel
Selbstbehandlungsübungen zu einigen Krankheitszuständen
III. Teil – Die äußere Praxis und der innere Weg
von Astrid Schillings
Einleitung
14. Kapitel
Betrachtungen zum Gesundsein und Kranksein
15. Kapitel
Der Fliegende Kranich als gelebte Bewegung
Beginn der Praxis – Erlernen der Form
Spüren von Yin und Yang – Lösung und Spannung
Wirkung der Übung – Innen und Außen
Spuren von Meditation – Die formlose Form
16. Kapitel
Die Wandlungen
17. Kapitel
Bemerkungen zu außergewöhnlichen Zuständen
IV. Teil – Anhang
Zhào Jin Xiang – einer der Begründer des He Xiang Zhuang – Fliegender Kranich Qi Gong
Cheung Chun Wah – Unser Lehrer aus Hongkong
Petra Hinterthür
Astrid Schillings
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
– Petra Hinterthür –
Als ich im Herbst 1983 in Hongkong mit der chinesisch-daoistischen Atem- und Bewegungsübung Qi Gong zum ersten Mal in Berührung kam, fühlte ich mich gesundheitlich und seelisch sehr labil. Die chinesischen Schulmediziner hatten mir alle nur erdenklichen Normalwerte attestiert – und dennoch spürte ich einen tiefen Urschmerz in mir. Ich wusste keine Antwort.
Der damals in Hongkong lebende deutsche Arzt Dr. Roland Heber nahm mich mit zu Wu I-San, einem chinesischen Kräuterarzt der Traditionellen Chinesischen Medizin, der durch Auflegen von drei Fingern am Puls beider Arme die Diagnose stellte. Demzufolge hatte ich Hitze und einen Qi- und Blutstau in der Leber, Milz-Yang-Schwäche, einen durch die ’hitzige‘ Leber angegriffenen Magen und Nieren-Qi-Schwäche. Inzwischen weiß ich, dass ein lang andauernder Zustand wie »aufsteigendes Leber-Yang und Leber-Feuer« zu einer langsamen inneren Verbrennung des Organismus und schweren Krankheiten führen kann. Es war sehr interessant für mich festzustellen, dass ich in den Augen westlich geschulter Ärzte gesund war, während ich für traditionelle, chinesische »Heiler« bereits bedenkliche körperliche Mängel aufwies.
Roland Heber stellte mich ebenfalls dem chinesischen Qi-Gong-Lehrer Cheung Chun Wah vor, der das Hè Xian Zhuang, das Fliegende Kranich Qi Gong, unterrichtete. Diese Qi-Gong-Form basiert auf einer festgelegten Übungsfolge, die die Bewegungen des Kranichs imitiert. Wir trafen uns jeden Dienstagabend in seinem etwa zehn Quadratmeter großen Übungsraum, der auch gleichzeitig als Gesangsstudio von seiner Frau genutzt wurde. Ich war die einzige Ausländerin und Anfängerin, während zur gleichen Zeit noch etwa sechs weitere, fortgeschrittene Schüler von Cheungs Frau im selben Raum unterrichtet wurden. Die Atmosphäre war locker und doch konzentriert. Es war kein geselliges, sozial-kommunikatives Treffen. Nach etwa fünf Minuten entspannenden, vorbereitenden Gesprächs gingen wir zum Unterricht über, der eine Stunde dauerte. Die Anwesenheit der Fortgeschrittenen war für mich vorteilhaft, denn so konnte ich nicht nur von meinem Lehrer, sondern auch von ihnen lernen. Besonders faszinierend fand ich die Bewegungen der letzten, der 6. Form, die vom Qi geführt wird und als »formlose Form« bezeichnet werden kann. Nach etwa acht Wochen hatte ich die fünf Übungs-Formen des Fliegenden Kranichs soweit erlernt, dass ich zur 6. Form übergehen konnte. Ich war verkrampft und beeinflusste die Selbstbewegung willentlich und zu zielstrebig. Nach vier weiteren Wochen spürte ich die negativen Auswirkungen meiner unnatürlichen Willensanstrengung: Ich bekam Kopfschmerzen, schlief sehr unruhig, hatte verrückte, unangenehme Träume, fühlte Beklemmungen im Brustkorb, hatte leichte Schwindelgefühle und meinte, mich ständig übergeben zu müssen. Zweifelnd und aus Angst, mein Zustand könnte sich verschlechtern, hörte ich eine Weile auf, den Kranich weiter zu üben. Danach praktizierte ich unregelmäßig und folglich besserte sich meine körperlich-seelische Verfassung auch nur sehr langsam.
