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Caro Tessun

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Beschreibung

September 2022 Luis, Leander und David leben ihren Traum vom eigenen IT-Start-up und wähnen sich auf der Überholspur des Lebens, als das Unfassbare geschieht. Ein kaltblütiger Mord reißt Freund und Firmengründer Luis aus ihrer Mitte. Den Ermittlern fehlt jeglicher Anhaltspunkt zur Tat, die zudem im Nachbarland Österreich geschah. Während die Polizei weiter im Trüben fischt, entdeckt Luis bester Freund Leander eine verschlüsselte Botschaft, dazu einen Brief voller Andeutungen über einen revolutionären Quantencomputer. Unversehens findet Leander sich auf einer Schnitzeljagd wieder, die ihn in Lebensgefahr bringt. Mit David schmiedet er einen Plan. Sie wollen das Rätsel lösen und den Mörder stellen. Doch Leanders überstürzte Reise ins Ausland rückt ihn ins Visier der Polizei. Eine weitere Leiche wird gefunden und von einer Sekunde zur anderen wird Leander zum Hauptverdächtigen und Gejagten. Trotz aller Risiken darf er nicht zögern. Er muss Luis Geheimnis aufdecken und den Mörder finden. Noch ahnt er nicht, was sein Vorgehen auslöst …

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Für Andreas, Fabian, Erja, Bine und Tina

Inhaltsverzeichnis

PROLOG: ÖSTERREICH, GEBIRGE, 25. SEPTEMBER 2022

BERNEXPO, SINDEX – ZWEI TAGE ZUVOR (23.09.)

ÖSTERREICH, BERGSTRASSE

NEU IN DER STADT

BERNEXPO, SINDEX (ZWEI TAGE VOR DEM MORD)

KRULL ERMITTELT

SERGEI

BERNEXPO, SINDEX (ZWEI TAGE VOR DEM MORD)

BERNEXPO, BÜCHERTISCH (ZWEI TAGE VOR DEM MORD)

DAVID

VITALSCALE

SPURENSUCHE

HUANG, DEUTSCHLAND

PLEITE

POLIZEIINSPEKTION VERDEN (ALLER)

DOMPLATZ

DIE VISITENKARTE

IM ASTERIX

FAKTEN, FAKTEN, FAKTEN

HULK MEETS LADYBUG

LEANDER, BRÜSSEL

JESSI UND DAVID

POLIZEIARBEIT

POLIZEIARBEIT II – AUTOSALON

BRÜSSEL II (IM HOTEL)

KLAUS BOMMAS – TAGEBUCH 1996

BAD NEWS IN BRÜSSEL

TANJA IM BIENENSTOCK

GRENZGÄNGER

DAS HAUS

SIGHTSEEING

ALEXIA

SERGEI II

SAVOY

ZWILLING

SEPTIÈME CIEL

INNSBRUCK

BESPRECHUNGEN UND ZIGARRE

ISOLIERT

MUT

STIMMEN

KLINGELEI

SENIORENSTIFT UND GRANDHOTEL

EIN KLEINES STÜCK PAPIER

AUF DEM BERG

FÜNFTER STOCK

DIE BERGHÜTTE

KEIN ERFOLG FÜR KRULL

DIE GESCHICHTE DER SEKRETÄRIN

ZAPPELN

BUNTES BILD

KOPFLOS

TRAUER AUF CHINESISCH

FAHNDUNG

VERHÖR MIT DEM BÖSEN

UNTER DRUCK

WIEDER IM BERG

DAS IST DER WEG

ETWA ZUR GLEICHEN ZEIT

IM KELLER

MARKANTE MERKMALE

EPILOG

DANK

PROLOG

ÖSTERREICH, GEBIRGE, 25. SEPTEMBER 2022

Das alte Jagdhaus lag weit oben am Berg und sein Rover schob sich geduldig Kurve um Kurve die ausgebaute, aber schmale und steile Straße hinauf. Im Winter bei Glätte wäre man hier ohne Schneeketten verloren. Das sollte ihm jedoch kein Kopfzerbrechen bereiten, denn die Sonne schien eifrig und es war trocken und windstill an diesem Vormittag. Auf dem letzten Kilometer bis zum Ziel war die Fahrbahn nicht mehr asphaltiert, dafür etwas breiter und weniger abschüssig. Er beschleunigte leicht. Das Geräusch von aufgewirbeltem Kies erklang in den Radkästen. Dann sah er es. Das Häuschen lag genau vor ihm, allein auf der kleinen Hochebene, von dunklem Tannenwald eingerahmt, aus dem schroffer grauer Fels beinah senkrecht in die Höhe wuchs. Luis parkte am Wanderpfad, direkt neben einem schlichten Wegkreuz aus Fichtenholz. Beim Aussteigen schaute er kurz auf, denn der gekreuzigte Jesus schien ihm leidvoll zuzunicken. Ein ungutes Gefühl wie ein harter, verspannter Knoten zog sich in seiner Magengegend zusammen. Schlechte Gefühle konnte er nicht zulassen, dafür war keine Zeit. Schnell schob er die dunkle Ahnung beiseite. Streifte sie einfach ab, wie man ein lästiges Insekt von der Haut fegt. Wie immer war Luis geübt darin, sich auf das Wesentliche zu fokussieren. Vor der Eingangstür der Hütte hielt er bewusst inne. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich talwärts der wunderbaren Aussicht zu. Voller Ehrfurcht betrachtete er die Felsformationen und fühlte die monumentale Ehrwürdigkeit der Berge. Diese Landschaft hatte schon immer eine mächtige Anziehung auf ihn ausgeübt und sein Blick klebte an den schimmernden Gebirgsketten.

