Quendel. Die Hügelland-Saga (Bundle) - Caroline Ronnefeldt - E-Book

Quendel. Die Hügelland-Saga (Bundle) E-Book

Caroline Ronnefeldt

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Beschreibung

Ein episches Abenteuer in der Tradition von Märchen und Sagenmotiven Die Quendel sind ein gemütliches Völkchen, das sich abends am Kaminfeuer schauerliche Geschichten erzählt und für gewöhnlich nie etwas Ungeplantes tut. Als Bullrich Schattenbart eines Nachts nicht nach Hause kommt, brechen seine besorgten Nachbarn auf, um ihn zu suchen – angetrieben von einem schrecklichen Verdacht: Kann es sein, dass sich der verwegene Eigenbrötler in die Nähe des Waldes Finster gewagt hat? Noch ahnt keiner, dass ein seltsam leuchtender Nebel die Grenzen zur Anderswelt öffnet. Nur wer die Zeichen zu lesen versteht, weiß, dass lang vergessene, uralte und grausame Kräfte zu neuem Leben erwachen … Alle drei Bände als handliche Taschenbuchausgaben im hochwertigen Schuber – mit separater Karte des Hügellands! Für mich die literarische Entdeckung des Jahres. - Denis Scheck

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Seitenzahl: 2363

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Vollständige E-Book-Ausgabe der 2018, 2019 und 2022 in der Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin, erschienenen Buchausgaben

E-Book © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2024

ISBN 978-3-7641-9353-1

Printausgabe © Ueberreuter Verlag GmbH, Berlin 2024

ISBN 978-3-7641-7149-0

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.

„Quendel“ und „Quendel – Windzeit, Wolfzeit“ wurden vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Zitat in „Quendel“ aus: »Im Nebel«, aus:

Hermann Hesse, Sämtliche Werke in 20 Bänden.

Herausgegeben von Volker Michels. Band 10: Die Gedichte.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002.

Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Lektorat: Emily Huggins

Umschlag- und Innenillustrationen: Caroline Ronnefeldt

www.ueberreuter.de

Inhalt

Quendel

Über dieses Buch

Der Kartenschreiber von Grünlohe

Der Finster

Unerwarteter Besuch

Der Schrei eines Käuzchens

Auf nächtlichen Pfaden

Das Licht in der Laube

Im Schwarzen Schilf

Wege ins Nichts

Vom Himmel herab und unter die Erde

Morgengrauen

Schläfer, so blass und bleich

Quendel: Windzeit, Wolfszeit

Über das Buch

Von nah und fern

Das Leid der Kremplinge

Augen in der Dunkelheit

Der Rat in der Rabensteiner Linde

Die Graue Trud

Ein unerwarteter Vorschlag

Der Weg durch die Hügel

Flucht zur Fischburg

Griseldis

Nebel über den Schwammwiesen

Das Bäumelburger Maskenfest

Über die Schattengrenze

Windzeit, Wolfszeit

Der weiße Wald

Figurenverzeichnis

Quendel: Über die Schattengrenze

Über das Buch

Der Reisigsammler

Jäger und Beute

Nächtliche Zusammenkunft

Die geheime Karte der Quendeliner

Fendel Eichhase

Wintersonnenwende

Ein flammender Saftling

Der Schneesturm

Wie der Rabe fliegt

Schatten und Lichter

Die stehenden Steine

Der weiße Garten

Wer noch nicht stirbt, der lebe

Zurück in die öde Heide

Angriff bei Nacht

Der Wächter der Hügel

In Halbzahns Unterschlupf

Durch die Klamm und über die Brücke

Die Festung Drangsal

Die Wilde Jagd

Lenzing

Für meine Mutter und Iris, die ersten Leser

Caroline Ronnefeldt

Quendel

Über dieses Buch

Als Bullrich Schattenbart eines Abends nicht nach Hause zurückkehrt, ist seinen aufmerksamen Nachbarn sofort klar, dass etwas aus dem Lot geraten sein muss. Ein schrecklicher Verdacht drängt sich ihnen auf: Kann es sein, dass sich der verwegene Eigenbrötler in die Nähe des Waldes Finster gewagt hat? Unerschrocken brechen sie auf, um ihn zu suchen. Keiner ahnt, dass diese Nacht anders ist als alle anderen. Ein seltsam leuchtender Nebel öffnet die Grenzen zu einer fremden Welt. Wer die Zeichen zu lesen versteht, weiß, dass lang vergessene, uralte und grausame Kräfte zu neuem Leben erwachen …

Stellen Sie sich einmal vor, was Sie heute sein würden, wenn man Sie in Ihrer Kindheit, statt mit Geschichten und Märchen zu füttern, mit Geografie und Naturkunde vollgestopft hätte?

CHARLES LAMB ZU SAMUEL COLERIDGE

Auf der Heide oder im Holz an dunklen Örtern, auch in unterirdischen Löchern, hausen Männlein und Weiblein und liegen auf grünem Moos, auch sind sie um und um mit grünem Moos bekleidet. Die Sache ist so bekannt, dass Handwerker und Drechsler sie nachbilden und feilbieten. Diesen Moosleuten stellt aber sonderlich der Wilde Jäger nach, der in der Gegend zum Öfteren umzieht, und man hört vielmal die Einwohner zueinander sprechen: »Nun, der Wilde Jäger hat sich ja nächtens wieder zujagt, dass es immer knisterte und knasterte.«

GEBRÜDER GRIMM

Inhalt

Der Kartenschreiber von Grünlohe

Der Finster

Unerwarteter Besuch

Der Schrei eines Käuzchens

Auf nächtlichen Pfaden

Das Licht in der Laube

Im Schwarzen Schilf

Wege ins Nichts

Vom Himmel herab und unter die Erde

Morgengrauen

Schläfer, so blass und bleich

Als in Gebirgstälern, in die noch niemals sehr viel Licht gedrungen war, sich mit einem Mal die Schatten verdichteten, so, als habe die Sonne es nun gänzlich aufgegeben, diese klammfeuchten Orte durch ihre wärmenden Strahlen für kurze Zeit aufzumuntern und als hielte selbst der Mond es für Verschwendung seines silbrigen Glanzes, in solch düstere Ödnis hinabzuscheinen, als im Verborgenen sich Schatten langsam und unmerklich nicht länger damit begnügten, bloße Schatten zu sein, sondern etwas anderes, begann sich Unnennbares zu regen, lange vergessen und noch nicht greifbar, aber zunehmend und sich bedächtig ausbreitend, wie die schemenhaften Schwaden einer im Unsichtbaren schwelenden Brandstelle. Da rückten im schwindenden Licht steil aufragende Felswände enger zusammen und Täler verschwanden in dazwischen lastender Finsternis, die nichts und doch etwas enthielt.

Erstes Kapitel

Der Kartenschreiber von Grünlohe

Jetzt musst du rechts dich schlagen,Schleich dort und lausche hier,Dann schnell drauf los im Jagen –So wird noch was aus dir.

JOSEPH VON EICHENDORFF

Es war zum Ausgang des Sommers. Das Licht wurde golden und die Schatten etwas länger. In der sanften Brise ließen sich kleine Spinnen an glänzenden Fäden durch die milde Luft tragen.

Bullrich Schattenbart saß in seinem Haus vor dem geöffneten Fenster seines kleinen grünen Salons. In den schräg einfallenden Sonnenstrahlen tanzte feiner Staub und vom nahen Waldrand war der Ruf eines Kuckucks zu hören.

Er war später als gewöhnlich aus dem Bett gekommen und vertrödelte nun den ohnehin angebrochenen Morgen bei einem ausgiebigen Frühstück. Während aus der bauchigen Teetasse neben ihm wohlige Schwaden aufstiegen, stöberte Bullrich in seinen selbst gezeichneten Landkarten. Sorgfältig vermied er Fettflecken auf den knisternden Bögen. Als er genüsslich in sein drittes Honigbrötchen biss, dachte er befriedigt, dass er schon einen guten Teil seiner Umgebung kartografiert hätte. Zumindest nördlich von Grünlohe, dem Dorf, in dem er lebte, bis zu den Ufern der Kaltwasser und in südwestlicher Richtung nach Schierlingsstätten und Wetterstern, den Dörfern vor dem Grenzland von Endlund. Dann in entgegengesetzter Richtung wieder zurück über das Flüsschen Drille und Bäumelburg bis ans Ostufer des großen Stromes.

Zwischen einem Schluck Tee und einem weiteren Biss in sein Brötchen fasste der Quendel das zuoberst liegende Blatt näher ins Auge. Bullrich war ein sorgfältiger Zeichner. Die im Gelände auf Birkenrinde gefertigten Skizzen wurden am Abend unter der Lampe gesichtet und abgeschrieben. Kurzsichtig blinzelnd vertiefte er sich nun in die Linien und Schnörkel seiner Handschrift und zeichnete im Geiste noch einmal, die Zungenspitze entsprechend der damaligen Anstrengung in einen Mundwinkel geklemmt. Vor ihm lag nichts Geringeres als das Hügelland selbst, Heimat der Quendel seit Anbeginn der Zeit. Zumindest seit Quendel mit dem Geschichtenerzählen begonnen haben und das muss sehr lange her sein, denn »der Quendel schwätzt, seit er unter den Wurzeln gehaust hat«, wie ein uraltes Sprichwort aus Grünlohe behauptet, an dessen genauere Bedeutung sich aber niemand mehr erinnern konnte.

Bullrich setzte die Teetasse ab, ohne den Blick von seiner kostbaren Karte zu heben. Mit schwarzer Tinte hatte er den Bogen nachgezogen, den der große Strom um das Hügelland beschrieb. Es war eine Freude, dem Schwung der Linie zu folgen, die in sicherer Führung von Schierlingsstätten bis hinter Stock im Knick reichte. Nicht ein einziges Mal hatte er die Feder abgesetzt.

»Das muss man schon wissen. Das muss man schon abgeschritten haben. Schlegel für Schlegel«, murmelte Bullrich in Anerkennung der eigenen Mühen.

