QV-Edition - Die Tote im Nebel - Heike Wolf - E-Book

QV-Edition - Die Tote im Nebel E-Book

Heike Wolf

4,8

Beschreibung

Eine schwarzhaarige Tote am Flussufer, eine missgünstige Stiefmutter, ein böser Wolf und eine geheimnisvolle Hexe - die Professorentochter Sophie Dierlinger und ihr Vetter, der angehende Stadtphysikus Julius Laumann, gehen der Sache auf den Grund. Hilfe erhalten sie von dem jungen Wilhelm Grimm, der in Marburg studiert. Doch die Dinge sind nicht immer, wie sie scheinen und hinter so manchem Volksmärchen steckt eine gefährliche Wahrheit.

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heike Wolf

Die Tote im Nebel

Historischer Kriminalroman

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www.gmeiner-verlag.de

©2013 – Gmeiner-VerlagGmbH

ImEhnried5,88605Meßkirch

Telefon07575/2095-0

[email protected]

AlleRechtevorbehalten

Lektorat:RenéStein

Herstellung:MirjamHecht

Umschlaggestaltung:U.O.R.G.LutzEberle,Stuttgart

unterVerwendungdesBildes»ElbschiffimFrühnebel«

Dieser Roman ist meiner Tochter Merle gewidmet, die inzwischen nicht nur Märchengestalten malt, sondern auch die Brüder Grimm – am Rand des Bildes. Beobachtend, abwartend, aber untrennbar mit ihren Geschichten verbunden.

Prolog

Die junge Frau taumelte. Keuchend rang sie nach Luft, während sie sich gehetzt umschaute. Die Schmerzen waren inzwischen fast unerträglich, pulsierten in ihrem Leib, dass sie am liebsten innegehalten und ihre Pein herausgeschrien hätte. Doch nicht, solange er hinter ihr her war.

Ihre Stiefel versanken in klebrigen Morast der Uferwiesen, während sie mühsam weiterhastete. Nebelbänke hingen schwer über der Aue des Flusses, waberten über dem Wasser wie höhnische Geister. Vielleicht konnte sie ihm entkommen, wenn sie es bis zum Ufer schaffte. Dort konnte sie sich zwischen den knorrigen Weiden verbergen, bis er seine Jagd aufgab.

Wieder durchzuckte sie der Schmerz, und sie fühlte im nächsten Moment, wie es warm ihre Beine hinablief. Sie strauchelte, spürte das nasse Gras unter ihren Händen, schmeckte Lehm zwischen den Lippen. Der Gestank ihrer eigenen Ausscheidungen ließ sie würgen. Herr im Himmel, hilf, flehte sie stumm, während sie sich hochstemmte und versuchte, nach dem Verfolger Ausschau zu halten.

Plötzlich stand er vor ihr, keine drei Schritte entfernt. Witternd, suchend drehte er sich um die eigene Achse, schien sie zunächst nicht zu bemerken, doch dann wandte er den Kopf. Sein Blick traf ihren.

Die junge Frau fuhr herum. Sie stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf. Der Saum ihres Rocks war schwer von Nässe, schlug um ihre Knöchel, als sie vorantaumelte. Dort vorne war der Fluss, die Weiden, die dicht gedrängt wie dunkle Zauberwesen am Ufer lauerten. Das leise Gurgeln des Wassers mischte sich unter den dumpfen Nebel, der die Geräusche schluckte. Wenige Schritte noch, dann hätte sie die Uferwiese hinter sich gelassen und konnte sich verstecken. Sich verkriechen und darauf warten, dass diese rasenden Schmerzen nachließen. Wenn sie ihm nur entkam.

Abermals warf sie einen gehetzten Blick über die Schulter, aber hinter ihr war nur wabernder Dunst, keine Schritte im sumpfigen Untergrund, kein keuchender Atem, der näherkam. Vielleicht hatte er sie verloren, frohlockte sie.