Wer einen echten Gipfel bezwingen wollte, der sollte sein Unterfangen genau planen. Die Vorbereitung war alles. Ausrüstung, Training, Mannschaft und Rahmenbedingungen mussten passen, damit eine Besteigung erfolgreich sein konnte. So gesehen war seine Situation der eines Bergsteigers nicht unähnlich, denn er war mit seinem Team schon einen langen, harten Weg gegangen. Gemeinsam mit anderen Fachleuten und Forschern hatten sie sich von Basislager zu Basislager gekämpft und nun lag nur noch das letzte Stück Anstieg bis zum Gipfel vor ihnen. Dieses Stück Weg war jedoch das steilste und gefährlichste, die Luft bis zur Spitze unglaublich dünn. Jeder Fehler, ein einziger falscher Schritt, konnten den Tod bedeuten. Luis blickte in den sattblauen Himmel und sog die frische Bergluft tief bis in die äußersten Lungenspitzen ein. Er wusste, dass er diesen Moment nicht festhalten konnte. Die Beschaulichkeit des Bilderbuchpanoramas blieb ihm lediglich für einen flüchtigen Augenblick. Luis verscheuchte alle Grübeleien, während er zum Haus hinüberging und das Schloss entriegelte. Er musste kräftig an der verzogenen Holztür ziehen, bis diese endlich geräuschvoll knarrend aufging. Über eine hohe Schwelle schritt er in den dämmrigen Innenraum, hinterließ schlierige Fußabdrücke auf den staubigen Holzdielen. Kaum war er eingetreten, stand er schon mitten in der Stube, da lediglich eine Fichtenholzwand den Eingangsbereich abschirmte und als Windschutz diente. Durch die kleinen Fenster fiel nur wenig Sonne, sodass sich seine Augen erst einen Moment an das fahle Licht gewöhnen mussten. Die Wände waren traditionell mit geschnitztem Holz verkleidet, das sich im Originalzustand befand und gut erhalten war. Die hölzernen Kassettendecken und rotweiß karierte Gardinen an den Fenstern brachten Gemütlichkeit in die gedrungene Wohnstube. An der hinteren Wand stand ein flaschengrüner Leutschacher Kachelofen, der besonders in kalten Bergnächten für behagliche Wärme sorgte. Direkt davor eine einfache Holzbank mit Tisch und Stühlen. An der linken Seite des Innenraums führte eine schmale Stiege zu einem spartanischen Schlafboden hinauf. Die Hütte war ein Relikt aus der Zeit, als Luis Vater, der gern zum Abschalten und Wandern heraufgekommen war, ein Vermögen mit einer kleinen Chemiefirma gemacht hatte. Die Jagdhütte war urig und herrlich gelegen, bot aber keinerlei Komfort. Kaltes Wasser gab es draußen am Brunnen, wer warmes wollte, musste es erst auf der Feuerstelle erhitzen. Einen Stromanschluss oder Internet suchte man hier oben ebenfalls vergeblich. Nicht einmal ein Mobiltelefon konnte man laden. Das alles waren Gründe, weshalb Luis nur selten herkam. Doch er hatte sich vorgenommen, irgendwann, wenn er mehr Zeit hätte, würde er die Hütte mit zeitgemäßem Komfort ausstatten lassen. Aber das konnte noch ein Weilchen warten, denn seine Arbeit und sein Augenmerk galten derzeit seinem Entwicklungsteam in Niedersachsen, zu dem er möglichst bald zurückkehren wollte. Der Umweg hierher kostete ihn mindestens zwei Stunden, die er irgendwie wieder aufholen musste. Kalkulierend schaute er auf die Uhr. Er war aus einem wichtigen Grund heraufgekommen und wollte keine weitere Minute vertrödeln. Während er seine Mission erledigte, könnte er sich auch gleich ein Bild davon machen, ob der Verwalter, der regelmäßig nach dem Objekt schauen sollte, seinen Job ordentlich machte. Kurze Zeit später saß Luis schon wieder in dem gemieteten Rover und brauste eilig die Bergstraße hinunter. Jetzt musste er schleunigst nach Innsbruck, damit er noch pünktlich zu seinem Treffen mit dem Professor kam. Professor Dr. Richard Foglio war ein renommierter Forscher im Bereich der Experimentalphysik. Man konnte sicher sein, dass sein Tag akribisch strukturiert und durchgeplant war. Ihnen würde also nicht mehr als genau eine Stunde Zeit bleiben, um ihre neuesten, quasi noch »laborfrischen« Erkenntnisse auszutauschen. Mit brennender Vorfreude stellte Luis sich bereits die staunenden Gesichtszüge seines Gegenübers vor, wenn er ihm von den genialen Neuigkeiten erzählen könnte. Sie beschäftigten sich mittlerweile einige Jahre auf sehr unterschiedliche Weise mit dem gleichen Themenfeld, wodurch sie sich immer wieder auf Konferenzen begegnet waren. Foglio und Luis waren sich vom ersten Moment an sympathisch gewesen; jeder bewunderte die Arbeit des anderen und ließ sich von seinen Fortschritten inspirieren. Das führte dazu, dass sie sich bei diesen Gelegenheiten immer tiefgreifender fachlich austauschten und viele Forschungsdetails auf dem Gebiet der Quantenmechanik erörterten. Laut Navi könnte er es noch schaffen, kein Stau und keine Behinderungen. Mit Blick auf die leere Straße trat er aufs Gas und ging in Gedanken seinen Gesprächsplan noch einmal durch – wie ein Schachspieler, der sich auf eine spannende Partie vorbereitet. Luis überlegte genau, welche Details er preisgeben wollte und wie viel Fingerspitzengefühl nötig sein würde, um Foglio seinerseits das ein oder andere kleine Geheimnis zu entlocken. Schnell, aber routiniert lenkte er den Mietwagen durch die Serpentinen in Richtung Bundesstraße. Er war etwa eine Viertelstunde auf der steilen Bergstraße unterwegs, als er hinter einer weiteren Biegung den rot-weißen Schlagbaum der Mautstelle ausmachte. Mist! Die Durchfahrt war geschlossen. Luis bremste den Rover, näherte sich dem Mauthäuschen und hielt schließlich direkt vor der Absperrung. Wo war der Kassierer? Auf dem Hinweg war der Weg noch frei gewesen. Musste das jetzt sein? Ein nachtblauer Passat parkte neben der Bude. Luis hupte ungeduldig. Endlich kam ein dunkelhaariger Mann im grünen Janker aus der Bude und ging auf Luis Wagen zu. Die Trachtenjacke wirkte abgenutzt, war auch etwas zu groß für den mittelalten Mann und ließ den Typen verkleidet aussehen. Sein Brillengestell war im Gegensatz zur Kleidung auffällig modern. Silbergraues Titan mit einem Doppelsteg über der Nase. Pilotenform, ein Brillentyp, wie ihn Luis Vater bereits in den Achtzigerjahren getragen hatte und der nun wieder up to date war. Ungeduldig ließ Luis die Fensterscheibe hinunter und hielt dabei schon einen Zwanziger zum Bezahlen in der Hand. Halb fragend, halb fordernd rief er ein »Grüß Gott!« in Richtung des Kassierers. Dieser stand nun direkt vor ihm und blickte ausdruckslos durchs Seitenfenster.

»Hier endet die Fahrt!« Mit diesen Worten zog der Mann eine glänzende schwarze Automatikpistole in einer einzigen fließenden Bewegung und richtete sie auf Luis. Luis duckte sich, doch es gab keinen Ausweg, in exakt diesem Moment hatte der Schütze bereits eine Kugel auf seinen Kopf abgefeuert. Die Synapsen in Luis sonst so schnellem Gehirn blockierten, einzig ein winziger Impuls, ausgehend von seiner Amygdala, auch bekannt als Mandelkern, ließen ihn kräftig aufs Gaspedal treten. Das Fahrzeug machte einen kurzen Satz, dem der Angreifer problemlos auswich, doch davon bekam Luis längst nichts mehr mit. Sein Schädel war bereits Brei. Das Letzte, was er realisierte, war der jähe, unmittelbare Knall, der ihn wie eine zähe Macht nach hinten riss, in die dunkelste jemals gekannte Schwärze, in der seine Empfindungen für immer endeten.

BERNEXPO, SINDEX – ZWEI TAGE ZUVOR (23.09.)

»Meine Damen und Herren«, ergriff der Gastgeber im vollbesetzten Newtonsaal der Festhalle auf dem Schweizer BERNEXPO-Messegelände das Wort. »Den Redner des heutigen Tages muss ich Ihnen nicht lange vorstellen; Sie kennen ihn fast alle, denn er hat uns bereits in den Vorjahren die Freude gemacht, die Eröffnungs-Keynote hier auf der Bühne unserer großartigen und stetig wachsenden Technologiemesse SINDEX zu halten. Außerdem ist er Autor diverser Bücher, die ich Ihnen durchweg ans technikbegeisterte Herz legen möchte. Allen voran seine Ausführungen zu ›Quantencomputing Awareness‹. Ebenfalls interessant für alle Wissbegierigen hier im Raum ist sein Werk ›Risikomanagement Today – Kryptografie und Quantencomputing‹. Am Ende seines Vortrags dürfen Sie gerne im Nebenraum am Büchertisch vorbeischauen, dort bekommen Sie die Möglichkeit, sich Ihr persönlich signiertes Exemplar zu sichern.« Einige Zuschauer nickten wissend, andere schienen erwartungsvoll, während ein Teil der Anwesenden reserviert zu bleiben schien.

»Unser Gast studierte Physik und Mathematik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er auch promovierte, und ist heute CTO eines spannenden und aufstrebenden norddeutschen Start-ups für Cloud-Infrastruktur – VITALSCALE! Ein Name, den Sie sich nicht merken brauchen, weil er Ihnen ohnehin wieder begegnen wird. Aber jetzt will ich Sie nicht länger auf die Folter spannen, bitte begrüßen Sie mit mir Herrn Dr. Luis Emilio Bommas.«

Ermunternder Applaus brandete kurz aus dem Publikum auf und verstummte ebenso schnell wie erwartungsvoll, als ein schwarzhaariger Mittdreißiger im hellgrauen Anzug locker auf die Bühne joggte. Seine Schritte, abgefedert durch makellose schneeweiße Sneaker, waren die mühelosen und raumgreifenden Bewegungen eines Mannes, der sich im Rampenlicht nicht nur wohlfühlte, sondern in der Aufmerksamkeit sonnte und sie geradezu absorbierte. Er gehörte zu der neuen, jungen Generation von Experten, die selbstverständlich ohne verstaubtes Rednerpult auskam. Lediglich mit leichtem Funk-Headset ausgestattet, begann er seinen leidenschaftlichen Vortrag.

»Ich begrüße Sie herzlich, mein Name ist Luis Bommas und ich habe heute nur wertvolle Nachrichten für Sie, denn ich möchte Sie für mein Lieblingsthema, die Welt der Quantencomputer begeistern!

Im Programmheft finden Sie den Titel ›Eine Maschine wird unser Leben ändern‹. Nanu, werden Sie jetzt vermutlich sagen, kenne ich schon, denn Smartphone und Thermomix haben mein Leben ja bereits verändert«, mit einem breiten Grinsen unterstrich Luis den Scherz.

»Doch bleiben wir ernsthaft, natürlich wissen sie, diesmal geht es um weitaus mehr.

Obwohl Milliardenbeträge aus Forschungsgeldern in die Entwicklung von Quantencomputern fließen, gilt dieser Bereich der Physik für viele immer noch als unseriös und unverständlich. Quantenphysik hat leider hartnäckig den Ruf, spukhaft und geheimnisvoll zu sein, dabei wird meist vergessen, wie viel wir der Quantenphysik bereits heute zu verdanken haben: Zum Beispiel würde es Computerchips, Magnetresonanztomografie und Laserdrucker nicht ohne das Wissen um die Physik der Quanten geben. Mit Vorurteilen gegenüber Quantencomputern möchte ich daher endlich aufräumen.