Im Dezember 1985 lernte ich im Zen-Kloster Hosshin-ji an der Westküste Japans Astrid Schillings kennen. Eines Abends schob sie die Papierschiebetür zu meinem Tatami-Gästezimmer zur Seite, um mir mitzuteilen, dass das O-Furo, das heiße Bad, frei wäre, und überraschte mich bei der Himmels-Erdsäulen-Position der 2. Übungs-Form. Diese Übung sprach sie sofort an und sie war so begeistert von Qi Gong, dass sie mich und meine Familie drei Monate lang in Hongkong besuchte, um das Hè Xian Zhuang von Cheung Chun Wah zu lernen. Ich bin ihr dankbar, dass sie kam und mich mit ihrer Begeisterung dieser Übungsform des Qi Gong wieder näher gebracht hat. Erst seit dieser Zeit praktiziere ich den Fliegenden Kranich regelmäßig und mit Erfolg. Dank der Übungen und der Meditation geht es mir heute körperlich gut. Meine seelische Verfassung hat sich ebenfalls stabilisiert. Ich fühle mich gelassener, positiver und weniger aggressiv. Meine Beziehungen zu Menschen sind ehrlicher, bejahender und weniger fordernd geworden. Ich bin heute dankbar für das, was ich bin, und akzeptiere mich so, wie ich bin.
Vor kurzem habe ich für ein paar Wochen die Qi-Gong-Übungen ausgesetzt, weil ich sehr intensiv, zum Teil auch nachts, gearbeitet habe. Ich stellte fest, dass Symptome wie z. B. Aggressivität wieder ein wenig spürbar wurden und ich in einige alte Verhaltensmuster zurückzufallen drohte. Durch die Qi-Gong-Übungen ist nicht nur mein Körperbewusstsein gewachsen, sondern auch meine Wachheit gegenüber »Verhaltens-Spielen« wurde stärker. Mir ist klar geworden, dass nur die Kontinuität des Übens für einen dauerhaften Erfolg sorgen kann. So wie der Fluss nur ein Fluss ist, solange sein Wasser fließt, so würde auch der Gong-Übende versanden, wenn der Fluss des Übens einmal unterbrochen wird.
Über das Qi wird hier im Westen immer noch gerätselt und es gibt diverse Definitionen, wie in Kapitel 1 beschrieben. Ich halte es für wichtig, das Qi in sich selbst zu spüren, um es zu verstehen. Ich las vor acht Jahren zum ersten Mal etwas über das Qi in Büchern über chinesische Kunstgeschichte. Xie Hè verfasste 490 n. Chr. einen Aufsatz über die Sechs Prinzipien (Gesetze) in der chinesischen Malerei. Das wichtigste Prinzip ist seiner Meinung nach die Manifestation des Qi, der Seele, des Lebens-Rhythmus oder des Pulses des Lebens. Ohne Qi ist, nach chinesischer Auffassung auch heute noch, ein Bild leblos und langweilig. Es strahlt nichts aus, außer technischer Virtuosität. So wie der spirituelle, kosmische Rhythmus in einer chinesischen Landschaft die höchste Kunst der Malerei bedeutet, so wurde dieses Lebens-Prinzip im klassischen China auf alle Bereiche der Kunst, Kultur und sogar Politik übertragen.
Doch über das Qi zu reden, zu schreiben, es in etwas Anderem zu erkennen oder es tatsächlich in sich selber zu spüren, ist ein großer Unterschied. Das eine ist die äußere Annäherung an das Qi das andere ein Wagnis zu sich selbst. Bei den Qi-Gong-Übungen spürt man das Qi sehr schnell in Form von Wärme, Kribbeln oder Vibrieren. Dies ist das eigene, innere Qi, das im Organismus fließt und wirkt. Es gibt auch ein äußeres Qi, das von außen her dem Körper zugeführt wird. Ich hatte einmal ein sehr interessantes Erlebnis während eines Abendessens in einem chinesischen Club in Hongkong, als ich einen Qi-Gong-Meister aus Beijing traf. Er wurde mir als »Master Qi« vorgestellt und schickte sein Qi über eine Entfernung von etwa vier Metern durch eine Papierwand und durch andere Gegenstände zu mir. Ich musste meine geöffneten Hände vor und seitlich meines Kopfes halten. Ohne, dass ich es wollte, fingen meine Finger an sich zu bewegen. Tief versteckte Emotionen kamen hoch und zum Vorschein, und ich spürte das Qi in mir fast ruckartig, gewaltig. Es überwältigte mich wie eine Flutwelle. Er schaffte es, die Fülle und Schwere in meinem Kopf und meinem Herzen spürbar in mein unteres Dantian (mehr dazu im 5. Kapitel) zu leiten, was ich wie ein Glucksen oder Gießen empfand. Danach fühlte ich eine unglaubliche Erleichterung und fing an zu lachen. Die Freunde und Familie meiner chinesischen Freundin Hai Tien lachten überraschend befreit mit. Nur meine geliebte Künstler-Freundin Irene Chou fing an zu weinen. Sie spürte genau, dass meine Freude aus einer tiefen Trauer heraus entstanden war, die »Master Qi« ein wenig gelöst hatte. Die Stimmung war danach fast ekstatisch frei und gelockert.