Als sie die feuchte Rinde unter den Fingern spürte und sich um einen Stamm herumtastete, durchflutete sie eine Welle der Erleichterung. Wenn sie Glück hatte, fand sie eine Astgabel, die sie erklimmen konnte. Dort war sie sicher, sie musste sie nur …

Ihr Aufschrei erstickte noch in der Kehle, als der Schatten unvermittelt vor ihr aus dem Grau auftauchte. Etwas flog auf sie zu, dann explodierte der Schmerz und alles war Stille.

Marburg im November 1803

I

Ungeduldig wippte Sophie mit den Fersen auf und ab. »Nun lass mich auch einmal sehen«, quengelte sie und versuchte erneut, an ihrer Schwester vorbei einen Blick durch das Guckloch zu erhaschen.

»Sobald du an der Reihe bist.« Lisbeths Stimme erklang gedämpft von dem Holz, gegen das sie ihr Gesicht gedrückt hatte, um besser sehen zu können. »Sie sind noch nicht einmal in der Stube. Gedulde dich gefälligst.«

Sophie verdrehte die Augen und ließ sich wenig damenhaft auf einen Schemel fallen. Gedulde dich … wie sehr sie es hasste, wenn Lisbeth sie mit den Worten ihrer Mutter ermahnte. Dabei war es die große Schwester, die soeben höchst unschicklich ihr Gesicht an die Tür drückte, um einen Blick auf die Gäste zu erhaschen. Die große Schwester, die seit einem Monat verlobt war und weiß Gott anderes im Kopf haben sollte, als den Studenten nachzustieren.

Früher, als ihr Vater noch lebte, kam regelmäßig abends Besuch zum gelehrten Disput, der mitunter bis in die tiefe Nacht andauern konnte, wenn sich die Herren bei Tee und rotem Wein in Rage redeten. Sophie hätte viel dafür gegeben, an diesen Runden teilnehmen zu dürfen, aber so offen ihre Eltern in anderen Belangen waren, in diesem Punkt waren sie unnachgiebig. Zu jung und zu neugierig, sagte ihre Mutter, wenn Sophie sie bekniete, aber das sagte sie seit nunmehr drei Jahren. Seit dem Tod ihres Vaters kam man ohnehin noch selten hier zusammen. Meist traf man sich im Haus von Friedrich Carl von Savigny, eines jungen Professors für Rechtswissenschaften, um den sich inzwischen ein kleiner Kreis von Gelehrten, Dichtern und Studenten gesammelt hatte. Dass man sich heute hier einfand, war eine Ausnahme. Ihre Mutter hatte sich nicht wohlgefühlt, was Savigny und seine Freunde dazu veranlasst hatte, den Abend hier im Haus zu verbringen.

»Sie kommen herein«, flüsterte Lisbeth. Ihr Hinterteil wackelte, als sie aufgeregt hin- und hertrat. »Da ist der Savigny, er begrüßt gerade Mutter, und da ist der Brentano und dieser Grimm-Griesgram, und das muss …

»Lass mich jetzt endlich!« Mit einem Satz war Sophie auf den Beinen und stieß ihre Schwester beiseite, um sich an ihr vorbei zum Guckloch zu drängen.

»Heh!« Lisbeths erschrockener Ausruf ging in dem Gepolter unter, als sie gegen das Regal stolperte und Halt suchend die Schäferin aus Meißner Porzellan hinabfegte.

Der warnende Ruf blieb Sophie im Hals stecken, als das Püppchen zu Boden fiel und mit einem lauten Scheppern zerbarst. Fassungslos starrte sie auf die Porzellansplitter. Die Figur war ein Geschenk ihres Vaters an die Mutter gewesen, ein altes Erinnerungsstück, das gerade in Einzelteile zerbrochen war.

Die Stimmen in der Stube waren mit einem Mal verstummt.

