Rassismuskritik - Wolfram Stender - E-Book

Rassismuskritik E-Book

Wolfram Stender

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Beschreibung

Rassistisch motivierte Gewalttaten werden - das ist keine Frage - von den meisten Menschen in Deutschland und anderswo verurteilt. Doch wie steht es um die weniger offensichtlichen Formen von Rassismus? Betroffene sehen sich immer wieder damit konfrontiert, dass ihre Erfahrungen mit diesen Formen des Rassismus nicht anerkannt oder kleingeredet werden. Hier bedarf es einer rassismuskritischen Perspektive, die solche Erfahrungen einordnet und dadurch sichtbar macht. Das leistet diese Einführung in die Rassismuskritik, indem sie die aktuelle Rassismusforschung vorstellt, die zentralen Begriffe wie "Alltagsrassismus", "Institutioneller Rassismus" und "Struktureller Rassismus" erklärt und mithilfe von Fallstudien veranschaulicht. Welche Konsequenzen sich daraus für eine rassismuskritische Soziale Arbeit ergeben, wird abschließend erläutert.

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Inhalt

Cover

Titelei

Zur Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft«

Fanons Prinzip: Zur Einleitung

1 Gibt es einen »neuen Rassismus«? Von der Rassismusforschung zur rassismuskritischen Forschung

1.1 »Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein«: Kritik an der traditionellen Rassismusforschung

1.2 Kontroverse Positionen

1.2.1 Rassismus als ideologischer Prozess, »Rasse« als »analytisch nutzloser Begriff«

1.2.2 Rassismus als diskursive Formation, Race als soziale Kategorie

1.3 Mehr als ein »Sprachversteck«? Zum cultural turn des ideologischen Rassismus

2 Was ist »Alltagsrassismus«?

2.1 »Understanding Everyday Racism«: Theorie des Alltagsrassismus

2.2 »Gendered Racism«: Empirie des Alltagsrassismus

2.3 Rassismuserfahrungen in Deutschland: Aktuelle empirische Befunde

2.3.1 Antisemitismuserfahrungen von jüdischen Menschen

2.3.2 Rassismuserfahrungen von Schwarzen Menschen

2.3.3 Rassismuserfahrungen von Sinti:zze und Rom:nja

3 Was ist »Institutioneller Rassismus«?

3.1 Vom politischen Kampfbegriff zum empirischen Analysekonzept

3.2 Vom institutionellen Rassismus zur institutionellen Diskriminierung – und wieder zurück?

3.3 Institutioneller Rassismus: Eine Fallstudie

4 Was ist »Struktureller Rassismus«?

4.1 Rassismuskritik vom Kopf auf die Füße gestellt: Strukturtheorie des Rassismus

4.2 Struktureller Rassismus als dialektisches Mehr-Ebenen-Modell

4.3 Rassismus als totales soziales Phänomen: Eine Fallrekonstruktion

5 Über die Schwierigkeit Sozialer Arbeit, nicht rassistisch zu sein

5.1 Rassismus in der Sozialen Arbeit: Zum Forschungsstand

5.2 Sozialarbeiterischer Rassismus in Theorie und Praxis

5.3 Rassismuskritik als politisches Projekt

Literatur

Historische und zeitgenössische Quellen

Soziale Arbeit in der Gesellschaft

Die Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft« macht es sich zur Aufgabe, die gesellschaftlichen Themen aufzubereiten, die eine besondere Bedeutung für die Soziale Arbeit haben – vom Recht auf Unterstützung über Teilhabe bis hin zu sozialen Problemlagen wie Armut. Die einzelnen Bände liefern das Grund- und Orientierungswissen, das Studierende und Sozialarbeiter:innen benötigen, um eine professionelle Haltung zu entwickeln und ihren Adressat:innen auf Augenhöhe zu begegnen.

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/soziale-arbeit-in-der-gesellschaft.html

Der Autor

Dr. Wolfram Stender ist Professor für Soziologie an der Hochschule Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kritische Gesellschaftstheorie, Formen des Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus/Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja sowie politische Psychologie ideologischer Syndrome. Er ist Mitbegründer der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Niedersachsen (RIAS Niedersachsen) und war Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus des Deutschen Bundestags.

Wolfram Stender

Rassismuskritik

Eine Einführung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-036704-3

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-036705-0epub:ISBN 978-3-17-036706-7

Zur Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft«

Unsere Gesellschaft wird immer mehr von inneren Spannungen geprägt: Armut, eingeschränkte Teilhabe, soziale Ungleichheit oder auch Rassismus und Gewalt sind nur einige Themen, die immer wieder hitzig diskutiert werden. In diesem Debattenklima ist es schwierig, zu einer faktenbasierten Bewertung dieser Problemlagen zu kommen, die einer sorgfältigen und nachprüfbaren theoretischen Begründung nicht entbehren. Gerade Sozialarbeiter:innen sind auf solche wissenschaftliche Analysen angewiesen – schließlich sind sie es, die täglich in ihrer Arbeitspraxis mit diesen Problemen und Debatten konfrontiert werden.

Solche Analysen bietet die Reihe »Soziale Arbeit in der Gesellschaft«. In klarer, verständlicher Sprache beantworten die einzelnen Bände für die Soziale Arbeit grundlegende Fragen: Welche Bedeutung haben die Problemlagen für die Gesellschaft und welche Herausforderungen sind damit für die Soziale Arbeit verbunden? In welchen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit spielen sie eine Rolle? Welche Kompetenzen benötigen Sozialarbeiter:innen und wie können sie diese entwickeln? Und: Wie kann die Soziale Arbeit unterstützen, welche gesellschaftlichen Ziele verfolgt sie dabei und welche Handlungsansätze haben sich dafür bewährt oder müssen noch erarbeitet werden?

Die einzelnen Bände basieren auf einem breiten sozialwissenschaftlichen Fundament. Sie wollen dazu beitragen, Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit zu einer kritischen Auseinandersetzung mit einschlägigen Handlungsfeldern und Arbeitsansätzen einschließlich ihrer professionellen Haltung anzuregen.