Tatsächlich schlummert hier ein Schatz, den wir gemeinsam heben müssen, wenngleich auch Gefahren, die nicht zu vernachlässigen sind, mit dieser Technologie einhergehen. Tatsächlich weisen Fachleute darauf hin, dass Quantencomputer Public-Key-Kryptografie brechen können, was die Vertraulichkeit und Authentizität unserer Daten gefährdet. Die Zeitskalen, wann dies so weit sein wird, reichen dabei von nur circa zwei bis zu zehn Jahren.

Gleichwohl ist Quantenphysik eine der verheißungsvollsten Wissenschaften, mit deren Hilfe es nicht nur gelingen wird, die großen Menschheitsprobleme zu lösen, sondern sie wird den einzig vernünftigen und begehbaren Weg in eine höher entwickelte Zukunft einleiten.

Unsere Gesellschaft steht unbestreitbar an einem Wendepunkt, denn unsere jetzige Lage erlaubt kein Verharren in alten, starren Systemen. Wir alle wissen um die globalen Herausforderungen. Um diese zu meistern, sind wir alle gezwungen, eine wirklich neue Ebene zu beschreiten.«

Eine kurze Pause machend, blickte Luis erneut in die Gesichter seines Publikums, um dann in prophetischem Tonfall fortzufahren:

»Ich schaue voraus und sage Ihnen: Wir alle hier werden Zeugen eines bedeutenden gesellschaftlichen Umbruchs sein. Quantentechnologie wird Großes bewirken, mehr noch, als es die friedliche Nutzung von Atomkraft, die Entwicklung des Internets oder jüngste Innovationen von KI vermochten. Sie werden sehen, dass diese Ebene des technologischen Umbruchs genau die Form des gesellschaftlichen Wandels ermöglicht und ins Rollen bringt, den wir alle anstreben. Nein, sogar herbeisehnen! Wir sind nur einen Quantensprung von einer saubereren, gerechteren Welt ohne Klimaprobleme und Kriege entfernt. Wenn wir global lernen, die Quantentechnologie richtig zu nutzen, können wir unsere demokratischen Systeme stabilisieren und ein Zeitalter der klugen und gerechten Lösungen einleiten.«

Allgemein skeptisches Raunen, gemischt mit gemessenem Applaus, kam aus dem Publikum. Seine Zuhörerschaft schien noch uneins, wie sie seinen leidenschaftlichen Einstieg in das Thema bewerten sollte.

»Was dürfen Sie also heute von mir erwarten? Um genug Basiswissen zu schaffen, müssen Sie drei Dinge verstehen:

Was unterscheidet Quantencomputer von normalen Rechnern, was sind Qubits und was bedeuten eigentlich Quantenverschränkung und Superposition? Das führt uns dann unweigerlich zu den modernen Denkmodellen der Quantenverschränkung und dem aktuellen Forschungsstand in der Entwicklung von Quantencomputern. Doch das Beste kommt zum Schluss, wenn wir uns das Potenzial dieser Technologie noch einmal genau vor Augen führen.«

ÖSTERREICH, BERGSTRASSE

Der Ruf des Kuckucks hallte vom Wald herüber, Bienen summten zwischen kniehohen Wiesenflockenblumen und die Sonne strahlte mit der Milde eines freundlichen Septembers. In der Ferne sah man Steinböcke auf einer Felsnase ruhen. Die Welt schien ein Idyll zu sein, das zu andächtiger Naturbeobachtung und stillem Staunen einlud. Doch dieser Eindruck war ebenso falsch wie das Gebiss des Oberförsters.

Kontrollinspektorin Frederike Angerer kletterte mit weichen Knien wieder den Hang hinauf, als ihr Vorgesetzter Chefinspektor Falk Krull aus einem Wagen am oberen Straßenabschnitt ausstieg. Die Beamten der österreichischen Bundespolizei hatten eine weiträumige Straßensperre errichtet. Zwischen den Absperrbaken flackerten die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge und verrieten anderen Verkehrsteilnehmern schon von Weitem, dass hier etwas geschehen war. Einige Schaulustige reckten die Hälse jenseits des Flatterbandes. Auf der Straße und am Abhang waren die Leute der Spurensicherung mit Handschuhen, weißen Overalls und Schuh-Überziehern akribisch darauf bedacht, jeden Grashalm einzeln umzudrehen und jeden noch so kleinen Hinweis einzutüten. Krull machte ein angespanntes Gesicht, als er seine Kollegin mit einem knappen Nicken begrüßte.

»Servus, Freddy!«

»Grüß dich«, erwiderte sie kurzatmig, wobei sie über die Leitplanke auf die Straße zurück kletterte.

»Was haben wir hier?«, fragte Krull, der mit Verspätung am Tatort eingetroffen war.

»Komm wieder mit hinunter, ich zeig’s dir. Vergiss aber die Füßlinge nicht.«

Freddy hielt ihm die vorgeschriebenen Gummihandschuhe hin und deutete auf eine Box mit blauen Überziehern.

»Die sehen aber ein bisschen klein aus«, murrte Krull, nahm jedoch die Plastikschoner und zog sie folgsam über seine gewaltigen Lederschuhe.

»Bist du so weit? Hier entlang, bitte. Achtung, es geht ganz schön steil runter.«

Gemeinsam folgten sie vorsichtig einem von der Spurensicherung festgelegten, deutlich abfallenden Trampelpfad. Der Boden war feucht und glitschig, Gras und Pflanzen waren niedergetreten. Krull musste höllisch aufpassen, dass er mit den Plastikhauben auf den Schuhen nicht ins Rutschen geriet.

Einige Meter weiter unten, zwischen Gestrüpp und Geröll, blieben die beiden Ermittler vor einem ehemals schneeweißen Range Rover Evoque stehen, der nach links geneigt und potenziell instabil auf einem Felsvorsprung im Hang festhing. Ein umgestürzter Fichtenstamm hatte Wagen und Fels allerdings so verkeilt, dass dieser nicht weiter wegrutschen konnte.

»Himmelherrgottsakrament!«

»Ruhig Blut, Chef. Das Auto ist leer, die Leiche wurde längst geborgen und abtransportiert«, informierte ihn Freddy.

»Schau, man kann im Wageninnern gut erkennen, wie sich die Spritzer von Blut und Hirnmasse verteilt haben. Meiner Meinung nach muss es ein Schuss aus direkter Nähe gewesen sein. Ich bin gespannt, was der Ballistiker sagen wird.«

Krull schaute unbeeindruckt durch das Fenster.

»Was wissen wir denn bis jetzt? Fass doch bitte mal für mich zusammen«, bat er seine Kollegin.

Freddy räusperte sich und setzte ihr amtliches Gesicht auf, während sie herunterspulte, was sie bereits wusste: »Der Fahrer des Rovers war wohl sofort tot, er hat eine Einschussstelle an der linken Schläfe, männlich, hellhäutig, 32 Jahre mit deutschem Pass. Wie es aussieht, war er allein im Fahrzeug. Das Projektil hat keine Scheibe zerschlagen, daher gehen wir davon aus, dass er durch das geöffnete Fenster erschossen wurde. Alle Gegenstände aus dem Mietwagen sind bereits geborgen, falls noch etwas herausgeschleudert wurde, sollten die Kollegen es finden. Fingerabdrücke werden noch genommen. Das wär’s fürs Erste.«

Mit fragender Miene stakste Krull einmal halb um den Geländewagen herum: »Also wurde das Opfer zuerst ermordet und stürzte anschließend mit dem Fahrzeug hier ab?«

»Ja, so ungefähr muss es gewesen sein. Schau mal hier, dieser Airbag hat nicht die typischen Blutspritzer, wie sie an Innenwänden und Himmel des Wagens zu finden sind. Folglich hat der Airbag sich erst später beim Aufprall geöffnet.«

Krull beugte sich zum Fenster und sah den erschlafften Luftsack prüfend an: »Könnte sein, sicher wäre ich da aber nicht, für mich schaut der ziemlich verschmiert aus. Das soll sich die Technik lieber genau vornehmen.«

Dann richtete er sich wieder zu voller Größe auf und den Ausführungen seiner Kollegin zu:

»Ich denke, was in etwa abgelaufen ist, lässt sich aktuell nur vermuten. Aber ich habe zwei Thesen: Entweder es hat jemand nachgeholfen und das Fahrzeug hier mit Absicht die Schlucht hinunterbefördert oder das Mordopfer hat im Moment der Bedrohung reflexartig aufs Gaspedal getreten und ist dann durch die Planken gekracht. Wie du gesehen hast, sind die Leitplanken an diesem Straßenstück aus Holz gezimmert und an der Absturzstelle deutlich aufgesplittert.«

Freddy nickte, während Krull mit der Hand am Kinn in Schweigen versank.

