Inspektor Mouse und die Baldrianhöhle (Inspektor Mouse, Bd. 2) - Caroline Ronnefeldt - E-Book

Inspektor Mouse und die Baldrianhöhle (Inspektor Mouse, Bd. 2) E-Book

Caroline Ronnefeldt

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Beschreibung

Scharfkrallig und scharfsinnig: ein hochspannender All-Age-Katzenkrimi Nicht lange nachdem in der Hafenstadt Kratzburg hochriskantes Rauschgift auftaucht, gibt es die ersten Toten: Zwei junge Katzen aus den oberen Kreisen ertrinken im Baldrianrausch; zwei Überlebende werden mit kompromittierenden Fotos erpresst. Erneut kommt es dem so lässigen wie scharfsinnigen Inspektor Mouse bei seinen Ermittlungen zugute, dass er sich in verruchten Spelunken ebenso souverän zu behaupten weiß wie in herrschaftlichen Villen – denn noch ist völlig offen, wer alles in die schmutzigen Drogengeschäfte verwickelt ist. Ein packender Ausflug in die Unterwelt, von Wortkünstlerin Caroline Ronnefeldt atmosphärisch dicht erzählt "Zu den großen Qualitäten der Schriftstellerin Caroline Ronnefeldt zählt ihre Fähigkeit, sich und uns Leser immer wieder zu überraschen. Das gelingt ihr auch mit 'Inspektor Mouse' – ein tierisches Vergnügen." – Denis Scheck

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Seitenzahl: 610

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Scharfkrallig und scharfsinnig: ein hochspannender All-Age-Katzenkrimi

Nicht lange nachdem in der Hafenstadt Kratzburg hochriskantes Rauschgift auftaucht, gibt es die ersten Toten: Zwei junge Katzen aus den oberen Kreisen ertrinken im Baldrianrausch; zwei Überlebende werden mit kompromittierenden Fotos erpresst. Erneut kommt es dem so lässigen wie scharfsinnigen Inspektor Mouse bei seinen Ermittlungen zugute, dass er sich in verruchten Spelunken ebenso souverän zu behaupten weiß wie in herrschaftlichen Villen – denn noch ist völlig offen, wer alles in die schmutzigen Drogengeschäfte verwickelt ist.

Ein packender Ausflug in die Unterwelt, von Wortkünstlerin Caroline Ronnefeldt atmosphärisch dicht erzählt

Für Ulla Samtpfotige Lesestunden am Ofen

Köstlicher Balsam

Träuft aus deiner Hand

Aus dem Bündel Mohn

In süßer Trunkenheit

Entfaltest du die schweren Flügel des Gemüths.

Und schenkst uns Freuden

Dunkel und unaussprechlich

Novalis

»Hymnen an die Nacht« (um 1800)

Die Droge der Entrückung tat ihre Wirkung, die Schwere wurdeaufgehoben, und angenehme Vorstellungen, oft erotischer Art, erfüllten ihn. Darauf folgte die bleierne Müdigkeit und schließlichein narkotischer Schlaf. Der Kater kam nach dem Erwachen undmit ihm der unüberwindliche Wunsch nach der nächsten Pfeife.

Matthias Seefelder

»Opium. Eine Kulturgeschichte« (1987)

Inhalt

Dramatis Feles

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

Epilog

Dramatis Feles

DIE KRATZBURGER KRIMINALPOLIZEI:

Inspektor Selwyn Mouse, ein gut aussehender Thai-Siamkater mit tiefblauen Augen

Polizeipräsident Ignatius Puschel, ein cremefarbener Heilige-Birma-Kater, Spitzname »der Heilige Bimbam«

Katinka Fellreich, seine Sekretärin, eine Ragdoll

Kriminalrat Cornelius Katerfreund, ein älterer Kartäuserkater

Oberinspektor Grobian Murr, ein fetter, schwarz-weißer Hauskater mit asymmetrischer Blesse und abgeknicktem rechten Ohr

Sergeant Jerry Fischgrät, ein junger rostfarbener Tigerkater

Dr. Karl Vogelfang, genannt »der rote Charlie«, ein roter Tigerkater, Leiter der KTU

Professor Lorenz Forens, Chef der Gerichtsmedizin, schneeweißer Norwegischer Waldkater

Hauptwachtmeister Silvester Stumpfkralle, ein schwarz-weißer Kater

Polizist Toby Pratze, ein grauer Tigerkater von imposanter Größe mit weißem Latz

Polizist Kasimir Bart, ein wortkarger Schildpattkater

Major Kaspian Anmaunzer, ein hellbrauner Abessinierkater, als Sonderermittler mit speziellen Kompetenzen dem Kratzburger Dezernat aus der Hauptstadt zugeteilt

IM KRATZBURGER HAFEN UND ST. KRAULI

Die Katerschaft der Flotten Lotte, ein Trawler und Schmugglerkahn mit Liegeplatz in der Kratzburger Speicherstadt:

Kapitän Tom Kattjes, ein hagerer schwarz-weißer Kater

Stubbs, sein Maat, ein hellbraun getigerter Kittisch Kurzhaar

Der alte Flint, ein knorriger mausgrauer Devon Rex, Matrose auf der Flotten Lotte

Der einäugige Matrose Tabby de Löw, ein riesenhafter, schwarz-grau gestromter Maine Coon

Ein namenloser rostroter Steuerkater

Minna Plüsch, eine bitterarme Peterbaldkatze und Stadtschleicherin.

Somit gehört sie zu den Obdachlosen, die verächtlich »Flohkatis« genannt werden

Molly Mal-Ohne, eine Manx-Katze mit feurigem Fell, Besitzerin eines Stundenhotels an der Kratzburger Rodelbahn

Kalle Knirsch, Maine Coon-Mischling und Türsteher im Abrakadabra, angesagter Nachtclub an den St. Krauli Landungsbrücken

Die beiden Patres der alten Seekater-Kapelle St. Petri, Pater Anselmus, ein dunkelbrauner Havana, und Pater Cosimo, ein elfenbeinfarbener Balinese, ehemalige Miezionare in Fernost

Ming, ein alter Mandarinkater, ehemaliger Kohlentrimmer, nun Inhaber einer katzinesischen Garküche auf dem Kiez

Ismael, ein Schmuggler im langen Mantel, mit fahlen Augen und einer unheimlichen Stimme

DIE FEINE KRATZBURGER GESELLSCHAFT

Der Kratzburger Teehändler Hieronymus Sommerfell, ein vornehmer Kartäuserkater

seine Frau Antoinette Sommerfell, eine vornehme Kartäuserkatze

ihr Sohn Dorian Elias Sommerfell

ihre Tochter Laetitia Sommerfell

deren Verlobter Maxim Spielball, ein wolländischer Siamkater,

Gast bei den Sommerfells

Dr. Lionel Chatlaton, ein Albino, Psychologe und Modearzt der feinen Gesellschaft mit suggestiv feuerrotem Blick,

Ceres Chatlaton, seine Tochter, eine wunderschöne Türkische Angorakatze mit einem zweifarbigen Augenpaar

Olga Kattgutt, eine prussischblaue Katze, Chatlatons Haushälterin

Cleo, eine Ägyptische Mau und Dienstmädchen im Hause Chatlaton

Aglaia Katzer-Schlupf, mondäne Kratzburger Schönheit, eine silberfarbene Burmilla und aktuelle Freundin von Inspektor Mouse

DIE JOURNALISTEN

Theobald Tiger, Journalist aus der Hauptstadt, nun stellvertretender Chefredakteur der Kratzburger Chronik, schwarzer Kater mit hüpfendem weißem Stirnfleck und listigem Blick

Greta »Gretchen« Schnurrdoch, eine junge blau-weiße Katze mit hinreißender rosa Nase, angehende Journalistin, begabte Pfotographin und Tochter des Verlegers Rupert Schnurrdoch

sowie

ihr Bruder Nathan Schnurrdoch, reicher Müßiggänger auf Abwegen

Krankenschwester Millicent, eine junge schwarz-silberne Abessinierkatze

Mats Schnapp, ein Liftboy und cremefarbener Kittisch Kurzhaar

Gustav Zehetbüschel, Pförtner des Pressehauses, ein hellbeiger Kittisch Kurzhaarkater

und seine Kollegin an der Rezeption, eine attraktive Perserkatze im rattenscharfen Kostüm

Sixtus Flehmen, ein grau getigerter Hauskater, Beamter im Hafenamt

1. Kapitel

Mit einem spröden Knarren gab der Sargdeckel endlich nach und rutschte zur Seite. Die drei Gestalten, die sich seit einer Viertelstunde fluchend an der morbiden Truhe zu schaffen gemacht hatten, wichen zurück. Eiche massiv landete krachend auf den Lärchenplanken des Stauraums unter dem Achterdeck. Dem Katerkerl mit der Brechstange fiel das grobe Werkzeug vor Schreck aus den Pfoten. Es folgte ein scheppernder Schlussakkord, als es über den Boden schlitterte und in einer Ecke liegen blieb. Für einen kurzen Moment fror die düstere Szene fast ein, wären da nicht das Wanken des Trawlers gewesen und die im Rhythmus des Wellengangs schaukelnde Schiffslaterne an einem Haken unter der niedrigen Decke.

»Hölle und Seeteufel!«, entfuhr es dem hageren Schwarz-Weißen mit der speckigen Kapitänsmütze. Um Fassung ringend, riss er sich den zerkauten Zigarrenstummel aus der Schnauze.