Wie geborgen lag doch das Hügelland in dem gewaltigen Knie, das die Kaltwasser hier beugte! Dann runzelte er die Stirn. Und was war jenseits ihrer schnell dahinfließenden Fluten?

Bullrich hatte die Erkundung der anderen Uferseite immer wieder verschoben. Dort wurde das Hügelland in nordwestlicher Richtung von den »acht Raben« begrenzt. So nannte man die Hügelgruppe, an deren Fuß auf einem einsamen Felsen hoch über dem Fluss die düstere Burgruine des Rabensteins stand. Ein Ort, den die meisten Quendel mieden.

Zu keiner Zeit war jemand auf die Idee gekommen, sich dort anzusiedeln, obwohl die Wiesen entlang des Ufers fett und grün in der Sonne lagen, übersät von unzähligen Sternblümchen. Doch nicht lange und der Boden begann sich zu wölben. Verwitterte Felsbrocken ragten daraus empor, als hätte sich unter dem Erdreich ein steinernes Ungetüm halb erhoben, um mit seinen granitenen Gliedern die Grasnarbe zu durchbrechen. Ganz oben auf den zugigen Höhen, wo die Halme der Gräser fest und gelb waren, türmten sich gewaltige Steine wie verwunschene Festungen. Als bizarre Bekrönungen hockten sie auf den acht Kuppen und der Wind pfiff und sang in geborstenen Oberflächen und durchfegte die Ritzen und Winkel der zerklüfteten Stapel.

Auf dem westlichsten der Raben stand über den Steinen ein grauer Turm, hoch und schlank wie eine einzelne Kerze vor dem roten Abendhimmel. Wenn es für Quendel einen Grund gab, einen Ausflug zu den acht Raben zu machen, dann, um einen jener legendären Sonnenuntergänge hinter dem grauen Turm zu erleben. Innen war er hohl wie ein alter Bovist; Treppen und Gemächer seit Langem verschwunden. Niemand im Hügelland wusste zu sagen, wer ihn erbaut hatte. Kein Quendel hätte die gewaltigen Granitquader aufeinanderzusetzen vermocht. Man vermutete allgemein, dass die Baumeister zu einem größeren Volk gehört haben mussten und auch für die Ruinen des Rabensteins sowie für die Brücke über die Kaltwasser verantwortlich waren. Letztere war ein außergewöhnliches Bauwerk, ein hoher schmaler Bogen in perfekter Wölbung über die schnellen Fluten geschlagen, mit einer steinernen Brüstung zu beiden Seiten. Manche der behauenen Steine trugen eigentümliche Ritzungen, in denen sich Moos und Flechten sammelten, sodass die Mauern an einigen Stellen mit einer seltsamen, grünlichen Schrift bedeckt waren.

Bullrich hatte sich dem fünften Brötchen genähert und einen neuen Kessel Teewasser aufgesetzt. Er dachte daran, wie er den Verlauf der Kaltwasser gezeichnet hatte. Das war auf Höhe der Kugelmühle gewesen, doch jenseits der schwungvollen Linie war die Skizze nahezu leer geblieben. Acht kleine Bogen deuteten die Raben an, mit einem Rechteck für den grauen Turm. Ein einzelner steiler Haken über den Fluss stellte die Steinbrücke dar. Dahinter das schnell notierte Kreuz markierte die Lage der Ruine auf dem Rabenstein.

Bullrich nickte bestätigend, als er die nachträgliche Zeichnung mit der Skizze verglich, in der Hand wieder die Teetasse, deren Inhalt nun bereits aus der zweiten Kanne stammte, die er sich an diesem friedlichen Morgen genehmigte. Er betrachtete die kunstvollen Schnörkel seiner Sonntagsschrift unterhalb einer Ansammlung von Häuschen mit tief herabgezogenen Dächern. Quendelin stand da in der leuchtend roten Tinte zu lesen, die er für Namen zu verwenden pflegte. Quendelin, die einzige Ansiedlung der Quendel auf dem nördlichen Ufer der Kaltwasser, war Stammland der Reizkers. Die Lage des Dorfes blieb umstritten; man billigte den dort ansässigen Familien ein verwegenes Wesen zu. Bei ihrem jährlichen Auftritt anlässlich des Bäumelburger Maskenfestes wurden doch immer wieder Seltsamkeiten und Besonderheiten festgestellt. Das derzeitige Familienoberhaupt der Reizkers, Boso, war ein alter Quendel von beträchtlichem Leibesumfang, der in seinem großen Haus über den Terrassengärten lebte, mit sich und der Welt zufrieden und spöttisch über die Hasenherzen auf der anderen Flussseite seine gutmütigen Späße treibend.

Bullrich dachte an die letzte Geburtstagsfeier, zu der Boso zu einem Lampionfest in den Garten geladen hatte. Die Quendeliner mochten seltsam sein, für Quendel geradezu wortkarg und mitunter ein wenig herablassend, aber sie verstanden es, zu feiern. So viel stand fest. Bosos Geburtstagsfest hatte vier Tage und Nächte gedauert und war nur gegen Mitternacht des vierten Tages plötzlich beendet worden, weil ein heftiger Platzregen die Gäste den Hang hinauf und auf die weite Veranda des Reizker’schen Familiensitzes trieb. Von dort hatten sie zugesehen, wie der Regen die Lampions löschte und in traurig herabhängendes Unkraut verwandelte.

Boso hatte aus seinen schier unerschöpflichen Vorratskellern noch reichlich Gewürzpunsch und Bucheckernpastete hervorgezaubert. Der moosfarbene Salon zum Garten quoll über von schwatzenden Gästen. Tabaksdunst mischte sich mit dem Duft von Punsch und Kaminfeuer und stieg in warmen Schwaden zur bräunlich gedunkelten Decke. Als auch der letzte Punschtopf geleert war, schlug Bosos Frau Walli Ritterling-Reizker, eine der respektabelsten Autoritäten unter den Quendeln, was Feste geben und Feste feiern anging, einen abschließenden Regenschirm-Laternen-Spaziergang bis zur Steinbrücke am Rabenstein vor.

Alle Gäste, außer den Quendelinern selbst, stammten ja aus Dörfern von der anderen Uferseite und nur über die Brücke ließ sich der Fluss bequem überqueren. Das Betreten der großen Trittsteine, die unterhalb Quendelins in der dortigen Furt lagen und die Kaltwasser an dieser Stelle passierbar machten, war bei feuchtem Wetter und Dunkelheit nicht zu empfehlen.

Die trockenen Füße unter dem Frühstückstisch gekreuzt, gestattete sich Bullrich ein heiteres Lächeln. Er hatte eine ausgeprägte Abneigung gegen Wasser, besonders gegen schnell dahinfließendes. In seinen Erinnerungen kramend, dachte er daran, wie er an einem Vorfrühlingstag mit Restschnee und Sonne zur Freude aller in den Flussauen picknickenden Quendeliner im eiskalten Wasser der Furt gelandet war, nach einer kunstvollen Pirouette auf dem dritten Trittstein, vom Schellenwalder Ufer aus gerechnet. Sein nach einem fleißigen Vormittag schon reicher Vorrat an brauchbaren Skizzen war natürlich verdorben gewesen, seine geliebte alte Filzkappe trieb auf Nimmerwiedersehen in unbekannte Gefilde.

Aber am schmachvollsten war das heitere Gelächter Hortensias und der Teilnehmerinnen ihres Damenkränzchens, die – wie konnte es anders sein? – ausgerechnet an diesem Tag, einer Picknickeinladung von Walli Ritterling-Reizker gefolgt waren. Alle waren sie da: Beda und ihre unerträgliche Cousine Afra aus Wetterstern mit drei weiteren Freundinnen. Aus Grünlohe Hulda Hallimasch, die er mochte und vor der er sich ungern eine solche Blöße gab. Die Kremplingsschwestern Isa und Kamilla aus Bäumelburg, die sehr ehrenwerte Walli und schließlich Hortensia selbst. Hortensia, den Mund noch voller Haseltorte. Und alle wollten sich schier ausschütten vor Lachen über die heitere Unterbrechung ihrer stets angeregten, aber nicht immer abwechslungsreichen Unterhaltung. Zu seinem Leidwesen führte Bullrich die Liste der Themen an, zumindest bei Hortensia und Beda.

Auf Beda Schattenbarts breitem Schoß schmiegte sich Bullrichs Lieblingsneffe Karlmann in die gestärkten Falten von Mutters Schürze. Von dort hatte er das Missgeschick seines Onkels beobachtet. Bullrich war für einen Augenblick in dem von der Schneeschmelze angestiegenen Wasser verschwunden und zappelnd und prustend wieder aufgetaucht. Neben ihm drehte sich ein kleines Bündel einmal um sich selbst, um dann schnell mit der Strömung davonzuschwimmen. Auch Karlmann hatte ein Kichern nicht unterdrücken können, um gleich darauf mit Eppelin Reizker, dem jüngsten Spross aus Bosos und Wallis Sippe, blauschillernden Faltern hinterherzujagen, die sich genau wie die Quendel vorwitzig in die ersten warmen Strahlen des Jahres gewagt hatten.

Bullrich hatte dem über dem Fluss hängenden Gelächter den Rücken zugekehrt und war grollend ans Ufer zurückgewatet. Triefend nass, wie ein Stockschwamm im Mairegen. Auf das Betreten der drei Trittsteine, die er bisher geschafft hatte, dankend verzichtend, war er zwischen den Büschen am Waldrand verschwunden, froh, sich den schadenfrohen Blicken entziehen zu können. Bereits nach zwanzig Schlegeln seines, wie er hoffte, einigermaßen würdevollen Rückzugs, schlotterte er vor Kälte.

Als er in der Abenddämmerung in Grünlohe eintraf und sich, die Hauptstraße meidend, von der Rückseite durch den Garten seinem Haus näherte, stellte er vor der Haustür fest, dass sein Schlüssel ebenfalls verloren war.

»Hohltrüffel und Klumpfuß!«, entfuhr es Bullrich und ein kräftiges Niesen.