Fanons Prinzip: Zur Einleitung

»Ein für allemal stellen wir folgendes Prinzip auf: eine Gesellschaft ist entweder rassistisch oder nicht. Solange man diese Evidenz nicht erfasst hat, wird man an einem großen Teil der Probleme vorbeigehen« (Fanon 2013, S. 74). Kaum eine Erkenntnis über die gesellschaftliche Funktionsweise von Rassismus stieß auf mehr Unverständnis als dieser Satz aus dem Buch »Schwarze Haut, weiße Masken« von Frantz Fanon. Das Buch gilt heute als ein Schlüsseltext der Rassismuskritik. Der 27-jährige Fanon schrieb es vor dem Hintergrund der kolonialen Situation seiner Zeit und der sich vollziehenden antikolonialen Befreiungskämpfe, an denen er selbst aktiv beteiligt war. Das von ihm formulierte »Prinzip« richtete sich gegen jene zeitgenössischen Erklärungsversuche von Rassismus, die diesen auf ein rein subjektives Phänomen – »comme une tare psychologique« (Fanon 2006, S. 46) – reduzierten. Dem setzte Fanon die Perspektive derjenigen entgegen, die Rassismus alltäglich am eigenen Leib erfahren. Für sie stellt sich das »Problem« anders dar. Rassismus ist eine ständige Bedrohung, er durchdringt alle Bereiche des Lebens. Er ist dort, wo Menschen durch physische Gewalt getötet werden. Er ist aber auch dort, wo Menschen alltäglich erniedrigt und beleidigt werden, ihre Rechte strukturell verletzt und ihre Lebenschancen systematisch zerstört werden. Rassismus hat eine massive gesellschaftliche Materialität. Er ist für diejenigen, die ihm ausgesetzt sind, eine Erfahrung der Gewalt – egal in welcher Gestalt und in welcher Form.

In »Schwarze Haut, weiße Masken« reflektiert Fanon auf seine Erfahrungen in Frankreich zu Beginn der 1950er Jahre. Schon damals verurteilten die Vereinten Nationen Rassismus. Siebzig Jahre später besteht über kaum einen anderen Sachverhalt weltweit so hohe Einigkeit wie darüber, dass das, was mit dem Wort Rassismus bezeichnet wird, verabscheuungswürdig, moralisch zu verurteilen und politisch zu bekämpfen ist. Fast alle Staaten der Welt haben die Antirassismuskonvention, International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination (ICERD), seit ihrer Verabschiedung durch die UN-Generalversammlung im Jahr 1965 unterzeichnet.1 Sie haben sich damit verpflichtet, Rassismus in jeder Form unverzüglich und mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen, jeder Person in ihrem staatlichen Hoheitsbereich wirksamen Schutz gegen alle rassistischen Handlungen zu gewährleisten, wirksame Maßnahmen zu treffen, um das Vorgehen der eigenen staatlichen Behörden zu überprüfen, und alle Gesetze und sonstigen Vorschriften zu ändern, aufzuheben oder für nichtig zu erklären, die rassistische Diskriminierung bewirken (ICERD Art. 2).

Ist also das Fanon'sche Prinzip veraltet? Ist der Rassismus nur noch das Relikt einer untergegangenen Epoche, entstanden im langen 16. Jahrhundert, als »Menschenrassen« erfunden wurden, um die im Zuge der europäischen Expansion begangenen Verbrechen zu rechtfertigen und die Welt nach dem Prinzip der »Reinheit des Blutes«2 neu zu ordnen, aufgestiegen zur wissenschaftlichen »Rassenlehre« als angesehener und einflussreicher Disziplin im 18. und 19. Jahrhundert, untergegangen im kurzen 20. Jahrhundert mit dem Sieg über den Nationalsozialismus, dem Verbot der »Rassentrennung« in den USA, dem Sturz des Apartheidsystems in Südafrika und der weltweiten Befreiung vom Kolonialsystem als definitivem Endpunkt einer langen, von entsetzlicher Grausamkeit und Ungerechtigkeit gekennzeichneten Geschichte? Dies ist die Meinung vieler heute. Für sie ist Rassismus eine »Erbschaft«, ein »Überbleibsel« oder eine »Hinterlassenschaft« aus vergangener Zeit, die in der Gegenwart fortlebt, aber kein für die Gegenwartsgesellschaft konstitutives Strukturmoment. Zur Begründung wird auf gesellschaftliche »Liberalisierungen« und demokratische »Öffnungen« verwiesen und darauf, dass Rassismus ein »Thema des Mainstreams« geworden sei.

Aber es gibt auch die Gegenthese. Zwar ist es richtig, dass Rassismus auch in Deutschland heute kein Tabuwort mehr ist, Bücher wegen, über und gegen Rassismus zu Bestsellern avancieren, Aktionspläne gegen Rassismus mittlerweile regierungsamtlich erstellt, »Antirassismus-Beauftragte« berufen werden und neuerdings auch ein »Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor« existiert. Aber was heißt es, wenn Rassismus ein »Thema des Mainstreams« geworden ist, dieser jedoch weiterhin die strukturelle Dimension des Problems leugnet? Zweifellos, in Halle wie in Hanau, in Charleston, Pittsburgh, Christchurch, El Paso, Oslo, Buffalo und Paris – die Liste ließe sich leicht fortsetzen – war es die Extremgewalt von Personen, die Rassismus und Antisemitismus in welcher Variante und Kombination auch immer »im Herzen« (Jorge García) tragen: weltanschauliche und vom Hass getriebene Rassisten3. Die öffentliche Verurteilung dieser Form von Gewalt ist groß. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Rassismus auch heute in einer Weise tötet, die aus der öffentlichen Diskussion nach wie vor fast komplett herausfällt: in Formen struktureller Gewalt, die das Recht auf Leben und auf körperliche wie seelische Unversehrtheit verletzen. Dass etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, die statistische Lebenserwartung von Rom:nja in Europa zehn Jahre niedriger liegt als im Durchschnitt der EU-Bevölkerung (vgl. Europäische Kommission 2011), hat nachweisbar etwas mit Rassismus zu tun. Es ist Resultat eines gesellschaftsgeschichtlichen Gewaltzusammenhangs, der sich in der Persistenz rassifizierter sozialer Ungleichheit fortsetzt und im Begriff des strukturellen Rassismus reflektiert.