Neben ihm schlug sein kittisch kurzhaariger Maat ein hastiges Kreuz. »Heiliger St. Katzetan«, wandte sich der hellbraun Getigerte keuchend an eine höhere Instanz als der Schiffsführer. »Kannze nich aufpassen, Tabby?«, fuhr er den vierschrötigen Matrosen auf der anderen Sargseite an. »Um ein Katzenhaar wär uns datt fette Teil auffe Flossen gedonnert un die danach platt wie ’ne Flunder gewesen.«

»Knapp daneben is auch vorbei un diese Sardinenbüchse nu offen wie datt Grab, in datse gehört«, knurrte der schwarz-grau gestromte Maine Coon, der den Sarg geknackt hatte. »Diesma kommt die Ware ja inner besonners aparten Verpackung daher! Ho, ho, ho, werd mich an des Totenkaters Kiste an Bord nich gewöhnen – da kann die verfluchte Tarnung noch so schlau sein, Käpt’n und Mr Stubbs.«

Er schenkte den beiden ein einäugiges Zwinkern. Die schwarze Augenklappe, die für gewöhnlich die leere Höhle in seinem Quadratschädel bedeckte, hatte er zwischen die schartigen Pelzohren geschoben. Sie hing dort wie das vom Winde verwehte Scheitelkäppchen eines Pfarrers. Doch war an Tabby de Löw nichts Beseeltes, nur geballte Kraft in einem muskulösen Körper mit plumpen Läufen und dicken Tatzen. Ein schmutzigweißer Latz sträubte sich auf breiter Brust aus dem Ausschnitt eines teerverschmierten Seekaterpullovers. Die Visage darüber wäre auch mit einem vollständigen Augenpaar bedrohlich gewesen. Dank nur einer grüngelben Murmel rechts der von narbigen Kratzern verunstalteten Nase hätte ihr Träger an Land in einer Geisterbahn anheuern können.

»Kanns datt Spitzendeckchen getz abziehen, de Löw.«

Der Käpt’n gab die Order scheinbar leichthin; umso mehr fiel auf, dass er vermied, den simplen Pfotengriff selbst auszuführen. Weder der Maine Coon noch der Maat rührten sich. Fünf Augen starrten auf die gesteppte, blassviolette Seide, die sich über das Sarginnere bauschte. Abergläubisch wie die meisten Seeleute sind, stellte jeder sich vor, dass darin wahrhaftig ein Toter läge und nicht die Konterbande, von der sie ein Quäntchen abzuzwacken gedachten. Und selbst ohne ein Requisit wie aus dem Gruselkabinett war der Eingriff diesmal gewagt, weil strengstens verboten, aber der Entschluss gefasst und keiner von ihnen ein Zitteraal; weder sie zu dritt hier unten noch der Steuerkater und ein zweiter Matrose oben an Deck.

Exakt zwölfeinhalb Seemeilen vor der Mündung der Albis hatten sie das wertvolle Stückgut kurz nach Mitternacht zollfrei umgeschlagen. Als kalbte ein Wal, war der Trawler anschließend aus dem riesigen Schatten der Miadora Duncan geglitten. Leise tuckernd hatte die Flotte Lotte von der rostigen, steil über ihr aufragenden Bordwand des Hochseefrachters losgemacht und trieb in den dichten Schwaden davon. Beide Schiffe würden den Kratzburger Hafen ansteuern: der dicke Pott in der Hauptrinne, das kleine Boot über verstohlene Umwege mit Zwischenstopp zum Löschen der Ladung.

Kapitän Tom Kattjes kannte jeden noch so schmalen Seitenarm der Albis. Vielerorts konnte die Lotte verschwinden, bevor sie in den stillen Stunden vor Sonnenaufgang wieder an ihrem Liegeplatz in der Speicherstadt festmachte, arglos und leer wie vor der Jungfernfahrt. In schönster Routine gelang das allerdings nur, wenn man sich listig wie der Klabauterkater seit Jahren darauf verstand, der Zollfahndung das Hecklicht zu zeigen.

Manchmal gingen diese sackrattigen Schnüffler in abgedunkelten Schnellbooten der Küstenwache auf Schmugglerjagd; trotzdem hielt sich ihre Fangquote in Grenzen. Verschiedenste Unternehmer investierten in kleinem oder großem Stil in den klandestinen Güterverkehr und sorgten von kurzer oder langer Pfote für einen reibungslosen Ablauf auf verschwiegenen Kanälen. Für die Polizei war schwer zu ermitteln, wer überall seine Krallen im Spiel hatte und die geschmierten Rädchen des florierenden Handels am Laufen hielt, seit Neuestem mit ausländischen Drogen. Denn viele sind käuflich, die auf der dünnen Linie zwischen legal und kriminell balancieren und von dort weitere Möglichkeiten ausloten. Gelegenheit macht in allen Kreisen Diebe, entsprechend abgestuft ist der Gewinn der ausführenden und einnehmenden Organe – von einer Pfotevoll Goldmäuse für die einfachen Transporteure bei Nacht und Nebel über sich steigernde Anteile cleverer Kaufleute unterschiedlichster Importwaren und Ehrbarkeit bis hinauf zu den mächtigen Reedern und internationalen Handelsgesellschaften mit ihren skrupellosen Agenten.

Kattjes und seine nur wenige Schwänze zählende Crew rangierten gewissermaßen in der Holzklasse der Absahner. Tagsüber transportierte die Flotte Lotte diverse Güter im Hafen, nachts ging sie flussabwärts bis vor die Küste auf einträglichere Fahrt. Dennoch riskierte man als bloßer Zulieferer der vor Ort nicht in Erscheinung tretenden Importeure jedes Mal an vorderster Front Kopf und Kragen. Damit bestand trotz leidlich angemessener Bezahlung ein Missverhältnis, das zur Entnahme eines gewissen ausgleichenden Anteils anregte. Solange sich der im üblichen Rahmen hielt, hatte im Kreislauf von Geben und Nehmen keiner etwas dagegen; zwei, drei Kisten alten Whiskers zum Schnabulieren und Vertickern auf eigene Rechnung, desgleichen ein paar Paletten orientalische Glimmstängel waren als Bakschisch geduldet.

Aber nun plante die Organisation, für die sie tätig waren, in den lukrativeren Genussmittel-Handel einzusteigen, Import aus Fernost.

Um was genau es sich bei dem Zeug handelte, war vorher nicht in Erfahrung zu bringen gewesen. Alles streng geheim, was das Interesse ungleich erhöhte und schließlich auf die Spitze trieb, als man Kattjes informierte, dass der Trawler auf hoher See vor der Zollgrenze einen Sarg in Empfang nehmen sollte. Wie sich herausstellte ein exotischer Reiche-Leute-Schrein mit breiten, ornamentierten Messingbeschlägen, den selbst ein übereifriger Ehrgeizling von der Polente nicht mal eben ohne richterliche Erlaubnis aufbrechen ließ, falls so ein mutmaßlicher Störenfried der Totenruhe den Inhalt in Zweifel stellte. Der Besatzung der Lotte war unter Androhung drakonischer Strafen klargemacht worden, dass sie diesmal die Pfoten von der Konterbande zu lassen hätte. Ihr Kapitän haftete dafür, dass der Sarg unversehrt an jene übergeben würde, die ihn in Kratzburg seinem Bestimmungsort zuführten. Die ungewöhnlichen Umstände verstärkten nur die Begehrlichkeiten. Demnach musste in der Totenkiste aus Jadeaugenland ein Vermögen gebunkert sein; in welch entwicklungsfähiger Darreichungsform auch immer.

Bei der neunschwänzigen Katze und den krummen Buckeln, auf denen sie tanzt, umso mehr verlangte die eigene Schmugglerehre, wenn nicht jahrhundertealtes Prisenrecht, sich wie gewohnt zu bedienen.

»Hasse Tang inne Ohren, Tabby? Die Decke sollste wechziehn, hat der Käpt’n schonn vor ’ner Weile gesacht«, unterbrach der Maat die auf ihre Art andächtige Stille.

»Is mir nich entgangen«, knurrte der Maine Coon und trollte sich zuerst in die Ecke, um die Brechstange aufzuheben. Ein Pfotengriff, der nicht übertriebenem Ordnungssinn geschuldet war; was immer sich unter der katzinesischen Seide verbarg, jetzt fühlte er sich gerüstet. De Löws linke Pratze schnellte mit ausgefahrenen Krallen vor und zog die Steppdecke so heftig zurück, dass sie mit einem Wispern neben ihm zu Boden rutschte.

Es klang wie ein letzter Seufzer, gefolgt vom lauten Fauchen der drei Seekater. Mit gesträubtem Fell spritzten sie auseinander und drängten sich an die feuchten Wände, ohne die entsetzten Blicke von dem abwenden zu können, was sich ihnen in dem mit veilchenfarbener Seide ausgekleideten Sarg darbot. Trotz ihrer vorherigen Spökenkiekerei lag die kleine Leiche in dunklem Anzug und weißem Hemd mit Katermörderkragen darin so unvermutet wie Konfuzius’ Mumie auf einem Paradekissen.

»Leck mich anne Täsch«, stieß de Löw als Erster hervor. »Is ja echt einer drin. Datt bringt Unglück.«

»Woraufe einen lassen kanns, denn da gibs für uns nix zu holen«, ergänzte Stubbs mit pfotenfestem Sinn fürs Praktische. Der Expertise des abgebrühten Tigers schloss sich ein weiteres Schweigen an. Dann machte ihr Käpt’n einen beherzten Schritt nach vorn und damit all sein Zögern von vorhin wett.

»Tarnung, allet nur Tarnung«, murmelte sich Kattjes ins üppige Schnurrhaar. »Entweder liecht datt kostbare Zeuch in der feinen Kiste ’ne Etage tiefer oder et steckt in dem toten Kofferkuli.«

Er kniff die Augen zusammen und betrachtete den eingefallenen Körper so abschätzend, als wolle er gleich ein Messer oder umstandslos die Krallen wetzen. »Abgemagert bis auffe Knochen, war aber vorher schonn nich viel dran. Also is auch nich viel drin, aber watt drin is, dafür umso wertvoller«, verbreitete er sich sachverständig wie der Küchenchef über die Füllung eines minderwertigen Bratens.

»Gottkaterverdammt! Willse den etwa aufschlitzen, Tom!?«, erkundigte sich sein Maat schockiert. »Gehn wer getz etwa unter die Leichenfledderer? Ohne mich – am besten, wir nageln die fiese Büchse man gleich wieder zu, sons holn wer uns da noch watt wech. Pest, Cholera oder die Katzenseuche, durch irgenzwelche fremden Würmer und Leichenkäfer, die in sonnem Toten von auswärts herumkrabbeln.«

»Glaub ich nich, Stubbs«, entgegnete Kattjes. »Datt is einer von diesen süchtigen Pfeifenheinis aus Fernost, inwendig sin bei dem längs alle Keime ausgeräuchert. Ich sach ja, allet nur Tarnung, dafür musste der dünne Hering dran glauben. Irgend sonn armer Teufel, den se erst umme Ecke gebracht ham, dann innen Frack gesteckt und piekfein verstaut. Nich ohne die Grabbeigabe, für die der ganze Zirkus betrieben wurde. Irgendzwo in dem lila Plüsch oder dem, der druff liecht, is mehr als Kautabak versteckt. Also lasst uns getz nachsehn, wo die Kiste schonn offen is.«

Der Kittisch Kurzhaarige und der Maine Coon lösten sich von der Wand und kamen zögernd näher.