Die Erschütterung hatte seine auf der Klinke ruhende Hand herabgedrückt. Das Schicksal schien ein Einsehen zu haben: Er hatte nicht abgeschlossen.

Bullrich, gemütlich im Lehnstuhl am Frühstückstisch sitzend, reckte sich wohlig und griff nach Tabaksdose und Pfeife. Er war satt und schläfrig. Ein Pfeifchen würde anregend sein. Umständlich und ohne Eile begann er, den Kopf des geliebten Utensils zu stopfen, und lächelte in sich hinein, noch immer auf Reisen in seinem Gedächtnis.

Die Verlustliste jenes vermaledeiten Bades in der Kaltwasser: ein Satz exzellenter topografischer Skizzen, seine Lieblingskappe, ein Päckchen Rosentabak, Marke Bäumelburger Tausendblatt (völlig verdorben), eine Moospfeife voller Wasser und, als einziger Gewinn, eine saftige Erkältung. Er hatte über eine Woche schwitzend und schnupfend im Bett gelegen. Hortensia bedachte ihn mit scheußlichen Tees, aufreizenden Bemerkungen und entnervender Pflege. Schließlich verbot sie ihm das Rauchen.

Sein Neffe Karlmann hatte ihn während dieser unangenehmen Woche besucht. Karlmann, der liebe Junge. Damals noch ein rechter Knirps, war er seiner Mutter, die ihrerseits Hortensia besuchte, entwischt, um nach dem kranken Onkel zu sehen. Bullrich hielt viel von seinem Neffen. Er war klug, nachdenklich und auf eine Weise eigenbrötlerisch, die ihn wehmütig an sich selbst erinnerte. Man sah sich zu selten. Von Grünlohe bis Wetterstern war es nicht gerade ein Katzensprung. Wenn sie sich trafen, verlangte Karlmann immer nach Geschichten – nichts Ungewöhnliches für einen Quendel, geradezu typisch für ein aufgewecktes Quendelkind.

Aber weil Bullrich allein war und keine vielköpfige Familie um sich versammelte, waren ihre Erzählstunden vor dem prasselnden Kaminfeuer für Onkel und Neffen etwas Besonderes. Bullrichs umständliche Erzählweise unterschied sich deutlich von den leichtfüßig dahintrabenden Erzählungen seiner Mutter oder den lauthals vorgetragenen Anekdoten in der Linde, wohin Karlmann Beda manchmal begleitete. Wenn Bullrich über das Hügelland sprach, erschien es Karlmann, als wären selbst die Bäume des lichten Schellenwaldes viel älter, als er es bisher bemerkt hatte – knorrige Gesellen, mit Flechten bedeckt und von Moosbärten behangen.

»Bullrich, wie alt ist der Wald?«, mochte er mit undeutlicher Stimme fragen, weil in der einen Backe ein Karamell aus Ahornzucker steckte, von Hortensia selbst gemacht für den lieben Nachbarn.

»Älter, als mancher Quendel es sich vorstellen kann«, pflegte Bullrich dann zu antworten, »die seltsamsten Gestalten haben ihn durchstapft. Lange vor den Quendeln. Wenn die Bäume erzählen könnten, wüsste jeder von ihnen eine Geschichte, die unsere kühnsten Sagen schlegelhoch übertreffen würde.«

Die behaglichen gemeinsamen Stunden gehörten leider der Vergangenheit an. Karlmann war nun in einem Alter, in dem man mit seinesgleichen auf eigene Faust loszog und die Umgebung erkundete, Mutproben an den Trittsteinen vollzog, den Mädchen bei albernen Spielen auflauerte und sich einigermaßen harmlose Schlachten mit den Nachbardörflern lieferte. Kurz und gut – man hatte eine Menge anderes im Kopf als Besuche bei alten Onkeln.

Bullrich erhob sich, die Pfeife im Mundwinkel, und packte die ausgebreiteten Karten zusammen, um sie in einer großen Eichentruhe neben der Kaminbank zu verstauen. Darüber hing in einem Rahmen eine besonders gelungene Zeichnung der Lage seines Heimatdorfes Grünlohe zwischen den Wäldern Schellenwald und Finster. Er paffte nachdenklich.

Vor die gerahmte Karte legte sich würzig duftender Nebel. Die Schwaden verflüchtigten sich und Bullrich suchte zwischen zusammengekniffenen Lidern nach einem bestimmten Punkt. Dort, an der südöstlichen Grenze der Krapp’schen Ländereien, nahm der Heckenweg seinen Anfang und überquerte das Flüsschen Drille beim Torhaus von Krapp. An Grünlohe vorbei gelangte er an die westlichen Ausläufer des Schellenwaldes, um schließlich zwischen gut bestellten Feldern das Dorf Rabenstein zu erreichen.

»Finster« hatte Bullrich in hakigen roten Buchstaben über eine ausgedehnte Fläche geschrieben, die auf der Höhe von Grünlohe mehrere hundert Schlegel hinter dem Heckenweg begann. Kleine wolkenartige Gebilde stellten Bäume dar. Bullrich starrte erneut auf die Inschrift zwischen den Waldeskürzeln und hüllte sich dabei in immer dichter werdende Tabakswolken. Eine Angewohnheit, der meist ein ungewöhnlicher oder beherzter Entschluss folgte. Aus den tiefen Nebeln seines geliebten Rosentabaks pflegte Bullrich mit einem plötzlichen Ruck aufzutauchen und dann hatte er etwas Besonderes im Sinn.

Vor dem geöffneten Fenster brummelte träge eine Hummel über die Rosmarinstauden, stöberte im gelben Blütenstaub der Kamille, ließ sich dann, mit Zwischenlandung auf einem fettglänzenden Hahnenfuß, bis zur üppig rankenden Pracht der Kapuzinerkresse treiben, um endlich in einem feuerroten Blütenhelm zu verschwinden. Die Blüte neigte sich bedenklich unter dem Gewicht des Besuchers und aus ihrem kühlen Inneren drang gedämpftes Gebrumm. Rosennebel aus Bullrichs Pfeife verließ das Wohnzimmer durch das offene Fenster, vermischte sich mit der milden Brise, die ihrerseits nach Brombeeren und wildem Honig duftete, und trieb über die Gartenmauer in Richtung Dorfstraße davon.

»Ostwind«, bemerkte Bullrich und tauchte aus dem Tabaksdunst auf.

Unter lautem Summen verließ die Hummel die leuchtende Kresseblüte und näherte sich geschäftig der nächsten. Der Quendel steckte den Kopf aus dem Fenster und schnupperte den Spätsommer.

»Verräuchertes Loch«, sagte er zu sich selbst. »Stock und Schwamm! Abgeräumt wird später!«

Damit ließ er das Frühstücksgeschirr stehen, stopfte einige Rollen Birkenrinde und ein Stückchen Kohle in seine Hosentaschen und verließ voller Tatendrang das Haus.

An einem Tag, an welchem man Außergewöhnliches und Bedeutsames plant, erweist es sich meist als günstig, die Beantwortung neugieriger Fragen auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem man bereits alles erledigt hat und sich inmitten einer Runde erwartungsvoller Zuhörer verwegen zwinkernd in den Lehnstuhl schmiegt.

Es war schon fast Mittag und auf der Straße würde er sicher jemandem begegnen. Bullrich konnte sehr schlecht etwas verbergen. So kam es, dass er sich die Mühe machte, über die eigene rückseitige Gartenmauer zu klettern. Er ächzte ein wenig, als er im schwungvollen Ausholen seines linken Beines plötzlich durch eine Brombeerranke aufgehalten wurde, deren Dornen sich im Aufschlag seiner Hose verfangen hatten. Ein kräftiger Ruck – die Ranke gab nach, ebenso, mit einem hässlichen, trockenen Geräusch, der Saum seiner Hose und Bullrich kam rittlings auf der Mauer zu sitzen.

»Stock und Schwamm«, brummte er vor sich hin und betrachtete missmutig den herabhängenden Stoff. »Das wird mit meinem heutigen Ausflug zusammenhängen.«

Denn, wie jeder Quendel, maß er Vorzeichen sorgfältigste Beachtung bei, ohne sich jedoch – und das unterschied ihn von seinesgleichen – im einmal gefassten Vorhaben beirren zu lassen.

Für Quendel zarteren Naturells genügte der aufgeregte Alarmschrei eines Eichelhähers am Morgen, um die gesamte Tagesplanung über den Haufen zu werfen. Gute und schlechte Vorzeichen ließen sich immer und überall finden und ihre sorgfältige Deutung mochte vor Unheil bewahren oder dem Glück auf die Sprünge helfen.

Der hagere Müller Wilfried von den Steinen, ein zurückhaltender Quendel von tiefgründigem Verstand, hatte dies neben seinem Handwerk zu einer regelrechten Wissenschaft erhoben und so mancher Quendel, dem etwa ein Hirschkäfer im Sturzflug auf dem Teetisch gelandet war, in dessen Garten Fliegenpilze wuchsen oder der immer dann niesen musste, wenn er einer entfernten Cousine auf der Straße begegnete (was sicherlich eine Hochzeit ankündigte), so manches Opfer dräuender Schicksalsmächte machte sich auf den Weg zur Kugelmühle. Dort war Wilfried für gewöhnlich auf der moosigen Steinbank am Mühlenweiher anzutreffen. Er paffte blaue Tabakswolken in die frische Luft hinein und blickte dem Ankömmling gelassen entgegen. An der Art und Weise, wie sie eintrafen, ließ sich für ihn schon eine ganze Menge ablesen. Schlich jemand geradezu über die Mühlenwiese, die Hände tief in den Taschen vergraben und den Kopf gesenkt, dann erwartete derjenige Ärger und erhoffte sich von Wilfried eine Auslegung, die besagen würde, dass letztlich kein Pilz so heiß gegessen, wie er gebraten wird.