Dieser Begriff aber, der die gesellschaftlichen Mechanismen der fortdauernden Reproduktion sozialer Ungerechtigkeit entlang rassifizierter Merkmale zum Gegenstand hat, stößt nach wie vor auf breite politische und öffentliche Abwehr und gezieltes wissenschaftliches Unverständnis. Gegen die Dethematisierung der strukturellen Dimension des Rassismus, die u. a. durch die Fixierung des ›Mainstreams‹ auf rassistische Einzeltaten und individuelle Formen von Rassismus organisiert wird, ist das Fanon'sche Prinzip zu verteidigen. Es entspricht auch heute der Erfahrung von Millionen von Menschen, auch wenn der Rassismus seine Gestalt verändert haben mag. Schon vor mehr als zwei Jahrzehnten hat Howard Winant auf das Paradox der angeblich »postrassistischen Gesellschaft« hingewiesen: »Today racism operates in societies and institutions that explicitly condemn prejudice and discrimination« (Winant 2001, S. 307). Statt die »Zeitenwende« hin zur »offenen Gesellschaft«, die den Rassismus erfolgreich überwunden habe, zu verkünden, wäre es die Aufgabe einer Rassismusanalyse, die den Namen verdient, den Zusammenhang zwischen der weltweiten öffentlichen Ächtung von Rassismus und den Mechanismen seiner Reproduktion im gesellschaftlichen Prozess zu untersuchen. Angesichts der Dynamik der weltgesellschaftlichen Ungleichheits- und Dominanzstrukturen, den mit ihr einhergehenden Formen neuer Grenzziehungen und Segregationen sowie der Renaissance offen rassistischer Politikprojekte, die auch in einigen Ländern der Europäischen Union mittlerweile die Regierungspolitik bestimmen, spricht nichts für die frohe Botschaft, dass ein Ende des Rassismus bevorsteht.

Das Fanon'sche Prinzip, Rassismus als strukturelles Problem zu begreifen, kann als der kleinste gemeinsame Nenner rassismuskritischer Theorie und Praxis betrachtet werden. Dabei ist es riskant, von Rassismuskritik im Singular zu sprechen, so wie es auch riskant ist, von Rassismus im Singular zu sprechen. Zwar gibt es einige basale Erkenntnisse, die unstrittig sind, etwa dass »Rassen« nicht existieren: »The truth is that there are no races: there is nothing in the world that can do all we ask ›race‹ to do for us« (Appiah 1985, S. 35). Dahinter kann niemand zurück. Es gibt keine natural kinds, keine natürlichen Gruppen im Sinne biologischer Tatsachen oder vorgesellschaftlicher Essenzen, wie in der traditionellen Rassismusforschung noch bis in 1950er Jahre angenommen wurde. Aber existieren »Rassen« als soziale Tatsachen? Existieren sie als »gelebte Erfahrung«? Existieren sie als »artikulierte Praxis«? »Race does not exist, but it does kill people«, so formulierte es Colette Guillaumin (1995, S. 107) vor vielen Jahren. Und ebenso treffsicher heißt es bei Linda Martín Alcoff: »Race korreliert zwar nicht mit Klinalvariationen, jedoch hartnäckig und mit statistisch überwältigender Signifikanz mit Lohnniveau, Arbeitslosigkeit, dem Armutsniveau und der Wahrscheinlichkeit, im Gefängnis zu sitzen« (Alcoff 2021, S. 92). »Rassen« existieren nicht, aber »Rassen«-Konstruktionen sind in ihren materiellen, symbolischen und psychischen Effekten überaus real. Deshalb ist wenig gewonnen, wenn man das Wort einfach aus dem Wortschatz – oder dem Gesetzestext – streicht. Die durch den Rassismus geschaffenen Realitäten des Unrechts, der Ungerechtigkeit und der Gewalt bestehen auch ohne das Wort fort.

Aber ist es sinnvoll, zwischen »Rasse« als rassistischem Konstrukt und race als sozialer Kategorie zu unterscheiden?4 In großen Teilen der rassismuskritisch-intersektional orientierten Forschung wird race als Strukturierungsprinzip in modernen Gesellschaftsverhältnissen – »a central axis of social relations« (Omi/Winant 1994, S. 51) – begriffen, das historisch bis in die Basisstrukturen des ökonomischen Systems eng mit den sozialen Kategorien Gender und Klasse verflochten ist. Der Begriff bezeichne eine soziale Tatsache, ein Gedankending, das zur materiellen Gewalt geworden ist; er enthalte den gesellschaftlichen Prozess, der diese Tatsache alltäglich aufs Neue hervorbringt. Race wird aber auch als das verstanden, was Fanon eine »erlebte Erfahrung«, genauer: »l'expérience vécue du Noir« (Fanon 1952, S. 118), genannt hat, die sich nicht auf den Prozess der Rassifizierung, der Herstellung von Andersartigkeit und der hierarchisierenden Differenzkonstruktion reduzieren lasse. Rassismus kann es ohne Prozesse der Rassifizierung nicht geben, aber Antirassismus – so lautet die These – ohne race auch nicht. Selbstverständlich ist dies eine umstrittene Position, gerade in Deutschland, wo dem Wort – wie Robert Miles einmal anmerkte – »der Geruch der Krematorien« für immer anhaftet.5

Überaus kontrovers ist aber nicht nur race, sondern auch der Begriff des Rassismus. Es gibt keinen Konsens darüber, was Rassismus ist, es gab ihn nie und wird ihn auch zukünftig nicht geben. Dies hat keineswegs nur mit den erkennenden Subjekten, sondern auch mit dem Objekt der Erkenntnis zu tun, das vielfältig, komplex und in ständiger Bewegung ist. Rassismus existiert empirisch nur im Plural. Aber was umfasst dieser Plural? Ist, um ein vieldiskutiertes Beispiel zu nehmen, der Antisemitismus ein Rassismus? Stand in den Anfängen der Rassismusforschung außer Frage, dass Antisemitismus nicht nur eine »Spielart« des Rassismus, sondern sogar sein »Prototyp« sei, ist heute kaum etwas umstrittener als dies. In den Texten der weltweit ambitioniertesten Form der Rassismuskritik, den vielstimmigen Analysen der Critical Race Theory6, kommt Antisemitismus häufig nicht oder nur am Rand vor, was auch damit zu tun hat, dass diese aus der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung hervorgegangen ist und das rassistische System der Ausbeutung und Unterdrückung von Schwarzen Menschen und People of Color in den USA zum primären Gegenstand hat. Zweifellos, der berühmte ›Elefant im Raum‹ ist im Fall der rassismuskritischen Forschung der Antisemitismus. Prozesse der Rassifizierung und der Verabsolutierung der Differenz mit allen ihren destruktiven Auswirkungen spielen nämlich auch in ihm eine zentrale Rolle. Ein vielschichtiges und komplexes Gewaltverhältnis wie der Antisemitismus lässt sich nicht einfach unter dem Begriff des Rassismus subsumieren. Es ist singulär und bedarf der eigenständigen Analyse. Dennoch traf Albert Memmi etwas Richtiges, als er schrieb:

»Man hat behauptet, der Antisemitismus sei etwas völlig anderes als der Rassismus, aber das glaube ich nicht. Zwar ist er zweifellos von allen anderen Formen einer kollektiven Ächtung verschieden, aber deshalb ist er nichtsdestoweniger eine Spielart des Rassismus« (Memmi 1992, S. 72).