»Bissken dalli«, drängte Kattjes entnervt, als hätte er anfangs keine Bedenken gehabt. »Wir ham nich die ganze Nacht Zeit und sind bald am alten Jollenhafen. Wenn wer da anlegen und datt Dingen überreichen, darf nichen Stäubchen verraten, wower die Schnuppernasen reingesteckt und uns bedient ham.«

Ohne ein weiteres Wort nahm der schwarz-weiße Kater die über ihren Köpfen baumelnde Funzel vom Haken und ging damit dicht an den Sarg. Er sah nicht auf, als sich die beiden anderen links und rechts neben ihn stellten. Kattjes führte den Lichtschein vom Pfotenende langsam bis zum Kopf des aufgebahrten Mandarin. Der Tod hatte das typische Aussehen dieser Katzenart überzeichnet. Das keilförmige Gesicht mit den schrägen, geschlossenen Augen in ihren eingefallenen Höhlen wirkte wie die Maske eines fremdartigen Dämons mit Fledermausohren von grotesker Größe. Sein Fell war rotbraun, aber mittlerweile stumpf und schütter; an Wangenknochen und Nase drang ledrige Haut durch.

»Sieht wie der Mottenpelz meiner Ollen aus, wenn se sich aufbrezelt«, gab der Maat Auskunft über seine zweite Hälfte. »Zum Glück hattse mehr Speck auffe Rippen. Solln wer den getz ausziehen oder watt? Könnte bis zum Anlegen knapp werden.« Schnüffelnd verzog er die Nase. »Riecht auch mindesten so komisch wie Mottenkugeln – merkter datt nich?«

»Maul halten! Macht hinne und kuckt zuerst unters Kissen. Ich leuchte«, verlegte sich der Käpt’n auf klare Befehle.

De Löw hatte die ganze Zeit geschwiegen. Er stand links neben Kattjes; einäugig starrte er in den Sarg. Jetzt beugte er sich vor und steckte mit der zupackenden Behutsamkeit einer Krankenschwester, die sich anschickt, einen Patienten umzubetten, die breite Pfote unter das glänzende Kissen, auf dem der mumienhafte Kopf ruhte. Tabbys Rechte lag auf der schmächtigen, schwarzen Anzugsbrust, die darunter fast verschwand. Er setzte den Mandarin auf, dessen Totenstarre sich längst gelöst hatte – dennoch krachte es im Inneren des vertrockneten Körpers, als hätte ihn der Maine Coon mitten durchgebrochen.

Der ließ sich davon nicht beirren. Pietätlos, aber vorsichtig, hob er den Leichnam, dessen Gliedmaßen wie bei einer Marionette herumschlenkerten, aus dem eleganten Behältnis und legte ihn samt Kissen und seidiger Unterlage auf den Planken ab. Mit spitzer Kralle wies er in die leere Eichentruhe.

»Der Sarg hat ’nen doppelten Boden wie ’ne Zauberkiste für zersägte Varietémiezen«, stellte de Löw mit Kennermiene fest.

Aus der umlaufenden Nut zwischen den Seitenwänden und dem vermeintlichen Boden ragten in pfotenbreiten Abständen schmale, schwarze Satinschlaufen. Sie hätten zur Zierde da sein können. Einem professionell tieferen Verständnis folgend, gaben auch die beiden anderen ein befriedigtes Maunzen von sich. Zu dritt hoben sie die Abdeckung des Geheimfachs an den dafür vorgesehenen Laschen aus dem Sarg, dem ein überwältigender Wohlgeruch entströmte, sinnlich und enthemmend.

Es war die Kopfnote der olfaktorischen Reize, die auf sie eindrangen – wichtiger war die Basis und dies galt auch für den Sarg. Die Kater schnappten beduselt nach Luft.

»Rasch! Haltet euch watt vor die Nase! Nich einatmen!«, rief Kattjes geistesgegenwärtig.

Stubbs und de Löw ließen los. Der zweite Boden kam schräg auf der Öffnung zu liegen, fiel aber nicht herab, während sie sich ihre Halstücher über die Schnauzen zogen. Der Maat drehte sich um und löste mit einiger Anstrengung den Verschluss eines schmierigen Bullauges. Eine nasskalte Böe fand Einlass und klatschte ihnen um die Spitzohren, in die das Auf und Ab des lauten Wellenschlags drang. Nordischherbe Nachtluft kämpfte die lasziven Düfte aus Fernost so weit nieder, dass sie es wagten, den Deckel des Geheimfachs ein zweites Mal zu lüften. Die Schmuggler blickten auf etwa dreihundert dicht an dicht gepackte Bündel in der Größe eines gefalteten Taschentuchs. Das blasse Papier, das sie umschloss, war so dünn, dass das betörende Odeur des schweren Rauschgifts aus der zu jadegrünen Ziegeln gepressten Pflanzenmasse aufstieg.

»Heilige Katzenscheiße! Datt Zeuch is durchschlagend wien Boxhieb von Latz Schwerling«, äußerte sich Stubbs mit heiserem Flüstern. »Damit gehse für ’ne Weile k. o. oder die Lichter für immer aus!«

»Ay, da wird einem vonner winzigen Prise ganz mau. Erinnert an Baldrian, aber nich aus Muttis Küchengarten«, meinte Kattjes, die kritische Miene hinter einem meerblauen Fetzen mit verwaschenen Ankern verborgen. »Nää, datt is ’ne durchschlagend annere Sorte aus Übbersee, watt kraftvoll Großes. Da sin katzinesische Schriftzeichen auffem Papier. Wird den Markt aufmischen, woran unsere Wenichkeit beteilicht sein sollte.«

»Wer so watt einführt, is schlau und gerissen«, sagte de Löw mit düsterem Ernst. »Und wird merken, datt wer uns bedient ham.«

»Datt Risiko gehn wer ein, Tabby, alter Junge«, hielt der Kapitän scheinbar väterlich dagegen, dabei sprach aus ihm die reine Gier. »Wir genehmigen uns nur zwei, drei Pröbchen. So eng wie die gesteckt sind, fällt datt gar nich auf. Und wenn doch und der Schiet is abgezählt, schieben wer den Klau auf die Katznaillen, die uns bei den Jollen erwarten.«

Ohne noch lange zu fackeln, nestelte er an mehreren Stellen vier Päckchen aus dem Sarg und stopfte sie in die ausgebeulten Taschen seiner Marinejacke. Die schmalen Lücken, die in den Reihen entstanden waren, ließen sich mit Schieben und Drücken so bündig schließen, als wäre gar nichts geschehen. De Löw und Stubbs senkten den doppelten Boden auf Anhieb wieder passgenau herab; danach hob der Maine Coon den Leichnam in seinem veilchenfarbenen Bettzeug ganz ohne Scheu empor.

Der stumme Knabe hatte die ganze Zeit so stillgehalten, wie man es von einem wie ihm erwarten durfte. Ein wenig Kopfzerbrechen verursachte sein finales Arrangement. Waren die vertrockneten Pfoten über oder unter der Steppdecke gewesen?

›Verdammich, komplett darunner‹, fiel es de Löw wieder ein, als er sich grübelnd zwischen den Ohren kratzte. ›Klar wie Fischbrühe: war doch anfangs von Haut und Knochen nix zu sehn gewesen.‹

Ein hoffentlich letztes Mal beugte er sich über den Toten. Dabei fiel ihm der für Mandarinkatzen charakteristische Federschwanz auf, der zwischen den schwarzen Hosenbeinen hervorsah, im traurigen Zustand eines nassen Pfeifenreinigers.

»Mach hinne, de Löw. Im Grunde schittegal, wie der unner dem lila Leichentuch lag. Kann auf sonner Übberfahrt vom Seegang verrutscht sein«, maunzte Stubbs. Die sich ändernden Bewegungen des Trawlers zeigten ihm an, dass die Lotte in den Zubringer zum alten Jollenhafen eingelaufen war.

Der Matrose warf dem Maat einen abschätzigen Blick zu. Mit aufreizender Gelassenheit hob de Löw den schweren Sargdeckel am oberen Ende an und wartete schweigend, ob sich einer der ranghöheren Pfriemkauer dazu entschließen würde, mitanzupacken.

Stubbs reagierte. Der hellbraune Tiger übernahm das untere Ende, während Kattjes in der Mitte dafür sorgte, dass die Verschlusssache glattging. Zuletzt suchten sie im Licht der Laterne nach Spuren, wo de Löw die Brechstange angesetzt hatte. Zwar mit der gebotenen Sorgfalt, doch bei genauem Hinsehen gab es an den Messingleisten einige verdächtige Dellen und Kratzer. Der Maine Coon bearbeitete sie mit dem Bootshammer, den er aus der Beintasche seiner Hose zog; wie ein Grobschmied dengelte er an verschiedenen Abschnitten der Beschläge herum. Danach war die schadhafte Stelle, an der er die kostbare Auster geknackt hatte, nur noch eine unter vielen, die der Sarg genauso gut auf dem langen Transportweg davongetragen haben konnte.

Zu dritt hievten sie ihn über den Niedergang an Deck. Ein happiges Stück Arbeit, denn unwillkürlich achteten sie darauf, den Trumm in der Waagerechten zu halten, jetzt, da sie wussten, was er enthielt.

Draußen herrschte Nebeltreiben, von ganz nah war zu hören, wie sich die Wellen an einem Anleger brachen. Der Steuermann drehte bei, als das verabredete Lichtsignal aus der dicken Suppe aufblinkte.

An die Reling gelehnt, decodierte Kattjes mit halblauter Stimme. »Zweimal kurz, dreimal kurz, langlang, kurzlang, kurz, kurz lang kurzkurz«, hörten die anderen und lasen mit, als die Zeichenfolge matt wie fernes Kanonenfeuer erneut durch den Dunst drang. Wer als Schmuggler etwas auf sich hielt, kannte das Morsealphabet.