»Was denkst du? Eine Hinrichtung? Vielleicht die Mafia?« Freddy schaute ihren Kollegen stirnrunzelnd und zugleich fragend an.

»Möglich, aber schwer zu sagen. Ist mir noch zu früh, um Schlussfolgerungen zu ziehen«, antwortete Krull und zog dabei die Augenbrauen so streng zusammen, dass sie ihm ein gefährliches Aussehen verliehen. Freddy schauerte es innerlich. Jedes Mal, wenn er dieses Gesicht machte, erinnerte seine ungewöhnlich starke Augenpartie an einen Urmenschen vom Typ grollender Neandertaler.

Wenn er so ernst war, fand Frederike ihn ein wenig zum Fürchten. Sie mochte ihren Chef viel lieber, wenn die Leidenschaft für seinen Beruf ein eifriges Blitzen in seinen Augen hervorbrachte. Sie schätzte Krull als Menschen und für seine Entscheidungen, er stand immer hinter seinem Team, wenngleich er auch viel von ihnen verlangte. Allein seine Körpergröße von 1,98 Meter war Respekt einflößend. Allerdings schienen seine sportlich aktiven Zeiten vorbei zu sein, denn ein kleiner Bauchansatz zeichnete sich neuerdings deutlich zwischen Hemd und Hose ab.

»Lass uns wieder hochlaufen«, entschied Krull und erklomm als Erster den Weg zur Straße zurück. Atemlos schnaufend erreichte er Minuten später die geteerte Fahrbahn. Direkt hinter ihm ging Kollegin Angerer, die mittlerweile ein bisschen blass um die Nase wirkte. Krull japste und schnaufte noch immer wie ein alter Dampfkessel. Seine körperliche Fitness war inakzeptabel für einen Polizisten, wie er sich verdrossen eingestehen musste. Beide gingen hinüber zum weißen Zelt auf der Straßenmitte, das die Beamten als Asservatenlager und Basis für die Kriminaltechnik aufgestellt hatten. Auf einem langen weißen Klapptisch lagen neben Kaffeekannen, Bechern und Snacks die letzten Habseligkeiten des Toten.

»Hier liegt alles, was wir aus dem Fahrzeug bergen konnten, von der Spusi bereits vollständig katalogisiert«, informierte Freddy ihren Chef.

Krull ließ seinen Blick über eine ganze Reihe von Plastikbeuteln schweifen:

Ein altes angebissenes Salamibrötchen, ein Mobiltelefon Marke Honor Magic 4 Pro, ein leerer Papp-Kaffeebecher, Portemonnaie mit Führerschein und Personalausweis, Mietwagenvertrag, Visitenkarten, eine leere Notebooktasche und eine zerrissene Tüte Kräuterbonbons.

Neben dem Tisch mit den Asservatenbeuteln stand außerdem ein schwarzer Rollkoffer. Das typische Accessoire für einen Geschäftsreisenden.

»Wie heißt denn unser Toter überhaupt?«

»Sein vollständiger Name gemäß seinen Papieren ist Luis Emilio Bommas, 32 Jahre alt, wohnhaft in Verden. Das ist in Niedersachsen, Deutschland«, antwortete Angerer, die den Ort schon gegoogelt hatte.

»Wir müssen die Kripo dort informieren«, erklärte Krull und fügte hinzu: »Das übernehme ich selbst!«

»Gehst du mit zur Obduktion? Der Leichenwagen ist bereits auf dem Weg«, erkundigte sich Frederike in der Hoffnung, dies nicht selbst tun zu müssen.

Krull nickte knapp und wandte sich wieder an die Kollegin:

»Sag mal, es ist zwar noch zu früh für irgendwelche Schlüsse, aber ist dir vielleicht schon was Hilfreiches aufgefallen?«

»Nicht so richtig. Nur eine Sache. Er hat eine Notebooktasche, aber es fehlt das Notebook dazu. Könnte entwendet worden sein. Vielleicht wollte der Täter es haben, weil etwas Bedeutsames auf dem Gerät ist«, mutmaßte Freddy.

Krull nickte schweigend.

»Außerdem ist mir sein Smartphone aufgefallen, ein sehr neues chinesisches Modell – ist hier nicht sehr gängig. Ich lasse es von der Technik gründlich überprüfen. Rein äußerlich scheint es nicht viel abbekommen zu haben. Das Display ist nur leicht angekratzt.«

»Danke, du hast wie immer alles super im Blick«, lobte Krull seine Kollegin und fügte hinzu: »Wie es aussieht, hat hier jeder das, was er braucht, um seine Arbeit zu machen. Dann fahre ich jetzt in die Gerichtsmedizin und wir treffen uns später in der Inspektion.« Krull machte noch schnell eine grüßende Geste zum Abschied, bevor er in seinen altgedienten und schon leicht verschrammten Škoda Fabia stieg, mit dem er die Serpentinen gemächlich wieder hinunterfuhr.

Die Nachmittagssonne stand mittlerweile tief. Sobald es dunkel wurde, würde es schwierig werden, den Tatort nur mit Scheinwerferlicht zu untersuchen. Krull hoffte inständig, dass die Spurensucher zügig vorankamen. Ein Mord bedeutete immer Einsatz rund um die Uhr, deshalb war er in diesen Zeiten stets aufs Neue erleichtert, dass er keinerlei familiäre Pflichten zu erfüllen hatte und in seiner Wohnung nicht mal ein Hamster auf ihn wartete. Familie hatte er nie gewollt, er lebte für den Job und die Kollegen, nur selten gab es mal eine romantische Episode in seinem Leben.

NEU IN DER STADT

Noch zwei Kartons auspacken, dann wäre sie mit dem lästigen Umzugskram endlich fertig. Tanja steckte sich eine lose Strähne hinters Ohr, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte sich stirnrunzelnd in der weiß gestrichenen Neubauwohnung um. Das helle Schiffsbodenparkett, das in allen Räumen bis auf Bad und Küche verlegt war, gefiel ihr sehr gut. Doch im Moment wirkte ihre Behausung ziemlich kahl und leer. Sie hatte ein neues Bett kaufen müssen, darin schlief sie manchmal sogar ganz gut. Meist aber nur ein paar Stunden, jede Nacht, bis sie sich hin und her wälzte und schließlich aufstand, um ihren wirren Träumen zu entkommen.

Davon abgesehen hatte sie nur das alte Sofa aus ihrer Jugendzeit, welches zuletzt unter einem Berg aus Plunder und alten Kartons im Keller gestanden hatte, mit hierher gebracht und natürlich ein paar kleinere gebrauchte Möbel, die sie günstig von einer Freundin übernommen hatte. Die hellgraue, skandinavisch aussehende Küche war praktischerweise schon eingebaut, einer der Gründe, warum sie sich schnell für diese Wohnung entschieden hatte. Tanja drehte sich einmal herum, um den Gesamteindruck auf sich wirken zu lassen. Was sie jetzt unbedingt brauchte, war Deko: Rollos, Gardinen, Bilder, Pflanzen, alles, was es wohnlicher machte.

Sie stieß einen schnaubenden Seufzer aus. Eigentlich meinte sie erträglicher. Die schönen Dinge sollten es erträglicher für sie machen. Erträglicher, weil sie so viel aufgegeben hatte. Erträglicher, bis der Schmerz und die Wut irgendwann nachlassen würden. Erträglicher, bis der Neuanfang gelang. Tanja ließ die Arme hängen und schaute zum Fenster.

Sie hätte auch gerne einen kleinen Tisch mit Stuhl für den Balkon, wo sie nach Feierabend gemütlich sitzen könnte.

Von hier oben hatte man einen herrlichen Weitblick über die Gärten und Dächer der umliegenden Häuser. Wenn sie auf dem Balkon stand, fühlte sie sich gleich viel freier. Tanja ging zurück in die Küche. Samstag könnte sie sich darum kümmern, überlegte sie, während sie nach und nach sechs sauber gespülte Weingläser in den Küchenschrank einräumte. Sie betrachtete die Gläser. Im Moment hatte sie noch keine Ahnung, mit wem sie hier überhaupt mal ein Glas Wein oder auch nur einen Kaffee trinken sollte! Drei Wochen war sie jetzt die neue Kriminalhauptkommissarin am Ort und ihre Kontakte waren bisher ausschließlich rein dienstlich gewesen.

