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Lilly, von zu Hause weggelaufen, träumt von einem neuen Leben in der goldenen Hauptstadt. Dort angekommen, trifft sie einen mysteriösen Fremden, der ihr den Verstand raubt. In seiner Nähe kann sie keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nach einer berauschenden Partynacht, die mit einem Filmriss endet, wird Lilly vor die Wahl gestellt. Ist sie wirklich bereit, alles hinter sich zu lassen? Kann sie an seiner Seite ein neues Leben beginnen oder muss sie zuerst noch ihre Dämonen besiegen und mit ihrer Vergangenheit abrechnen? Wie auch immer sie sich entscheiden wird, ihr Rachedurst wurde bereits geweckt...
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Seitenzahl: 186
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Kerstin Schwarz
RACHEDURST
Roman
Originalausgabe
Impressum
Copyright (c) 2021 by Kerstin D. Schwarz (alias Merci)
Umschlagmotiv und -gestaltung: Kerstin D. Schwarz
www.kerstin-schwarz.com
Verlag:Neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-754148-26-6
Für Faith
Gekämpft bis zum Ende,für immer in unseren Herzen.
I AM MY ONLY MASTER
1
Lilly starrte aus dem Fenster. Sie nahm die vorbeiziehende Landschaft nicht wahr. Selbst das gleichmäßige Rattern des Zuges drang nicht zu ihr durch. Sie war in Gedanken versunken und viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Rucksack fest zu umklammern. Ihr ganzes, und ab jetzt auch einziges, Hab und Gut war darin verstaut.
Sie konnte es immer noch nicht glauben. Sie hatte es wirklich getan. Ein breites Lächeln zeichnete sich in ihrem Gesicht ab.
Endlich frei, dachte sie und erfreute sich an diesem Gedanken. Wie lange hatte sie diesen Tag schon herbeigesehnt? Die Schulzeit war zu Ende und Lilly hatte es geschafft.
Mit ihrem Abschlusszeugnis in der Tasche war sie heute früher nach Hause gekommen. Doch niemand war daheim gewesen. Wann war Lilly das letzte Mal allein zu Hause gewesen? Es war schon so lange her, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Irgendwo lungerte immer ihr Stiefvater Joe herum, stets darauf bedacht, Lilly das Leben schwer zu machen. Ihre Mutter Angelika war in diesen Momenten leider auch keine Hilfe, meist schaute sie einfach nur weg. Viel zu groß waren der Respekt und die Angst vor dem zweiten Mann an ihrer Seite.
Da heute niemand mit Lilly so früh gerechnet hatte, war Joe wohl noch mal weggegangen. Das kam Lilly sehr gelegen. Es vereinfachte ihren längst geschmiedeten Plan endlich in die Tat umsetzen zu können. Schon am Abend zuvor hatte sie angefangen, ein paar Sachen in ihren Rucksack zu packen. Doch jetzt konnte sie in aller Ruhe auch noch den Rest in ihrer Tasche verstauen. Kleidung zum Wechseln, etwas zu essen und zu trinken, ihre Ersparnisse, alle notwendigen Papiere und ihr Zeugnis. Die Noten waren zwar nicht die besten, aber immerhin hatte sie ihren Abschluss geschafft.
Sie wollte ab jetzt alles richtig machen. Ein Neuanfang, weit weg von ihrem bösen Stiefvater. Diesen Plan hatte sie sich schon vor einiger Zeit überlegt. Sobald sie mit der Schule fertig war, wollte sie einfach nur weg von zu Hause. Die Sommerferien waren der perfekte Zeitpunkt, um zu verschwinden. Sie war schon siebzehn und hoffte, sich das eine Jahr bis zur Volljährigkeit allein durchschlagen zu können. Sie träumte von Berlin, einem glücklichen Leben in der goldenen Hauptstadt. 2001 – das sollte ihr Jahr werden!