»Ismael. Parole stimmt«, stellte der Käpt’n zufrieden fest. »Gib ›verstanden‹ durch, Flint.«

Der Angesprochene war der zweite Matrose, ein wind- und wettergegerbter Devon Rex, krumm wie ein Bootshaken und zäh wie ein Tampen. Sein einst sanft gewelltes, mausgraues Fell wirkte im Herbst seines harten Lebens aufgewühlter als die stürmische See. Der knorrige Alte hob eine Signallampe mit angerostetem Gehäuse und antwortete wie befohlen mit dreimal kurz, einmal lang, noch mal kurz.

Kattjes winkte ohne sich umzudrehen zur abgedunkelten Führerkanzel hinauf, in der ein untersetzter rostroter Kater am Steuerrad stand und den Trawler backbord längs brachte. Als risse mit dem Manöver ein Vorhang, entwuchsen dem Ufernebel amorphe Schattengebilde. Ein Anlegesteg, links und rechts daneben noch andere, an denen ein paar kleine Segler festgemacht hatten. Boote, deren Besitzer weder Geld noch Lust hatten, vom alten Jollenhafen in den neuen, direkt an der Albis gelegenen Jachtclub überzuwechseln. Die Zahl der Nutzer des früheren Liegeorts hatte sich ausgedünnt, die hinterlassenen Lücken wurden von einer anderen Klientel aufgefüllt, die an dem tagsüber verschlafenen, bald leicht heruntergekommenen Hafen vornehmlich des Nachts ab- und anlegte. Darüber waren auch die eifrigen Ordnungshüter unterrichtet, die sich hier auf die Lauer legten und mit gelegentlichen Zugriffen einen gewissen Erfolg verbuchen konnten. Dennoch mussten die Kosten zum Abstellen einer ständigen Wache zu hoch sein, um diesen Umschlagplatz für heiße Ware ein für alle Mal stillzulegen. Oder es lohnte sich aufgrund überlappender Interessen einfach mehr, ihn zu erhalten.

In verschiedenen Grauabstufungen schälten sich neue Formen aus der Dunkelheit, mit weichgezeichneten Konturen. Die flachen Quader der Hafenbaracke, davor die kompakte, schwarze Masse eines Lasters mit hoher Plane über der Ladefläche und abgeblendeten Scheinwerfern. Zuvorderst auf dem Anleger die Silhouetten mehrerer Gestalten. Sie bewegten sich nicht, vom jeweiligen Standort an Land oder an Bord starrte man sich aufmerksam entgegen.

»Bin gespannt, welche Truppe uns da erwartet«, knurrte de Löw. »Diesma wohl kaum der rollende Eddy un seine Leute. Hab watt läuten hörn, datt der in seinem Fahrgeschäft zwei, drei Umbesetzungen vornehmen musste und datt nich ganz freiwillich.«

»Heidewitzka, Herr Kapitän«, sagte daraufhin Kattjes wie zu sich selbst. »Wer ausgemustert wurde, is bis getz nich mehr aufgetaucht. Unzuverlässige Typen, auf die Eddy verzichten kann. Vielleicht weil se vorher mit besoffenem Kopp zu gesprächich warn.«

»Oder sich wie wir an watt Verbotenem bedient ham«, schnarrte neben ihm der Maat mit einer Stimme, die eine gewisse Verunsicherung verriet.

Der Sarg, der hinter ihnen an Deck stand und in wenigen Minuten an Land getragen würde, senkte sich wie ein bleischwerer Vorwurf auf ihre Gewissen.

»Ein für alle Mal Schnauze, Stubbs, un datt gilt für alle«, fauchte Kattjes noch. Dann schnitt ihm das letzte Aufdröhnen des gedrosselten Motors das Wort ab; dumpf schubberte der Rumpf des Trawlers an den Anleger. Ein Haltetau in den verhornten Pfoten sprang Flint geschmeidig wie ein Junger über die Reling und machte die Lotte an einem Poller fest. Die in nächster Nähe aufgereihten Schattenkater würdigte er keines Blickes.

»Parole?«, rief Kattjes sie an, wie es ausgemacht war.

Einer trat vor, ein großer Kerl in einem schweren Mantel mit hochgeklapptem Kragen.

»Nennt mich Ismael«, zischten drei Worte durch die klammfeuchte Luft, durchdringend wie ein Peitschenschlag. Von der gemischten Geräuschkulisse aus Wellen, Wind, dem Knarren von Holz und Hanf trennte es die Anwesenden so sauber ab, als wären sie ab jetzt unter Wasser in einem Vakuum, wo nichts anderes von Bedeutung sein würde außer dieser eisigen Stimme.

Ein Bann, aus dem der Käpt’n die Seinen blitzschnell wieder befreite.

»Un mich Quiekqueck«, trug Kattjes die zu erwidernde Losung vor, die er der respektlosen Katerschaft der Lotte wohlweislich verschwiegen hatte.

»Watt is?«, vernahm er ein ungläubiges Maunzen neben sich, das sofort unterdrückt wurde und in ein Gurgeln überging. Es hörte sich nach de Löw an, noch einer bekam einen Hustenanfall. Später waren sich alle einig, dass ihr Käpt’n plötzlich laut gequiekt hatte, wie ’ne Maus, die man am Schwanz aussem Loch zieht.

Der hochgewachsene Kater im Mantel ließ sich nichts anmerken, außer dass er mit dem, was er gehört hatte, offensichtlich zufrieden war. Lautlos trat er beiseite, wurde wieder zu einem scheinbar unbeteiligten Schatten. Damit ließ er die vor, die den Sarg nun von der Besatzung in Empfang nahmen, um ihn zu sechst über den Anleger zu dem vor der Baracke wartenden Laster zu tragen.

Eigentlich hatte de Löw sich vorgenommen, einen von denen zu fragen, wohin sie des Totenkaters Kiste verfrachten würden. Bloß eine beiläufige Erkundigung von einem ungenügend bezahlten Pfotenlanger zum anderen, also quasi unter Brüdern. Beim Anblick der Kerle aus nächster Nähe verging ihm die Lust dazu. Höchstwahrscheinlich hätten sie sich eh nicht verstanden: dem Aussehen nach wohl samt und sonners aus Übbersee. Dabei echte Kanten wie er selbst, aber abweisend schweigsam und mit so finsteren, bierernsten Fressen, als gehörten sie einer geheimeren Verbindung als einem Schmugglerring an, mit dem Kerl, der sich Ismael nennen ließ, als leitendem Strippenzieher.

Sein einziges Auge trog den großen Maine Coon nur selten, hinzu kam die Erfahrung eines bis vor gar nicht langer Zeit die Weltmeere auf allen möglichen Schiffen befahrenden Seekaters.

Als sich die in nachtschwarze Klamotten gewandeten Burschen den Sarg auf die Schultern stemmten, war de Löw das kurze Aufblitzen von messerscharfen Krallen nicht entgangen. Sie hakten sich im Eichenholz fest wie der Eispickel im Fels. Jede Wette, dass mit solchen Dingern bestückte Kratzepfötchen eine stahlharte Maniküre und besonderen Schliff benötigten, denn diese Krallen waren aus Metall und eine tödliche Waffe, das einstige Erkennungszeichen der berüchtigten Schlitzerbande, bis den Kratzburger Ordnungskräften im letzten Frühling deren Zerschlagung glückte. Von den entkommenen Bandenmitgliedern nahm man an, dass sie sich in alle Winde zerstreut hatten. Aber vielleicht hatten diese Winde nicht kräftig genug geblasen, dachte an Bord der Lotte nicht nur der einäugige Matrose, denn die funkelnden Krallen waren allen aufgefallen.

Bevor sich die düstere Prozession in Bewegung setzte, hatte Ismael mit der kalten Stimme dem Käpt’n ein Bündel Scheine in die Pfote gedrückt, Transfer- und Schweigegeld. Dabei sah Kattjes das Aufflackern eines fahlen Augenpaars, das ihn ängstigte. Der Kerl hatte sich schon abgewandt; sein Gesicht blieb in Dunkelheit und Schatten verborgen. Kurz danach verschwanden Sarg und Träger unter der Plane der Ladefläche. Ismael stieg neben dem wartenden Fahrer ins Führerhaus. Aus der Tiefe des Getriebes gab der Laster ein trübseliges Schnaufen von sich und fuhr ruckelnd an. Weil die Straße vom Jollenhafen stadteinwärts anstieg, waren die roten Rücklichter zu sehen, bis sie der Nebel verschluckte.

»Wo se die feiste Trickkiste wohl hinbringen?«, schickte Stubbs dem leiser werdenden Geknatter des Diesels hinterher. Erleichtert, dass der Spuk vorbei war, zog nicht nur der Maat an einer entspannenden Zichte.

Alle rauchten, als über ihnen der Himmel aufriss und einen wässrigen Mond zum Vorschein brachte. Sein geisterhaftes Licht machte die den Hang hinaufwachsenden Schichten des alten Hafenviertels St. Krauli sichtbar, ein gemauerter Wirrwarr aus Dächern, Firsten, Giebeln und Schornsteinen, aus dem ganz oben, der gedrungene Bau der Seekaterkapelle St. Petri herausragte. Düster und Ehrfurcht gebietend das kurze Hauptschiff mit Glockenturm, ein auf zackiger Klippe gestrandeter Pottwal, stumpfnasig und mit erhobenem Schwanz.

Der krumme Flint machte mit seinem glühenden Glimmstängel eine aufstrebende Geste. »Ich sach euch, der Sarch geht nach da oben«, maunzte er leise und jeder verstand, was er meinte. »Is ’ne Stätte von sonderbarer Heilichkeit, wie wer alle wissen. Also könnte datt schonn passen.«

»Tarnung, allet nur Tarnung«, stellte Käpt’n Kattjes in dieser Nacht nicht zum ersten Mal fest. Dabei brannten ihm vier dünne Päckchen durch die Innentasche seiner Joppe ein Loch ins Hemd – in Herzhöhe. »Leinen wieder los. Kucken wer, datt wer Land gewinnen«, wandte er sich knurrend von der Reling ab.