Was für den jungen Fanon noch zusammengehörte – »der Antisemitismus trifft mich mitten ins Fleisch« (Fanon 2013, S. 77) –, begegnet sich heute in zum Teil erbitterter Feindschaft. Es zeugt von einer tragischen Verkehrung antirassistischen Bewusstseins, die Rassismuskritik der Antisemitismuskritik entgegenzusetzen. Auch der moderne, säkularisierte Antisemitismus, für den die Vorstellung einer minderwertigen und zugleich unfassbar mächtigen »jüdischen Rasse«, ja einer das absolut Böse verkörpernden, alles Gute zerstörenden und zersetzenden »Gegenrasse«, die um der Erlösung der Welt willen vernichtet werden müsse, zentral ist, ist eine Spielart des Rassismus, und zwar eine besonders destruktive. Wenn man die Ignoranz, die die Verkehrung des antirassistischen Bewusstseins hervorbringt, nicht mitmachen will und wenn die Rede vom modernen Antisemitismus als spezifische Spielart des Rassismus mehr als ein Lippenbekenntnis sein soll – was sie bei vielen, die diese Redewendung verwenden, allerdings ist7 –, dann hat dies weitreichende und für manche, allein auf kolonial-rassistisch konstruierte »Hautfarben« fixierte Rassismuskritiker:innen wohl auch unbequeme Konsequenzen. Denn der Antisemitismus lässt sich weder als Rechtfertigung weißer8 Privilegien sinnvoll beschreiben, noch stellt er ein weißes Privileg dar. Es gibt ihn von rechts, von links und aus der Mitte, von oben und von unten, im Norden und im Süden. Folgt man also Memmis These, dass auch der Antisemitismus ein Rassismus ist – und der größte Teil der rassismuskritischen Literatur nicht nur international, sondern auch in Deutschland tut dies ausdrücklich –, dann darf man nicht vor der deprimierenden Wahrheit zurückschrecken, dass diese auf der Vorstellung von einer ebenso unfassbaren wie unheimlichen »jüdischen Macht«, auf Weltverschwörungsmythen, Antimodernismus und Antiuniversalismus aufbauende Spielart des Rassismus überall auf der Welt anzutreffen ist, auch – wie zuletzt auf der documenta 15 in aller Deutlichkeit zu sehen war – in den Ländern des ›Globalen Südens‹9. Und auch der Grundirrtum vieler postkolonialer Theorien, Israel als Projekt weißer Kolonialisten zu perhorreszieren und die Shoah als Konstitutionsfaktor für die Staatsgründung zu nivellieren, muss dann als solcher benannt und zurückgewiesen werden. Man stößt hier, wie leicht zu erkennen ist, auf ein Schlüsselproblem der Rassismuskritik, dem aber meistens – wie George M. Fredrickson zutreffend beobachtet hat – ausgewichen wird: »Die Geschichtsschreibung zu den beiden hervorstechendsten Erscheinungsformen des Rassismus – Vorherrschaft der Weißen und Antisemitismus – folgte jeweils eigenen Bahnen. Historiker und Soziologen, die sich mit der einen Art von Rassismus beschäftigen, zeigten im Allgemeinen wenig Interesse an den Forschungsarbeiten der anderen« (Fredrickson 2004, S. 159) – zum Nachteil beider, wie zu ergänzen wäre.10

Das vorliegende Buch ist eine Einführung. Es soll verständlich – ohne zu vereinfachen und zu vereinseitigen, aber auch ohne die eigene Position zu verbergen – den Stand der rassismuskritischen Forschung im deutschen Kontext darstellen sowie Kontroversen und unterschiedliche Perspektiven wiedergeben. Den »Kontext«, also den spezifischen geschichtlichen und gesellschaftlichen Erfahrungszusammenhang hervorzuheben, ist notwendig, weil sich mit ihm nicht nur die Spielarten des Rassismus, sondern auch die Begriffsbedeutungen, die Kontroversen und die Perspektiven der Rassismuskritik verändern.11 Und das Buch soll empirisch ›geerdet‹ sein, also die Erklärungskraft rassismuskritischer Forschung empirisch demonstrieren. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wird eine exemplarische Vorgehensweise gewählt. Diese resultiert aus einer Unzufriedenheit mit der Form einer mehr oder weniger zusammenhangslosen Aneinanderreihung unterschiedlicher Rassismen, wie sie in Einführungsbüchern häufig zu finden ist.Die bloß beschreibende Aufzählung unterschiedlicher Rassismen bleibt beliebig und ohne Erkenntniswert. Keine einzige der Spielarten des Rassismus kann so angemessen dargestellt werden, ja schlimmer noch, der Gegenstand selbst verschwindet im Sammelsurium unterschiedlicher Phänomene. Deshalb wird hier der umgekehrte Weg eingeschlagen. Die Modelle der Rassismuskritik werden an einer in Europa nach wie vor äußerst virulenten Spielart des Rassismus empirisch exemplifiziert: dem Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja, der auch als ›Antiziganismus‹ bezeichnet wird.12 Dieser Rassismus, der im nationalsozialistischen Deutschland ein genozidales Ausmaß annahm, ist – wie alle anderen Rassismen auch – spezifisch, er stellt ein über Jahrhunderte gewachsenes, eigenständig zu untersuchendes Macht- und Gewaltverhältnis dar (vgl. UKA 2021, S. 14). Andere Rassismen haben andere Entstehungsgeschichten, Strukturen, Funktionen und Auswirkungen.13 Und dennoch gibt es »Familienähnlichkeiten«14, durch die die Darstellung etwas Exemplarisches gewinnt.