„Fräulein, ihre Fahrkarte bitte!“ - Überrascht blickte Lilly auf. Ein junger Mann hatte sie aus ihren Gedanken gerissen und grinste sie nun erwartungsvoll an. Er hatte ein aufgeschlossenes Lächeln, das sich in seinen grünen Augen widerspiegelte. Trotz seines kleinen Bartes wirkte seine leicht gebräunte Haut zart und gepflegt. In aller Eile und Vorfreude war Lilly in den nächsten Zug gesprungen, ohne sich vorher ein Ticket zu kaufen. Gute zweieinhalb Stunden war sie bereits mit dem Zug unterwegs, als sie nun nach ihrer Fahrkarte gefragt wurde.
„Oh, einen Moment bitte“, bat sie den Kontrolleur, der nur wenige Jahre älter als Lilly zu sein schien. Sie schenkte ihm ihr süßestes Lächeln und strich sich schüchtern die Haare zurück. Geduldig lächelte er Lilly an, während sie weiter in ihrer Tasche kramte und nicht wusste, was sie nun tun sollte. In ihrer Panik wurde Lilly leicht rot im Gesicht, doch es schien niemand zu bemerken.
„Suchen sie in aller Ruhe nach ihrem Ticket. Ich komme gleich noch mal bei ihnen vorbei“, sagte er und ging weiter, um die anderen Passagiere zu kontrollieren.
Puh, dachte Lilly und atmete erleichtert auf. Das war knapp. Wie konnte sie nur so dumm sein und vergessen, ein Ticket zu kaufen? Auf diese Weise würde sie niemals in Berlin ankommen.
Lilly schaute aus dem Fenster und sah eine schöne, ländliche Gegend. Im Großen und Ganzen erinnerte es sie an ihre Heimat, ein verschlafenes Zweitausend-Seelen-Kaff, in das sie so schnell nicht wieder zurückkehren wollte.
Der Zug rollte gerade in den nächsten Bahnhof ein. Lilly ergriff diese Chance und erhob sich vorsichtig von ihrem Sitz. Sie schlich zu den vorderen Türen und hoffte, der Kontrolleur würde ihr Verschwinden nicht gleich bemerken. Den Zug vorzeitig zu verlassen, schien ihr die beste Lösung, auch wenn sie heute ihrem Ziel nicht viel näher kommen würde.
Ohne noch einmal von dem jungen Schaffner gesehen worden zu sein, verließ Lilly den Zug.
2
Mittlerweile war es schon später Nachmittag. Die Sonne stand noch hoch am Himmel und es war kaum ein Wölkchen in Sicht. Sicherlich waren es noch mehr als 25 °C und selbst im Schatten war es sehr warm. Da Lilly nicht gleich ihre ganzen Ersparnisse am ersten Tag aufbrauchen wollte, hatte sie geplant, die ersten Nächte im Freien zu verbringen. Das sollte in den warmen Julinächten kein Problem sein.
Noch immer stand Lilly vor dem Bahnhofsgebäude und wusste nicht, in welche Richtung sie gehen sollte. Dieser Ort war noch verschlafener als ihr Heimatdorf. Sicher würde Lilly bald Aufsehen erregen, wenn sie noch länger planlos herumstand. Sie ging zu den Schaukästen mit den Fahrplänen. Auf jeden Fall würde sie morgen den nächsten Zug nehmen und ihre Reise fortsetzen. Lilly hatte keine Eile. Es war ihr egal, wann sie Berlin erreichen würde. Wichtig war nur, irgendwann dort anzukommen.
Lilly lief nach rechts und mied vorsorglich die Hauptstraße. Die kleinen Nebenstraßen halfen ihr niemandem zu begegnen. Sie fand sogar eine Straße, die direkt in einem Feldweg endete. Es ging bergab, bergauf und der Weg führte sie weg von jeglicher Zivilisation. Es war so idyllisch hier. Die meisten Felder waren bereits abgeerntet und sie war umgeben von Stoppelfeldern. Nur der Mais und die Sonnenblumen wuchsen noch weiter dem Himmel entgegen. Es war ein wunderschönes Tal, in dem Lilly weder Angst noch Unbehagen verspürte. In der Ferne waren leichte Anhöhen und kleine Hügel zu sehen. Sie fühlte sich wohl und wusste, hier draußen könnte sie die Nacht verbringen. Alles war so friedlich, als ob sich hier noch Fuchs und Hase ‚Gute Nacht’ sagen würden. Der Wind wehte sanft über die Grashalme und ließ die Blätter leise rascheln.