Lag es an ihr selbst oder an der Arbeitslast, dass die Kolleginnen und Kollegen in der Dienststelle ihr bislang eher distanziert begegnet waren? Alle waren freundlich, aber so richtig in der Mitte dieser eingeschworenen Polizeitruppe musste sie erst noch ankommen. Sie ahnte, dass das schwierig werden würde. Für eine gute Zusammenarbeit fühlte sie sich bereit, aber mit manchen Polizisten in der Inspektion hatte sie rein gar nichts gemeinsam. Zum Beispiel ihr direkter Teampartner, der vor ihrer Versetzung interimsweise ihre jetzige Position innegehabt hatte. Sie kamen überhaupt nicht miteinander zurecht. Es konnte nicht daran liegen, dass er sich degradiert fühlte. Tanja wollte keine Vorurteile hegen, aber mit seinen 62 Jahren war er die Sturheit in Person und kaum anpassungsfähig. Das einzig Gute an seinem Alter schien ihr die Tatsache, dass er in wenigen Wochen in den Ruhestand verschwinden würde. Friedhelm Meier hatte ihr schon mehrfach signalisiert, dass er sich von einer jüngeren Hauptkommissarin nichts mehr sagen lassen würde. Sie hoffte inständig, dass sie bis zu seinem Ausscheiden in keine kritische Situation kämen. Sonst könnte es problematisch werden. Letztendlich war Meier nicht annähernd so motiviert, wie sie es von ihren Teammitgliedern erwartete. Oft erledigte sie anfallende Routinearbeit lieber selbst, als unbeliebte Aufgaben mit ihm zu besprechen oder an andere Kollegen zu delegieren. Aber das war in vielerlei Hinsicht keine gute Entwicklung. Tanja musste aufpassen, dass sie sich nicht zu einer Einzelgängerin entwickelte. Immerhin kannte sie ihre Schwächen.

Darum war sie froh, dass sie wenigstens eine Maßnahme schon in der ersten Dienstwoche ergriffen hatte. Für mehr frisches Denken in ihrer Abteilung hatte sie sich dafür starkgemacht, dass die freie Planstelle mit der 23-jährigen Kommissaranwärterin Eliana Aydin besetzt wurde. Eliana war eine ausgezeichnete Polizistin, außerdem freundlich und aufgeschlossen und nicht nur in puncto Motivation das genaue Gegenteil von Kollege Meier. Die junge Frau sprach neben Deutsch und Englisch auch Türkisch und ein bisschen Arabisch. Mit ihrem Ehrgeiz und ihrer Wissbegier würde sie vermutlich schnell Karriere machen. Ein klein wenig erinnerte ihre Art Tanja daran, wie sie selbst noch vor ein paar Jahren gewesen war. Doch der Hauptgrund, warum sie die Anwärterin im Team haben wollte, war, dass Eliana sie als Vorgesetzte akzeptieren würde und nicht einfach nur die Neue in ihr sah. Unabhängig vom Dienstgrad fand sie es gut, mehr Frauen in der Abteilung zu haben.

Tanja raffte die flachgelegten Kartonagen zusammen, die Dinger mussten erst einmal in den Keller, vielleicht würde sie die Pappteile bald wieder brauchen. Auf dem Weg nach unten hätte sie beinah die Schusterpalme ihrer Nachbarin vom Treppenabsatz gefegt. In der vierten Etage zu wohnen hatte Vorteile, auch wenn es eine Plackerei gewesen war, alle Sachen hinaufzutragen. Die Vorstellung, bald wieder den Standort zu wechseln, machte ihr trotzdem nichts aus. Egal, wie oft sie noch umziehen müsste, Hauptsache ihre Karriere würde nicht dauerhaft in Verden, dieser mittelmäßigen Kleinstadt, stecken bleiben.

BERNEXPO, SINDEX (ZWEI TAGE VOR DEM MORD)

Luis zeigte ein Gruppenbild der bekanntesten Solvay-Physikkonferenz auf der Leinwand, nahm einen Schluck Wasser und sprach dann weiter:

»1927 stritten die Gelehrten in Brüssel um weitere Phänomene der Quantenphysik. Vor allem Niels Bohr und Albert Einstein waren uneinig beim Thema Quantenverschränkung.

Worum ging es bei diesem Streit? Um die Zusammenhänge zu verstehen, müssen wir uns wieder in die Welt der kleinen Teilchen begeben. Über die Quantenverschränkung wissen wir: Wenn wir Quantenobjekte paarweise erzeugen, dann sind diese verschränkt. Was soll das nun genau bedeuten? Verschränkt heißt dabei nicht örtlich aneinander gefesselt, sondern die Elektronen sind in ihren Eigenschaften aneinander gebunden. Darauf möchte ich etwas genauer eingehen, indem wir uns ein Elektronenpaar als drehende Tennisbälle vorstellen.

Würde man nun die Richtung des einen Tennisballs umkehren, dann würde sich auch die Richtung des anderen Balls ebenfalls simultan – im selben Augenblick – umkehren und dies geschieht wirklich ganz egal wie weit die beiden Bälle bzw. Elektronenteilchen voneinander entfernt sind. Selbst wenn Hunderttausende Kilometer dazwischen liegen. Doch wie kann das sein? Von Einstein wissen wir, dass Informationen nicht schneller als mit Lichtgeschwindigkeit übertragen werden können. Einstein bezeichnete daher das Phänomen der Quantenverschränkung als ›spukhafte Fernwirkung‹. Diese Aussage klingt jedoch mehr nach Kapitulation als nach einer zufriedenstellenden Antwort! Damit Sie mir bei der ganzen Theorie nicht einnicken, habe ich zur Anschauung eine Kleinigkeit mitgebracht.«

Er zog etwas aus einer Tasche und wandte sich erneut an sein Publikum. Dabei hielt er ein Paar schwarze, ziemlich formlose Herrensocken am ausgestreckten Arm in die Höhe.

Die Zuschauer blickten irritiert und tuschelten.

»Jetzt fragen Sie sich zu Recht, was so ein Sockenpaar mit Quantenphysik zu tun hat? Gleich werden Sie es verstehen!

Ich habe hier wie üblich eine linke und eine rechte Socke. Nun, wenn ich diese schwarzen Socken hochhalte, lässt sich kaum erkennen, welche Socke nun welche ist, oder?« Er schwenkte die Socken.

»Darf ich Ihnen mal eine davon hinüberwerfen? Bitte einfach nur mal festhalten!« Luis knüllte eine Baumwollsocke fest zusammen und warf sie einer Dame mit grauem Pixie-Haarschnitt in der dritten Reihe zu.

»Unsere Frage ist also, welche Socke hat die Eigenschaft, die linke zu sein, und welche ist die rechte? Das typische Verhalten eines Physikers wäre nun, dieses zu messen. Genau das mache ich, indem ich eine Socke überziehe.«

Luis fuhr demonstrativ mit der linken Hand in das verbliebene schwarze Anschauungsobjekt und winkte damit.

»Was ergibt sich daraus? Richtig, wenn diese Socke die linke ist, dann ist die andere automatisch die rechte! Die Socken sind also in ihrer Eigenschaft verschränkt. Außerdem bleibt die andere Socke auch immer noch die rechte Socke, wenn sie gar nicht in der Nähe ist. Sie kann dort drüben bei der Dame sein oder in einem Hotel in Tokio, die Socke bleibt eine rechte Socke und zusammen bleiben sie ein Paar. Tausche ich nun die Socke und ziehe sie an den rechten Fuß, dann wird die andere Socke, dort bei der Dame, automatisch zur linken Socke. Egal, wie viel Zeit und Raum sich zwischen den Socken befinden. Unsere Socken hier sind natürlich nur ein Modell, doch exakt so verhält es sich bei der Quantenverschränkung.

Sie sehen, weil das Märchen von der spukhaften Fernwirkung nicht zufriedenstellend ist, sollte eine bessere Erklärung gefunden werden. Und die gibt es auch bereits, denn zwei räumlich getrennte Objekte müssen nicht zwangsläufig als getrennte Objekte betrachtet werden. Die beiden Elektronen müssen als ein einziges Objekt verstanden werden, das nur den Zustand von zwei entgegengesetzten Spins annehmen kann, vergleichbar mit einer Münze, die immer auf der einen Seite Kopf und auf der anderen Seite Zahl hat, nur eben räumlich getrennt.«

Luis rief das nächste Bild auf die Leinwand.

»Bevor ein Teilchen nun zu einem Elektronenpaar wird, beinhaltet es zu je 50 % die Wahrscheinlichkeit, eine der Richtungen Spin up oder Spin down auszuprägen. Diese Ausgangslage bezeichnet man als Superposition, denn erst im Moment der Messung, beim Nachschauen oder Beobachten, entscheidet sich anscheinend, welchen Quantenzustand das Teilchen einnimmt.« Luis schaute in den Saal vor ihm.

»Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das so kurz vor der Mittagspause schwer greifbar erscheint. Trösten Sie sich, denn damit sind Sie in guter Gesellschaft! Der amerikanische Physiker Richard Feynman sagte einmal: ›I think I can safely say, that nobody understands quantum mechanics!‹«

KRULL ERMITTELT

Nur eine Handvoll Studenten tummelte sich auf dem Campus Technik der Uni Innsbruck, als Kommissar Krull vom Parkplatz zu den Gebäuden hinüberging. Das Areal umfing die gleichgültige Ruhe der Semesterferien, die noch bis Anfang Oktober andauern würde.

Erst mit Beginn des Wintersemesters würden das Campusleben und die Betriebsamkeit an diesen Ort zurückkehren. Jetzt waren die Hörsäle, Flure und Seminarräume, abgesehen von ein paar Vorkursen, öde und leer.

Die wenigen jungen Leute vor dem mehrstöckigen Trakt waren in Gespräche vertieft und nahmen keinerlei Notiz von dem Mann, der mittlerweile auf dem zentralen Platz stand und sich zwischen den Hochhäusern ratlos suchend umsah. Erfolglos versuchte dieser, einen Wegweiser zum Labor für Experimentalphysik zu finden.

Krull blickte sich immer noch suchend um, als er zwei Personen mit Pappbechern in den Händen aus einer Cafeteria kommen sah.

Kurz entschlossen wandte er sich westwärts und lief den Männern entgegen. Auf die Entfernung konnte er kaum einschätzen, ob die beiden eher der Studentenschaft oder dem wissenschaftlichen Personal zuzuordnen waren. Beide schienen noch unter dreißig und diskutierten angeregt. Krull ging geradewegs auf sie zu.

»Servus, können wir helfen?«, sprach einer der beiden ihn zuvorkommend an.

»Grüß Gott, ich hoff ’s! Ich suche Professor Foglio vom Institut für Experimentalphysik und hab leider keinen blassen Schimmer, wie ich da hinkomme«, gestand Krull rundheraus.

»Ach, Sie wollen zum Quantenprof ! Der wird in seinem Labor sein.«

»Wir sind in seinem Büro verabredet«, korrigierte Krull diese Annahme.

»Ich bring Sie hin, ich muss eh in die gleiche Richtung!«, bot ihm der freundliche Typ an.

»Danke, darauf hatte ich gehofft!«

Wenige Minuten später saß Krull vor einem mit Unterlagen und Fachartikeln überladenen Schreibtisch in einem Büro, welches er ohne Hilfe in dem Gewirr aus Gängen niemals aufgespürt hätte und das eng wie eine Hobbithöhle war. Er fragte sich, wie ein seriöser Forscher in diesem Chaos noch irgendetwas wiederfand. Umringt von Büchern, Publikationen und Schriften, ohne einen freien Zentimeter um sich herum hätte er selbst schon lange die Übersicht verloren. Der Herr über dieses Chaos, der Chef der Experimentalphysik, ein mittelgroßer Mann von durchschnittlicher Statur, ohne Bart, dafür mit Brillengestell und weißem Haar, saß direkt auf der anderen Seite des Schreibtisches. Er sagte kein Wort und wartete offenbar darauf, dass der Kommissar das Gespräch eröffnete, während er einen großen Schluck Kaffee aus einer Bechertasse mit Katzenmotiv nahm. Krull betrachtete die Tasse mit dem auffälligen Schriftzug: »Schrödingers Cat is AdLeIaVdE.« Krull musste zweimal hinschauen, um zu erkennen, dass das letzte Wort in einer Art Vexierschrift gedruckt war und sowohl »Alive« als auch »dead« daraus gelesen werden konnte. »Interessante Tasse haben Sie da«, eröffnete er das Gespräch mit dem Professor und guckte ein bisschen enttäuscht auf seine eigene mit dem recht simplen »I love Physics«-Print.

»Herr Kommissar, warum wollen Sie mich eigentlich sprechen?«

Anstelle einer Antwort zog Kommissar Krull eine Porträtfotografie von Luis Bommas aus seiner Jacketttasche und legte sie auf den Tisch, unmittelbar vor den Professor hin. »Kennen Sie diesen Mann?«

»Oh ja, natürlich! Das ist ein guter Bekannter von mir.«

Die Fotografie hatte den Professor zugänglich gemacht, laut und lebhaft redete er weiter:

»Luis Bommas heißt er, wir tauschen uns oft online über die Erforschung von Ionen-Quantencomputern aus, manchmal treffen wir uns aber auch persönlich. Vorgestern wollte er eigentlich hier ins Institut kommen. Aber er ist aus irgendeinem Grund nicht aufgetaucht. Ich habe nur seine Mailbox erreicht und dachte, der Job sei ihm mal wieder in die Quere gekommen.« Der Professor sprach plötzlich langsam und zögerlich. »Was ist denn mit ihm?«

»Herr Professor, ich bedaure aufrichtig, aber Ihr Bekannter, Herr Luis Bommas, wurde ermordet!«

Mit einem Mal erfüllte eine gespenstische Stille den Raum und ein eiskalter Luftzug wehte vom gekippten Fenster herüber. Schließlich fand Foglio seine Stimme wieder:

»Grundgütiger! Was ist passiert?« Die Augen des Gelehrten waren immer noch schreckgeweitet, mit seinen fleischigen Händen krallte er sich am Schreibtisch fest. Krull antwortete leise, aber ungeschönt:

»Herr Bommas wurde ermordet, mehr Details kann ich Ihnen dazu nicht geben.«

»Wie schrecklich … unfassbar! Etwa hier in der Nähe?«

»In der Tat, nach den Angaben in seinem Terminkalender war Luis Bommas auf dem Weg zu Ihnen, was sich ja mit Ihrer Aussage deckt. Sie verstehen, dass ich deshalb mit Ihnen sprechen muss.«

»Entschuldigen Sie, ich bin geschockt, das muss ich erst mal fassen!«

Der Professor, der noch zu Beginn des Gesprächs mit seinen geröteten Wangen wie ein Mensch ausgesehen hatte, der seinen Blutdruck im Auge behalten sollte, wirkte plötzlich bleich und fahrig.

»Haben Sie denn schon irgendeinen Anhaltspunkt?«

»Nicht konkret, wir vermuten, dass der Täter es auf etwas abgesehen hat, was der Ermordete mit sich führte.

»Fällt Ihnen dazu vielleicht etwas ein?«

»Nein, leider nein«, antwortete der Professor.

Krull stellte die Kaffeetasse ab und richtete sich trotz seiner imposanten Größe noch etwas mehr auf.

»Können Sie sich vorstellen, wer Herrn Bommas schaden wollte oder eine Feindseligkeit gegen ihn hegte? Oder wer Interesse an wichtigen, aber vertraulichen Daten haben könnte?«

Foglios Antwort kam ohne Zögern.

»Nein, absolut nicht! Wir haben über Forschung und Entwicklung geredet und sonst nichts weiter, Privates haben wir meist außen vor gelassen. Dafür war uns die knappe Zeit für den wissenschaftlichen Diskurs zu wertvoll.«

»Glauben Sie, dass er jemandem mit seinen Theorien auf den Schlips getreten ist? Ist er einem anderen Forscher in die Quere gekommen?«

»Nein, nein. Das ist Blödsinn«, wehrte Foglio ab. »Wir Wissenschaftler lieben doch unsere Streitgespräche. Ganz ehrlich, Ideenklau wäre niemals Luis Sache gewesen und wofür auch?« Er schüttelte den Kopf.

»Womit beschäftigen Sie sich eigentlich genau, hier an Ihrem Institut?«, wollte Krull weiter wissen.

»Nun, wir verfügen hier über einen Quantencomputer mit Ionenfallen im kleinen Maßstab. Wir benutzen ihn, um neue Eigenschaften der Quanteninformationsverarbeitung und ganz grundlegende Eigenschaften der Quantenphysik zu untersuchen. Ziel der Experimente ist es, vollständige Kontrolle über alle Quantenprozesse zu erlangen und die Entwicklung skalierbarer Hardware und Software für einen zukünftigen Quantencomputer voranzutreiben.«

»Das klingt ziemlich konkret.«

»Das ist für unseren Forschungsbereich tatsächlich schon sehr konkret, da gebe ich Ihnen recht, aber bezogen auf die Ihnen bekannte Welt sind unsere Untersuchungen noch sehr weit vom Alltag und von der Produktentwicklung entfernt. Wir haben es bei den Quantencomputern mit sensiblen und fehleranfälligen Prototypen zu tun, also vor uns liegt vermutlich noch ein langer Weg.«

»Und glauben Sie, dass Luis Bommas vielleicht schon ein paar Schritte weiter war – ich meine, dass er einen bemerkenswerten Vorsprung vor der allgemeinen Wissenschaft gehabt haben könnte?«

»Kann sein, aber da kann ich nur spekulieren. Ehrlich, ich weiß es nicht.«

Krull seufzte. »Herr Professor Foglio, Sie machen mir wenig Hoffnung, für meine Nachforschungen ein Motiv für diesen Mordfall zu finden.«

»Glauben Sie mir, das bedaure ich zutiefst. Wenn ich irgendwie helfen kann?«

»Ich lasse Ihnen zur Sicherheit meine Karte da, falls Ihnen noch etwas einfällt, haben Sie meine Kontaktdaten.«

Krull legte das Papierkärtchen vor sich auf den Tisch und verabschiedete sich.