De Löws einäugiger Blick hing noch am markanten Schattenriss von St. Petri, während er über die Worte des Devon Rex nachgrübelte. Durch den Trawler ging ein Ruck, als der Motor ansprang. Mit schäumender Bugwelle kam die Lotte vom Anleger frei, bereit zu wenden und Fahrt aufzunehmen. Der Maine Coon schnippte seine Kippe ins Wasser. Mechanisch wischte er sich mit der Pfote über den Kopf, um die Augenklappe über die leere Höhle zu schieben, was er bis jetzt vergessen hatte. Doch seine Krallen fanden nichts. Sie war nicht mehr da, als sich de Löw, plötzlich hektisch geworden, suchend über das Fell strich. Argwöhnisch sah er sich nach den anderen um. Keiner schien seine Verwirrung zu beachten.

De Löws kaltes Seekaterblut kam in Wallung. Ein hohles Gefühl saß ihm in der Kehle und drückte auf seinen Magen. Er rief sich ins Gedächtnis, wie er sich über den offenen Sarg gebeugt hatte, versuchte jeden Moment zu rekapitulieren. Einmal hatte er sich zwischen den Ohren gekratzt, überkam es ihn mit unerbittlicher Deutlichkeit.

Mast- und Schotbruch, wollten es der Seeteufel und seine heulenden Höllenhunde, dass die Augenklappe des Schmugglers Tabby de Löw nun auf seidenen Kissen neben dem toten Pfeifenheini lag – als unübersehbarer Hinweis?!

2. Kapitel

Eine Woche und zwei Nächte später drückte sich Minna Plüsch, eine verhärmte Peterbaldkatze, an der Rückwand der St. Krauli Landungsbrücken entlang. Da sie, einer seltenen Rasse zugehörig, nur ockerfarbenen Flaum auf dem nackten Körper trug, darüber ein fadenscheiniges Kleid und einen dünnen, mehrfach geflickten Sommermantel, spürte sie die raue Oberfläche der Mauersteine wie ein Reibeisen auf der empfindlichen Haut. Stärker kratzten sie an ihrer zarten Seele, die sie sich trotz aller Zumutungen eines entbehrungsreichen Lebens irgendwie bewahrt hatte. Im tiefsten Inneren der früheren Ausdruckstänzerin, späteren Straßenmieze und schließlichen Stadtschleicherin gab es ein unter zähen Schichten verkapseltes Restchen Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Ob die jemals anbrechen würde, war fraglich. Ginge es wie in den letzten Jahren weiter bergab, wäre kein herbeifantasierter Neuanfang, sondern vermutlich das Ende nah. Mitunter fühlte sie sich so erschöpft, dass sie das geradezu herbeisehnte. Vor allem jetzt, in kalten Novembernächten, wenn Minna, als sei noch Sommer, statt einem eigenen Bett in einer halbwegs warmen Kammer die zugigen Plätze am Hafen aufsuchte, an denen obdachlosen Streunern das Übernachten unter freiem Himmel gestattet war. Sammelstellen des Elends, wo bettelarme Kreaturen Rücken an Rücken lagen, um sich aneinander ein wenig zu wärmen. Stattdessen holten sie sich einen Haufen neuer Flöhe oder gleich den Katzenschnupfen.

Kein Wunder, dass viele dieser gestrandeten Existenzen den Beistand geistiger Helfer suchten, aber nicht Gottkaters und seiner auf beiden Ohren stocktauben Heiligen. Nein, ein paar Stunden Erleichterung brachten billiger Fusel, noch mehr jene abgründigen Stoffe, auf deren dunklen Flügeln man ins komplette Vergessen rauschte und der Wirklichkeit für eine Weile entrann. Nichts war danach besser, sondern umso schlimmer, denn wer diesem Verlocken nachgab, musste, koste es, was es wolle, immer wieder in die nebulösen Gefilde der Entrücktheit einkehren und am Ende auf ewig bleiben.

Minna hatte sich diese riskante Zuflucht stets versagt. Als sie beruflich in verschiedenen Posen und Positionen tätig war, herrschte an Gelegenheiten sich zu bedröhnen kein Mangel. Für die Tänzerinnen in den Clubs auf der Rodelbahn gehörten Drinks mit der schlabbermäuligen Kundschaft nach der Bühnennummer zum Geschäft. Auf dem absteigenden Ast ihrer Karriere tranken sich Bordsteinschwalben und Freier in billigen Animiezbars und noch billigeren Stundenhotels vor der Nummer Lockerheit an. Minna bevorzugte einen klaren Kopf und ebensolchen Blick, selbst als im Laufe der Jahre immer abstoßender wurde, was sie zu Gesicht bekam. Umso mehr sollten ihre geheimen Träume einem halbwegs gesunden Hirn entspringen und sich nicht in Suff oder Rauch auflösen.

Als sie zum Anschaffen nicht mehr jung genug war, verarmte die Peterbaldkatze in Windeseile. Sie konnte die Miete der dürftigen Wohnung im heruntergekommenen Musikantenviertel nicht mehr aufbringen. Eine Weile trieb sie sich noch auf ihrem früheren Kiez herum, um anzubetteln, wen sie dort kannte – Katzen wie sie, denen über kurz oder lang ein ähnliches Schicksal drohte. Der Wahrheit sieht niemand gern zu früh in die traurigen Augen, also wurde Minna von ihren einstigen Kolleginnen Bescheid gestoßen, sich aus dem alten Revier zu verpfeifen, eine Pennerin wie sie sei schlecht fürs Geschäft. Seitdem lebte sie auf der Straße, von der Pfote ins Maul und den Armenspeisungen der Kirche und weltlicher Wohltätigkeitsvereine. Sechs lange Jahre der Erbärmlichkeit, bei Wind und Wetter in den unwirtlichsten Gegenden der Stadt. Und die Gosse hielt immer neue Zumutungen bereit.

Vor drei Tagen war es in der Nähe des Katzensandtorkais, an einem frequentierten Lagerplatz der Flohkatis, wie die Ärmsten der Armen verächtlich genannt wurden, zu einem Zwischenfall gekommen, der Minna die notgemeinschaftlichen Schlafstätten fürs Erste verleidete. Etwa zwei Dutzend Obdachlose hatten in der bewussten Nacht unter einem Wellblechdach an der Wand eines Speichers mangelhaften Schutz vor dem Regen gefunden, der sich seit dem Abend auf Kratzburg ergoss. Minna suchte sich ein feuchtes Plätzchen am äußersten Ring der Schläfer. Auch von hier aus hörte sie das Schnarchen und Stöhnen verlotterter Träumer. Sie roch die Branntweinfahnen und den Hauch eines anderen Geruchs. Vielleicht eine Duftspur der exotischen Waren, die in den Speichern lagerten. Die Peterbald schnupperte das fremde Odeur, für ein paar Atemzüge dominanter als die übrigen Ausdünstungen und die herbe Note der Katzenpisse. Dann war es verschwunden.

Nachdem sie die alte Wachsdecke, ihr Küchentischtuch aus besseren Tagen, zum Schutz gegen die Nässe auf dem Pflaster ausgebreitet hatte, rollte sie sich darauf in einer löchrigen Wolldecke ein. Minna zog sie bis über die Ohren und hoffte, dass sie schlafen konnte.

Ihre Nachtruhe hatte zehn Minuten gedauert, als es in der Mitte des Lagers zu einem Tumult kam. Zwei der Liegenden begannen, sich auf der Stelle zu wälzen. Die Pfoten in der Luft, rollten sie laut keuchend hin und her und rieben die Köpfe an der harten Erde. Sie hielten die Nasen hoch, während sich ihre Mundwinkel wie von einer kaum zu verkraftenden Witterung verzerrten. In den halb geöffneten Mäulern fehlte so mancher Zahn. Zwei Vogelscheuchen undefinierbaren Alters, ein abgemagerter, schwarzer Kater und eine Glückskatze mit räudigem Fell, denen zu große Lumpen um ihre dürren Gliedmaßen schlotterten. Halb in Trance erhoben sie sich an diesem bitteren Ort zu einem schrillen Pas de deux, mit spitzen Begeisterungsschreien nahmen sie erst jetzt einander wahr.

Rundum erhob sich wütendes Knurren und Fauchen, die anderen wachten nach und nach auf. Als sie begriffen, was mitten unter ihnen abging, quittierten sie das mit derbem Spott: Rubbel die Katz, aber auch den Kater! Ja, ham wer denn schonn Mai? Lecko mio und die Muschi! Mit watt für ’nem notgeilen Tigerbalsam ham die sich denn eingerieben?

In wilder Ekstase ging das Paar im Clinch wieder zu Boden und nach dem irren Vorspiel wohl richtig zur Sache. Von Gejohle begleitet, versanken die beiden Wracks in ihrer obszönen Nummer und dem sie umringenden Gedränge der lüsternen Zuschauer.

Beim Barte des Proleten! Minna hatte mehr als genug gesehen. Dieses Drecksleben mit seinen ekelhaften Varianten kotzte sie an: Das gerade weckte übelste Erinnerungen an ihr früheres Gewerbe. Sie raffte die wenigen Habseligkeiten zusammen und machte, dass sie fortkam, bevor noch andere auf so verstörende Weise durchdrehten.

In der nächsten und übernächsten Nacht hatte sie sich an einsamen Ecken herumgetrieben, aber kaum Schlaf gefunden. Sobald sie die Augen schloss, fühlte sie sich allen möglichen Gefahren wehrlos ausgeliefert. Die Suche nach sicherer Abgeschiedenheit hatte die Peterbald zuletzt zu den St. Krauli Landungsbrücken geführt, einer Anfang des Jahrhunderts errichteten Anlegestelle. Fröstelnd hoffte sie, hier irgendwo ein windgeschütztes Versteck zu finden, wo sie sich einrollen konnte. Sie zog den zerschlissenen Mantelkragen vor der spärlich behaarten Brust zusammen und sah sich prüfend um.