Lilly lief weiter und genoss ihre Freiheit. Mit jedem Schritt und jedem Atemzug drang diese immer tiefer in ihr Bewusstsein ein. Sie war beschwingt und voller Glückseligkeit. Es fühlte sich an, als hätte sie Flügel, die sich nun zum ersten Mal vollends entfalteten. Wie ein Schmetterling, der sich gerade aus einer Raupe entpuppt und aus seinem Kokon geschlüpft war. Ab und an wehte eine leichte Brise, die ihr langes schwarzes Haar um ihr Gesicht flattern ließ. Die richtige Erfrischung für ihre Wanderung. Auf einer leichten Anhöhe stand ein alter Apfelbaum, dessen gewaltige Krone einen schattigen Platz spendete.
Lilly war so entzückt, dass sie geradewegs auf diesen Baum zusteuerte. Der ideale Platz für eine kurze Pause, dachte sie und ließ sich darunter im saftigen Gras nieder. Neben ihr wuchsen ein paar rosa Blümchen, die einen wohltuenden Duft verströmten. Es war herrlich! Sie streckte die Beine aus und lehnte sich mit dem Rücken an den alten Baum. Eine Wohltat nach diesem langen Tag. So langsam verspürte Lilly Hunger und ein leises Rumoren in ihrem Bauch erinnerte sie daran, dass ihre letzte Mahlzeit schon mehrere Stunden zurücklag.
Lilly suchte in ihrem Rucksack nach den belegten Broten, die sie heute Mittag noch zubereitet hatte. Herzhaft biss sie hinein und verschlang das Brot mit wenigen Bissen. Nachdem sie auch ihren Durst gestillt hatte, wollte Lilly sich noch ein bisschen ausruhen. Sie war müde von dem anstrengenden Tag.
Sie benutzte ihren Rucksack als Kopfkissen und starrte hinauf in das schöne Blau des Himmels. Vereinzelt zogen kleine Schleierwölkchen vorbei, die sie freudig beobachtete. Mittlerweile stand die Sonne schon weiter im Westen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis sie hinter den Hügeln in der Ferne verschwinden würde. Während Lilly so friedlich unter dem Baum lag, senkten sich ihre Augenlider immer weiter. Der leichte Wind spielte sanft mit ihren Haaren, die ihr Gesicht sachte streichelten. Schließlich fielen ihre Augen ganz zu und Lilly war eingeschlafen.
3
Ruckartig schoss Lilly in die Höhe. Ich war wohl kurz eingeschlafen, dachte sie und blickte nach oben in die Baumkrone. Dort entdeckte sie ein Baumhaus im Geäst.
Lilly überlegte kurz und kletterte dann vorsichtig hinauf. Das Baumhaus war schon alt, doch wirkten die Bretter weder morsch noch instabil. Sie zog sich hoch auf die schmale Brüstung und kletterte in das alte Häuschen. Es roch modrig und überall waren Spinnweben, die bestätigten, dass es schon lange nicht mehr betreten worden war. Auf dem Boden hatte sich eine Menge Dreck und Morast angesammelt. Wahrscheinlich hatte der Erbauer das Baumhaus längst vergessen oder war mittlerweile zu alt geworden, um sich regelmäßig hierher zurückzuziehen. Aber immerhin war es mit größter Sorgfalt und Liebe zusammengebaut worden.
Lilly versuchte ein paar der Spinnweben zu entfernen und den Dreck am Boden etwas zur Seite zu schieben. Schließlich machte sie es sich auf dem Holzboden gemütlich. Doch der Schlaf war diesmal alles andere als erholsam.