Das Buch umfasst fünf Kapitel. Im ersten Kapitel wird der nachholende Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Rassismusforschung dargestellt, der sich seit dem Epochenbruch 1989 vollzog (▸ Kap. 1). Ausgangspunkt ist die Diskussion über einen »neuen Rassismus«, die vor dem Hintergrund der rassistischen Gewaltexzesse im Zuge des Vereinigungsprozesses Deutschlands zu Beginn der 1990er Jahre stattfand und die neue Konstellation des Rassismus nach dem Fall des Eisernen Vorhangs thematisierte. Gegen die Reduzierung des Problems auf ein Randphänomen, wie es vor allem in der Rechtsextremismusforschung üblich war (und ist), wurden im Kontext dieser Diskussion ideologie- und diskurstheoretische Rassismusbegriffe rezipiert, die Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis in den Blick nehmen.

Im zweiten Kapitel wird der für den Paradigmenwechsel in der Rassismusforschung zentrale, aber häufig analytisch unterschätzte Begriff des Alltagsrassismus eingeführt (▸ Kap. 2). Mit ihm kommen die Perspektiven derjenigen ins Spiel, die nicht nur Rassismus alltäglich erfahren, sondern auch vielfältige antirassistische Widerstandspraktiken entwickeln. Wie allumfassend der Alltagsrassismus auch heute ist, wird anhand verschiedener empirischer Studien dargestellt.

Im dritten und vierten Kapitel werden Wirklichkeitsebenen des Rassismus erläutert, die eng mit der des Alltagsrassismus verflochten sind, aber der eigenständigen Analyse bedürfen: institutioneller und struktureller Rassismus (▸ Kap.3; ▸ Kap. 4). Bei diesen Begriffen ist in der aktuellen Diskussion ein großes Durcheinander zu beobachten, und zwar bei den Befürworter:innen wie den Gegner:innen dieser Begriffe gleichermaßen. Sie werden von vielen immer noch eher als politische Kampfbegriffe wahrgenommen und bleiben häufig analytisch diffus. Wenn institutioneller Rassismus und struktureller Rassismus das Gleiche wären, dann bedürfte es nicht zweier Begriffe. Es kommt darauf an, die Begriffe präzise voneinander zu unterscheiden, weil mit ihnen unterschiedliche Wirklichkeitsaspekte korrespondieren. Der Begriff des institutionellen Rassismus gewinnt an analytischer Kraft, wenn er nicht zu weit gefasst wird, sondern sich auf im starken Sinne formalisierte, insbesondere staatliche Institutionen begrenzt, um die innerinstitutionellen Prozesse, Logiken, Rationalitäten und Irrationalitäten sowie interinstitutionellen Zusammenhänge und Wechselwirkungen empirisch zu untersuchen. Er zielt auf eine empirisch brauchbare Theorie rassifizierter institutioneller Prozesse, die der relativen Autonomie spezifischer, institutionell verfestigter Praxiszusammenhänge ebenso Rechnung trägt wie ihrer relativen Abhängigkeit von anderen sozialen und politischen Prozessen. Der Begriff des strukturellen Rassismus lässt sich demgegenüber als Netzwerk sozialer Beziehungen und Praktiken bestimmen, in denen sich rassifizierte Dominanzen und Unterordnungen gesamtgesellschaftlich reproduzieren. Er bezieht sich auf den gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhang des individuellen und kollektiven Lebens im Ganzen, in den die individuelle, kulturelle und institutionelle Dimension des Rassismus – genauer: der kontextspezifisch virulenten Spielarten des Rassismus – gleichermaßen integriert sind. Die Differenz der Begriffe ist also weniger eine von gesellschaftlicher Mikro-‍, Meso- und Makroebene als eine in der analytischen Fragestellung. Khiara M. Bridges verdeutlicht dies an einem Beispiel aus dem US-amerikanischen Kontext (dem Tod von Eric Garner): Wer Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen strukturell begreifen will, fragt nicht, ob der weiße Polizist, der die Schwarze Person in den tödlichen Würgegriff nahm, ein Rassist ist. Selbstverständlich kann man dies fragen und die Antwort wäre, fiele sie positiv aus, die des individuellen Rassismus. Die Frage ist aber auch nicht, ob die Polizeibehörde, der der Polizist angehört, in ihren Handlungsroutinen rassifizierende Unterscheidungspraxen reproduziert. Auch dies kann man fragen und die Antwort wäre, fiele sie positiv aus, die des institutionellen Rassismus. Wer strukturell fragt, interessiert sich dafür, warum die Schwarze Person, die durch den Würgegriff des Polizisten getötet wurde, gezwungen war, sich an dem Ort, an dem die Polizei ihre Kontrolle durchführte, aufzuhalten, warum sie Zigaretten einzeln verkaufen musste, um Geld zu verdienen, und warum sie schließlich unter Asthma, Hypertonie und einer Herzkrankheit litt: »The answers to this batch of questions do not involve malicious actors, but rather deadly systems and structures« (Bridges 2019, S. 39; Herv. i. Org.).

Insgesamt stellen Rassismuskritik und rassismuskritische Forschung ein plurales, vielstimmiges Projekt dar, das sich nur interdisziplinär sinnvoll realisieren lässt. Sie umfassen neben den in diesem Buch dargestellten Wirklichkeitsebenen des Rassismus auch Untersuchungen zum internalisierten, habitualisierten und zu hohen Anteilen unbewussten »inneren Rassismus« (vgl. Davids 2019), die ohne kritische Subjekttheorie nicht möglich sind. Alle diese Analyseperspektiven tragen zur Erklärung des Phänomens bei, sind relativ autonom und eigenständig. Wird dies nicht berücksichtigt, entsteht ein Reduktionismus in der Rassismusanalyse. Es wird dann z. B. angenommen, Rassismus wäre nichts als ein »Vorurteil«, nichts als eine »kulturelle Repräsentation«, ein »kulturelles Schema« oder »Stereotyp« oder Rassismus wäre nichts als »weiße Vorherrschaft« oder eine Form »institutioneller Diskriminierung«. Alle diese Nichts-als-Positionen sind nicht falsch, aber einseitig und unzureichend. Eine nicht-reduktionistische Analyse hingegen muss sowohl mehrdimensional sein als auch Rassismus im Plural und im Kontext denken.15 Das – patent formuliert – dialektische Mehr-Ebenen-Modell, das in diesem Buch zur Analyse des Rassismus vorgeschlagen wird, hat genau dies zur Absicht.16

