Raubkunst - Kunstraub - Kai Artinger - E-Book

Raubkunst - Kunstraub E-Book

Kai Artinger

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Beschreibung

Im Zuge der aktuellen Debatten beschäftigen sich immer mehr Museen und Sammlungen mit der Herkunft ihrer Ausstellungstücke. Dabei ist es nicht immer leicht, zwischen Raub, Enteignung und legalem Erwerb zu unterscheiden. Das Buch bietet anhand von 19 spannenden Fällen einen anschaulichen Einblick in die Geschichte der Raubkunst und in den heutigen Umgang mit diesem Phänomen. Es beschreibt, wie Kunstexperten möglicherweise geraubte Werke aufspüren und deren Besitzgeschichte teils detektivisch aufarbeiten, aber auch, wie unterschiedlich Politik und Justiz mit der Frage von Restitutionen umgehen.

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Kai Artinger

RAUBKUNSTKUNSTRAUB

19 WERKE UND IHRE GESCHICHTEN

BeBra Verlag

INHALT

RAUBKUNST – BEUTEKUNST – KUNSTRAUB: WER BLICKT DA NOCH DURCH?

BEUTEKUNST DER BRITISCHEN KRONEBenin-Bronzen

DAS »PRACHTBOOT« UND DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS IN DER SÜDSEELuf-Boot

DER UNENDLICHE STREIT UM DIE ÄGYPTISCHE KÖNIGINDie Büste der Nofretete

BERLINS ENTGANGENER SCHATZDie Sammlung Fuchs

»CAUSA KIRCHNER« – WER VERKAUFTE WANN, WO UND FÜR WIE VIEL? Berliner Straßenszene von Ernst Ludwig Kirchner

EINE »BITTE«, DIE EINE ENTEIGNUNG RECHTFERTIGTAdele Bloch Bauer I von Gustav Klimt

NICHT NUR DER GRÖßTE KUNSTRAUB, SONDERN DER GRÖßTE AUTORAUB DER GESCHICHTEDas Auto der Familie Rosenfeld

EINE FOLGENREICHE UMBENENNUNGOstsee von Karl Schmidt-Rottluff

EINE »VERSCHWUNDENE« MILLIONENSAMMLUNGDie Sammlung Moritz Horkheimer

DIE »WENDE« – RAUBKUNST MEETS KULTURMANAGEMENTDie Labung von Hans von Marées

RAUBKUNST ALS SPEKULATIONSOBJEKT DES KUNSTHANDELS?Ein Nachmittag im Tuileriengarten von Adolph Menzel

MAL »NS-RAUBKUNST«, MAL NICHT?Nähschule im Waisenhaus Amsterdam von Max Liebermann und Thunersee mit Stockhornkette von Ferdinand Hodler

EINE KUNSTSAMMLUNG ALS »EWIGER LERNPROZESS« – DIE KONTROVERSE UM DEN »KANONEN-KÖNIG VON OERLIKON«Die Bührle-Sammlung

VERMÄCHTNIS EINES »PHANTOMS«Die Sammlung Cornelius Gurlitt

WAS GESCHAH AM ANHALTER BAHNHOF BERLIN?Mädchen unter der Decke von Karl Hofer

»SCHLOSSBERGUNG« IM RITTERGUT ERMLITZ – VOM KUNSTRAUB IN DER SBZ IN DEN KUNSTHANDEL DER BRDRadierungen von Wenzel Hollar

VOM STAAT GERAUBT ODER DEM STAAT GESCHENKT?Der Nachlass von Otto Nagel

DAS PARADOX DES DIEBS ALS RETTER DER BEUTEDie Sammlung Kunsthalle Bremen

DIE BEHARRLICHE SUCHE ZAHLT SICH AUSPrager Straße von Otto Dix

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

BILDNACHWEIS

ÜBER DEN AUTOR

RAUBKUNST – BEUTEKUNST – KUNSTRAUB: WER BLICKT DA NOCH DURCH?