Unruhig warf sich Lilly hin und her. Sie wurde von Alpträumen geplagt. Knack! Was war das? Lilly schreckte hoch. Knack! Da war es wieder. Es klang, als würde jemand den Baum hochklettern. Lilly starrte angsterfüllt auf die Öffnung des Baumhauses. Gleich war es so weit. Wer auch immer versuchte, das Baumhaus zu erklimmen, würde es jede Sekunde geschafft haben.
Lilly war gebannt und konnte sich nicht rühren. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Was sollte sie nur tun? Einen zweiten Ausgang gab es nicht. Noch immer war Lilly wie gelähmt, als eine Hand in der Öffnung erschien. Erst das Antlitz ihres Stiefvaters befreite sie aus dieser Starre.
„Nein, nein!“, schrie Lilly. „Wie hast du mich gefunden?“
Doch Joe antwortete nicht, er kam geradewegs auf sie zu. Während Lilly rückwärts kroch, funkelte reine Mordgier in Joes Augen. Er zückte ein Messer. Lilly war mittlerweile in der Ecke des Baumhauses angelangt. Sie saß nun in der Falle.
„Nein, nein, nein!“, wimmerte sie wehleidig. Joe machte den letzten Schritt und stand nun direkt vor ihr. Noch immer sprach er kein Wort. Sein Mund verzog sich zu einem grausigen Grinsen, als er Lilly das Messer in die Brust rammte. Fassungslos starrte Lilly an sich herab, auf die klaffende Wunde direkt neben ihrem Herzen. Das Blut rann ihren Bauch hinunter. Sie konnte sich immer noch nicht rühren.
Joe holte aus und trieb das Messer noch einmal in Lillys Oberkörper hinein. Erst als das Messer Lilly zum zweiten Mal berührte und ihr Fleisch unter seiner Klinge teilte, gewann sie die Kontrolle zurück. Lilly schrie aus Leibeskräften. Sie schrie aus Schmerz, aus Wut und Verzweiflung. Diese Schreie brachten sie zurück in die Realität und ließen sie auch aus ihrem Albtraum entkommen.
Schweißgebadet wachte Lilly auf. Es war mittlerweile schon dunkel geworden und Lilly lag noch immer unter dem Baum. Sofort untersuchte sie ihren Körper nach Stichwunden und Verletzungen. Doch sie konnte keine entdecken. Lilly stöhnte auf. So laut, dass sie ein Käuzchen aufscheuchte. Total erleichtert atmete Lilly tief ein und aus und versuchte sich wieder zu beruhigen. Es war zum Glück nur ein Traum gewesen. Ein schrecklicher Albtraum, der so real und echt gewirkt hatte. Ein Traum im Traum.
Lilly schaute auf ihre Uhr, es war bereits kurz nach 23 Uhr. Der Mond stand hoch am Himmel und erhellte das ganze Tal. Alles wirkte immer noch so schön und idyllisch, selbst in der Nacht war es ruhig und friedlich. Nur hin und wieder drangen Geräusche der nachtaktiven Tiere an ihr Ohr, die sie aber weder beunruhigten noch verängstigten.
So beschloss Lilly, auch noch die restliche Nacht unter diesem Baum zu verbringen. Sie drehte sich auf die andere Seite. Dieser Traum hatte es wirklich in sich gehabt! Sie fühlte sich innerlich noch immer aufgewühlt und wusste nicht recht, wie sie das Ganze deuten sollte. Wieder rollte Lilly sich herum. Sie dachte darüber nach, wann ihre schöne Bilderbuchwelt ins Wanken geraten und wie eine Seifenblase zerplatzt war. Bisher hatte sie immer gerne an die Zeit von früher zurückgedacht. An ihre Kindheit, in der die Welt noch in Ordnung gewesen war. Diese Erinnerungen hatten ihr immer Trost gespendet und sie beruhigt. Doch jetzt wollten diese Gedanken sie nicht beruhigen. Sie fragte sich stattdessen zum ersten Mal, wann dieses Leben, das heute so weit weg schien, eigentlich aufgehört hatte zu existieren. War es durch den Autounfall ihres Vaters geschehen? Oder hatten es die darauf folgenden Männer ihrer Mutter zerstört? Vielleicht war aber auch die zweite Hochzeit ihrer Mutter schuld daran gewesen.