»Weg da!« Lisbeth hatte sich als Erste von ihrem Schrecken erholt und stieß Sophie beiseite, um die Überreste der Figur mit dem Fuß unter das Regal zu schieben. Keinen Augenblick zu früh, denn im nächsten Moment wurde die Tür aufgerissen und ihre Mutter stand in der Kammer. Sie trug ihr schlichtes Trauerkleid mit einem schwarzen Spitzentuch und einer Haube, unter der ein weniger markantes Gesicht unscheinbar gewirkt hätte. Doch Lotte Dierlinger flößte in jedem Aufzug Respekt ein. Die Hände am Türrahmen und mit zornig funkelnden Augen erschien sie Sophie wie die Inkarnation eines Racheengels.

Die erwartete Strafpredigt blieb jedoch aus, stattdessen zog sie die Tür hinter sich zu.

»Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?«, zischte sie. Die weißen Schleifspuren des Porzellans auf dem Dielenboden schien sie nicht zu bemerken. »Habe ich mich nicht klar ausgedrückt? Ab in eure Kammer!«

»Ja, Mutter.« Lisbeth neigte bestürzt den Kopf und gab Sophie mit einem Knuff zu verstehen, es ihr gleichzutun. »Wir waren nur gespannt …

»Neugierige Gänse seid ihr!« Obwohl sie gedämpft sprach, trafen sie die Worte der Mutter wie Peitschenhiebe. »Gerade von dir hätte ich mehr erwartet, Lisbeth. Wo ist eure Großmutter?«

»Sie schläft«, log Sophie, ohne zu zögern. Sie wollte nicht, dass es aussah, als würde die Großmutter ihr heimliches Lauschen gut heißen. »Sie hat uns nicht gesehen.«

»Verschwindet jetzt.« Ihre Mutter wandte sich wieder zur Stube, allerdings nicht, ohne den beiden einen warnenden Blick zuzuwerfen. »Und wehe, wenn ich heute Abend noch einen Mucks von euch höre.«

»Ja, Mutter«, murmelte Sophie, als sich die Tür bereits wieder geschlossen hatte. Hilflos blickte sie Lisbeth an. »Und jetzt?«

»Jetzt sammeln wir das Ding ein und gehen nach oben.« Lisbeth war neben dem Regal in die Knie gegangen und pickte sorgfältig die Überreste der Schäferin darunter hervor. »Morgen überlegen wir uns, wie wir das wieder gut machen. Vielleicht kann Heinrich uns helfen.«

»Sicher«, murrte Sophie. Wenn es für Lisbeth jemanden gab, der Wunder vollbringen konnte, dann war es ihr Verlobter Heinrich. Sogar zerborstene Porzellanfiguren wieder zusammensetzen.

Sehnsüchtig warf sie einen letzten Blick zum Guckloch, ehe sie Lisbeth folgte. Wie gern hätte sie sich trotz des Verbots dahinter versteckt, aber sie fürchtete, dass ihre Mutter die Tür nun sehr genau im Auge behalten würde. Dabei hatte sie sich den ganzen Tag schon gefreut, den jüngeren Grimm zu sehen. Seit Ostern lebte er in Marburg, und Sophie war, als tanzten unaufhörlich Schmetterlinge in ihrem Bauch, sobald sie auch nur an ihn dachte. Er sah gut aus, war freundlicher als sein Bruder und besaß ein entwaffnendes Lächeln, das ihre Knie jedes Mal weich werden ließ. Und er war klug, klüger als die meisten anderen jungen Männer, die bisweilen um sie herumscharwenzelten. Wie sein älterer Bruder war er nach Marburg gekommen, um bei Savigny Rechtswissenschaften zu studieren, aber Sophie hatte keine zwei Tage gebraucht, um festzustellen, dass Wilhelms Herz für viele Dinge schlug – nur nicht für die Juristerei.

»Wenn Heinrich und ich eines Tages nach Kassel ziehen, werde ich selbst Abendrunden veranstalten«, unterbrach Lisbeths Stimme ihre Gedanken, während sie die schmale Treppe zu ihrer Kammer emporstiegen.