Eine halbe Stunde nach Mitternacht, las Minna von der Uhr des angestrahlten Pegelturms, der dem modernistischen Gebäudekomplex vorstand. Links gluckste die Albis gegen den Kai, es klang wie ein Kater mit Schluckauf. Auf dem nachtschwarzen Wasser schaukelten die zu dieser vorgerückten Stunde zu mausetoter Ruhe gekommenen Touristenbarkassen. Sie machten unter den Gangways fest, die das Hafenbecken bis zu einem dreihundert Meter langen Ponton überbrückten, an dem die riesigen Überseeliner an- und ablegten. Acht bewegliche Stege fixierten und verbanden den schwimmenden Anleger mit dem am Ufer hoch aufragenden Abfertigungsgebäude für die Passagiere, an dessen Rückseite Minna aktuell entlangschlich. Traditionell auf Sparsamkeit bedachte Stadtväter hatten an dieser prominenten Stelle nicht gekleckert, sondern geklotzt und Kratzburg dank der technischen und architektonischen Erneuerung der Landungsbrücken ein modernes Wahrzeichen geschenkt.

Der Terminal maskierte seine Zweckmäßigkeit mit der Anmutung einer monumentalen Filmkulisse, stilistisch unentschieden zwischen futuristischer Wallanlage und altägyptischem Tempel. Bekrönt von einem oxidierten Kupferdach mit zwei Kuppeln, barg sein Inneres neben einer Abfertigungshalle in reinstem Art déco das bekannte Fischrestaurant Au Revoir, inhabergeführt von Carl-Moustache Katzer-Schlupf, einem Kratzburger Gastronom der Spitzenklasse, dem auch das mondäne Hotel Miezopol in der City gehörte.

Nach der in der Beletage servierten maritimen Nouvelle Cuisine wechselten abgehobene Nachtschwärmer ins Parterre, wo sich das Abrakadabra – 3x schwarzer Kater befand, der angesagt verruchte Nachtclub der Drillingsbrüder Katzarian. An der Fassade des Terminals prangte die namensgebende Zauberformel in grellweißer Leuchtschrift vor drei spitzohrigen Silhouetten, deren Augen rot blinkten – so als könnte sich Kratzburg atmosphärisch nicht zwischen Schoßallee und Rodelbahn entscheiden, oder hätte beider gegensätzliches Ambiente schon immer miteinander vermischt.

Aktuell glitten ein paar Akkorde eines beliebten Songs aus dem Musical The Cat and the Fiddle in die feuchte Nachtluft. Plingpling, plongplong, trieben sie aus den Oberlichtern des Abrakadabra als magische Tonspuren in die Stille über der Albis und stadteinwärts in jenes Rauschen, was gleich der Tanzmusik anzeigte, dass die große Miezopole niemals völlig zur Ruhe kam. Während vor dem Terminal die Nobelkutschen der Clubgäste parkten und Aufbrechende ohne fahrbaren Untersatz oder mit zu viel Umdrehungen im Blut von mehreren Taxis erwartet wurden, wirkte der Kai mit den überdachten Zubringern wie ausgestorben. An dessen äußerstes Ende zog es Minna.

Vor vier Tagen hatte hier unter großem Hallo die Bouchiq abgelegt, mit Kurs auf New York. In der nächsten Woche wurde die Miez Royal aus Mousehampton erwartet, dazwischen war auf der Startrampe zur großen weiten Welt außer dem üblichen Touristenrummel vergleichsweise wenig los.

Um auf den Ponton zu gelangen, musste Minna eine der katerhohen Gitterschranken überwinden, mit denen die Gangways nach Fahrbetriebsschluss verschlossen wurden, für eine wendig gebliebene Ausdruckstänzerin kein ernsthaftes Hindernis. Die Peterbaldkatze spähte über das von wenigen Gaslaternen beleuchtete Terrain. Vorsichtig kam sie aus der Deckung, die nur aus der Finsternis am Fuß der Gebäuderückseite bestand. Als lautlos huschender Schatten passierte Minna einen vergitterten Durchgang nach dem anderen, dazwischen schützte das ihr bis zur Taille reichende Geländer vor einem Sturz ins Hafenbecken. Der in Dunkelheit und Dunst schwimmende Ponton mit seinen von hier aus uneinsichtigen Winkeln und einladenden Bänken erschien ihr wie die rettende Trutzburg hinter dem Wassergraben. Dort wollte sie ausruhen, bis sie lange vor dem Auftauchen des ersten Personals wieder erwachen würde, mit genug Zeit, um sich abermals dünnezumachen.

Moderne Ziffern auf Emailschildern in wellenartig geschwungenen Fassungen zählten die Landungsbrücken bis zum Ende des Kais herunter. Mit Nummer 7 ließ Minna das vorletzte Gittertor hinter sich, ihr Ziel, die verheißungsvoll schimmernde Acht, vor den übermüdeten Augen. Dann bremste sie vor Schreck so abrupt, dass sie fast ins Straucheln kam, als sie sich blitzartig duckte. Sie presste sich ans Geländer und spähte durch die verschnörkelten Streben über das Hafenbecken und die darin dümpelnden Barkassen, bis zu der Stelle, wo sie auf dem Ponton einen mehrmals aufflackernden Lichtschein gesehen zu haben glaubte. Waren da nicht auch Stimmen gewesen?

Minna wagte nicht, sich wieder aufzurichten, um besser Ausschau halten zu können. Sie lauschte angestrengt. Anderthalb Meter unter ihr murmelte das teerfarbene Wasser in boshafter Unwägbarkeit vor sich hin. Trotz ihrer Trägheit schien die Albis zur Taufe von allen bereit, die ihr die verhängnisvollen Mächte des Schicksals in dieser Nacht noch zuspielen würden. Die einsame Flohkati erschauderte in einem Anflug von Angst – das waren seltsame Gedanken, die sich ihr da aufdrängten, wie eine bedrohliche Vorahnung. Stark genug, dass sie sich wieder in Bewegung setzte, um nach wenigen Augenblicken die achte Landungsbrücke zu erreichen. Abermals hielt Minna den Atem an, denn das Gitter war bloß angelehnt.

Im gleichen Moment hörte sie das Lachen einer Katze. Es klang vom Ponton herüber, perlte wie Chatpagner in einem Glas mit Sprung, denn das Gekicher steigerte sich zu einem schrillen Kiekser und brach dann ab. Ein zweites Maunzen, ein wenig tiefer wie von einem Kater, und gleich darauf ein halb unterdrücktes Jubeln, das die Peterbald an etwas erinnerte.

Das waren reicher Leute Kinder. Minna erkannte noch immer den unverwechselbaren Tonfall halbgarer Schnösel und ihrer Dämchen, selbst aus der Ferne und ohne Worte. Demnach stieg hier eine kleine, exklusive Feier, zu der die Teilnehmer aus einem der chicen Läden im Terminal, plingpling, plongplong, wohl kaum herabgeschwebt waren. Ebenso wenig riskierten sie Risse in den edlen Klamotten, indem sie über das Absperrgitter kletterten, sondern hatten sich vermutlich einfach die Schlüssel besorgt.

Man wusste sich zu bedienen und auch bedienen zu lassen. Zum Beispiel mit einer Prise Nachtluft an prussischem Kaviar, um dann bei einem Glas Billecat-Salmon die nächste Luxusreise zu planen.

Mit kalter Pfote drückte Minna das angelehnte Gitter weiter auf. Sie schlüpfte hindurch und befand sich in Gangway Nummer 8, eine Motte mit zerschlissenen Flügeln, von einem Licht angezogen, an dem sie sich einmal mehr nur verbrennen konnte. Eigentlich hatte sie bloß den Entschluss gefasst, sich von dem ursprünglichen Plan, in dieser geschützten Zone zu übernachten, nicht abbringen zu lassen – die da drüben hatten eh einen im Tee. Also würde sie unbemerkt an ihnen vorbeischleichen und sich in ausreichendem Abstand ein verschwiegenes Plätzchen suchen. Auf die feine Soiree en passant einen Blick zu werfen, das durfte sie in einem plötzlichen Anfall von Draufgängertum wohl riskieren.

Zwischen den Planken unter ihren Pfoten klang der Wellenschlag der Albis empor, links und rechts schubberten die Barkassen an dicken Trossen. Leise Geräusche, die scheinbar verstummten, als Minna den Ponton betrat. Umso lauter waren die Stimmen aus nächster Nähe, dem Vernehmen nach vier. Die Peterbald versteckte sich hinter einem kistenartigen Aufbau, an dem ein Rettungsring befestigt war und hob den Kopf weit genug aus der Deckung, um die Festgesellschaft einer Musterung zu unterziehen. Auf der Stelle wurde ihr unwohl – was sie sah, war katzenhaarsträubend.

›Bei Bastet! Nich schonn wieder! Ja, sind denn auf einmal alle rollig geworden?‹, dachte die heimliche Zeugin indigniert.

Von wegen Mitternachtspicknick! Erst als sie die bizarre Szene vor Augen hatte, verstand sie, weshalb ihr eben die Geräusche aus der Distanz vertraut vorgekommen waren; das schnelle Keuchen, halb unterdrückte Fauchen und spitze Fiepen. Sie hatte nicht gleich geschaltet, zumal solche Brunftlaute an den Landungsbrücken aus einer dafür ziemlich unpassenden Umgebung kamen. Trotzdem lief da unter freiem Himmel nichts anderes ab als erst vor drei Nächten am Schlafplatz der Flohkatis.

Nein, über die Vorgänge dreieinhalb Meter voraus gab es keinen Zweifel, zwar in gänzlich anderer, dafür doppelter Besetzung. Vier Angehörige der oberen Gesellschaft, die Herren in feinstem Zwirn, die Damen in Samt und Seide, waren gefährlich nah am Rand des Pontons ähnlich ungehemmt miteinander zugange, wie vor Kurzem der schäbige schwarze Kater mit seiner armseligen Unglückskatze. Bei dem vorderen der feinen Pärchen handelte es sich um einen jungen Kartäuser im Smoking, innig vereint mit einer überaus anmutigen, schneeweißen Türkisch Angora in einem silbernen Cocktailkleid. Etwas schimmerte an ihrem schlanken Hals, sofern die Pfotengreiflichkeiten des aufgeregten Galans den vermutlichen Glanz von Klunkern nicht verdeckten. Die erotischen Schattenspiele im Hintergrund wurden von einem zweiten Smokingträger, augenscheinlich ein Siam, mit einer Kartäuserkatze vollzogen, die eine Robe aus nachtschwarzem Samt trug. Wie es aussah, nicht mehr allzu lange.