Tief im Inneren wusste Lilly, dass all diese Gründe und noch weitere dazu beigetragen hatten. Es war so vieles passiert, womit die kleine Lilly nicht zurechtgekommen war. Viel zu schnell hatte sie erwachsen werden müssen und lernen, mit Schmerzen und großen Verlusten klarzukommen. Immer noch von diesen schrecklichen Erinnerungen geplagt, warf Lilly sich unruhig hin und her, bis der Schlaf sie zum zweiten Mal übermannte.
4
-RÜCKBLICK-
Lilly war zehn Jahre alt. Vor sechs Wochen waren die Sommerferien zu Ende gegangen und Lilly in die fünfte Klasse gekommen. Leider kam sie mit der neuen Klassenlehrerin nicht so gut zurecht. Frau Meyer war eine Frau mittleren Alters. Schon ihr Aussehen verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete. Ihr Haar war bereits leicht grau meliert und zu einem strengen Knoten zusammengebunden. Erste Fältchen zogen sich durch ihr Gesicht und nur selten drang ein Lächeln über ihre Lippen. Sie versuchte immerzu, die Kinder mit Strenge und Disziplin in ihre Schranken zu weisen.
Die Umstellung nach den Ferien fiel Lilly in diesem Jahr besonders schwer. Sie hatte fast die ganzen Ferien draußen verbracht. Entweder war sie allein über Felder und Wiesen getobt oder sie hatte sich mit Freundinnen zum Spielen getroffen. Auch mit ihrem Vater hatte sie sehr viel Zeit verbracht. Obwohl Kai meist lange arbeiten musste, hatte er sich immer wieder Zeit für seine Tochter genommen. Bei ihrer Mutter sah es dagegen leider anders aus. Obwohl Angelika nur halbtags arbeitete, war sie auch den restlichen Tag immer schwer mit sich selbst oder der Hausarbeit beschäftigt und fand nur selten Zeit, etwas mit Lilly zu unternehmen.
So konnte Lilly nie die volle Liebe und das starke Vertrauen zu ihrer Mutter aufbauen, wie sie es bei ihren Freundinnen neidvoll beobachten konnte. Doch solange Lilly wusste, dass sie sich auf ihren Vater verlassen konnte, war ihr das nicht so wichtig. Sie hatte schon früh gelernt, ihren Vater als Bezugsperson anzusehen. Und auf das Geschimpfe ihrer Mutter verzichtete das kleine Mädchen nur allzu gerne. Es war auch einzig ihr Vater, der das ungezügelte Temperament seiner Tochter verstehen konnte. Kai war als kleiner Junge genauso gewesen und selbst heute brauchte er immer noch seine Freiheiten. Dieses entgegengebrachte Verständnis und die Ähnlichkeit der beiden schuf eine starke Verbindung zwischen Lilly und ihrem Vater. Sie vergötterte diesen Mann und liebte ihn über alles. Auch wenn ihre Mutter mit ihr schimpfte und Kai in diesen Situationen hinter seiner Frau stand, wusste Lilly tief in ihrem Herzen, dass ihr Vater sie verstand und ihr niemals wirklich böse sein konnte.
Bei schönem Wetter gingen Lilly und ihr Vater immer gerne auf lange Wanderungen durch Wiesen und Wälder. Schon früh zeigte er ihr die Schönheit der Natur und lehrte Lilly auch, welche Pilze und Pflanzen sie meiden sollte. Lilly genoss diese Zeit mit ihrem Vater sehr. So lernte sie die Natur zu lieben und zu schätzen. Sie war schon immer ein richtiger Wildfang gewesen.