Doch ob mit oder ohne Winkelhaken in der Hose, hatte Bullrich nichts als schwersten Ärger zu erwarten. Jeder Simpel wäre zu dieser schlichten Erkenntnis gelangt, hätte ihm die Sommerbrise auch nur eine Ahnung des verwegenen Planes zugetragen, den der alte Schattenbart binnen dreier Pfeifenzüge gefasst hatte. Und niemand hätte sich deshalb an Wilfried wenden müssen.

Denn in Bullrichs opulenten Tabaksschwaden war ein Entschluss herangereift, der im ganzen Hügelland, von Wetterstern bis hinter Bäumelburg und wieder zurück, schlichtweg als glatter Irrsinn bezeichnet worden wäre. Bullrich war auf dem Weg in den Finster.

Mitten im Herzen des Hügellandes, nur fünfhundert Schlegel von einem der ältesten Dörfer der Quendel entfernt, befand sich etwas für ihre überschaubare kleine Welt nahezu Unerhörtes. Ausgerechnet hinter dem malerischen Grünlohe mit seinen altehrwürdigen, bemoosten Häusern in ihren Waldblumengärten lag, wie eine öde Insel in einem grünen Meer, ein Stück totes Land; eine unwirtliche, gänzlich unerschlossene Gegend, deren Betreten sich jedem Quendel von selbst verbot: Eben jener Wald, den Bullrich auf seiner liebevoll gerahmten Karte mit hakigen Lettern bezeichnet und an diesem Spätsommervormittag voller schläfriger Insekten und Blütendüfte mit einem heftigen Stirnrunzeln bedacht hatte.

Das Stirnrunzeln hatte als Ursache ein lang gehegtes Kopfzerbrechen, das der Finster dem Kartenschreiber von Grünlohe seit geraumer Zeit bereitete. Dieser Wald war tatsächlich ein weißer Fleck auf der Landkarte, auf allen Landkarten, die jemals im Hügelland aufgetaucht waren. Etwas, von dem jeder genau wusste, dass es sich dort befand, das aber gemieden und umgangen wurde. Wenn man die acht Raben mit altem Turm und Ruine in scheuer Ehrfurcht aus der Ferne betrachtete, so lastete über dem Finster eine dumpfere Furcht, das Erbe längst vergessener Ängste der allerersten Vorfahren, deren Leben zwischen Wurzeln und Felsbrocken eher dem gehetzten Dasein schutzloser kleiner Tiere geähnelt hatte als den friedlichen Tagen ihrer behüteten Nachkommen. Nicht, dass nie ein Quendel seinen Fuß auf dieses düstere Stückchen Hügelland gesetzt hätte. Aber das war selten freiwillig geschehen und der tragische Ausgang der beiden berühmten Ausnahmen von dieser begründeten Vorsicht gegenüber dem Finster war allgemein bekannt. Besser, man schlug einen großzügigen Bogen darum, ignorierte die Existenz des Waldes wie schwärzliche Stinkmorcheln beim Pilzesammeln und passierte die Gegend im Schutz des Heckenweges.

Schon unter normalen Umständen erscheint einem Quendel, sich hinter einem Schutzwall aufzuhalten, immer als eine ausgezeichnete Idee. Darum haben fast alle Straßen und Wege im Hügelland außerhalb der Dörfer aufgemauerte oder wenigstens von Hecken bestandene Säume. Ein wenig abgeschirmt von der Weite der dahinter liegenden Flur, im besten Falle lauschig beschattet und in der Mitte auf dem Boden sandig und trocken, so sieht für einen Quendel der ideale Weg aus, auf dem er gerne nach einem ausgedehnten Mittagessen ein gutes Stück spazieren geht.

Der Heckenweg, dem sich Bullrich nun näherte, durfte nach diesen Maßstäben sicherlich als wahres Prachtexemplar seiner Art bezeichnet werden. Vor etlichen Jahren war er beidseitig mit Mauern versehen worden: schulterhoch für einen Quendel von Durchschnittsgröße und aus Feldsteinen locker, aber so kunstvoll geschichtet, dass nicht Wind noch Wetter sie zum Einsturz bringen konnten. In den Fugen des unregelmäßigen Mauerwerks siedelten die unterschiedlichsten Pflanzen. Ihre zarten Wurzeln klammerten sich in die wenige Erdkrume, die der Wind in die Ritzen geweht hatte. Aber so schwächlich die einzelnen Fasern auch sein mochten, sie durchwebten die Mauern mit einem feinen Netz. Neue Pflanzen kamen hinzu und Moose und Flechten bedeckten die Oberfläche der Steine. Allmählich verschwand das verwitterte Grau unter einem grünen, hellgelben, manchmal auch rostroten Bezug. Wenn es regnete, saugten sich diese pelzigen Überzüge voll Wasser wie ein Schwamm. Es troff und tropfte aus allen Poren und Ritzen und die kühle Feuchtigkeit hielt sich dort lange und sorgte für üppiges Wachstum. Efeuranken kletterten aus überwucherten Mauerspalten, hingen herab bis auf den Boden und wehten im leichten Wind wie festliche Girlanden an einer Hochzeitstafel im Garten. Schnecken aller Art liebten die moosigen Wälle und versahen die Steine mit glänzenden Spuren. Oben, auf dem Abschluss der Mauern, hatten Sträucher und sogar kleine Bäume Fuß gefasst. Niedrige Eichen mit bizarr verdrehten Stämmen, dazwischen Ebereschen, Haselsträucher, zierliche Birken und seidenblättrige Trauerbuchen. Halb blieben sie dem hinter der Mauer liegenden Wiesengrund verhaftet, halb wölbten sich ihre knorrigen Wurzeln empor auf die moosigen Bänke oder auch gleich in die Mauern hinein. Wo sich die Zweige der Bäume trafen, verwandelte sich der Heckenweg in einen grünen Laubengang und es gab kaum einen hübscheren Spaziergang an heißen Sommertagen als unter diesem lauschigen Baldachin.

Bullrich erreichte den Weg dort, wo die Brombeeren auf das Prächtigste gediehen. Er blinzelte prüfend nach links und rechts. Ein Zaunkönig zwitscherte tschirpend und ein Libellenpärchen zischte so haarscharf an Bullrichs rechtem Ohr vorbei, dass er das Sirren ihrer Flügel spürte. Ansonsten blieb alles still in der schläfrigen Hitze des Mittags. Eine knorrige Wurzelschlaufe als Trittbrett benutzend, kletterte der Quendel bequem auf die erste Mauer. Sorgfältig vermied er, dass eine weitere dornige Ranke seiner bereits in Mitleidenschaft gezogenen Hose ein zweites Mal übel mitspielte. Gerade als er sich anschickte, auf den hellen Sandboden unter seinen Füßen hinabzuspringen, hörte er langsame Schritte, ganz so, als schlendere jemand, aus der Schellenwalder Richtung kommend, den Heckenweg hinunter.

»Zu dumm!«, brummte Bullrich und hielt in der Bewegung inne. »Das bedeutet Aufschub.«

Sich wieder hinter der Böschung zu verstecken, kam ihm albern vor, denn er erkannte den gemächlich schlurfenden Gang als den zweier ganz bestimmter Quendelfüße und die gehörten unverkennbar seinem Vetter mütterlicherseits, Zwentibold Bitterling aus Wetterstern.

Ergeben nestelte Bullrich in der Innentasche seiner Jacke nach Pfeife und Tabaksdose und machte es sich bequem. Als Zwentibold, die Hände in den Hosentaschen vergraben und seinerseits munter vor sich hin paffend, in der sanften Biegung auftauchte, traf er zu seiner Überraschung die liebe Verwandtschaft just an dieser merkwürdigen Stelle. Vetter Bullrich saß bei einem Mittagspfeifchen auf der Mauer des Heckenweges, dort, wo Ebereschen und Brombeeren eine Lücke ließen, und baumelte mit den Beinen.

»Bullrich, alter Knabe«, grüßte Zwentibold freundlich und nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel.

»Na, mein lieber Bitterling«, lächelte Bullrich zurück.

Zwentibold blickte neugierig zu ihm hinauf. »Kein übles Plätzchen zum Verschnaufen …« Es klang eher nach einer Frage als nach einer Feststellung. »Machst du hier etwas Bestimmtes?«

»Ach, ich sehe mich nur ein bisschen nach Steinpilzen um, weißt du?«, murmelte Bullrich undeutlich und betrachtete seine herumschlenkernden Füße.

»Hier?«, fragte Zwentibold ehrlich erstaunt und blickte sich um. »Das ist mir neu, dass es hier welche gibt.«

»Gelegentlich«, meinte Bullrich ausweichend und wechselte das Thema. »Wann, zum Kuckuck, bist du denn heute aus den Federn gefallen, dass du gegen Mittag schon an Grünlohe vorbeischleichst?«

Er rückte einladend ein Stückchen zur Seite. Zwentibold kletterte schwerfällig hinauf und kam mit einem Seufzer neben Bullrich zu sitzen.

»Ich habe bei Lorchel und Lamella in der Linde übernachtet«, erklärte er. »Jetzt schaue ich noch in Krapp bei den Mottifords vorbei. Es ist mal wieder Zeit – du weißt schon, ich bin unterwegs in Sachen Bäumelburg.« Als Bullrich ihn verwirrt anblickte, fügte er fast nachsichtig hinzu: »Aber, Bullrich, wir haben schon fast Eichelmond. Ich spreche natürlich vom Bäumelburger Maskenfest. Ich bin im Festkomitee, wie jedes Jahr.«

Bullrich wies mit der Pfeife auf die in ihrem Rücken liegende Wiese, die in der Mittagshitze flimmerte. »Heiß wie im Brachmond! Und da soll einem auf der Stelle irgendein Fest einfallen, das kurz vor dem Winter liegt.«

»Also wirklich, Bullrich! Das Bäumelburger Maskenfest als ›irgendein Fest‹ zu bezeichnen, ist schon etwas seltsam für einen Quendel. Was sollte es wohl Einmaligeres geben auf dem Hügelländer Festkalender?«

»Wintersonnenwende«, sagte Bullrich entschieden und meinte es auch so.