»Wenn Heinrich das zulässt.« Sophie steuerte schnurstracks ihr Bett an und ließ sich darauf fallen. »Vielleicht denkt er, es könnte zu freiheitlich sein?«

»Heinrich mag es, wenn Frauen gebildet sind«, widersprach Lisbeth und zog eine Schachtel aus ihrer Kommode hervor, in die sie die Überreste der Porzellanschäferin bettete. »Du kannst uns ja besuchen kommen.«

Sicher, dachte Sophie, das ist genau das, was sie sich wünschte: Heinrich hier, Heinrich dort, und zwischendurch Lisbeths Belehrungen. Wortlos schüttelte sie ihre Pantoffeln ab und schlüpfte unter die Decke. Hier oben, fernab des Ofens in der Stube, war es inzwischen schon empfindlich kühl. Fröstelnd zog Sophie die warme Daunendecke über die Ohren. Sie spürte Lisbeths Blick, aber zu ihrer Erleichterung wandte sich die Schwester schließlich ab und löschte die Nachtkerze. Kurz darauf verriet der gleichmäßige, ruhige Atem, dass sie eingeschlafen war.

Sophie drehte sich auf die andere Seite, starrte mit offenen Augen gegen die dunkle Wand. Von unten drangen gedämpft Stimmen zu ihnen hinauf, zu undeutlich, als dass sie den Wortlaut hätte verstehen können. Ob Wilhelm Grimm auch das Wort ergriff oder war es Savigny, der dozierte? Vorsichtig schob sie die Hand unter der Decke hervor und strich mit den Fingerspitzen über die raue Oberfläche des Fachwerks. Ihre Haut kribbelte vor Neugier und Ungeduld, während sie vergeblich versuchte, aus den fernen Stimmen etwas herauszuhören. Warum konnte heute kein Hausmusikabend sein, bei dem Lisbeth und sie dabei sein durften? Ob Wilhelm sich etwas aus Musik machte? Sie hatte ihn noch nie gefragt, aber die Gelegenheiten waren auch rar gewesen.

Sophie warf sich auf die andere Seite und seufzte in die Kissen. Es half nichts, sie würde ohnehin nicht schlafen können. Wenigstens einen kurzen Blick erhaschen. Das konnte nicht so schlimm sein, solange sie niemand bemerkte.

Lautlos, um Lisbeth nicht zu wecken, schob sie die Decke zurück und setzte sich auf. Mit den Füßen angelte sie nach den Hausschlappen, klaubte den Morgenrock vom Stuhl und schlich auf Zehenspitzen aus der Kammer. Vorsichtig tastete sie sich die schmale Stiege hinab, wohlweislich darauf achtend, nicht auf die knarrenden Stufen zu treten. Unten warf sie den Morgenrock über die Schultern und wollte gerade hinüber in Vaters Bibliothek huschen, als sie ein wohlbekanntes Schnaufen vernahm.

Sophie fluchte innerlich und drückte sich in den Schatten eines Wandschranks. Den halben Nachmittag hatte ihre Großmutter friedlich im Lehnstuhl geschlummert, und jetzt, da sie sie am wenigsten gebrauchen konnte, hockte sie im Studierzimmer und versperrte Sophie den Weg zum Guckloch.

Fieberhaft ging Sophie in Gedanken die Möglichkeiten durch, die ihr blieben. Sie konnte zurück ins Bett, aber dann würde sie ebenso wenig schlafen können wie zuvor. Die Großmutter um Verschwiegenheit bitten, stand außer Frage. Blieb noch das Dach.