Die gedeckte Kleidung der beiden verschmolz mit der Dunkelheit, die große Lücken in ihre eng umschlungenen Körper schnitt. Wie auf einer schwarzen Bühne bewegten sich ihre Gliedmaßen scheinbar ohne Zusammenhang vor der Wasserfläche der nächtlichen Albis. Entweder merkten sie nicht, dass sie mit den Köpfen schon in der kühlen Leere über der Strömung hingen, oder diese in vieler Hinsicht gewagte Position gefiel ihnen.

Minna erhob sich hinter der Kiste zu ihrer vollen Größe. Ihre Pfoten tasteten über den Rettungsring, als müsse der bald zum Einsatz kommen. Sofort hätte man sie entdeckt, wäre einer der selbstvergessenen vier dazu in der Lage gewesen. Dass dem nicht so war, hatte sich die Peterbaldkatze längst zusammengereimt. Spätestens als sie die kleine, gläserne Lampe gesehen hatte, die zwischen den sich tummelnden Paaren auf den Planken stand: Im matten Lichtschein lag ein fein ornamentiertes Bambusrohr. An einem Ende befand sich ein Aufsatz wie das zu groß geratene Mundstück einer Querflöte. Wer an solchen Pfeifen hing, wurde in andere Sphären als die der Musik entführt, wusste Minna. Demnach hatten sich die verwöhnten Schätzchen ein Rauchwerk reingezogen, das sie in eine vorweihnachtliche Stimmung der besonderen Art versetzte – und das, wie es schien, nicht zu knapp.

Sie hätte jetzt einfach abhauen können, sich mucksmäuschenstill vom Ort des Geschehens wieder entfernen und die bedröhnte Bagage sich selbst überlassen. Ab durch die Mitte, plingpling, plongplong. Die Fetzen einer neuen Melodie wehten aus dem Abrakadabra. Drinnen waren Leute, die sie alarmieren konnte, bevor die Nummer da vorn eskalierte und im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser fiel – es sah verdammt danach aus. Um Hilfe zu holen, was dauern konnte, denn wer glaubte auf Anhieb einer so abgerissenen Erscheinung wie ihr, musste sie die hier alleine lassen.

Ohne noch länger zu überlegen, war sie in zwei, drei Sätzen bei dem Kartäuser mit der Angora, beide blutjung und unter normalen Umständen sehr attraktiv. Aktuell wirkten ihre Gesichter, wenn Minna vor lauter gegenseitigen Liebesbissen etwas davon zu sehen bekam, grotesk verzerrt. Sie tippte dem Katerkerl auf die bebende Smokingschulter. Es kümmerte ihn einen Katzendreck, selbst als sie die Krallen ausfuhr, um sich besser bemerkbar zu machen, doch auch das war umsonst. Sie waren zu sehr mit sich beschäftigt.

Plötzlich fühlte die einstige Straßenmieze eine ungeheure Erbitterung in sich aufsteigen, gemischt mit Ekel und Wut. Dies war eine aus den Fugen geratene Orgie, die sie schmerzhaft an die beiden armen Willis von neulich Nacht erinnerte und an zwangsläufige Entgleisungen ihrer eigenen beruflichen Laufbahn.

»Scheiße, Goldjunge, jetzt isses genuch. Krich dich wieder ein und deine süße Pussi genauso«, fauchte Minna. »Egal, welchet Kraut ihr euch reingepfiffen habt, für sonnen Ringelpiez mit Anpäcken können sich feine Herrschaften wie ihr ’nen butterweiches Lotterbett leisten, mit seidenen Laken. Eure sauberen Freunde da drüben sicher auch!«, fügte sie hinzu, ohne aufzublicken.

Aus nächster Nähe roch sie den ihm in den Kleidern hängenden Tabaksqualm und ihr teures Parfum. Darüber lag eine dunklere Note, mit einem harzigen Abgang, das musste der Geruch der Droge sein. Vor drei Nächten hatte sie eine Spur davon am Katzensandtorkai geschnuppert.

Besorgt fing die Peterbald den blau-grünen Blick der türkischen Schönheit auf. Statt schmachtend wirkte er so leer und irre wie von einem hypnotisierten Frosch. Passend dazu vernahm Minna ein Platschen – der Frosch oder mehrere, denn der Abgang war laut, musste ins Wasser gesprungen sein. Aufgeschreckt sah sie von dem Paar, bei dem sie verharrte, zu den anderen hinüber. Ein eisiger Schub trieb ihr durch die Adern; auf dem Fleck, wo sie sich eben noch gewälzt hatten, war niemand mehr. Mit einem Schrei des Entsetzens stürzte Minna an die Kante des Pontons und starrte ins Wasser, in dem sich die Schatten zweier Gestalten auffächerten und sanft auseinanderdrifteten. Dank ihrer ins Leere greifenden Pfoten wirkte es mehr, als flögen sie durch die Luft, statt im Fluss zu versinken. Die nach oben gerichteten Augen in gelindem Erstaunen, aber schon entrückt, erblühten zwei blasse Gesichter in ihrem letzten Moment; gerahmt von auftreibenden Rockschößen und dann barmherzig davon verdeckt. Die Albis schlug neckische kleine Strudel und Blasen, als wolle sie »Schwamm drüber« sagen, tatsächlich war die Wasseroberfläche schon wieder glatt.

Ein paar Atemzüge stand Minna wie festgewurzelt. Sich in die Fluten zu stürzen, um nach ihnen zu tauchen, kam nicht infrage, denn sie konnte nicht schwimmen. Also holte sie den Rettungsring. Sie löste ihn aus der Halterung und warf ihn an der Unglücksstelle in die Albis, obwohl es ihr sinnlos vorkam. Als Nächstes zerrte sie das übrig gebliebene Paar mit der Kraft der Verzweiflung unter Einsatz von Zähnen und Klauen weiter auf den Ponton – erst mal musste das reichen.

In heller Panik hetzte sie los. Ertrinkende, die noch nicht lange versunken waren, konnten manchmal gerettet werden. Minna ahnte, dass für den Siam und die Kartäuserkatze in Samt wohl jede Hilfe zu spät kommen würde. Trotzdem wischte sie wie der geölte Blitz durch die Gangway und warf sich an deren Ende gegen das angelehnte Gitter, das sperrangelweit aufsprang. Bevor sie sich nach rechts wandte, um den Terminal zu umrunden, fiel ihr der Lichtspalt auf, der aus einer der Türen im Erdgeschoss fiel. Sicher war das der Schleichweg, den die vier Nachtschwärmer für ihren verhängnisvollen Ausflug genutzt hatten.

Minna beschloss, dieselbe Abkürzung zu nehmen. Sie schlüpfte hinein und fand sich in einem marmorgetäfelten Korridor wieder, von dem links und rechts weitere Türen abgingen. Die Peterbald rannte in die Richtung, aus der ihr Stimmengewirr und das vertraute Geklimper der Musik entgegenströmten, dabei begann sie zu schreien.

»Hilfe! Zu Hilfe, Madonna miau! Vom Anleger sind zwei ins Wasser gesprungen! Um Gottkaters willen, vielleich kann man se noch retten! Und wenn nich, wenigsens die beiden anneren. Zu Hilfe, verdammte Katzenscheiße, hört mich denn keiner?«

Sie preschte geradewegs in die Pfoten eines in den Farben des Abrakadabra livrierten Angestellten, der aus einer der Türen getreten war, ein breitschultriger Tigermischling mit einem großen Anteil Maine Coon. Die schnieke Berufskleidung kaschierte nur leidlich den typischen Rausschmeißer vom Kiez, mit breiten Pratzen und einer Visage wie ein zerbeulter Putzeimer.

»Endstation, watt bissen du für ’ne halbnackte Ische?«, knurrte er und hielt die dürre Katze auf Abstand, um sie unverfroren zu mustern. »Von hinten durche Brust ins Auge und datt mit Gekreisch, watt? Is wohl ’ne ganz neue Masche, um hier reinzukommen?!«

Weil er keine Anstalten machte, ihr nach draußen zu folgen, wand sich Minna unter seinem Griff wie ein glitschiger Fisch. »Lass mich durch, Laberkopp! Et geht um Leben und Tod!«

Im nächsten Moment hatte der Kater nur noch ihr dünnes Mäntelchen zwischen den Krallen, als sie an ihm vorbei durch die Hintertür ins Abrakadabra eindrang. Die Peterbald betrat einen weitläufigen Saal, in dem eine Jazz-Combo am Rande einer Tanzfläche spielte, die einer riesigen Eisscholle glich. Darauf schob sich eine Pfotevoll Paare verschmust hin und her. Sie tanzten so eng, als sei ihnen tatsächlich kalt, angesichts all der gläsernen Eiszapfen und glitzernden Schneekristalle, die von Decke und Wänden hingen. Abrakadabra, hatte der findige Dekorateur für die Saison zum Ausklang des Jahres eine perfekte Winterwelt erschaffen.

Am jenseitigen Ende befand sich die wie eine Skikurve geschwungene Bar, so ausreichend besetzt, dass Minna darauf zulief. Mittlerweile tränenblind für das mondäne Ambiente, bemühte sie unterwegs noch einmal die ihr versagende Stimme: »Hilfe! Zwei Rauschegoldengel wie ihr sind gerade inner Albis versunken, so völlich dicht, datt se eigentlich nich untergehen konnten. Ach, watt red ich? Inzwischen liegen die armen Luder schonn auffem Grund und wenn mir nich endlich einer zuhört, sterben gleich noch zwei annere von euch Katznaillen!«

3. Kapitel

Hart landete sie vor dem schimmernden Tresen, streckte abbremsend, dann sich aufstützend eine verfrorene Pfote aus und sank, eben noch Tritt fassend, in sich zusammen. In der Wärme des Innenraums drang aus ihrem spärlichen Fell der unverkennbare Geruch der Armut. Dies bemerkend, richtete sich Minna, einem trotzigen Reflex folgend, sofort wieder auf. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine elegante Gestalt wahr, einen großen Thai-Siam in einem perfekt sitzenden Smoking. Quälend gemahnte er sie an den kürzlich versunkenen Knaben, den samt seiner Schmerzensdame wohl inzwischen die Fische der Albis küssten. Der quicklebendige Prachtkerl zu ihrer Rechten war Minnas ungestümer Ankunft rechtzeitig ausgewichen, zwei langstielige Kelche so geschickt balancierend, dass deren blassgelber, mit einer Zeste dekorierter Inhalt nicht einmal über den geeisten Rand geschwappt war.