»Wintersonnenwende!«, schnaubte Zwentibold. »Schön und gut, eine bedeutsame Angelegenheit. Aber wenn du mich fragst, eher etwas für Kaminhocker und alte Muhmen! Und wenn du mich weiter fragst, mein lieber Bullrich, ist es auch immer ein wenig unheimlich. Du weißt nie, wer da vermummt an deine Tür klopft – ich meine natürlich, du weißt es erst, wenn sie dir mit lautem Geheul und Schneegestöber in die Stube springen.« Er schüttelte den Kopf und hängte seine Pfeife in den anderen Mundwinkel. »Einer von diesen tollpatschigen Hallimaschen hat mir im letzten Jahr die beste Teekanne vom Kaminsims gefegt, so wild hat er mit dem Reisigbesen in der Luft herumgefuchtelt.«

»Aber die Feuer sind schön«, sagte Bullrich und dachte in der Sommerhitze träumerisch an die großen Scheiterhaufen, um die man im Schnee in weiter Runde herumstand und Gewürzpunsch schlürfte.

»Zugegeben«, meinte Zwentibold und griff nach einer Brombeere, »die Mitternachtsfeuer sind nicht schlecht. Aber der andere Zinnober … Ich bin doch mehr für Ruhe in den eigenen vier Wänden.« Er kaute die Beere und pflückte eine zweite. »Das Bäumelburger Maskenfest ist da doch etwas ganz anderes als dieser Mummenschanz vor Tau und Tag!«, kam er wieder auf sein Lieblingsthema zu sprechen.

Zwentibold war überaus stolz darauf, ins Festkomitee gewählt worden zu sein. Jedes Dorf schickte mindestens einen, höchstens drei Vertreter nach Bäumelburg, wo alljährlich in der Bäumelburger Becherlorchel bei den besten Lorchelbechern des Hügellandes die Vorbereitungen besprochen wurden. Bullrichs Vetter bekleidete sein verantwortungsvolles Amt zwar schon lange Jahre, aber es schien ihm noch immer viel Spaß zu machen. So wurde er nicht müde, jedem, den er traf, alles Wissenswerte in Sachen Maskenfest zu berichten. Eben jetzt hub er zu einer langen Rede an. Bullrich begann, unruhig hin und her zu rutschen. Die Sonne wanderte langsam aus dem Zenit gen Westen. Noch würde der Waldrand des Finsters in freundlicher Helligkeit liegen. Ein günstiger Umstand, um in das Düster des Waldes einzutauchen, wie Bullrich fand.

Aber Zwentibold redete und redete. Er kam von Hölzchen auf Stöckchen, obwohl sich natürlich alles um das große Ereignis am Ende des Herbstes drehte. Bullrich paffte seine Pfeife in kurzen, unerfreulichen Zügen. Es wurde spät und später. Gerade begann sich Vetter Bitterling über die immer kurioser werdenden Masken der eingebildeten Mottifords auszulassen, als Bullrich ein, wie er zunächst fand, glänzender Einfall durch den Kopf schoss.

»Der gute Gisil könnte als Oberhaupt seiner Familie wirklich ein bisschen mehr auf die Form achten«, meinte Zwentibold soeben. »Neumodisches Zeug, das sich die Mottifords da seit bestimmt fünf Maskenfesten über ihre dicken Hohlköpfe ziehen! Als ob die alten Familienmasken nicht mehr taugten für diese hochnäsigen Klapperschwämme! Aber: Falscher Hut tut niemals gut! Das gilt auch für die Mottifords, die nun wahrhaftig …«

»Genau das sagt die gute Hortensia auch immer«, fuhr Bullrich hastig dazwischen und wurde ziemlich rot bei dieser eindeutigen Lüge. Hortensia bewunderte die Mottifords und Krapp, ihren vornehmen Wohnsitz, ein richtiges Herrenhaus in einem großen Park auf der anderen Seite der Drille. Hortensia hätte ganz gewiss nicht abfällig über eine so angesehene alte Familie hergezogen, denn eine Samtfuß-Krempling hält bekanntlich auf Stand und Abstammung.

Zwentibold schien jedoch ahnungslos, denn er unterbrach tatsächlich seinen Redeschwall, schnappte endlich einmal nach Luft und blickte Bullrich neugierig ins Gesicht. Das wurde noch röter, als er in dieser verzwickten Lage auf die erste Lüge noch eine zweite setzen musste. Vielleicht war der Einfall doch nicht so glänzend gewesen. Aber da gab es nichts, wenn er heute noch in den Finster kommen wollte. Also redete er weiter.

»Ja, wahrhaftig, Hortensia trägt sich seit Langem mit dem Gedanken, dem Festkomitee beizutreten. Ich meine, wenn sie gewählt würde, meine ich … dann würde sie wohl nicht Nein sagen. Sagt jedenfalls meine Schwägerin Beda und die sollte es wissen …«

Bullrich schwitzte, weil er merkte, dass er sich verhaspelte. Es konnte kaum überzeugend klingen. Aber Zwentibold schien noch immer keinen Verdacht zu schöpfen. Er unterbrach ihn jedenfalls nicht. Bullrich beeilte sich gequält, auf das Wesentliche zu sprechen zu kommen. Den Köder, den er auslegen wollte.

»Hortensia kommt aus einer so feinen Familie. Für Tradition und alte Bräuche ist sie ganz besonders zu haben. Erst neulich hörte ich, wie sie zu Beda sagte: ›Bei allen Trüffeln des Waldes, diese Mottifords machen aus unserem schönen Maskenfest ein regelrechtes Possenspiel! Es wird Zeit, dass ein bisschen auf alte Festordnungen geschaut wird. Man sollte sich wirklich an das Komitee wenden!‹« Bullrich klappte den Mund zu und schwieg. Die Pfeife war ausgegangen.

»Nein …«, sagte Zwentibold, ehrlich erstaunt, »und ich dachte, die Gute kümmere sich nur um vornehme Damenkränzchen. Meine Tilda daheim hofft seit Jahren auf eine Einladung. Aber sie wäre zweifelsohne eine Bereicherung des Festvorstandes. Hortensia, meine ich. Mit ihrem Geschmack und den guten Manieren und so weiter. Und sie würde sicherlich einiges beisteuern. Du weißt schon«, er zwinkerte vertraulich, »die Samtfuß-Kremplinge haben sich bisher mit Spenden aus ihren legendären Vorratskellern eher zurückgehalten.« Plötzlich schwang er die Beine nach links über die Mauer und ließ sich mit einem vernehmlichen Plumpsen auf die Wiese fallen. »Bullrich, alter Knabe, ich bin dir sehr verbunden für den Hinweis. Ich glaube, ich werde einen kleinen Schlenker über Grünlohe machen. Auf eine Tasse Tee bei einer sehr ehrenwerten Dame. Helfende Hände soll man niemals zurückweisen.«

Bullrich fühlte sich unbehaglich, aber immerhin konnte er jetzt endlich aufbrechen. Inbrünstig hoffte er, dass Hortensia nicht zu Hause sein würde, wenn ein vor Tatendrang überschäumender Zwentibold vor ihrer Gartenpforte aufkreuzte.

Der Bitterling klopfte seine Pfeife aus und tätschelte zum Abschied Bullrichs rechtes Knie. »Gehab dich wohl, Bullrich«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Ich werde Hortensia von dir grüßen und ihr erzählen, was für einen aufmerksamen Nachbarn sie hat.«

»N-n-n-nein!!!« Bullrich wäre beinahe rückwärts in die Brombeeren gefallen. »Ich wollte sagen«, beeilte er sich zu erklären, als er das überraschte Gesicht seines Vetters sah, »ich wollte nur sagen, sie braucht nicht zu wissen, von wem du das hast. Sie wird ohnehin alles abstreiten, stolz wie sie ist.« Er räusperte sich verlegen und machte eine hilflose Geste. »Ich wollte ihr nur eine Freude machen, nichts weiter. Weil sie sich doch so sehnlichst wünscht, dabei zu sein …«

»Ach so«, sagte Zwentibold und kratzte sich nachdenklich mit dem Stiel seiner Pfeife hinter dem linken Ohr. »Verstehe, Bullrich, alter Knabe, verstehe …« Dann zwinkerte er fröhlich.

Bullrich fand das albern, weil er mit Zwentibolds verschmitztem Lächeln nichts anzufangen wusste. »Stock und Schwamm«, murmelte er kaum hörbar und zog an der kalten Pfeife.

Zwentibold drohte scherzhaft mit dem Zeigefinger zu ihm hinauf und lachte. Bullrich fragte sich verdrossen, was um alles in der Welt in ihn gefahren sein könnte. Die ganze Angelegenheit war äußerst lästig und unangenehm.

»Ehrenwort«, verabschiedete sich der Vetter endlich, ein Ausbund an Verständnis, »kannst dich auf mich verlassen, bester Schattenbart. Ich werde ganz in deinem Sinne vorgehen. Kein Wort zu Hortensia über den einsamen alten Dachs. Nicht ein Sterbenswörtchen! Gehab dich wohl!«

Und bevor Bullrich noch etwas entgegnen konnte, hatte er sich aufgemacht und stapfte mit raschen Schritten die Wiese gen Grünlohe hinab. Am Fuße der Anhöhe drehte er sich noch einmal um und winkte. Bullrich winkte zurück. Er blieb sitzen, wo Zwentibold ihn gerade verlassen hatte, und fühlte sich leicht verwirrt.

Hatte er richtig gehört? Einsamer alter Dachs? Bullrich schnaubte verächtlich. Es tat ihm nicht mehr ganz so leid, den lieben Vetter zu Hortensia geschickt zu haben. Er kannte das Gerede über sich. Sollten die beiden doch ruhig ein vergnügtes Plauderstündchen auf seine Kosten miteinander verbringen, wenn die Sache so stand, dass der Tratsch über ihn nun schon bei Zwentibold angekommen war. Schon recht! Solange man ihn unbehelligt seine verwegenen Pläne zum Wohle aller ausführen ließ. Oh ja, eines schönen Tages gäbe es über den einsamen alten Dachs tatsächlich etwas zu berichten. Etwas Unerhörtes, Einmaliges, das jedes Damenkränzchen des Hügellandes in hoffentlich stummer Ehrfurcht erzittern ließe. Aber bis zu diesen goldenen Tagen gab es für den Kartenzeichner von Grünlohe noch einiges zu tun.