Ich bin noch einige Male der Versuchung erlegen, mir von außen her Energie zuführen zu lassen. Aber das »Pflücken der Blumen aus Nachbars Garten« brachte immer nur vorübergehende Freude oder kurze Besserung. Blumen verblühten – und so verging die Wirkung. Ich sah ein, dass es besser ist, die Samen selbst zu säen und die Wurzel im eigenen Boden zu nähren.
Auf einer Reise durch China hatte ich das Glück, einen der Gründer des Fliegenden Kranich Qi Gong, Zhào Jin Xiang, in Beijing zu treffen. Für mich war es wichtig, diesen bekannten Qi-Gong-Meister, den Lehrer meines Lehrers einmal persönlich kennen zu lernen. Um zu ihm zugelassen zu werden, ließ ich mir extra Visitenkarten in Deutschland drucken, auf denen dann stand: Petra Hinterthür – Mitglied der »Qigong Association in Germany« und noch ein paar weitere Titel. Ich erzählte ihm von unserem Buchprojekt und stellte ihm alle möglichen wichtigen und unwichtigen Fragen. Seine Empfehlung an jeden, der/die das Fliegende Kranich Qi Gong erlernen und ausüben möchte, war: sich entspannen, den Geist, die Seele und den Körper lockern und in Einklang bringen – sonst nichts. Mein Gott, so einfach.
Abschließend möchte ich mich bei folgenden Personen bedanken: bei Dr. Roland Heber, der mich dem Qi-Gong-Lehrer Cheung Chun Wah vorgestellt und mir so den Weg zum Qi Gong geebnet hat; bei Cheung Chun Wah (Mr. Qi Gong), meinem geduldigen, bemühten, aufrichtigen, kompetenten und immer gut gelaunten Qi-Gong-Lehrer, der gerne über meinen Namen »Mrs. Backdoor« (Hinterthür) lachte, worauf Astrid einmal meinte, ich würde wohl lieber »Mrs. Frontdoor« (Vorderthür) heißen, worauf wir uns herzerfrischend vor Lachen kringelten; bei Astrid Schillings, die mich dem Qi Gong nach meiner Erfahrung mit der 6. Form wieder näher brachte und meine Texte konstruktiv gegenlas; bei Astrids Mutter, die uns bei unseren Arbeitstreffen in Dortmund immer liebevoll bekochte; bei Wong Kee-Chee in Hongkong und Hua Hengbo in Hamburg, die mir bei den Übersetzungen bereits vorhandener chinesischer Texte über das Kranich Qi Gong halfen; bei Wu I-San und Dr. Dông Jîn in Hongkong, die mir den Puls fühlten, meine Zunge betrachteten, mir ins Gesicht schauten und die Wahrheit sagten und mir so die Tür zum Geheimnis chinesischer Medizin und Lehre öffneten; und bei meiner Familie Paul und Peer, die mich in meiner Arbeit geduldig unterstützten.
Petra Hinterthür, 1989
– Astrid Schillings –
Wenn ich morgens gegen zehn Uhr in Hongkong zu Cheung Chun Wah zum Qi-Gong-Unterricht ging, saßen dort oft Menschen auf der kleinen Plastikcouch im Wohn- und Unterrichtszimmer der Familie. Sie hatten gerade eine Übungsstunde beendet, ruhten sich aus und sprachen miteinander – chinesisch. Hin und wieder fragte mich jemand, meist eine der Frauen, mit anteilnehmendem Gesicht in freundlichem Hongkong-Englisch: »Und welche Krankheit haben Sie?« Ich hörte mich sagen: »Keine. Ich möchte es nur lernen.« Erst in diesem Moment wurde mir bewusst, dass Qi Gong eine wirksame Heilmethode ist – ohne Rezept und Medizin. Die jeweils Fragende erzählte mir von ihrem Krebs, ihren Magen- und Herzproblemen oder von dem, was immer sie in die kleine, laute Wohnung im elften Stock eines Hochhauses am Hafen geführt hatte. Aber warum ich es denn lernen wollte, wenn mir nichts fehle? Ich konnte nicht antworten. Es war die Übung, die Übung selbst, die mich gerührt hatte.