Das abschließende, fünfte Kapitel wendet sich der Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein, am Beispiel der Sozialen Arbeit zu (▸ Kap. 5). Auch der Macht-Wissen-Komplex Soziale Arbeit muss strukturell umgebaut werden, wenn er weniger rassistisch sein soll. Genau darauf zielt Rassismuskritik als politisches Projekt. Alles ist gut, was gegen Rassismus hilft, aber nicht alles hilft gegen Rassismus. So mehrdimensional die Analyse, so mehrdimensional die Praxis, wobei Verflachungen immer dann unvermeidbar sind, wenn die strukturelle Perspektive fehlt.Zweifellos hat der Rassismus – haben alle Rassismen – auch eine sozialpsychologische Dimension, die im Antisemitismus als Gleichzeitigkeit von »Leidenschaft und Weltanschauung«, wie es Jean-Paul Sartre einmal formulierte, besonders deutlich hervortritt. Rassismus ist ein ideologisches und ein moralisches Problem, aber er ist vor allem ein gesellschaftliches Problem, ein politisches und soziales Gerechtigkeitsproblem und damit auch eines der materiellen Verteilung und der Macht. Mit Aufklärung allein, so wichtig sie ist, ist es deshalb nicht getan. Es reicht aber auch nicht – um es noch einmal an dem Beispiel von Bridges deutlich zu machen –, den weißen Polizisten, der die Schwarze Person in den tödlichen Würgegriff nahm, aus dem Polizeidienst zu entfernen. Es reicht auch nicht, Verfahren zu implementieren, die verhindern, dass politisch organisierte Rassist:innen in den Polizeidienst kommen. Man sollte dies tun, aber sollte nicht dabei stehen bleiben. Zu verändern sind Gesetze, die gerade denjenigen Schaden zufügen, deren Lebenschancen als Folge vielfältiger Ausgrenzungen ohnehin am schlechtesten sind. Zu schaffen sind materielle Sicherungen, die diejenigen substantiell stärken, die über Generationen hinweg faktischer Segregation ausgesetzt sind. Zu schaffen sind materielle Förderungen, die die Stadtteile am besten ausstatten, die seit langem abgehängt sind, in denen chronische Erkrankungen endemisch sind und der Bildungsmisserfolg und die berufliche Perspektivlosigkeit signifikant höher sind als anderswo. Zu schaffen ist ein unabhängiges Monitoring, das rassifizierende Praktiken in Institutionen wie Schulen, Sozial-‍, Polizei- und Gesundheitsbehörden, Jobcenter und kommunale Verwaltungen sichtbar macht, um Strategien gegen sie zu entwickeln. Zu schaffen sind aber auch Instrumente der nachholenden, korrektiven Gerechtigkeit, die vergangenes Unrecht zwar nicht ›wiedergutmachen‹, aber zumindest die Fortwirkungen mildern können. Zu schaffen – und dies sofort! – ist ein substantieller Schutz derjenigen, die unmittelbar von rassistischer und antisemitischer Gewalt bedroht sind. Gesellschaftliche Gewaltverhältnisse – und darum geht es – lassen sich nur durch strukturelle Veränderungen aus der Welt schaffen.

Endnoten

1Die Bundesrepublik Deutschland hat die Antirassismuskonvention am 10. Februar 1967 unterzeichnet und am 16. Mai 1969 ratifiziert.

2Eine Frühform des ›Blutsprinzips‹ entstand im Spanien des 15. Jahrhunderts: Das rassistische Konzept der nachzuweisenden christlichen Blutsreinheit (limpieza de sangré) traf konvertierte Juden und Muslime, die als »unrein« stigmatisiert und exkludiert wurden.

3Angesichts der statistischen Verteilung solcher Terroranschläge nach Geschlecht ist hier tatsächlich die männliche Form geboten.

4Wie lässt sich der Unterschied zwischen »Rasse« als biologistisch-essentialistisches Konstrukt einer natürlichen Gruppe einerseits, im Sinn einer sozialen Kategorie andererseits in der geschriebenen Sprache sichtbar machen? Hier gibt es verschiedene Vorschläge: Susan Arndt etwa setzt den Begriff in Anführungszeichen – »Rasse« –, wenn das biologistische Konstrukt gemeint ist, während sie den Begriff kursiv setzt – Rasse –, »wenn von der sozialen Position die Rede ist, die durch den Rassismus erzeugt wird« (Arndt 2012, S. 18; dies. 2021, S. 23 f.). Kristina Lepold und Marina Martinez Mateo wiederum weisen auf die »biologistischen und rassistischen Implikationen« hin, die im deutschen Begriff »Rasse« »deutlich im Vordergrund stehen«, während »der englische Begriff ›race‹ vieldeutig [ist] und [..] unter anderem auf eine eigene Tradition kritischer Aneignungen und sozialkonstruktivistischer Umdeutungen [verweist]« (Lepold/Martinez Mateo 2021, S. 7). Sie verwenden deshalb den englischen Begriff race, wenn die soziale Kategorie gemeint ist, und den deutschen Begriff »Rasse« in Anführungszeichen, wenn von der biologistischen Konstruktion die Rede ist. Da Rasse und auch race, auch wenn sie als soziale Kategorie verwendet werden, gefährliche, weil äußerst naturalisierungsanfällige Begriffe bleiben, werden in diesem Buch die Begriffe »rassifizierte Struktur«, »rassifizierte Position« und »rassifizierte Gruppe« präferiert (wenn an einigen Stellen rassisch oder race ohne Anführungszeichen und kursiv gesetzt wird, ist stets die soziale Konstruktion gemeint). Nach Laurence Blum sind »rassifizierte Gruppen« soziale Gruppen als Resultat von Rassifizierungsprozessen, es handelt sich um »intergenerationelle Kollektivitäten«, die durch spezifische historische und soziale Erfahrungen rassistischer Unterdrückung und Gewalt charakterisiert sind (Blum 2010, S. 315).

5Vgl. Miles 1992, S. 193; zur Debatte insgesamt Bernasconi 2001; Lepold/Martinez Mateo 2021; auch Alcoff 2006, S. 179 ff.