Ein letzter, wachsamer Blick zum offenen Türspalt, dann war Sophie am Fenster und öffnete es. Wie fast alle Fensteröffnungen war auch dieses in das Fachwerk eingelassen und entsprechend eng, gerade breit genug, damit Sophie sich mit etwas Geschick hindurchzwängen konnte. Als Kind hatte sie diesen Weg oft gewählt, denn man konnte ohne Mühe auf das Dach des Schuppens gelangen und von dort aus in den winzigen Garten hinabsteigen, den ihre Mutter mit viel Liebe angelegt hatte. Im Sommer, wenn der Gestank am schlimmsten war, verfluchte Sophie die Stadt mit ihren dicht zusammenstehenden, verwinkelten Häusern, die sich einem Labyrinth gleich den Schlossberg hinaufzogen, aber jetzt war sie dankbar für die mittelalterliche Enge.

Sicher fanden ihre Finger den Vorsprung, an dem sie sich halten konnte, um sich durch das Fensterloch zu ziehen. Klettern konnte sie gut. Auch wenn ihre Mutter es nicht gut hieß, hatte ihr Vater Vergnügen daran gefunden, ihr bei ihren gemeinsamen Ausflügen beizubringen, wie man einen Baum erklomm. Du musst schneller sein als das Wildschwein, hatte er scherzhaft gedroht und spielerisch nach ihren Füßen geschnappt, wenn sie nicht flink genug oben war. Ein Haus war schwieriger zu erklettern als ein Baum, aber an den meisten Fachwerkwänden gab es genug Spalten und Vorsprünge, an denen man Halt finden konnte. Und diesen Weg war sie schon Dutzende Male hinabgestiegen.

Sie streifte die Pantoffeln ab und ließ sich langsam hinab, bis sie den feuchten Schiefer unter den bloßen Füßen spürte. Vorsichtig bewegte sie sich zum Rand des Dachs. Als sie endlich die Ecke erreichte, an der sie über die Regentonne absteigen konnte, atmete sie erleichtert durch. Die Kälte der Tonne stach geradezu in ihre nackte Fußsohle, sodass ihr beinahe ein erschrockener Laut entfahren wäre. Es war Herbst, fast Winter schon. Im Grunde konnte sie froh sein, dass sich noch kein Eis auf dem Regenwasser gebildet hatte.

Mit zusammengebissenen Zähnen rutschte sie weiter hinab und landete geradewegs im Rosenbeet. Die lehmige Erde klebte an ihren Füßen, aber wenigstens hatte ihre Mutter die Rosen schon geschnitten, sodass sie nicht auch noch mit ihrem Nachtrock hängen blieb. Nun waren es nur noch wenige Schritte zu den erleuchteten Fenstern der Stube.

Vorsichtig stakste Sophie aus dem Beet und huschte zur Hauswand. Ihr Herz raste in der Brust, dass sie meinte, es müsse in ganz Marburg zu hören sein. Erwartungsvoll hob sie den Kopf, um einen Blick über das Fensterbrett zu riskieren.

»Was machen Sie da?«

Sophie fuhr zusammen und drehte sich um. Ihr Hals war eng, dass sie meinte, nie wieder Luft zu bekommen. Wie unsagbar peinlich, war der erste Gedanke, den sie fassen konnte, doch als sie den jungen Mann erkannte, der am Durchgang zum Garten stand und mit gerunzelter Stirn zu ihr hinüberblickte, wusste sie, dass peinlich noch viel zu harmlos war.

Die Schatten umschmeichelten seine Züge, das längliche Gesicht mit der schmalen, markanten Nase, die wachen Augen und der widerspenstige Haarschopf, der bei Jakob bisweilen störrisch, bei Wilhelm hingegen fast verwegen wirkte. Fragend blickte er sie an, mit einer Hand noch die Kleidung richtend. Vermutlich kam er gerade vom Abort und war deshalb auf sie aufmerksam geworden. Sophie verspürte das drängende Bedürfnis, auf der Stelle im Erdboden zu versinken.