Doch leider eckte sie damit bei ihrer neuen Klassenlehrerin immer wieder an und wurde schnell als Unruhestifterin abgestempelt. So war es auch schon öfter vorgekommen, dass Frau Meyer ihre Eltern benachrichtigen ließ.
Heute war wieder ein Tag, an dem Lilly ganz und gar nicht still sitzen konnte. Es war ein herrlicher Spätsommertag und die Sonne schien unaufhaltsam vom Himmel. Lilly schaute lieber aus dem Fenster, als dem Unterricht zu folgen. Sie träumte davon, durch die Felder zu streifen und draußen herum zu toben.
„Lilly, hier spielt die Musik!“, schallte es vom Lehrerpult. Frau Meyer, die Klassenlehrerin trommelte ungeduldig mit ihren Fingern auf den Tisch.
Einen kurzen Augenblick schenkte Lilly ihr die gewünschte Aufmerksamkeit, ehe sie wieder aus dem Fenster sah.
„Lilly!“, schrie die Lehrerin und sprang auf. „Kannst du bitte meine letzte Frage wiederholen?“
Lilly schaute die Frau direkt an, doch sie antwortete nicht. Stattdessen wippte sie mit ihrem Stuhl und beobachtete mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht, wie die Augen der Lehrerin immer schmäler wurden. Sie hoffte, endlich wieder den Blick aus dem Fenster richten zu können. Die ganze Zeit hatte sie den blauen Himmel beobachtet, an dem einige Schleierwölkchen langsam vorüber gezogen waren. Doch Frau Meyer ließ nicht locker und wollte Lillys Verhalten nicht weiter durchgehen lassen.
„Wenn du schon nicht aufpassen willst, dann stör’ gefälligst nicht auch noch deine Mitschüler“, sagte Frau Meyer, der es nicht entgangen war, dass sich langsam die Unruhe in der ganzen Klasse ausbreitete. „Es wird wohl am besten sein, wenn dich deine Eltern abholen“, fügte sie in bitter-bösem Tonfall hinzu. Sie verwies Lilly der Klasse und schickte sie auf direktem Wege zum Direktor.
Lilly schluckte hart, doch sie ließ sich ihr Unbehagen nicht anmerken. Gelassen erhob sie sich von ihrem Stuhl und verließ das Klassenzimmer. Trödelnd lief sie zum Sekretariat.
Die junge Sekretärin war gerade am Telefon und begrüßte Lilly mit einem wissenden Nicken. Es war nicht das erste Mal, dass Lilly hergeschickt worden war und sie kannten sich bereits. Ihr Name war Kelly. Sie hatte zu Beginn des neuen Schuljahres angefangen hier zu arbeiten. Ihr langes, blondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der fröhlich um ihren Kopf hin- und herhüpfte. Kelly war wirklich nett und Lilly mochte sie sehr. Gerade beendete Kelly ihr Telefonat und fragte Lilly, ob sie wieder ihre Mutter anrufen sollte.
Lilly nickte und schaute verlegen zu Boden. Das würde eine weitere Standpauke bedeuten. Sie versuchte eine aufsteigende Träne zu unterdrücken.
„Lilly, sei doch nicht besorgt“, versuchte Kelly sie zu beruhigen. Lilly blickte auf und schaute Kelly an, die sie mit einem verständnisvollen Lächeln beobachtete.
„Ich kann deine Mutter nicht erreichen. Soll ich es stattdessen bei deinem Vater auf der Arbeit versuchen?“ - Lilly atmete erleichtert auf und gab dem Mädchen die Telefonnummer von der Kanzlei ihres Vaters. Er würde sie sicher verstehen und bei dem schönen Wetter etwas Gnade walten lassen, hoffte Lilly.