Die pragmatische Seite des Fliegenden Kranich Qi Gong ging mir nur langsam auf, später. Es ist nicht so, dass der Nutzen mir unwichtig erscheint. Die helfende Beruflerin in mir fühlt sich angesprochen: eine psychosomatische Übung, billig, praktisch, für jede und jeden, eine allgemeine »Gesundheitssorge« samt Krankheitsvor- und Nachsorge: Leib, Seele und Geist werden angesprochen – in einer Übung. Wunderbar. Und zugleich, all das trifft es noch nicht ganz, das Herz des Kranichs. Nicht das, was ihn im Grund bewegt. Als ich die Bewegungen zum ersten Mal bei Petra Hinterthür in Japan sah, wusste ich nicht, dass Zhào Jin Xiang, der Erfinder dieses Qi Gong, erst einmal stille gesessen hatte, bevor er die Übung erfand und wie krank er gewesen war, bevor er weise wurde. Mir war, als würde ich in den Bewegungen etwas wiedererkennen – in diesen stummen, meist runden, langsamen Formen. Dabei steht man nur da und bewegt – innen und außen, rechts und links, oben und unten – Arme, Beine, Kopf und Rumpf. Auch ein großer Vogel hebt und senkt nur seine weiten Schwingen im Flug. Und doch, wenn wir ihm eine Weile zuschauen, scheinen sich Raum und Zeit zu dehnen und Stille wird sichtbar. Irgendetwas tröpfelt durch, von dem Zhào Jin Xiang sagt, es sei die Weisheit des Kosmos, die sich durch den Leib widerspiegelt. Graf Dürckheim nennt das: Der Leib, der ich bin, im Unterschied zum Körper, den ich habe. Im Qi Gong entscheidet jeder Übende für sich selbst. Ich kann üben, mit dem Körper, den ich habe, um gesund, lebenstüchtig und persönlich erfolgreich zu werden. Das ist legitim. Ich kann üben, um durchlässiger zu werden im Leiblichen, Seelischen und Geistigen für die Weisheit, die mich sein lässt, wer ich bin. Auch das ist eine Möglichkeit.
Cheung Chun Wah schlug mir noch in Hongkong vor, den Fliegenden Kranich auch in Europa zu unterrichten. Er war von Anfang an überzeugt, dass der Kranich bei uns Europäern genauso wirken kann wie bei Chinesen. »Du wirst deinen eigenen Weg finden, anderen mitzuteilen, was der Fliegende Kranich ist. So habe ich es gemacht.« Für seine unermüdliche Geduld und Ermutigung kann ich mit Worten nicht danken. Der Kranich fliegt nun in vielen europäischen Ländern.
Auch der Impuls, über das Kranich Qi Gong zu schreiben, ging von Cheung Chun Wah aus. Er hat unsere Arbeit großzügig und kraftvoll getragen. Wir sind dafür besonders dankbar, weil wir uns ohne Übersetzer direkt in englischer Sprache verständigen konnten. Im Schreiben dieses Übungsbuches haben die Wege zweier Menschen Ausdruck gefunden. Wir, die Autorinnen, entdeckten Gemeinsames und Unterscheidendes bei der Auseinandersetzung mit dem, was Qi Gong ist, auch für jede von uns ist. Das »Du« erschien uns als direkte Anrede geeignet, das Lernen zu erleichtern.
Ich danke den bei mir Lernenden für die Anregungen, die sie mir so bereitwillig gegeben haben, auch Dr. med. Haumont, Hedio von Stritzky, Edith, Sebastian und Beate Schillings für ihre spontane Hilfsbereitschaft. Petra und Paul Hinterthür luden mich zu sich nach Hong Kong ein. Nur so war es mir möglich, den Fliegenden Kranich zu lernen. Ich danke ihnen ganz herzlich für ihre Gastfreundschaft und dafür, dass sie mir Zeit ließen. Im Besonderen gilt mein Dank Bill Fraser. Er war der erste, dem ich die Übung weitergeben durfte. Natürlich freut es mich, dass auch ihm daraus die Lehrautorisierung durch Meister Zhao selbst erwachsen ist. Bills aktive Teilnahme und Geduld waren mir eine große Stütze.
Astrid Schillings, 1989
– Petra Hinterthür –
„Was spricht der Kranich zum Frosch?
Krrrrrrrr, krrrrrrrrrr, krrrrrrr,
Worte, die die Welt bewegen“
Petra Hinterthür
17 Jahre sind seit dem Schreiben meines 1. Vorworts vergangen. Der Kranich ist immer noch bei mir. Er hat sich bei mir „eingenistet“. So wie im 3. Kapitel beschrieben, steht er für ein gutes Omen für eheliche Treue, tiefe Liebe und lang andauerndes Glück. Ich bin zwar nicht ehelich mit ihm verbandelt, aber energetisch und im Herzen. Wir sind uns treu, lieben uns und sind eng miteinander verbunden. Häufig wurde und wird in China mit dem Kranich der Wunsch nach Erfolg, beruflichem Aufstieg und Stabilität ausgedrückt. Das hat sich bei mir tatsächlich bewahrheitet. Ich hatte zwar nie den Wunsch oder auch nur die Idee, Qi Gong zu unterrichten und brauchte auch acht Jahre „Selbstkultivierung“, bis ich 1991 mit dem Unterricht begann. Unterstützend dabei waren Übungen aus dem Stillen Qi Gong/Jing Gong, die ich 1990 bei dem Qi-Gong-Meister Li Zhi Chang in einer Qi-Gong-Ausbildung in Reutlingen/Tübingen gelernt hatte und bis heute bei ihm lerne. Der Kranich trug mich, auf seinen Jadeflügeln sitzend, dem Licht und der Himmelsröte entgegen in einen neuen, stabilen und selbstbestimmten Abschnitt meines Lebens. Das war der Beginn einer wundervollen persönlich, spirituell und beruflich erfolgreichen Geschichte – bis zum heutigen Tag. Dafür danke ich dem Kranich, meinen Lehrern Cheung Chun Wah und Li Zhi Chang, der Guanyin, Göttin der Barmherzigkeit und Schutzpatronin für alle, die Hilfe brauchen, und meinen anderen geistigen FührerInnen aus der dies- und jenseitigen Welt.