SERGEI

Sergei blickte aus seinem geöffneten Hotelzimmerfenster im fünften Stock und rauchte. Sein Blick galt dem trüben Himmel, aber auch den zäh dahin kriechenden Blechmassen in der Straße. Vor seinem geistigen Auge sah er die grauen und verschlafenen Gesichter der Menschen, die sich tagtäglich früh aus den Betten quälten, um zu ihren Schichtdiensten in ihren schlecht bezahlten Jobs zu hetzen. Nach Feierabend machten sie noch einen zweiten oder dritten Job, der sie ihren Träumen auch nicht näherbrachte. Mal hatten sie mehr Ähnlichkeit mit Zombies, mal mit Hamstern im Laufrad, doch immer war das Geld zum Leben viel zu knapp.

Das konnte er besser. So ein Leben wollte er nicht. Er hatte sich dagegen und für etwas Einträglicheres entschieden und er würde seinen Teil vom Kuchen abbekommen.

Sergei schmiss die Kippe aus dem Fenster, dann wandte er sich wieder dem Schreibtisch mit dem aufgeklappten Laptop zu, auf dem er seinen Bank-Account aufrief. Im nächsten Moment zeigte der Bildschirm die Seite mit seinem aktuellen Kontostand. Sergeis Lächeln wurde breiter. Sein Saldo war um ein ansehnliches Sümmchen gewachsen. So sollte es sein. Die erste Hälfte des vereinbarten Betrages war pünktlich eingegangen. Die zweite Hälfte würde er ebenfalls bald bekommen, er musste lediglich dafür sorgen, dass dieser Laptop unversehrt zu seinem Auftraggeber gelangte.

»Ein Kinderspiel«, sagte er sich laut, während er mit der flachen Hand über das kühle Metallgehäuse strich. Darum würde er sich persönlich kümmern. Genauso wie er sich persönlich um den ehemaligen Besitzer gekümmert hatte. Mit ein paar Klicks rief er die Seite eines Flugportals auf.

Die Covid-Pandemie war in ihrem dritten Jahr weitestgehend mit verbesserten Impfstoffen besiegt worden. Die Herdenimmunität konnte in Europa und fast allen westlichen Ländern erreicht werden und einige Länder erklärten die Pandemie bereits für beendet. Auch die Durchseuchung durch verhältnismäßig milde Infektionen hatte ihren Teil dazu beigetragen. Die Inzidenzen blieben seit einer Weile auf weltweitem Tiefststand (lediglich die Chinesen verfolgten eine menschenunwürdige Null-Covid-Strategie) und stiegen, abgesehen von wenigen lokalen Infektionsausbrüchen, nicht mehr an. Auslandsreisen waren wieder in viele Staaten möglich. Nun, da sich die Mühlen aller Nationen wieder fast wie zuvor drehten und die Menschen ausgehungert nach Abwechslung und Abenteuern waren, machte sich die ganze Welt auf den Weg. Der Himmel war eng geworden, auch wenn die Airlines über Personalmangel klagten und überlastet schienen.

Doch bei allem, was hinter den Menschen lag, waren die westlichen Gesellschaften erschreckend unreflektiert nicht nur zu ihrer gewohnten Profitgier, sondern auch zu allen anderen alten Verhaltensmustern zurückgekehrt. Was sich nicht geändert hatte, waren weiterhin sehr gewissenhafte Ein- und Ausreisekontrollen an den Grenzen und Flughäfen. Die Gründe hierfür vermutete Sergei jedoch nicht beim Infektionsschutz, sondern vor allem darin, dass sich die Europäische Gemeinschaft panisch vor unkontrollierter Zuwanderung, Klimaflüchtlingen und eingeschleusten terroristischen Gruppen fürchtete.

Sergei besaß zwar einen deutschen Pass mit einem deutsch klingenden Namen – Valentin Schmied –, der ihm das Reisen enorm erleichterte, doch seine Gesichtszüge legten die Vermutung nahe, dass seine Wurzeln weiter ostwärts zu finden waren. Tatsächlich war er in einem Dorf bei Juschny, einer kleinen Stadt in der Nähe von Kaliningrad, geboren und aufgewachsen.

Die Erinnerung an seine Kindheit in Russland war wie ein Ausflug in vermintes Gelände. Sein persönliches Kriegsgebiet. Es war wie Herumstreunen im Elendsviertel. Was gab es zu sehen? Gewalt statt Geborgenheit. Zerstörte Leben und ausgeschlachtete Existenzen. Irreparabel vernichtete Seelen und Ortschaften.

Gorbatschows Politik der Perestroika und Glasnost hatte damals zwar den Fall der Berliner Mauer ermöglicht, somit war der unvermeidliche Untergang der UdSSR vielleicht nur eine Frage der Zeit gewesen, doch in seinem Dorf hatten die Menschen seinerzeit nicht viel von dieser Aufbruchstimmung gemerkt. Im Gegenteil, die Veränderungen gaben nicht nur Konservativen ein Gefühl von Führungs- und Orientierungslosigkeit. Sergei hatte die Schule geschwänzt, war durch die Straßen zwischen den heruntergewirtschafteten Bauten gestreunt, während der neue Geist mit seinem angeblichen Fortschritt und politischen Veränderungen vermehrt Drogen in ihr Dorf gebracht hatte. Gemeinsam mit seinem Cousin begann Sergei schon bald zu dealen. Meistens verkauften sie Ecstasy und Speed, immer häufiger dann auch Heroin. Eine Menge Leute fanden sie plötzlich cool, außerdem kamen sie damit erstaunlich gut über die Runden. Der Trick war simpel: Man durfte niemals selbst mit dem Scheiß anfangen.

Die Miete für ihre zugige Erdgeschosswohnung war fällig und sie alle hätten ohne zusätzliche Einkünfte nicht genug zum Leben. Sein Vater war ein Versager, fuhr manchmal Lastwagen für die untergehende Kolchose, weshalb er im besten Fall nicht viel zu Hause war. Niemand vermisste ihn. An den Wochenenden kam er dann mit einem Vollrausch durch die Tür getorkelt, denn den größten Teil seines mageren Wochenlohns versoff er mit den Genossen. Ausnahmen oder gute Tage gab es nicht. Zum Leben blieb der kleinen Familie fast nichts. Richtig schlimm wurde es aber, sobald er aus seinem Suff erwachte und merkte, dass es keinen Wodka im Haus gab. Meistens steckte die Mutter alle Schläge ein, damit Sergei und seine kleine Schwester verschont blieben. Die Gewalttätigkeit seines Vaters wurde in diesen Wochen täglich schlimmer. Immer häufiger fürchtete Sergei um sein Leben, vor allem aber um das seiner Mutter. Anfangs waren es überwiegend Prellungen, blaue Flecken und kleine Brandwunden gewesen, die Sergeis Vater ihr zugefügt hatte. Wenn es dem Alten in den Sinn kam, dann zwang er seine Frau, die Hand auszustrecken, damit er seinen brennenden Stummel darin ausdrücken konnte. Gab sie auch nur den kleinsten Schmerzenslaut von sich, verpasste er ihr weitere Schläge.

Sergei würde nie den Tag vergessen, an dem sich alles änderte. Sein Vater war mal wieder daheim und tobte. Wie ein Berserker drosch er mit einem Holzscheit auf Sergeis wehrlose Mamotschka ein. Sergei saß zusammengekauert auf einem wackeligen Küchenstuhl, als er plötzlich ein leises Knacken hörte. Dann sah er, wie seine Mutter gepeinigt zu Boden fiel. Er wusste damals nicht, dass in diesem Moment mehrere Rippen in ihrem Brustkorb gebrochen waren, doch das entsetzliche Leiden in ihrem Gesicht zerbrach auch etwas in ihm. Sein Schutzmechanismus, seine Angst, die ihn bisher davon abgehalten hatte, sich gegen den Vater aufzulehnen, hinderte ihn ab sofort nicht mehr. Alle Gefühle verwandelten sich in genau dieser Sekunde, als er ganz leise das Knacken der Rippen hörte, in Wut und glühenden Hass. Ohne zu zögern, warf sich der Vierzehnjährige schreiend vor seine Mutter, in den Prügelhagel seines Erzeugers. Ein Schlag traf ihn an der Lippe, die blutend aufsprang. Doch Sergei ließ sich nicht einschüchtern. Er kassierte noch einige Hiebe, teilte jedoch selbst mutig Schläge aus. Sein Vater war nicht nur zu überrascht, sondern auch zu erschöpft für eine Auseinandersetzung mit seinem Sohn, weshalb er fluchend von beiden abließ und verschwand. Für den Moment war es vorbei, doch es gab keinen Grund aufzuatmen. Die Angst, Derartiges oder Schlimmeres würde sich wiederholen, war von Gewissheit begleitet.