Zwanzig Minuten später traf Lillys Vater in der Schule ein. Seine kantigen Wangen waren leicht gerötet und seine dunklen Augen funkelten böse. Sein schwarzes Haar wirkte zerzaust. Er war in aller Eile hergekommen und versuchte gar nicht zu verbergen, wie ungünstig dieser Zwischenfall für ihn war. Kai trug ein kurzärmeliges Hemd mit Krawatte. Sein Jackett hatte er bei dieser Hitze im Auto gelassen. In seinem schicken Anzug strahlte er immer eine große Autorität aus. Lilly bewunderte die Art, wie er damit auf seine Mitmenschen wirkte. Auch wenn sie ihn ohne Anzug und Krawatte noch viel mehr liebte.
Der Direktor kam zur gleichen Zeit aus seinem Büro und begrüßte Kai freundlich. Der Direktor war ein älterer Mann mit einer sehr imposanten Ausstrahlung. Er war schon weit über fünfzig und hatte eine Glatze. Seine schmale, randlose Brille ließ ihn sehr intellektuell wirken. Jeder begegnete diesem Mann mit großem Respekt und Ehrfurcht. Manche Schüler hatten sogar regelrecht Angst vor ihm. Doch Lilly mochte diesen Mann. Sie hatte immer das Gefühl, hinter seiner harten Schale seine freundliche Art sehen zu können.
Ohne große Worte zu verlieren, führte er Vater und Tochter in sein Büro und schloss die Tür hinter den beiden. Der folgenden Standpauke des Direktors hörte Lilly nur mit einem Ohr zu. Es war doch immer das Gleiche. Sie hatte längst aufgehört, auf Verständnis seitens der Lehrer oder des Direktors zu hoffen.
Nachdem Lilly auch diese Rede über sich ergehen lassen hatte, wurde sie für den Rest des Tages vom Unterricht ausgeschlossen.
Bisher hatte nichts die starke Verbindung zwischen Lilly und ihrem Vater zerstören können. Doch heute schien es anders zu sein. Kai packte Lilly grob am Arm und bugsierte sie aus dem Büro des Direktors. Erst am Auto ließ er ihren Arm wieder los.
„Was hast du dir nur dabei gedacht?“, schrie er Lilly an. „Kannst du nicht einmal deiner Lehrerin gehorchen?“ - Er gab Lilly keine Chance zu antworten. „Wir haben heute in der Kanzlei so viel zu tun. Es war mir fast unmöglich herzukommen. Ich musste einen wichtigen Termin verschieben. Und das nur, weil du nicht aufpassen und still sitzen konntest?! Also wirklich, Lilly! Wie soll das weitergehen? In den letzten Wochen wurden wir schon mehrmals angerufen und in die Schule bestellt. Was ist nur los mit dir?“
Die Enttäuschung in der Stimme ihres Vaters schmerzte Lilly sehr. Dieser Tonfall ließ sie erkennen, dass er es diesmal wirklich ernst meinte. Er war wirklich böse auf sie.
„Tut mir leid, Daddy!“, entschuldigte sich Lilly. Doch ihr Vater war heute nicht so einfach zu besänftigen.
Er hielt ihr die Autotür auf. „Steig ein! Ich muss gleich wieder zurück in die Kanzlei. So langsam musst du wirklich lernen, dem Unterricht zu folgen und besser aufzupassen. Du bist doch kein Baby mehr!“
Jedes Wort, das ihr Vater sagte, schmerzte sehr. Lilly wollte ihren Vater nicht enttäuschen. Sie wollte seine Liebe nicht gefährden, denn er war doch alles, was sie hatte. Kai hatte es sehr eilig und fuhr ziemlich schnell. Lilly hielt sich krampfhaft am Türgriff fest. Diesen Fahrstil ihres Vaters kannte sie bisher nicht und er gefiel ihr noch weniger.
„Daddy, fahr doch nicht so schnell!“, rief sie vom Rücksitz. Doch ihr Vater ignorierte ihren Einwand.
„Ich bringe dich jetzt nach Hause und dann muss ich gleich wieder zurück in die Kanzlei. Dort wartet schon der nächste Klient auf mich. Du wirst direkt in dein Zimmer gehen und über dein Verhalten nachdenken. Und wenn ich heute Abend nach Hause komme, hast du hoffentlich begriffen, was du falsch gemacht hast!“