Nach Atem ringend, fragte sich die Peterbald, warum sie um Neptuns willen solch läppischen Details Aufmerksamkeit zollte. Mit neuer Entschlossenheit musterte sie die Anwesenden in greifbarer Nähe – wer von denen wäre wohl bereit, mit ihr schnellstens auf den Ponton zurückzukehren?

Sie blickte in kühle, unbeteiligte Mienen einer exquisit gekleideten Gesellschaft von an der Bar stehenden, sitzenden und lehnenden Katzen und Katern. Hinter dem eisblauen Ausschank wirbelten drei Barkeeper, um den Getränkewünschen der Gäste im Pfotenumdrehen zu entsprechen. Von der plötzlichen Störung nahm keiner Notiz, in der sicheren Annahme, dass, wer so wenig ins Ambiente passte, alsbald wieder daraus entfernt würde. Überdies roch die Flohkati auffallend schlecht und war nach eigener Auskunft sinnlos betrunken. Oder was behauptete sie, im Kauderwelsch der Gosse und einem heiseren Falsett, das sich misstönend über den dezenten Klangteppich aus Stimmengemurmel und verschmuster Tanzmusik legte?

»Bin los, denn die sin ertrunken! Sin einfach gesprungen, total bedröhnt! ’nen piekfeines junget Pärchen und ’nen zweites drauf und dran, dattselbe zu tun … Die könnte man noch retten …«, fügte sie erschöpft hinzu. Hier sah niemand danach aus, sich den Umständen entsprechend zu beeilen.

Einzig der gut aussehende Thai-Siam mit den strahlenden Augen und den Frozen Gimlets in den dunklen Pfoten erkannte das Ausmaß ihrer akuten Verstörung. Spürte dahinter nicht nur von Berufs wegen die tiefe Verzweiflung der heruntergekommenen Peterbald sowie den sorgsam gehüteten Rest einer in harten Jahren fast aufgebrauchten Würde, die ihr ein leider berechtigtes Misstrauen gegenüber Angehörigen der höheren Klassen eingab. Dass sie sich überhaupt ins Abrakadabra gewagt hatte, anstatt Feindberührung zu vermeiden, sprach für den Wahrheitsgehalt ihrer Aussage.

Nun stellte der Beau die Cocktails so achtlos auf dem Tresen ab, dass er sie doch noch verschüttete. Seine Begleitung, für die einer der Drinks bestimmt war, gab ein pikiertes Maunzen von sich. In Sorge um ihr sündhaft teures Kleid lehnte sie sich zurück und starrte den Thai-Siam mit gespielter Übertreibung vorwurfsvoll an.

Es tat ihrer hinreißenden Erscheinung keinen Abbruch. Sie war eine Burmilla: das rauchige Fell silberfarbenes Chinchilla, die mandelförmigen Augen zwei schwarz gefasste Turmaline.

Die beiden Saphire im ebenholzfarbenen Gesicht ihres Gegenübers verengten sich zu blitzblauen Schlitzen. Damit würdigte er die an der Bar thronende Schönheit keines Blickes.

»Kriminalpolizei. Ich bin Inspektor Selwyn Mouse«, stellte er sich der Peterbald vor. Die war davon so verdattert, dass sie ihm auf Anhieb ihren Namen verriet – eine Unvorsichtigkeit, die sie sonst nicht beging. »Ich heiße Minna Plüsch und et is wirklich watt Schlimmes passiert.«

Der Smokingträger nickte. »Verstanden, Frau Plüsch«, sagte er ruhig. »Wir gehen jetzt gemeinsam zu der Stelle zurück, an der sich das, was Sie gesehen haben, ereignet hat. Nur zu, ich werde Ihnen folgen.«

Vielleicht hatte sie auf dem Ponton verhängnisvolle Dämpfe inhaliert. Genuch, um getz zu halluzinieren und sich in Wirklichkeit in einer zugigen Ecke eingerollt zu haben. Gleich würde sie erwachen – aus einer Wahnvorstellung, in der ausgerechnet einer vonner Polente, ’nen echter Adonis noch dazu, sonner armen Mau wie ihr Glauben schenkte und sie wie seinesgleichen behandelte. Sogar besser, denn war er nich drauf und dran, seine Freundin, diese Wucht in chatpagnerfarbener Seide, für eine olle Gammlerin sitzen zu lassen?

Minna lief traumwandlerisch los und wusste den stattlichen Kater dicht hinter sich.

»Schnuckibert, Momentchen«, schnurrte eine laszive Stimme in ihrer beider Rücken, weich und kalt wie fallender Schnee. »Du willst doch nicht ernsthaft dieser hysterischen Flohkati nachrennen?! Die macht sich bloß wichtig, um vor der Tür ein paar Mäuse zu ergattern. Rechne nicht damit, dass ich danach noch hier bin, Robin Hood.«

»Entschuldige, Chérie, offenbar handelt es sich um einen Notfall«, gab Mouse über die Schulter zurück. »Falls dem nicht so ist, wäre ich in wenigen Minuten wieder an deiner Seite, liebste Aglaia. Aber ich weiß es durchaus zu schätzen, dass du eine so kurze Zeit ohne mich nicht aushältst, selbst mit zwei frischen Gimlets«, fügte er lächelnd hinzu.

»Die kannst du dir hinter die Binde gießen, wenn du von deiner Heldentat zurück bist, Lumpensammler«, fauchte die plötzlich wutentbrannte Burmilla. »Vielleicht brauchst du dann eine Stärkung.«

Im gleichen Atemzug schnappte sie sich ihr Abendtäschchen und den Barkeeper, der gerade auf ihrer Höhe servierte. »Lass den Wagen vorfahren, Maurice. Höchste Zeit zu gehen.«

»Du sagst es, Eisprinzessin«, befand der Thai-Siam, ohne sich umzudrehen.

Noch ehe Aglaia Katzer-Schlupf von ihrem Barhocker glitt und voller Anmut und Zorn davonrauschte, hatten der Inspektor und die ihm voraushuschende Stadtschleicherin die Tanzfläche hinter sich gelassen. Soeben stimmte die aus wildfarbenen Somalis bestehende Band einen leidenschaftlichen Tango an, so heiß und schmissig, dass er einen Gletscher ins Rutschen gebracht hätte.

Als sie in den Korridor einbogen, durch den Minna zum Nachtclub gelangt war, baute sich der livrierte Kater fürs Grobe vor ihr auf. Triumphierend wedelte er der Peterbald mit dem abgestreiften Sommermäntelchen vor der Nase herum.

»Na, Mutti, komma zu Vatti!«, knurrte er hämisch. »Habbet doch geahnt, dass du so doof sein wirst, hier nochma aufzukreuzen. Mit dem Fähnchen wirsse dich allerdings nich warm genuch einpacken können für die kalte Abreibung, die dir getz blüht.«

Unerwartet trat jemand vor, der den vierschrötigen Getigerten deutlich überragte. »Lediglich lang wie breit, nicht wahr?«, erkundigte sich Mouse in jeder Hinsicht von oben herab. »Dafür mit scheunentorgroßer Klappe ausgleichend vorneweg.«

»Leck mich, der berühmte Inspektor höchspersönlich, meine Verehrung. In Ausübung meiner Pflichten habbich ich Se gar nich kommen sehn.« Der Livrierte war neu in der Stadt, aber von dem Schnüffler mit dem stechenden Blick hatte er gehört.

»Besser, Sie geben dieser Katze schleunigst ihren Mantel zurück«, befahl der Blauäugige. »Und obendrein den Weg frei – dies ist ein Einsatz und deshalb kommen Sie jetzt mit. Name?«

»Kalle Knirsch. War inne Hauptstadt lange Jahre organisatorisch im anschaffenden Gewerbe tätig, bevor mich die Brüder Katzarian für ihren Zauberschuppen anheuerten«, gab der unangenehme Kater zum Besten, als er den beiden nachsetzte, die vor ihm den Flur hinabeilten.

»Allerliebst«, knurrte Mouse. »Es geht doch nichts über pfotenverlesenes Personal.«

Vor ihm hatte Minna die Tür zum Kai aufgestoßen. Sie war noch immer bloß angelehnt. Knirsch hatte es in der Zwischenzeit jedenfalls nicht für nötig gehalten, den Terminal vor weiteren unerwünschten Eindringlingen zu verschließen. Oder wurde gut dafür bezahlt, verschlossene Durchgänge bei Bedarf passierbar zu machen, für wen auch immer.

Die Peterbald, die in ihren fadenscheinigen Mantel geschlüpft war, wies stumm auf das offen stehende Gittertor, hinter dem Gangway Nr. 8 über das Hafenbecken führte. Rundum war niemand zu sehen, die Szenerie leer und abweisend. Die Albis begrüßte sie mit einem trügerisch harmlosen Glucksen. Mouse übernahm die Führung, im Laufschritt ging es durch die Gangway auf den Ponton. Dort angekommen, fühlte er, wie sich ihm unter dem gestärkten Kragen seines Smokinghemdes die Nackenhaare aufstellten – so wie das immer geschah, wenn ihm zunächst nur die Vorahnung verriet, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Unwillkürlich griff er in die Innentasche seines Jacketts. Wie es sich für einen Abendanzug gehörte, steckte darin statt einer Waffe nur ein silbernes Zigarettenetui.

»Soll ich Ihnen zeigen, wo et …?«, hörte er Minna neben sich flüstern.

Mit einer abwehrenden Pfotenbewegung brachte er sie zum Schweigen. »Bleiben Sie hier«, wisperte er ihr ins Ohr. Ihr herber, ungeputzter Geruch stach Mouse in die Nase, während ihm seine Intuition zum ersten Mal verriet, dass diese bedauernswerte Katze, so wenig er sie kannte, etwas Besseres verdient hatte.

»Sie krümmen der Zeugin derweil kein Haar«, wandte er sich drohend an Knirsch. »Ich rufe Sie oder komme zurück, wenn ich weiß, was hier los ist.« Damit ließ er die beiden stehen.