Es dauerte Wochen, bis die Rippenbrüche der Mutter einigermaßen verheilten, Wochen, in denen der brutale Vater wie durch eine Vorsehung nicht nach Hause kam.

Eine längere Tour erforderte schließlich, dass er nüchtern bleiben musste und einen Monat lang als Fahrer unterwegs war. Doch dann war der Monat vorbei. Mit der vollen Lohntüte in seiner Tasche führte es den Trinker direkt wieder an Boris Theke, wo der Wodka in Strömen floss.

Als Sergeis Vater weit nach Mitternacht sturzbesoffen in der Behausung aufkreuzte, erst unbeholfen durch die Stube wankte, dann aber plump aufs Bett fiel, wo er regungslos liegen blieb, da wusste Sergei, dass genau der Moment gekommen war, auf den er gewartet hatte. Er würde nicht mehr auf Hilfe hoffen, die niemals kam. Er würde nicht zögern, er würde endlich handeln. Mamotschka schlief fest bei seiner Schwester und der Alte hatte entschieden zu viel Wodka getankt, um noch irgendetwas mitzukriegen.

Sergei erinnerte sich genau an das Gefühl fokussierter Kälte, das ihn damals durchzogen hatte. Die Einzelheiten dieser Nacht waren jedoch mit der Zeit verschwommen. Sein Erzeuger sollte jedenfalls keine Gelegenheit mehr bekommen, seinen Rausch auszuschlafen. So viel war sicher.

In einem Taschentuch unter seiner Matratze hatte Sergei das Fixerbesteck verborgen. Hunderte Male schon hatte er seinen Kunden dabei zugesehen, wie sie die Heroinspritzen vorbereiteten. Er pustete die Kerze aus, dann blickte er auf die frisch aufgezogene Kanüle. Ganz ruhig lag sie in seiner Hand, während er durch die offene Tür bis an das Bett des Alten herantrat. Da lag der Säufer, den Kopf hatte er schlafend wie gewöhnlich zur Seite gedreht. Das war gut, denn in dieser Position konnte Sergei die pulsierenden Gefäße genau erkennen. Er würde keinen Fehler machen. Im Kopf zählte er bis drei und atmete aus. Mit dem nächsten Luftholen geschah es. Er stach zu. Kaltblütig wie ein erfahrener Killer jagte Sergei seinem Vater die Überdosis Heroin in die Halsschlagader. Die entleerte Spritze blieb im Hals stecken. Schockiert über sich selbst machte er einen Satz zurück, knallte fast an die Zimmerwand. Doch er fühlte keine Angst, nur einen elektrisierenden Schauer. Instinktiv hielt er Abstand, wich sicherheitshalber noch ein bisschen weiter Richtung offener Tür zurück. Keine Sekunde ließ Sergei seinen Vater aus den Augen. Angespannt biss er sich auf die Lippe, genau beobachtend, was als Nächstes geschah. Das atemlos röhrende Krächzen des dicken Mannes klang wie der kehlige Laut einer sterbenden Katze. Der Todeskampf seines Vaters schien in Zeitlupe abzulaufen.

Sergei fühlte kalten Schweiß seinen Rücken hinunterlaufen. Sein Kiefer war zusammengebissen und sein Hals wie zugeschnürt. Müsste er um Hilfe rufen, er hätte es nicht gekonnt. Sergei riss die Augen auf, als er sah, was als Nächstes geschah. Wie sich der massige Körper des Alten plötzlich bog und aufbäumte, doch dann zuckte der Vater ein letztes Mal und fiel starr zurück aufs Bett.

Ein viel zu schöner Tod für dich, widerlicher Dreckskerl, fluchte Sergei mit zitternden Knien und spuckte vor ihm aus.

Der Stoff hatte ihn seine gesamten Ersparnisse gekostet, aber so war es wenigstens eine saubere Sache. Angestrengt betrachtete er den toten Körper für etwa zehn Minuten, dann prüfte er den Puls. Als er nichts spürte, war er sicher, dass dieser Mann seine Mamotschka niemals wieder anrühren konnte. Sergei zog die Spritze ab und vergrub sie zusammen mit dem Fixerbesteck hinter dem Hühnerstall. Als der Dorfarzt den Toten am nächsten Tag in Augenschein nahm, hielt Sergei seine verschreckte Mutter fest im Arm. Der Doktor, der die Familie gut kannte, runzelte nur kurz die Stirn, dann schrieb er Herzversagen in den Totenschein.

Sergei trauerte nicht, denn er hatte nichts verloren. Sein Vater war niemals wie ein Vater, sondern immer nur ein bestialisches Tier gewesen. Kein Gewissen der Welt konnte ihn für das plagen, was er getan hatte.

Sergei blickte nach vorn und mit ihm die ganze Familie. Sie hatten ein neues Ziel. Deutschland sollte ihre neue Heimat werden. Gemeinsam mit der Familie seines Cousins gelang es ihnen bald, als Spätaussiedler, manche nannten sie auch Russlanddeutsche, in der Bundesrepublik eingebürgert zu werden.

Hannover war eine große Stadt, in der es Arbeit für die ganze Sippe gab, dennoch war mit ihren geringen Deutschkenntnissen zu Beginn vieles schwierig, weshalb Sergei und sein Cousin Mikhail manchmal aneckten. Als Mikhail dann seinen Führerschein hatte, machten sie es sich zur Gewohnheit, wieder regelmäßig nach Russland zu fahren. Dort konnten sie billig für den Schwarzmarkt und ihre Familien einkaufen.

In ihrer Heimat umschwärmten sie jedes Mal viele Mädchen, auch wunderhübsche, die davon träumten, als Models im Westen zu arbeiten, und mit kleinen West-Geschenken leicht zu kriegen waren.

Weil Sergei ein gut aussehender Typ war und Mikhail sehr überzeugend reden konnte, warben sie Anfang der Neunziger zum ersten Mal zwei russische Mädchen für ein deutsches Bordell an. Der Besitzer zahlte gut und engagierte sie noch einige Male für spezielle Aufgaben. Sergei grinste in Erinnerung daran in sich hinein.

Heute ging es um viel größere Fische, darum lenkte er seine Aufmerksamkeit wieder auf den zu buchenden Flug, den er bereits am Rechner ausgewählt hatte. Mit etwas Glück und ein paar Klicks erwischte er den letzten Platz in der Businessclass. Fünf nach elf Uhr von Zürich. Perfekt, jetzt blieb ihm nichts weiter zu tun, als sich für eine Stunde im Gym auszutoben.

BERNEXPO, SINDEX (ZWEI TAGE VOR DEM MORD)

»Liebes Publikum, Winston Churchill sagte einmal: ›Eine gute Rede ist eine Ansprache, die das Thema erschöpft, aber keineswegs die Zuhörer.‹ In diesem Sinne danke ich Ihnen, dass Sie noch hier sind! Es lohnt sich, denn jetzt geht es ans Eingemachte«, versprach Luis seinen Zuhörern und trank beiläufig einen Schluck Wasser.

Unruhiges Raunen und Rascheln in den Stuhlreihen verebbte sofort, als er sein Headset zurechtrückte und mit anhaltender Begeisterung fortfuhr:

»Nachdem ich Ihnen die Grundlagen erläutert habe, werden Sie meinen Erklärungen zum Quantencomputer nun leicht folgen können. Um zu verstehen, wie ein Quantencomputer funktioniert, vergleicht man ihn am besten mit einem herkömmlichen Computer. So ein herkömmlicher Rechner besitzt Milliarden von Transistoren, die den Fluss von Elektronen regulieren. Ein Transistor funktioniert wie ein Schalter: Ist er aus, dann ist der Zustand 0. Ist er eingeschaltet, dann liegt der Zustand 1 vor. Die Zustände 0 und 1 kennen wir als sogenannte Bits. Ordnet man die Transistoren logisch an und lässt sie zusammenarbeiten, können sie entsprechende Rechenoperationen vornehmen und Daten verarbeiten. Je mehr Transistoren, desto mehr Daten können verarbeitet werden.