Es gibt ein schönes Haiku-Gedicht von dem berühmten japanischen Dichter Basho:
„Ja, liebe Schnecke, besteig den Fuji … aber langsam …“ Nach acht Jahren intensiven bis mangelhaften Selbstübens und langsamen inneren Wachstums begann ich, Qi Gong zu unterrichten. Ich hatte es immer wieder vor mir hergeschoben und dachte, ich würde erst unterrichten, wenn ich in einem körperlich, geistig und emotional „perfekten“ Zustand wäre. Diese Vorstellung erwies sich als absolute Illusion. Als es mir nach meiner Trennung und Scheidung von meinem Mann und auch meinem Sohn emotional, finanziell und beruflich besonders schlecht ging, besann ich mich auf Qi Gong. Der Kranich pickte mir mit seinem Schnabel ständig auf den Kopf und die Schultern, um mich aufzumuntern. Innerhalb einer Woche hatten sich auf eine Kleinanzeige hin 35 SchülerInnen zu meinen beiden angebotenen Kursen angemeldet. Vor meiner ersten Unterrichtsstunde übte ich tagelang auf den Wiesen an der Alster in Hamburg, um mir viel Qi vom Himmel und aus der Erde zu holen. Ich wünschte mir nur eins, dass mir keine Frage über das Qi Gong gestellt würde, die ich nicht beantworten könnte. Auch das erwies sich als Illusion. Mir war nach der ersten Unterrichtsstunde so wie der kleinen Schnecke, die zwar auf den 3700 m hohen heiligsten Berg Japans hochsteigen wollte, sich dann aber doch erst mal wieder am liebsten verkrochen hätte. „… ja, lieber Fuji … ich komme, aber langsam …“
Der Kranich steht für den Mythos der Freiheit. Er kann mit großer Leichtigkeit und auch Schwerelosigkeit davonfliegen. Dies ist ein Zauber, dem die Menschen immer wieder erliegen möchten: sich einfach in die Lüfte zu erheben und wegzufliegen. „Vögel sind vielleicht die letzten ungebundenen Wesen, in der Luft heimische Vermittler zwischen Himmel und Erde, animalische Engel, oft Boten oder Zeichen höherer Mächte. In drei Dimensionen zugleich lebend, verkörpern sie einen alten Traum der am Boden haftenden Menschen, die sich tanzend davon zu lösen suchen.“ (G. Merken, Zeitschrift für Qi Gong Yangsheng, Ausgabe 2001, Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, S. 98). Dieser Aussage kann ich mich aus tiefem Herzen anschließen. Wenn ich das Kranich Qi Gong, jetzt nach 23 Jahren, praktiziere, übe ich und bewege mich sehr langsam. „In der Stille wird das Qi so groß, dass es grenzenlos ist, und so klein, dass es inhaltslos ist“ (Qi-Gong-Meister Li Zhi Chang). Wer vor der Bewegung im Herzen still wird, bleibt es auch in der Bewegung im Herzen. Aus der Stille heraus den Kranich fliegen zu lassen, ist ein wunderschönes Erlebnis. Jenseits der fünf Formen, dem bewussten Leiten des Qi durch Bahnen und Energie-Zentren, dem Bezug zur westlichen und chinesischen Medizin, Neurologie, Psychologie und jeglichem rationalen Verständnis aus der Stille heraus mühelos, schwerelos durch eine imaginäre äußere oder innere Landschaft zu fliegen, den höchsten Berggipfel zu erreichen, an Sonne, Mond und Sternen vorbeizuziehen, in den silbernen Fluss, die Milchstraße, einzutauchen, sich unter eine Kiefer auf einen Felsvorsprung auf schwindelerregende Höhe zu stellen und das Lied der Unsterblichkeit zu singen, mit den Pilzen und Blumen oder anderen Pflanzen im Wind zu tanzen, mit dem Hirsch über die Leichtigkeit beim Besteigen eines steilen Berges oder mit dem Tiger über den sanften Bergabstieg zu sinnieren, sich frei wie ein Kranich in den Lüften oder wie ein Fisch im Wasser zu fühlen oder sogar plötzlich einen dicken Fisch im Unterbauch zu entdecken, in Regenbogenlicht einzutauchen, ein Gefühl von Unbeschwertheit, Glück und Losgelöstsein zu bekommen, alles – und viel mehr – kann aus der Stille auch in der Bewegung entstehen (Auszug eines Artikels von Petra Hinterthür im Taijiquan & Qigong Journal, 3/2002, S. 18 – 23).