6Um gegen die aus ihrer Sicht zu enge Perspektive der Critical Race Theory (CRT), die im Rahmen der in den 1970er Jahren entstandenen Critical Legal Studies zunächst auf die rassistischen Strukturen im Recht und der Rechtsprechung der USA fokussiert war, die transnationale, gleichwohl paradigmatische Tradition des kritischen Nachdenkens über race und Rassismus zu erfassen, haben Philomena Essed und David Theo Goldberg die Bezeichnung Race Critical Theories geprägt: »We do not intend this as a play of words, but as an indication of a specific theoretical disposition« (Essed/Goldberg 2002, S. 4). Diese »spezifische theoretische Disposition« ist auch für das vorliegende Buch wichtig, weil sie Rassismus als strukturelles Problem in den Blick nimmt. Dabei wird der Hinweis von Charles W. Mills aufgegriffen, dass die Bezeichnung Critical Race Theory zunehmend in dem von Essed und Goldberg avisierten weiten Sinn verwendet wird, so dass besser von Critical Race Theories gesprochen werden sollte: »[T]‌he term is increasingly being used in a much broader sense to refer to theory that takes race to be central to the making of the modern world« (Mills 2003, S. 199). – Was die Rezeption der Critical Race Theories (nicht nur) in Deutschland erschwert, sind vor allem zwei Punkte: Zum einen gibt es in den USA, zunehmend aber auch in Europa eine starke rechte Propaganda gegen sie, sie wird als »Race Marxism« (Lindsay) verteufelt oder sogar als selbst »rassistisch« perhorresziert. Zum anderen tendieren nicht wenige postkolonial orientierte »Crits« zu einer scharf anti-israelischen Position, die zum Teil deutlich antisemitische Untertöne hat. Der Staat Israel wird als Prototyp eines kolonialen Staatsrassismus, als Außenposten des westlichen Imperialismus oder auch als genozidaler Apartheidsstaat (weit schlimmer als das frühere Südafrika) dämonisiert. Fast alle Critical Race-Theoretiker:innen, die in diesem Buch Erwähnung finden, inklusive ihrer Vertreter:innen im deutschsprachigen Raum, unterstützen die in erheblichen Teilen eindeutig antisemitische Boykottkampagne »Boycott, Divestment and Sanctions« (BDS) gegen Israel. Dies ist keineswegs nur ein politisches Statement, sondern hat auch theorieimmanente Gründe, die mit dem kolonialen Paradigma dieser Form von Rassismuskritik zu tun haben (▸ Kap. 1.2.1). Dass die Feindschaft gegen Israel nicht immer bestand, zeigt Natan Sznaider (2022, S. 198 ff.): Bis Mitte der 1950er Jahre sahen gerade auch »Schwarze Organisationen [...] in der Gründung Israels ein Modell für die Befreiung unterdrückter Völker« (ebd., S. 200). Zu Geschichte, Inhalten und Positionen der Critical Race Theory vgl. Crenshaw/Gotanda u. a. 1995; Delgado/Stefancic 2017; Brigdes 2019; zum Antisemitismus der BDS-Bewegung vgl. Holz/Haury 2021, S. 216 ff.

7Insbesondere von einigen Vertreter:innen der Critical Whiteness Studies wird die Spezifik des Antisemitismus geleugnet und dieser als vernachlässigbar betrachtet, weil er angeblich keine strukturelle bzw. systemische Qualität habe; vgl. kritisch dazu Berkovits 2018. – Die Fronten sind aber, auch dies gehört zur Wahrheit, auf beiden Seiten verhärtet, wie die empörten Reaktionen auf die Rede des (damaligen) Außenministers und Ministerpräsidenten von Israel, Jair Lapid, auf dem siebten »Globalen Forum zur Bekämpfung von Antisemitismus« (GFCA) im Juli 2021 einmal mehr zeigten. Ohne die Singularität der Shoah in Frage zu stellen, plädierte Lapid dafür, Antisemitismus als eine spezifische Form des Rassismus zu begreifen und alle Spielarten des Rassismus zu bekämpfen.

8Zur Schreibweise vgl. Eggers/Kilomba/Piesche/Arndt 2005, S. 13 sowie Arndt 2012, S. 20 f. Wird »weiß« kursiv gesetzt, zeigt dies den Konstruktionscharakter und die hegemonial-normative Subjektposition im kolonial-rassistischen Machtverhältnis an, »Schwarz« – ebenfalls eine soziale Konstruktion – großgeschrieben verweist auf die politische Selbstbezeichnung und ist »sprachlicher Marker von Widerstand« (Arndt).

9Ein aufgrund der Dichotomie, die er transportiert, keineswegs unumstrittener Begriff.

10Es ist eine der Leitthesen dieses Buches, dass die wechselseitige Ignoranz von Antisemitismus- und Rassismuskritik den Erkenntnisprozess blockiert und auf beiden Seiten zu identitätspolitischen Vereinseitigungen führt, die sowohl der Rassismus- wie der Antisemitismuskritik schaden.

11So spielt etwa im deutschen Kontext der völkische Nationalismus in der »verspäteten« Nationalstaatsbildung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine besondere Rolle und mit ihm der nationale Antisemitismus. Zugleich ist der imperiale Anspruch der »verspäteten Nation« (H. Plessner) an eine lange, genozidale Geschichte des Kolonialrassismus geknüpft, die alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringt und bis in die Philosophie der Aufklärung (etwa Kants »Rassentheorie«) reicht. Die Kontroversen, Perspektiven und Positionen der Rassismuskritik in Deutschland nach 1945 bis heute wiederum sind überhaupt nicht zu begreifen, wenn von dem präzedenzlosen Menschheitsverbrechen abstrahiert wird, für das der Eigenname Auschwitz steht.

12Zur Kontroverse um den Begriff vgl. UKA 2021, S. 36 ff.

13Neben dem Antisemitismus und dem Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja sind es aktuell vor allem der Rassismus gegen Schwarze Menschen, der antimuslimische Rassismus, der antiasiatische Rassismus und – selten thematisiert – der antislawische Rassismus, die eine hohe Virulenz aufweisen (vgl. NaDiRa 2022, S. 20 ff.; Hund 2018, S. 68 ff.). Zwischen ihnen gibt es vielfältige Verknüpfungen, wie es auch Verbindungen zu anderen Gewaltverhältnissen, etwa dem Sexismus und dem Klassismus, gibt. Jeder dieser Rassismen bedarf aber der spezifischen, gesellschaftsgeschichtlichen Analyse; ▸ Kap. 2.3.