»Stock und Schwamm«, sagte Bullrich daher noch einmal entschlossen zu sich selbst und schickte sich nun endlich an, auf den Heckenweg hinabzuspringen.

Es schien eine Ewigkeit her zu sein, dass er zum ersten Mal an diesem Tag zu diesem simplen Hüpfer angesetzt hatte. Nichts kündigte eine weitere Störung an und so landete Bullrich sanft auf dem weichen Sandboden. Mit vier, fünf Schritten näherte er sich der gegenüberliegenden Böschung. Er suchte nicht länger nach günstig gelegenen Wurzeln, die seinen Füßen bequemen Halt bieten würden. Auch der Zustand seiner Hose spielte keine Rolle mehr. Ein wenig keuchend zog er sich an der erstbesten gekrümmten Wurzel eines Haselbusches nach oben und unten halfen die Füße scharrend nach.

Zwischen Hasel, Eschen und Brombeerranken, denn die zweite Böschung unterschied sich in nichts von der ersten, öffnete sich der Blick über die dahinter liegende Wiese bis zum Horizont. Dort dräute als dunkler massiger Schatten der schwarze Waldrand, vielleicht noch vierhundert Schlegel von Bullrich entfernt. Er hielt sich mit dem Anblick nicht auf, sondern ließ sich sogleich auf die falsche Seite des Heckenweges hinab. Dann starrte er wieder nach vorne. Es war ihm, als habe er eine unsichtbare Grenze überschritten.

Von Grünlohe klang entferntes Kindergeschrei herauf. Ganz dünn, aber deutlich vernehmbar in der stillen Luft. Bullrich dachte für einen winzigen Moment an seinen Garten und das kühle Plätzchen auf der Bank unter dem Holunder. Die Stimmen der kleinen Quendel verstummten und Bullrich schüttelte sich, als erwache er aus einem Traum. Dann schritt er zügig aus. Er war fest entschlossen, sich an diesem Tage von nichts und niemandem mehr aufhalten zu lassen.

Zweites Kapitel

Der Finster

Man muss den dunklen, oft grausigen Skog (Wald) kennen, dieses meilenweit ununterbrochene chaotische Gemisch von Laub- und Nadelholz, von Felstrümmern und umgestürzten Baumstämmen und einem Stein und Stock pilzartig überwuchernden Teppich von Moos und niederem Pflanzengestrüpp, der die Kleider und die Haut zerreißt und ein Vordringen unmöglich macht.

PAUL HERMANN

Die Wiese senkte sich sanft bis zum Waldrand. Bullrich kam es so vor, als blühten hier weniger Blumen als auf der Grünloher Seite des Heckenweges. Auch die Insekten machten sich rar. Jedenfalls sah er hier keinen einzigen der bläulichen Schmetterlinge mehr, die zuvor seinen Weg begleitet hatten, und auch keine Libellen und Hummeln.

»Pah, Zufall«, machte Bullrich sich Mut.

Die Sonne schien nach wie vor von einem wolkenlosen Himmel, aber der mit jedem Schritt näher rückende Waldrand sah deshalb nicht heller aus. Bereits die ersten Baumreihen verschluckten alles Licht des strahlenden Tages. Bullrich dachte an das wenige, das er über den Wald wusste, und stellte fest, dass nichts Gutes darunter war. Etwas Unnennbares lastete über den alten Bäumen, eine undurchdringliche Wetterwand aus Angst und Beklommenheit.

Bullrich biss die Zähne zusammen. Ihm war plötzlich kalt. Tapfer setzte er einen Fuß vor den anderen, denn er spürte, wie die Furcht nach seinem Herzen griff. Als er bis auf fünfzig Schlegel herangekommen war, blieb er stehen und rieb sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken. Er versuchte angestrengt, aus der Entfernung ins Innere zu spähen, aber er kam damit nicht weit, denn die vordersten der mächtigen Stämme hoben sich kaum von den dahinter stehenden Baumreihen ab. Wirres Unterholz und Gestrüpp verstellten den Blick zusätzlich.

»Bei allen Morcheln, da hast du dir wirklich etwas vorgenommen, Bullrich, alter Schattenbart«, sagte Bullrich laut zu sich selbst und merkte, dass seine Stimme rau und heiser klang.

Die Worte durchschnitten bedenklich das ringsum lastende Schweigen. Der Quendel erbebte und blickte verstohlen von links nach rechts. Einen Augenblick hatte Bullrich das höchst unangenehme Gefühl, dass ihm irgendetwas aus dem Dickicht entgegenstarrte. Er hätte nicht sagen können, was das sein sollte. Vielleicht war es ja nur der Wald selbst, dieser vermaledeite Wald, der so feindselig und abweisend aussah, dass es Bullrich immer unwahrscheinlicher vorkam, an den ersten zottigen Baumriesen vorbei in seinen Schatten einzutreten.

Wenn ihn von dort tatsächlich irgendetwas beobachtete, dann verriet dieses Etwas seine Anwesenheit jedenfalls mit keinem Laut. Kein Tritt auf einen dürren Ast, kein Rascheln im trockenen Laub erreichte Bullrichs gespitzte Ohren. Es war still, ganz still.

Bullrich verbot sich, »totenstill« zu denken, und dachte es dennoch.

›Ein Wald, der es freundlich mit einem meint, würde mehr Geräusche haben‹, überlegte er.

Tatsächlich vermisste er nicht nur den aufmunternden Gesang der Vögel, sondern alle vertrauten Laute, die man für gewöhnlich in der Nähe eines Waldes vermuten konnte. Das Rauschen des Windes in den Baumkronen, das tausendfache Rascheln von Blättern und Zweigen oder ein leises Knistern im Unterholz, wenn ein Tier hindurchhuschte. Bullrichs nervös umherschweifender Blick blieb an einer gewaltigen Fichte mit geborstener Rinde und moosbehangenen Ästen hängen. Sie schien ihm unermesslich hoch. Schwindelig konnte es einem werden, wenn man den Kopf in den Nacken legte und den Stamm von der Wurzel bis zur Spitze in Augenschein nahm. Bei kaum einem Baum war es anders. Ob Fichte, Tanne, Buche oder Eiche, alle sahen sie riesig, abweisend und uralt aus.

»Aha, Mischwald«, bemerkte der Quendel und nahm seine Angewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, flüsternd auf. Die nüchterne Feststellung blieb unerwidert und Bullrich fand die Kraft, sich ein wenig zusammenzureißen. Er fingerte in seinen Taschen nach Birkenrollen und Holzkohle. »Das lässt sich durchaus von hier aus festhalten. Nur nichts überstürzen, bester Schattenbart«, murmelte er vor sich hin und kritzelte ein paar Notizen auf die erste Rinde.

Hastig blickte er aber sofort wieder auf und suchte den Waldrand aufs Neue ab, ob sich nicht genau in diesem unbewachten Augenblick, als er sich über seine Aufzeichnungen beugte, dort irgendetwas Bedrohliches regte. Alles blieb beim Alten, doch Bullrich war weit entfernt davon, sich beruhigt zu fühlen. Die Angst kletterte aus den lahmen Kniekehlen prickelnd bis in seine Haarwurzeln. Seine sonst so ruhige Hand machte einen krakeligen Schnörkel auf die makellose Silberfläche der Rinde und Bullrich entdeckte fast erstaunt, dass er zitterte.

Es war schrecklich, so ungeschützt und allen etwaigen Blicken preisgegeben, mitten auf der sonnenhellen Wiese zu stehen, wenn etwas ganz in seiner Nähe im Verborgenen lauern mochte. Dort vorne, zwischen den Schatten, ein Schatten selbst womöglich und nichts aus Fleisch und Blut, das sich guten Gewissens ans Tageslicht wagen konnte. Oder war alles Einbildung, die wilde Erfindung seiner angespannten Nerven? Aber in den Wald hinein, allen vermeintlichen Gefahren geradewegs entgegenzulaufen, dazu mochte er sich auch noch nicht entschließen.

Die Zeit verrann in dicken, zähen Tropfen. Es war so still, als wären alle Geräusche ausgestorben. Wie klang das Lied eines Vogels? Wie das Brummen einer Biene im Blütenkelch? Hinter dem Quendel versank die ganze, ihm bekannte Welt und ließ ihn allein mit dem unheimlichen Wald. Seine Hände sanken herab. Achtlos schob er Birkenrinde und Kohle wieder in seine Westentasche zurück. Er konnte nichts weiter tun, als geradeaus zu starren.

Zu Füßen der mächtigen Stämme herrschte ein schier undurchdringliches Dickicht ineinander verhakter krüppeliger Sträucher, darunter lagerten Unmengen von totem Holz. Nirgends zeigte sich eine größere Öffnung, geschweige denn die Andeutung eines Pfads. Dort, nur wenige Schlegel vor ihm, lag eine feindliche Wildnis, über die niemand etwas Genaues wusste, außer, dass es sie gab. Was vermochte sein wertloses Gekritzel gegenüber dieser klaffenden Lücke im Wissen von Zeitaltern auszurichten?

Ihm stand der Sinn immer weniger nach heroischen Taten, aber zugleich war er verdrossen über seine Mutlosigkeit. Dies war kein unbezwingbarer Berg, der nicht bestiegen, kein tiefer See mit tückischen Strudeln, der nicht beschifft werden konnte. Der Finster war ein Wald, in den man eigentlich ganz einfach hätte hineingelangen können, wenn auch mit einiger Mühe. Es war nicht einmal anzunehmen, dass in ihm wilde Tiere hausten, denn irgendwann in all den langen Jahren hätte sich wohl eines zeigen müssen. Kein hungriges Wolfsrudel fand in grimmigen Winternächten den Weg nach Zwölfeichen oder Grünlohe. Kein Drache hatte sich jemals über die Baumwipfel erhoben, um Rabenstein mit Feuer und Rauch zu überziehen. Nicht die leiseste Spur eines Unholds war in der unmittelbaren Umgebung verzeichnet. Keine behaarten Schrate, keine bleichen Mare mit brennenden Augen und dürren Fingern. Es hieß nur, dass in manchen Nächten Irrlichter über dem Schwarzen Schilf bei Wetterstern tanzten. Nichts weiter. Selbst die Sage vom Ästigen Porling verlor sich über dergleichen allenfalls in dunklen Andeutungen. Bullrich ballte die Fäuste.