Nach den meditativen fünf Bewegungsformen kommt die Stille in Form der „Stehenden Säule“, aus der heraus sich wieder Bewegung in der 6. Form ergeben kann und damit alle möglichen Phänomene. Die Chinesen sprachen und sprechen immer noch gerne von den 10.000 Dingen, die sich vom Ursprung, dem all-einen DAO, ziemlich weit entfernt haben: den 10.000 Affen, die im Kopf oder Herzen herumtoben und für Unruhe sorgen, oder den 10.000 Elefanten, die einem im Kopf herumtrampeln. Dementsprechend viele Phänomene, innere und äußere Manifestationen gibt es, wenn Qi-Gong-Lernende die 6. Form, die vom Qi geführte Form (Zifagong), praktizieren. Auch wenn wir uns auf die 6. Form einlassen, ist es eine langsame Reise zurück zu uns selbst. Unsere Seele braucht Zeit, um die selbstheilende Wirkung in Form eines inneren und äußeren Wandels zu verstehen und anzunehmen. „Wer mit dem Strom schwimmt, ist klug – wer gegen den Strom schwimmt, ist weise“ (alte daoistische Weisheit). Das ist ein Risiko, denn wir wissen ja nicht, was uns an der Quelle erwartet. Doch um erst einmal zur Quelle zu gelangen, brauchen wir unbegrenzte Zeit, liebevolle Geduld und inneren Raum der Offenheit und Weisheit.
Mit Hilfe der Vorstellungskraft bekommt jede Bewegung beim Kranich Qi Gong eine Bedeutung, auch einen Bezug zur TCM. Ziel der Kranich-Übung (wie bei jeder anderen Qi-Gong-Übung und auch beim Taijiquan und Yoga) ist jedoch, die Form und die Vorstellung zu transzendieren, um die Nicht-Form, die formlose Form, den Nicht-Zustand zu erreichen. Um alle Elemente, alle Ebenen, alle Bedürfnisse, Wünsche und Hoffnungen in uns anzusprechen, schauen wir nach innen und suchen das Paradies in uns, kommen in Einklang mit uns, mit anderen Menschen, der Natur und der geistigen Welt. Menschen, Tiere, Wesen, auch Bäume können wie Heilige, Götter oder SeelengefährtInnen sein: Wenn wir mit ihnen sprechen und sie um Hilfe bitten, werden sie uns antworten, uns helfen und „den Schmerz der Welt in Hoffnung verwandeln“ (Pablo Neruda).
Ich habe in den letzten 17 Jahren viele Variationen des Kranich Qi Gong gesehen. Es ist interessant, wie „individuell“ der Kranich inzwischen geworden ist. Auch ich habe in der Zwischenzeit bei meinem Qi-Gong-Meister für das Stille Qi Gong, Li Zhi Chang, das Kranich Qi Gong weiter vertieft. Einige Elemente gefielen mir sehr gut, so dass ich sie bei der Korrektur der „Beschreibung der fünf Übungsformen“ (9. Kapitel) mit berücksichtigt habe. Das wäre in alten traditionellen Zeiten undenkbar gewesen, da erst dann etwas geändert werden durfte, wenn der Meister oder die Meisterin gestorben waren. Es finden sich also im Text Stellen, in denen sowohl alte als auch veränderte Positionen beschrieben sind. Einige Male habe ich sie mit a) und b) gekennzeichnet.