14Den von Ludwig Wittgenstein geprägten Begriff der »Familienähnlichkeit« wählt Dorothee Kimmich, um deutlich zu machen, dass es »kein gemeinsames ›Wesen‹ [gibt], das alle Rassismen notwendig teilen« (Kimmich/Lavorano/Bergmann 2016, S. 20). Wittgenstein erläutert den Begriff am Beispiel des Spiels: Es gebe viele verschiedene Spiele, aber »wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe« (Wittgenstein zit. n. ebd., S. 21). Neuerdings verwendet auch Paul Mecheril den Begriff der »Familienähnlichkeit«; vgl. Mecheril 2021, S. 33.

15Nicht nur der Rassismus gegen Schwarze Menschen ist strukturell, sondern alle Rassismen bestehen aus einem Zusammenspiel individueller, kultureller und institutioneller Elemente, auch der Antisemitismus. Auch dieser lässt sich nicht, wie häufig in der Antisemitismusforschung zu beobachten, »comme une tare psychologique« (Fanon) behandeln.

16Gegen den Reduktionismus in der Rassismusanalyse hat schon Philip Cohen vor vielen Jahren treffende Argumente formuliert; vgl. Cohen 1994, S. 9 – 49.

1 Gibt es einen »neuen Rassismus«? Von der Rassismusforschung zur rassismuskritischen Forschung

Es gehört zu den bemerkenswertesten Fehlleistungen kritisch ambitionierter Gesellschaftswissenschaft in Deutschland, dass ein für moderne Gesellschaftsverhältnisse so grundlegender Sachverhalt wie der Rassismus über einen sehr langen Zeitraum nicht als eines der Schlüsselthemen theoretischer und empirischer Sozialforschung erkannt wurde. Erst das Entsetzen17 über die von vielen nicht mehr für möglich gehaltene Freisetzung offen rassistischer Gewalt zu Beginn der 1990er Jahre mit den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und den Mordanschlägen von Mölln und Solingen als traurigen Höhepunkten führten zu einer breiteren wissenschaftlichen Beschäftigung mit Rassismus und in der Folge zu einer nachholenden Rezeption der internationalen Diskussion der Rassismusforschung. Aus der Distanz von über dreißig Jahren lässt sich sagen, dass der Epochenbruch 1989 nicht nur eine neue rassistische Konstellation hervorbrachte. Es etablierte sich, jedenfalls in Ansätzen, auch eine neue Form der Rassismuskritik (vgl. Räthzel 2012).18

Dabei ist es keineswegs zufällig, dass die Diskussion im wiedervereinigten Deutschland mit der Frage einsetzte, ob es einen neuen Rassismus gibt.19Die Verwendung des mit dem Nationalsozialismus identifizierten Begriffs »Rassismus« in gegenwartsbezogener Absicht unterlag in den beiden deutschen Nachkriegsstaaten aus historischen und moralischen Gründen einer besonderen Begründungspflicht und stieß bis in die jüngste Vergangenheit auf starke Abwehr in Politik und Wissenschaft. Die Verengung des Rassismusbegriffs auf einen historisch zurückliegenden und als überwunden deklarierten Sachverhalt aber blockierte die rassismuskritische Forschung in Deutschland nachhaltig. Deshalb wurden in der zu Beginn der 1990er Jahre aufkommenden Diskussion um einen »neuen Rassismus« immer auch Grundprobleme der Rassismusforschung verhandelt: Was ist Rassismus? Wo beginnt er? Welche Spielarten, Formen und Dimensionen umfasst er? Wie zeigen sich diese in der Gegenwart? Mit der Diskussion dieser Fragen begann ein Paradigmenwechsel, der weit über eine Beschreibung der Metamorphosen des ideologischen Rassismus hinausging und Forschungsperspektiven eröffnete, die es ermöglichen, die gesellschaftlichen Tiefendimensionen von Rassismen sowie ihre Verflechtungen mit anderen gesellschaftlichen Gewaltverhältnissen einer Analyse zugänglich zu machen.20

In der Frage nach einem »neuen Rassismus« war also auch immer die Frage nach einer Neubestimmung des Rassismusbegriffs enthalten, in dem Dimensionen von rassistischer Realität sichtbar werden, die in der hierzulande bis dahin unangefochten dominierenden Zweieinigkeit von Vorurteils- und Rechtsextremismusforschung unsichtbar blieben.

Als ein Initialtext der rassismuskritischen Forschung in Deutschland gilt das Buch von Annita Kalpaka und Nora Räthzel mit dem emblematischen Titel »Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein«.21 Von ihm ausgehend wird im Folgenden dargestellt, wie sich in der Diskussion über die Frage nach einem »neuen Rassismus« und in dezidierter Abgrenzung zur traditionellen Rassismusforschung das Verständnis davon, was Rassismus ist, veränderte (▸ Kap. 1.1). Dabei wird der Fokus auf die für den deutschen Kontext der 1990er Jahre (und auch danach) gleichermaßen einflussreichen, gleichwohl kontrovers zueinander stehenden Neubestimmungen des Rassismusbegriffs gerichtet: die ideologietheoretische in der Variante von Robert Miles und die diskurstheoretische in der Variante von Stuart Hall. In der Kontroverse zwischen Miles und Hall werden politisch folgenreiche Grundpositionen der Rassismuskritik verhandelt, die bis heute umstritten sind (▸ Kap. 1.2.1; ▸ Kap. 1.2.2). Abschließend wird die Diskussion über das vermeintlich »Neue« am »neuen Rassismus«, in der es nicht nur um die veränderte rassistische Konstellation zu Beginn des 21. Jahrhunderts, sondern zumindest untergründig auch immer um das Gemeinsame und das Trennende der Spielarten von Rassismus – insbesondere von kolonialem Rassismus und Antisemitismus – ging, am Beispiel der Argumentationen von Pierre-André Taguieff, Albert Memmi und Étienne Balibar noch einmal in den Blick genommen (▸ Kap. 1.3).

1.1 »Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein«: Kritik an der traditionellen Rassismusforschung