»Wilde Tiere«, schnaubte er voller Erbitterung gegen sich selbst und alle gegenwärtigen und vergangenen Quendel des Hügellandes. Dann dachte er an die fünf mutigen Wettersterner, die sich einst in den Finster gewagt hatten. Als der verhängnisvolle Nebel aufgekommen war, waren sie bis zu den Löchern gelangt und hatten die Quelle der Pfiffer entdeckt. Ja, der Nebel. Der Nebel und der Finster hatten schließlich die Bitterlinge verschluckt und nicht wieder herausgegeben. Vielleicht mochte Zwentibold deshalb keine unheimlichen Masken, eingedenk dieser alten Geschichte. Er musste sie von Kindesbeinen an unzählige Male gehört haben.

Die Bitterlinge hegten trotz des unglücklichen Ausgangs der Unternehmung einen beträchtlichen Stolz auf ihre tapferen Vorfahren und ehrten das Andenken der toten Helden in ihren Sagen und Liedern. Der Tod der unglücklichen Brüder hatte sich ereignet, als Bullrichs Großvater, Erdmann Schattenbart, ein junger Quendel gewesen war. Bullrich wusste von niemandem, der es danach noch einmal versucht hatte.

Er kam sich winzig und hilflos vor, wie er da vor dem dräuenden Waldrand stand, ein Wicht vor einer Mauer erstarrter Riesen. Vielleicht würden sie sich im nächsten Moment regen, um ihn zu packen, oder auch nur in der ganzen Länge ihrer Aufstellung einen Schritt näher kommen. Er würde sich nun einfach umdrehen und nach Hause stapfen. Er, Bullrich Schattenbart, selbst ernannter Kartenzeichner aus Grünlohe, wagte auch nicht, was Hunderte vor ihm unversucht gelassen hatten.

Quendel, diese grünen Tröpfe,Seht, sie stecken ihre Köpfe,Wenn im Wald das Käuzchen schreit,Unter Muhmes Unterkleid!Quendel, das sind keine Zwerge:Sie durchstechen keine BergeMit ihrem Mut ist es nicht weit!

Das alte Spottlied kam ihm unwillkürlich in den Sinn und zum ersten Mal dachte er bekümmert, dass die Worte ein viel zu großes Stück Wahrheit enthielten. Und er wunderte sich, wie unglücklich man sich fühlen konnte, wenn man am Morgen des gleichen Tages noch so zuversichtlich aus dem Haus gegangen war.

»Es gibt eben Dinge, die man getrost anderen überlassen sollte«, murmelte er und wusste selbst nicht so recht, wen er damit eigentlich meinte.

Im Ringen um seine Selbstachtung griff er wieder nach Pfeife und Tabak und wandte sich zum Gehen. »Gehab dich wohl, Finster«, warf er leise über die Schulter zurück.

In diesem Augenblick geschah etwas. Etwas Altvertrautes, aber an diesem Ort für Bullrich vollkommen Unerwartetes. Nur zwei kurze Schritte von dort, wo er stand, bebte die Erde.

Zugegeben, ein winziges, nur an einem einzigen Fleck stattfindendes Beben, aber immerhin hob sich die Grasnarbe, klaffte plötzlich und dem dunklen Riss entfuhren in regelmäßigen Abständen Fontänen bröckeliger schwarzer Erde. Hätte Bullrich sich daheim in seinem Garten befunden, wäre ihm binnen eines Augenaufschlages sonnenklar gewesen, was da vor sich ging. Hier, in unmittelbarer Nähe des Finsters, brauchte er ein wenig länger, um zu begreifen und in diesen wenigen Sekunden der Ungewissheit durchfuhr den Ärmsten ein solcher Schreck, dass ihm fast das Herz stehen blieb.

Kein Zweifel, hier grub ein Maulwurf. Ein wohlbekanntes, harmloses Tierchen, über dessen gelegentliches Auftauchen in seinem Garten sich Bullrich einerseits freute, denn er fand Maulwürfe niedlich und mochte ihre spitze, schnüffelnde Nase, den samtigen Pelz und den kompakten kleinen Körper. Andererseits betrachtete er mit einiger Besorgnis die schwarzen Hügel, die sich auf seinem gepflegten Stückchen Rasen ausbreiteten.

Aber hier? Auf der riesigen, leeren Wiese, wo weit und breit nicht die kleinste Erhebung im struppigen Gras die Anwesenheit von Maulwürfen verriet, hieß Bullrich jede weitere Garbe aufspritzender Erdkrume jubelnd willkommen. Dies war ein aufmunterndes Zeichen, nicht zu verzagen; ein freundlicher Gruß aus dem richtigen Leben.

Der Schleier schwarzer Hirngespinste riss. Wie ein Sonnenstrahl, der nach einem heftigen Sturm plötzlich in ein dunkles Zimmer fällt, so erhellte das emsige Tun zu seinen Füßen Bullrichs Gedanken. Wenn ein so kleiner Kerl sich so weit vorwagte, dann konnte ein ausgewachsener Quendel in den besten Jahren wohl einigermaßen gelassen an der gleichen Stelle ausharren, mutmaßte Bullrich. Mittlerweile hatte der unterirdische Gräber einen nach Maulwurfsmaßstäben respektablen Hügel aufgeschüttet. Bullrich beugte sich hinab und sog den satten Geruch der feuchten Erde in sich ein.

»Zeig dich, kleiner Kerl«, meinte er aufmunternd und beobachtete aufmerksam die Spitze der kleinen Anhöhe, »ein wenig Gesellschaft in dieser unwirtlichen Umgebung wäre nicht das Schlechteste, bei allen Hohltrüffeln und Stinkmorcheln der finsteren Wälder!«

Ohne den Blick vom Maulwurfshügel abzuwenden, nestelte er, noch etwas fahrig, in seinen Westentaschen nach seinem Tabaksbeutel. Mit schon entschlosseneren Handgriffen begann er seine Pfeife zu stopfen. Die unterirdische Arbeit ruhte offensichtlich. Weitere Erdfontänen blieben aus, einige wenige Bröckchen sickerten noch von der Spitze der kleinen Erhebung ins Gras hinab. Dann blieb alles ruhig.

»Na, komm schon«, lockte Bullrich wieder und entzündete sein Pfeifchen. Jeden Augenblick erwartete er, die rosige Spitznase und die gewaltigen Grabschaufeln durch die lockere Erde brechen zu sehen. In gebückter Haltung in den Anblick des Maulwurfshügels vertieft, verharrte er so eine ganze Weile und paffte selbstvergessen.

Doch zu seinen Füßen regte sich nichts mehr. Es war allmählich anzunehmen, dass sich der zunächst so zielstrebige Graber im letzten Moment von der Oberfläche ab und anderen unterirdischen Geschäften zugewandt hatte. Vielleicht reizte es ihn plötzlich mehr, noch einen weiteren Gang in dieser sicherlich auch unterirdisch verwegenen Gegend anzulegen, ähnlich dem Quendel ein mutiger Kundschafter auf der ihm gemäßen Seite der dünnen Grasnarbe.

Bullrichs Warten blieb vergeblich. Er merkte es unter anderem daran, dass ihm allmählich das Kreuz zu schmerzen begann. Also richtete er sich auf.

»Macht nichts, mein Lieber«, seufzte er bedauernd, »wahrscheinlich ist es das Richtige, dort unten zu bleiben.«

Plötzlich war ihm bewusst, dass er schon seit geraumer Zeit nicht mehr auf den Waldrand geachtet hatte. Da stand er, unversehrt und rauchend im Sonnenlicht vor einem so alltäglichen Ding wie einem Maulwurfshügel. Vielleicht lag es an der in diesem Sommer besonders guten Qualität seines Tabaks, vielleicht gab der Duft der frisch aufgeworfenen Erde den letzten Ausschlag. Jedenfalls deutete Bullrich nach Quendelart den Maulwurfshügel als ein günstiges Zeichen, das ihn stärkend an die stete Anwesenheit der hellen freundlichen Welt gemahnte.

Als hätte ihm der hellsichtige Müller aufmunternd auf die Schulter geklopft und zum beherzten Aufbruch im Auftrag des ganzen Hügellandes aufgefordert, machte Bullrich nun den letzten entscheidenden Schritt, mit dem er endgültig aus dem Sonnenschein in den Waldesschatten eintrat.

Er zwang sich, an Alltägliches zu denken. An das idyllische Grünlohe, an Sommergärten in schläfriger Mittagsruhe, an den Frieden seines freundlichen kleinen Hauses. Nein, das reichte noch nicht zur Ablenkung. Er brauchte etwas, das seine beklommenen Gedanken stärker in Anspruch nahm. So versuchte er, sich vorzustellen, wie Zwentibold in aufgeräumter Stimmung an Hortensias Gartenpforte ankam und wie sich Hortensia skeptisch von ihrem Platz in der Rosenlaube erhob, um dem unerwarteten Gast über den Rasen würdevoll entgegenzukommen. Bullrich strengte alle Sinne an, um sich genauestens auszumalen, wie sie ging. Jeden Schritt, den Hortensia in seiner Vorstellung über das samtige Gras ihres Gartens tat, vollzog er selbst an der Schwelle zum Finster.