In der Zwischenzeit hat sich das Kranich Qi Gong in China völlig verändert. In den Achtzigerjahren wurde China von einem wahren Qi-Gong-Fieber überschwemmt. Eine laienhafte Massenbewegung brach aus, wie sie vorher noch nie in der Form in China existiert hat, und an der ein Großteil des Volkes teilnahm. Die Menschen brauchten nach dem Ende der Kulturrevolution 1976 Übungen und Methoden, um ihren Herzen Luft zu machen, um ihre angestaute Wut, Aggression, Enttäuschung und Trauer in z. T. eruptiven, kathartischen Bewegungsausbrüchen (besonders durch das Zifagong oder Youfagong) herauszuschleudern. Das „Qi-Gong-Fieber“ wirkte wie ein Flächenbrand, der einigen Menschen durch übertriebenes oder unachtsames Üben, besonders mit der 6. Form im Kranich Qi Gong, durch ungenügende Anweisungen und mangelnde medizinische Kenntnisse der Lehrperson sogar das Leben kostete. Ob Lehrperson oder Übende: sie kannten das Maß der Mitte nicht, dass alles Extreme zu vermeiden ist (TCM). Im Hinblick auf die Kulturrevolution waren viele geschädigten, verletzten und auch gefolterten Seelen auch gar nicht in der Lage, das für sie angemessene Maß einzuhalten. Sie „explodierten“ einfach. Das führte bei einigen zu Kopfschmerzen, Nervosität, Sensibilisierungs-Störungen, Halluzinationen, verwirrten Zuständen, Ohnmachtsanfällen, epileptischen Anfällen, Herzinfarkt bis hin zum Herzstillstand. Plötzlich gab es unzählige Unterrichtende, die ihre Krankheit geheilt oder ihren Seelenzustand beruhigt hatten, die in den Parks Schilder mit der Aufschrift ihrer Heilkünste oder Krankheiten und der Qi-Gong-Form, die sie unterrichteten, aufstellten und sich so überall Gruppen von Qi-Gong-Übenden bildeten. Das Qi-Gong-Fieber griff rasant um sich und uferte in den Augen der Regierung aus. In den Neunzigerjahren begannen die Versuche der Regierung, die Massenbewegung wieder unter Kontrolle zu bringen und die Spreu vom Weizen zu trennen. Es waren in der Zwischenzeit aufgrund des ideologisch-religiösen Vakuums in der Gesellschaft religiöse Qi-Gong-Schulen entstanden, mit denen die Regierung nicht konform ging. 1997 wurden staatliche Kriterien zur Ausübung von Qi Gong und deren Verbreitung erstellt: Wer heilkundlich tätig sein will (und Qi Gong wurde seit Dr. Liu Guizhens Definition „Medizinisches Qi Gong“ als heilkundliche Therapie in der Medizin eingestuft), muss eine medizinische Ausbildung nachweisen (Gisela Hildenbrand „Zur geschichtlichen Entwicklung des Qi Gong“ in Materialien 41: Qi Gong und China von G. Hildenbrand, J. Kahl, S. Stein, Institut für Internationale Zusammenarbeit des Deutschen Volkshochschul-Verbandes e. V.). Es könnte sein, dass diese Kriterien im Laufe der nächsten Jahre auch in Deutschland relevanter werden. Im heutigen China unterrichten an den Krankenhäusern nur Ärzte Qi Gong, die westliche und chinesische Medizin mindestens zehn Jahre studiert haben. Seit 1997 gibt es eine Prüfungskommission, die festlegt, welches Qi Gong weiter praktiziert und welche Qi-Gong-Schule weiter existieren darf. Einige Schulen sind verboten worden. Dazu gehört auch das Kranich Qi Gong in seiner alten Form, in der die 6. Form noch praktiziert wurde. Das Kranich Qi Gong wurde schon in den Neunzigerjahren in „Xing Shen Zhuang Qi Gong“ umbenannt, was „Körper-Geist-Qi-Gong“ bedeutet. Ende des 20. Jahrhunderts wurde es dann in „Zhi Neng Gong“ umgewandelt, was „Intelligenz-Qi-Gong“ bedeutet. Das ist ja auch nicht schlecht … Alle Lehrer und Schulen sind auf ihre „Tauglichkeit“ hinsichtlich des medizinischen Wissens, der medizinischen Anwendbarkeit der Übungen und ihre Integrität geprüft worden. Das Gesundheitsministerium legt viel Wert auf die wissenschaftliche Erforschung des Qi in Verbindung mit krankheitsbezogenen Übungen. Im Gegensatz zum westlichen Verständnis waren TCM und Qi Gong nie etwas Alternativ-Komplementäres, sondern immer eine Wissenschaft. Die „Wissenschaft vom Leben“ hatte bei den Daoisten und Buddhisten nur einen anderen Namen. Letztlich geht es den Chinesen um eine offizielle Anerkennung und Akzeptanz der Wissenschafts-Liga im Westen, um aus der Aura des Mysteriösen, Okkulten und Magischen herauszukommen. Alle Forschungsinstitute und offiziell anerkannten Qi-Gong-Schulen halten jedoch einzelne Lehrer, Meister, Großmeister nicht davon ab, weiterhin im Stillen zu wirken und so zu üben, wie es ihrer Seele, ihrem Geist und ihrem Körper gut tut. (Auszug eines Buchbeitrags von Petra Hinterthür „Angewandte Physiologie – Komplementäre Therapien“, Thieme Verlag, 2005, S. 340 – 342)
„Hey, Kranich, was stehst du da noch auf deinem Bein rum. Komm, lass mich auf deinen Flügeln sitzen und mit dir die weite Welt entdecken“.
Petra Hinterthür, 2005
– Astrid Schillings –
16 Jahre sind nun vergangen, seitdem der Fliegende Kranich 1989 in Druck gegangen ist. Über die Jahre folgten mehrere Auflagen und ich freue mich, dass dieses Buch so viele Menschen erreicht hat und wohl immer noch erreicht. Einerseits ist es als Übungshilfe angenommen worden und andererseits, wie ich aus Zuschriften und Anrufen weiß, als Wegbegleitung selbst dann, wenn der Kranich nicht die persönliche Form der Übung ist. So erscheint mir eine neue, teilweise überarbeitete Ausgabe als stimmig.