Kunstraub scheint ein uns vertrauter Begriff zu sein. Jeder hat schon einmal von einem spektakulären Fall gehört, in dem ein berühmtes Kunstwerk gestohlen wurde. Da wäre zum Beispiel der berühmte Diebstahl der Mona Lisa von Leonardo da Vinci aus dem Pariser Louvre im Jahr 1911. Unter den von der Polizei verhörten Verdächtigen war Picasso. Die vergangenen Jahrzehnte, aber auch die vergangenen Jahrhunderte, waren nicht arm an Kunstraubfällen. Der Dresdner Juwelendiebstahl, bei dem die Räuber 2019 ins berühmte Historische Grüne Gewölbe des Residenzschlosses in Dresden eindrangen, mit Brachialgewalt aus den Vitrinen Kunstobjekte und 21 Schmuckstücke, besetzt mit 4300 Diamanten, im Versicherungswert von mehr als 114 Millionen Euro raubten und dann wie in einem Actionfilm flohen, ist nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte. Man kann wohl sagen, dass es in der Menschheitsgeschichte Kunstraub gibt, seitdem es Preziosen und Eigentum gibt. Sind die ägyptischen Pyramiden vorstellbar ohne Grabräuber? Im Verlauf der Baugeschichte dieser Weltwunder setzten die Pharaonen und ihre Architekten alles daran, die reich ausgestatteten herrschaftlichen Gräber, in denen die Toten die Reise ins Jenseits antraten, bis in alle Ewigkeit vor Räubern zu schützen. Oft vergeblich, trotz aller Tricks und bautechnischer Raffinessen.

Die moderne Kriminalgeschichte, die reale wie die fiktionale, ist reich an Kunstdiebstählen und Gentlemandieben, und vor dem Hintergrund der heute irrsinnig hohen Preise, die auf dem internationalen Kunstmarkt erzielt werden, und einer atemberaubend ungerechten globalen Ungleichheit zwischen Arm und Reich ist die Verlockung nicht gerade klein, sich dieser Werte auf krummen Wegen zu bemächtigen.

Auch über Raubkunst war in den vergangenen 25 Jahren viel zu lesen, zu hören und auch zu schauen, wenn man an die zahlreichen Spiel- und Dokumentarfilme zum Thema denkt. Da gab es den österreichischen Fall der »Frau in Gold« mit internationalen Verwicklungen oder die »Causa Kirchner«, die die Berliner Politik in Turbulenzen stürzte, dann den wohl bis jetzt spektakulärsten Fall von Hitlers Kunsthändler Hildebrand Gurlitt und seinem »geheimen Erbe«, der nicht nur sehr hohe Wellen schlug, sondern für die Entwicklung der Raubkunstforschung in Deutschland und der Schweiz einschneidend war und für weitreichende Veränderungen sorgte.

Auch zu Beginn der 1990er Jahre trieb die Öffentlichkeit dieses Thema um. Nach dem Untergang der Sowjetunion kam die russische Beutekunst aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf die politische Agenda und für kurze Zeit keimte die Hoffnung im wiedervereinigten Deutschland und in Russland auf, die von den Trophäenkommissionen der Roten Armee aus Deutschland in die UdSSR verbrachten Kunst- und Kulturgüter könnten zurückkehren. In Deutschland wurde eine »Koordinierungsstelle zur Rückführung von Kulturgütern« aus der Taufe gehoben, die sich darum kümmern sollte. Zunächst hatte sie ihren Sitz in Bremen, dann in Magdeburg. Am Ende entschied sich Russland jedoch gegen die Rückgabe und seitdem ist es ruhig geworden um die sowjetische Beutekunst.

Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre begann man in Deutschland, die Provenienz-, also die Herkunftsforschung, von kulturellen Objekten zu etablieren mit dem Ziel, in staatlichen Museen nach Raubkunst, d. h. nach Kunst- und Kulturgütern, und auch in Archiven und Bibliotheken nach Raubgut zu suchen, die Menschen im »Dritten Reich« weggenommen worden waren, weil die Nationalsozialisten sie aus rassischen, politischen oder anderen Gründen verfolgt hatten. Es geht vor allem um Besitztümer und Kunstwerke, die Juden in Deutschland und in den anderen von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern geraubt wurden.

Diese Geschichte der Raubkunst in Deutschland wird noch vervollständigt durch die Kapitel des Kunstraubs in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und den Kunstraub in der deutschen Kolonialgeschichte. Insbesondere die historische Erforschung des Letzteren wurde in den vergangenen Jahren intensiviert und auf ein neues Level gehoben, ihre Forschungsergebnisse erregen zweifellos zurzeit am meisten das Interesse der Öffentlichkeit und Medien. Es hat die Raubkunst in kolonialen Kontexten und die deutsche Kolonialgeschichte aufs Tapet gebracht. Und gerade in der Presseberichterstattung über Kunstraubfälle aus der Kolonialzeit wird die inhaltliche Unsicherheit bei der Verwendung der Begriffe Raubkunst, Beutekunst und Kunstraub sichtbar. Es ist eine Begriffsverwirrung bei diesem Thema zu beobachten, wodurch oft nicht leicht auszumachen ist, um welche Form gewaltsamer Aneignung es sich jeweils handelt, denn nicht selten sind die Herkunft des Objekts und die historischen Umstände seines Entzugs unbekannt. Handelt es sich also um Raubkunst oder Beutekunst oder war es Kunstraub, fragt man sich.

Provenienzforschung und Washingtoner Prinzipien

Herkunftsforschung nennt sich Provenienzforschung. Die Fachbezeichnung leitet sich von Provenienz (lateinisch: provenire

»Unser Provenienzforscher ist ein hemmungsloser Idealist. Er glaubt doch glatt, wir sollten 100 % unserer Bestände kennen.« Herkunftsforschung im Cartoon in: MUSEUM AKTUELL-Ausgabe 237/2017

Die Provenienzforschung ist schon sehr lange Teil der Methoden der Kunst- und Kulturwissenschaft und Bestandteil der Museumsarbeit. Schon früh wollten Menschen wissen, woher ein Kunstobjekt stammt, wie es entstanden ist und wer es besessen hat. An der Herkunfts- und Eigentumsgeschichte lässt sich die Deutungsgeschichte ablesen sowie die Bedeutung, die ein Objekt im Verlauf seiner Geschichte hatte und hat. Doch wegen Datenmangels war und ist die Provenienzforschung häufig sehr kompliziert und zeitaufwendig, sodass ihr in der Museumsarbeit und in der Kunstgeschichte als wissenschaftliche Disziplin lange Zeit nicht die Aufmerksamkeit zukam, die sie eigentlich benötigt hätte. Deshalb kommt es vor, dass Museen nicht von all ihren Sammlungsobjekten die Herkunft kennen und wohl auch weit davon entfernt sind – sofern das überhaupt möglich ist –, die Provenienzen all ihrer Objekte lückenlos auszuweisen.

Mit einer internationalen Konferenz in Washington, D.C. 1998 änderte sich jedoch grundlegend die Situation für die Museen und die Kunstgeschichte in Deutschland, etwas später auch für die Ethnologie. Denn seitdem wird von den Museen verlangt, Auskunft über die Provenienz ihrer Sammlungsobjekte zu geben. Bei jener Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust kamen 44 Staaten, zwölf nichtstaatliche Organisationen, darunter jüdische Opferverbände, zusammen. Sie formulierten Grundsätze (Washington Principles) in Bezug auf Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten entzogen worden waren. Deutschland unterzeichnete die Grundsätze 1999. Alle Unterzeichnerstaaten haben sich verpflichtet, Raubkunst zu suchen, zu identifizieren und an die Vorkriegseigentümer im Rahmen einer gerechten und fairen Lösung zurückzugeben. Da in der Nachkriegszeit die Rückgaben unzureichend gewesen waren, nahm man zu Beginn der 2000er Jahre an, dass die Museen mehrere Tausend Kunstwerke aus ehemals jüdischem Eigentum haben. In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Zahl durch erfolgreiche Rückgaben reduziert.