Nur dass er keinen weichen Rasenteppich unter den Schuhsohlen spürte. Die borstigen Halme wurden spärlicher und spärlicher, je näher er den Bäumen kam. Vier Schritte noch, drei, der vorletzte, der letzte – ein Schauer durchrieselte ihn, aber er hob wild entschlossen die Arme, griff in die stacheligen, immerhin biegsamen Zweige einer schwärzlichen Stechpalme zur Rechten und in den struppigen Bart einer verkrüppelten Tanne zur Linken und versuchte, sich Eintritt zu verschaffen.

Es ging viel einfacher, als er erwartet hatte. Fast schien es ihm, als würde ihm der Wald in voller Absicht einen Durchschlupf gewähren, um sich hinter ihm wieder genauso lautlos zu schließen, wie er sich geöffnet hatte. Der Finster hatte ihn verschluckt, ohne dass er eine einzige Spur hinterließ. Ein wenig verwirrt über den leichten Einstieg und seinen eigenen Mut, blieb Bullrich stehen.

»Heilige Hohltrüffel und zweiblättriges Pfeifenkraut, steht mir bei«, raunte er und duckte sich unwillkürlich.

Die tiefe Dämmerung im Innern des Waldes war so eindringlich, dass er sich schon nach wenigen Augenblicken unsicher nach der Wiese und dem freien Himmel darüber umsah. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne gesetzt? Aber nein, zwischen Stämmen und wirrem Geäst hindurch konnte er nach wie vor das strahlende Gestirn am blauen Himmel ausmachen. Wenn er sich ein wenig nach links neigte, sah er, am Stumpf einer geborstenen Eberesche vorbei, den Maulwurfshügel. Winzig und verlassen lag er da inmitten des weiten Grüns.

Bullrich liebte die wohltuende Kühle des Schellenwaldes an einem heißen Sommertag. Wie angenehm war es, dort im grünen gedämpften Licht unter hohen Bäumen zu schlendern, wenn der Waldboden würzig duftete, was Pilze im Herbst versprach. Nichts von alledem glich seinen Empfindungen beim Eintritt in den Finster. Es war, als sei man von gutem in schlechtes Wetter gewechselt, wenn es denn möglich gewesen wäre, mit einem einzigen Schritt von einer Witterung in die nächste zu gelangen. Die Andersartigkeit des Waldes war vollkommen und allumfassend. Seine feuchte Kühle hatte nichts Wohltuendes, sondern klebte an einem wie ein klammes Hemd. Das gräuliche Zwielicht tröstete nicht die Augen, sondern verdarb auch noch die mattesten Farben der ohnehin eintönigen Umgebung. Kein im härtesten Frost erstarrter Winterwald bedrückte den Wanderer mit einer ähnlich vollkommenen Unbeweglichkeit.

Schon nach einigen tastenden Schritten blieb Bullrich herzklopfend wieder stehen. Ihm drängte sich die unheimliche Vorstellung auf, dass alle guten Kräfte der lebensspendenden Natur sich aus dieser Waldödnis zurückgezogen hatten. Geblieben waren Moder und Fäulnis, ausuferndes, alles erstickendes Wuchern, totes Holz und geborstene Oberflächen. Lief sein Blick die bemoosten Stämme hinauf in die schwindelerregende Höhe der Kronen, fand sich dort kein vibrierendes Spiel lichter Grüntöne, sondern ein dichtes, düsteres Laubdach, das das Licht des Himmels verschluckte. Alles in diesem Wald war schäbig verwandelt und in sein trauriges Gegenteil verkehrt und Bullrich fand, dass der Name »Finster« sehr passend war. Nicht »Finsterwald«, sondern das eine schlichte Wort, welches das ganze Ausmaß der vernichtenden Wirkung knapp und treffend bezeichnete.

Nachdem er sich in diese anfänglichen Betrachtungen verloren hatte, beschloss Bullrich, an das Nächstliegende zu denken. So gut es bei diesem unwegsamen Gelände möglich sein würde, wollte er in einigermaßen gerader Linie von seinem Ausgangspunkt ins Innere vordringen. Er hatte gar nicht die Absicht, bei diesem ersten Ausflug besonders weit zu kommen. Denn eines wusste er ganz sicher: Nicht einmal die beginnende Dämmerung wollte er in dieser Umgebung erleben, nicht das leiseste Anzeichen sich ausbreitender Dunkelheit. Obwohl er gelinde Zweifel hatte, das in diesem ewigen Schattenreich auch rechtzeitig zu bemerken. Ein Stündchen oder mehr – das erschien Bullrich schon eine ganze Menge Zeit an diesem unheimlichen Ort. Vollkommen ausreichend für einen ersten Eindruck und eine echte Herausforderung für sein klopfendes Herz.

»Eine Axt wäre genau das, was ich jetzt dringend bräuchte!«

Keuchend versuchte Bullrich, den linken Fuß aus der Schlinge einer Efeuranke zu befreien, die mit ihresgleichen ein tückisches Netz über den Waldboden flocht. Eine ganze Weile kämpfte er sich nun schon auf mühseligste Weise durch Gestrüpp und Unterholz, das quendelhoch zwischen den Bäumen wucherte, an ihnen emporkroch und selten freie Stellen auf dem Waldboden zuließ. Immerzu blieb er mit seinen Kleidern an irgendeinem Zweig hängen. Seine Füße verhedderten sich in fruchtlosen Brombeerranken, die wie Fußangeln unter der modrigen Laubdecke lagen. Die Luft war bleiern und es roch nach üblen Pilzen, auf denen er ausglitt, bevor er sie sah. Kletten setzten sich hartnäckig in seinen Haaren und auf seiner Jacke fest, wenn er unter einem verfilzten Astgewirr emportauchte. Er kämpfte so verbissen, dass er beinahe vergaß, Angst zu haben. Ehe er verstohlen um sich blicken konnte, war er schon wieder in die nächste hinterhältige Falle getappt, die der Finster scheinbar tausendfach für Eindringlinge bereithielt.

Unheilvoll und wie ein Vorwurflastete das Schweigen ringsumher auf seinen Schultern. Offenbar war er der Einzige, der hier Lärm machte. Als würde er in einem düsteren Traum vorwärtsgetrieben, ohne zu wissen, wohin es eigentlich ging, setzte er seine bleischweren Füße unaufhaltsam einen Schritt vor den anderen. Immer weiter bahnte er sich seinen Weg und hoffte dabei, auf die Mitte des Waldes zuzuhalten. Er hatte sich dieses vage Ziel vorgenommen, weil dort die einzigen Stellen im Finster lagen, von denen er schon einmal etwas gehört hatte. Die Sage vom Ästigen Porling erzählte davon und auch der Bericht von der unglücklichen Wetterstern-Expedition. Ungefähr dort, im Herzen des Waldes, sollten sich jene drei schwarzen Waldseen befinden, welche die einzigen Quendel, die jemals von dort zurückgekehrt waren, zu keinem freundlicheren Namen als »die Löcher« inspiriert hatten. So stand es in den Bäumelburger Annalen, die Bullrich eingehend studiert hatte. Er glaubte nicht, dass er an diesem fortgeschrittenen Nachmittag noch bis dorthin gelangen könnte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er das überhaupt wollte.

Der Wald verhöhnte sein planvolles Unternehmen mit seinem wuchernden Chaos. Als er zum hundertsten Male seinen Ärmel von einem widerborstigen Zweig abhakte, kamen ihm leise Zweifel. Was hatte ein Verfasser von Landkarten davon, wenn er wie ein wild gewordener Frischling durchs Gelände brach, ohne links und rechts zu blicken, um sich besondere Merkmale zur Orientierung einzuprägen? Nicht auszudenken, wenn er sich verirrte! Schon wieder mit dem linken Fuß in irgendetwas verheddert, zwang er sich, innezuhalten.

Bullrich japste nach Luft. Erst jetzt merkte er, wie erhitzt er war. Der Schweiß rann ihm in Bächen den Rücken hinab. Mit dem Handrücken wischte er sich über die feuchte Stirn und nahm die unmittelbare Umgebung in näheren Augenschein.

Er stand am Rande einer kleinen Senke, deren Grund so üppig mit hohem Farnkraut bewachsen war, dass er den Erdboden darunter nicht sehen konnte. Da unten standen keine Bäume. Der Wald bildete hier eine kleine Lichtung, aber eigentlich rückten die gewaltigen Stämme nur ein wenig auseinander, denn ihre Kronen verzweigten sich hoch über Bullrichs Kopf so dicht ineinander, dass es unten trotz der Lücke nicht sonderlich heller wurde.

›Hier ließe es sich eigentlich recht gut zeichnen‹, schoss es ihm durch den Kopf, aber eine zweite Stimme hielt angstvoll dagegen: ›Bei allen Morcheln der Moose – nur nicht stillestehen und sich ins Zeichnen vertiefen. Bloß keine unbewachten Momente in diesem Übelwald!‹

Bullrich versuchte, den aufkommenden Schrecken zu verdrängen, indem er sich zwang, in seinen Taschen nach Rinde und Kohle zu nesteln. Er fühlte sich immer noch zittrig; das Kohlestückchen entglitt ihm.

»Stock und Schwämme des Hügellandes!«, fluchte er und bückte sich danach zu seinen Füßen. Als seine Finger die Kohle ergriffen, bewegte sich vor ihm etwas im Farn.

Eigentlich erbebten nur die vielfingrigen Fächer des Farns dort links in der Tiefe der Senke. Aber es konnten schlecht die Pflanzen selbst sein, deren Blätter sich kurz wölbten und dann wieder hinabneigten, als sei etwas darunter Befindliches ein Stückchen weitergekrochen, als habe sich ein Arm nach einem spähenden Blick aus der Deckung wieder herabgesenkt. Dem Quendel standen die Haare zu Berge und er war kurz davor, laut zu schreien.

Atemlos starrte er auf die vermaledeite Stelle und wartete auf Katastrophen. Die Farnwedel standen schon wieder in schöner Ruhe, als hätte sich nie etwas bewegt in diesem windlosen, hauchlosen Wald. Und doch …

Raschelte dort nicht etwas, kaum hörbar zwar? Suchte sich dort unten zu verbergen, um wie Bullrich abzuwarten?