»Sophie? Bist du das?« Er hielt inne, starrte sie ungläubig an. »Was zum Teufel machst du denn hier?«

Nur Mut, riss sich Sophie zusammen und machte einen Schritt auf ihn zu, ihren unangemessenen Aufzug kurzerhand ignorierend. »Herr Wilhelm Grimm«, stellte sie fest und zauberte tatsächlich ein liebenswürdiges Lächeln auf ihre Lippen. »Ich muss wohl kaum fragen, was du hier draußen tust?« Ihr Blick glitt zu seinem Hemd, das er gerade noch in seinen Hosenbund gestopft hatte.

»Äh … ja, ich …« In der Dunkelheit sah es Sophie nicht, aber sie konnte ahnen, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss.

»Ich habe gewartet«, log sie dreist und betete, dass er im Dunkeln die frische Erde an ihren Füßen nicht bemerkte. »Ich war auf dem Weg zu dem Ort, den du gerade aufgesucht hast, doch leider bist du mir zuvor gekommen.« Erstaunlich, wie leicht die Lüge von den Lippen ging, aber sie schien überzeugend.

»Entschuldigung, ich wusste nicht … Ich habe dich nicht gesehen, sonst hätte ich dir natürlich den Vortritt gelassen.« Endlich hatte er das Hemd verstaut und straffte die Schultern. Sie hörte ihn ausatmen. »Ich hoffe, du wartest nicht zu lange?«

»Solange ich hier nicht festgefroren bin, musst du dir keine Gedanken machen.« Sophie zog den Nachtrock enger um die Schultern, während ihr Blick prüfend über das Gesicht ihres Gegenübers glitt. Er schien ihr zu glauben, einen Zweifel ließ er sich zumindest nicht anmerken. »Allerdings ist es schon sehr kalt.«

Wilhelm nickte und machte rasch einen Schritt zur Seite. »Dann … will ich dich nicht aufhalten. Vielleicht kann ich als Wiedergutmachung auf dich warten und dich zurück ins Haus geleiten?«

Um Himmels willen, fuhr es Sophie durch den Kopf, doch es gelang ihr, das offene Lächeln zu wahren. »Das ist freundlich, aber man wird dich drinnen bereits vermissen«, schüttelte sie mit gespieltem Bedauern den Kopf. »Geh ruhig, ich komme schon zurecht. Nein, warte …« Sophie stockte, als käme ihr gerade ein verwegener Gedanke. Natürlich war es ungebührlich, aber was konnte noch ungebührlicher sein, als im Nachtgewand auf dem Hinterhof mit einem Mann, mit dem man nicht einmal verlobt war, über den Latrinengang zu plaudern? »Du kannst die Unannehmlichkeit wieder gut machen«, verkündete sie großzügig und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, in der Gewissheit, dass es seine Wirkung nicht verfehlte. »Meine Freundin Anna, ihr Verlobter Friedrich und ich unternehmen morgen Nachmittag einen Spaziergang, um das goldene Herbstwetter zu genießen. Wie wäre es, wenn du uns begleitest?«

Bang erwartete sie seine Reaktion. Ob sie sich zu weit vorgewagt hatte?

Doch Wilhelm Grimm schien keineswegs schockiert. Eher – amüsiert. Vermutlich durchschaute er ihr Spielchen längst.

»Sicher«, nickte er und deutete eine Verbeugung an. »Es wird mir ein Vergnügen sein, Fräulein Dierlinger. Du erlaubst, dass ich meinen Bruder ebenfalls dazu bitte? Ihm täte es gut, die staubige Studierstube für ein paar Stunden zu verlassen.«

»Selbstverständlich. Morgen um drei Uhr? An der Weidenhäuser Brücke.« Sophie schob sich an ihm vorbei. »Seid pünktlich!«, drohte sie ihm spielerisch mit dem Finger.