Diesmal haben wir die alphabetische Namensfolge der Autorinnen gewählt – als Ausdruck von Veränderung. Einige Jahre nach Schreiben des Buches fing Petra Hinterthür an, den Kranich zu unterrichten. Ihre Kurse sind beliebt, was mich sehr freut, denn ich schätze den Fliegenden Kranich als ganzheitliche Übung nach wie vor.
Innerliches Lauschen, Spüren, meditatives Forschen haben mich im Laufe der Jahre aus der Form des Qi Gong hinausgeführt. Von dem Geschriebenen muss ich nichts zurücknehmen. Es ist wohl wahr so, vor allem, was das Qi Gong betrifft, und doch deutete das Geschriebene auch schon damals auf eine Seinsqualität „unter“ der Form. In den Kranichbewegungen wurde mir die Stille, das Sein sichtbar, spürbar. Aus Asien zurückkehrend nannte ich mein Anliegen: Einfach da sein, lebendig in „Stille und Bewegung“.
Bald merkte ich, dass das auch ohne Form leben will. Innerlichkörperlich lauschen, in das, was ist, jeden Tag, egal wo ich bin und was ich gerade tue oder nicht tue, egal auch wie ich gerade gestimmt bin, ohne Bewerten. Darum geht es mir. Im Gewahrsein im Moment, in der alltäglichen Lebensbewegung, findet sich Erstaunliches sowohl was die Wirkung im Immunsystem als auch im „Seelischen“ angeht. Vielleicht so eine Art Alltags-Qi-Gong ohne Namen. Was ich im Buch über äußere Praxis und inneren Weg geschrieben habe gilt auch für die einfachen Bewegungen, Haltungen des Alltags. Immer wieder loslassen, lösen, in das, was ist.
Die Entdeckung ist so unspektakulär-einfach, dass sie leicht zu übersehen ist, jedenfalls ist es mir so gegangen. Ich übte den Kranich morgens oder abends und erlebte Weite, Leichtigkeit, Klarheit, Regenerierung, wie andere Menschen auch. Und dann beobachtete ich, wie sich dieser Zustand von Leichtigkeit, Wachheit, Offenheit … die Worte sind hier nicht entscheidend, auch beispielsweise beim Gehen, Geschirrspülen, Zähneputzen entfaltete, wenn Fühlen, Körperlichkeit und Aufmerksamkeit in Einklang waren und ich mich nicht verkniffen auf irgendein Ergebnis eingeschossen hatte oder mit meinen Gedanken woanders gewesen war. Wenn das sein darf, was ist, ohne Widerstand, so öffnet sich dieser heilsame Zustand.
Ja, es hilft, wieder und wieder kurz innezuhalten, körperlich-innerlich zu spüren, zu lauschen – wie ist es gerade. Und wenn Widerstand, Ungeduld, Angst, Ärger auftauchen, da bleiben und lauschen, schmecken, forschen, wie dieses Ungeduldige, Ängstliche da ist, sich körperlich anfühlt unter den Worten. Wir können loslassen, entspannen, in das, was da in uns lebendig ist, leben will. Wir lösen es nicht einfach auf.
Die kleinen Fragen helfen, in die Tiefe zu gehen und wach zu bleiben. Sie wollen keine gedachte Antwort. Sie wollen einfach öffnen und helfen, dazubleiben mit dem, was ist. In diesem Dableiben entsteht liebevolles Mit-Gefühl mit uns selbst. Das nährt, fühlt sich wohl an im Körper und erleichtert. Energie fließt. (Ein paar Quellen habe ich hinten im biographischen Teil angegeben.)
Ich kann mir täglich eine Zeit reservieren ohne Programm von außen, eine leere Zeit, in der ich sitze, ins Lebendige lausche, da bin. … Wie weiß der Körper zu atmen? Zu sehen? Zu sitzen? Zu gehen? … Was ist es, das da atmet, denkt, fühlt? Ein Gähnen, ein Strecken. Der Körper weiß zu leben. Momente des Seins, der Einsicht … Staunen … alles geschieht von selbst … „interwirkt“ … geschieht einfach. Dieses Sosein kann eine so intensive Qualität haben, dass es die Frage nach dem Sinn oder des Wofür hinter sich lässt. Das Lebendigsein spüren, wie es ist. Einzigartig, wundersam in jedem Moment. Wir müssen nicht wissen, was das ist. Wir erleben das.
Auch finde ich es hilfreich, die Aufmerksamkeit durch den Körper wandern zu lassen, wie eine sanfte innerliche Berührung, und dann, wenn wir bereit dazu sind, jegliche Aktivität der Aufmerksamkeit loszulassen. Da sein, sitzend, liegend oder stehend – Gewahr-Sein ist da von selbst. Auch wenn wir nichts tun müssen, da ist ja nicht einfach