Er lachte. »Keine Sorge, wir werden da sein.«

Sophie bewegte sich lächelnd rückwärts, bis sie die Tür zum Abort hinter sich spürte, hineinhuschte und eilig den Riegel vorschob. Bei allen Heiligen, war sie übergeschnappt?, ging es ihr durch den Kopf, während sie mit klopfendem Herzen an der Tür lehnte und ihren Atem zur Ruhe zwang. Sie war verrückt, irrsinnig. Ihre Mutter würde sie wochenlang in ihre Kammer sperren, wenn sie davon erführe.

Aber es fühlte sich unangemessen gut an.

II

Der Nebel, der das Lahntal am Morgen noch in trübes Grau gehüllt hatte, wich gegen Mittag der goldenen Herbstsonne. Im Schatten zwischen den Hauswänden war es noch kühl gewesen, sodass Sophie den wollenen Mantel umgelegt hatte, der ihr mittlerweile viel zu warm erschien. Gut gelaunt schritt sie voran, den Arm bei Wilhelm Grimm eingehakt, der zu ihrer Erleichterung kein Wort über ihr nächtliches Treffen verloren hatte. Verstohlen blickte Sophie an ihm hoch. Im warmen Herbstlicht sah er noch besser aus als im Halbschatten des Hinterhofs, feiner, gefälliger als sein großer Bruder, der sich ihnen angeschlossen hatte.

»Sehnst du dich eigentlich nach Kassel zurück?«, erkundigte sie sich beiläufig und fasste den Arm ein wenig fester.

»Ich fürchte, dass Sie ihn irgendwann zu einer für Sie unerfreulichen Antwort nötigen, wenn Sie ihn das immer wieder fragen, Fräulein Dierlinger«, ließ sich Jakob knurrend vernehmen. Die Hände in den Rocktaschen versenkt, ging er neben ihnen her. Sophie argwöhnte, dass er von Wilhelms Einladung wenig angetan war.

Wilhelm lachte. »Du musst Jakob verzeihen. Es ist spät geworden gestern, und ich fürchte, ich habe ihn um den Schlaf gebracht.«

»Geschnarcht hast du«, brummte Jakob. »Zumindest ich war heute Nacht einige Male kurz davor, dich umgehend nach Kassel zurückzuwünschen.«

»Ich kann meine Mutter fragen, ob es möglich ist, eine einzelne Kammer zu vermieten«, bot Sophie an. »Unser Haus ist groß genug, wenn Sie lieber alleine schlafen.«

Jakob schüttelte den Kopf. »Sorgen Sie sich nicht. Wir sind es gewohnt, eine Kammer zu teilen. Außerdem könnten wir es nicht bezahlen, so verlockend das Angebot auch ist.«

Sophie nickte leicht und wandte den Blick zurück zur Stadt, um die Enttäuschung zu verbergen. Der Gedanke war plötzlich gekommen, aber wenn sie weiter darüber nachdachte, musste sie eingestehen, dass Jakob recht hatte. Die Mutter der Grimms war die Witwe eines Amtmanns, die noch mehr Kinder als nur die beiden Söhne zu versorgen hatte. Der Luxus einer eigenen Kammer war undenkbar.

»Um deine Frage zu beantworten, es gefällt mir im Übrigen sehr gut.« Wilhelm lächelte. »Marburg. Es hat etwas Verwunschenes. Als sei die Zeit zwischen den Mauern stehen geblieben.«

»Warte nur ab, bis du es im Winter siehst«, nickte Sophie. »Wenn der Schnee die Dächer und Gassen bedeckt.«

Sie waren stehen geblieben und blickten nun alle drei hinauf zur Stadt, die sich am Schlossberg hinaufzog. Wie von Riesenhand zusammengeschoben drängten sich die Häuser aneinander, dazwischen der steil aufragende Turm der Pfarrkirche und das breite Satteldach des Rathauses mit seinen Stufengiebeln. Das Herbstlicht malte warme Farben auf Dächer und Mauern und ließ sie für den Moment tatsächlich wie aus einer anderen, märchenhaften Welt scheinen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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