Die Washingtoner Erklärung verlieh der Provenienzforschung in den Museen, aber auch in der Kunstgeschichte und Ethnologie, ein neues Gewicht und sorgte dafür, dass nun begonnen wurde, die Museumsbestände systematisch nach Raubkunst abzusuchen. Wie wenig selbstverständlich diese Forderung war und wie schwer sich die deutschen Museen (aber auch die der Nachbarländer Österreich, Schweiz, Niederlande, Frankreich usw.) anfangs damit taten, illustriert die Entwicklung der Provenienzforschung in Deutschland. Zu Beginn waren es nur wenige Forscher:innen in wenigen Museen, die sich an die Arbeit machten. Viele Museen sahen sich wegen mangelnder finanzieller und personeller Ressourcen und fehlender Sachkenntnisse nicht in der Lage, der Verpflichtung nachzukommen. Weil es nicht voranging, richtete der deutsche Kulturstaatsminister 2008 eine Arbeitsstelle für Provenienzrecherche ein, um die dezentrale Suche nach Raubkunst zu stärken, so die offizielle Verlautbarung des Ministeriums. Ein Beirat von Bund und Ländern finanzierte gemeinsam die Arbeitsstelle (abgekürzt AfP). Sukzessive wurden die Fördermittel über die Jahre erhöht, damit mehr Museen, Bibliotheken und Archive ihrer Verantwortung zur Suche nach NS-Raubkunst gerecht werden konnten. Doch immer noch ging es nur langsam voran. Bis der Fall des Hitler-Kunsthändlers Hildebrand Gurlitt und seiner Sammlung, der 2013 für internationale Aufmerksamkeit und heftige Diskussionen sorgte, einen weiteren Schub auslöste, in dessen Folge die 2013 provisorisch eingerichtete Koordinierungs- und Beratungsstelle für Provenienzforschung drei Jahre später in die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg überführt wurde. Mit ihr sollte endlich dafür Sorge getragen werden, dass Deutschland seinen Verpflichtungen angemessen nachkommt und mehr zur Identifizierung von Raubkunst in öffentlichen Sammlungen unternimmt.

Ein Lesebuch

Dieses Buch ist kein Fachbuch und erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Die bewusst kurz gehaltenen Kapitel über einzelne Fälle können naturgemäß die Komplexität und die Detailfülle, die viele der hier vorgestellten Geschichten auszeichnen, nicht wiedergeben und sie sollen es auch nicht. Das hätte den Rahmen eines solchen Buches gesprengt. Vielmehr ist es die Absicht dieser Darstellung, durch eine (subjektive) Auswahl interessanter Geschichten einen Einstieg in das Thema in lesbarer Form zu geben. Daher wurde bewusst auf Fußnoten verzichtet und stattdessen den Kapiteln Literatur- und in wenigen Fällen Quellenhinweise beigegeben, die ein Vertiefen durch Weiterlesen ermöglichen. Natürlich deckt dieses Buch nicht das sich immer mehr ausweitende Feld der Provenienzforschung ab und es geht auch nicht auf die Entwicklungen des akademischen Diskurses in den vergangenen 25 Jahren ein. Ein Fall wie die Gurlitt-Sammlung, zu dem inzwischen zahlreiche Publikationen und wissenschaftliche Untersuchungen erschienen sind und der den NS-Kulturraub durch die Berichterstattung zu einem Medienereignis machte, kann hier nur gestreift werden.

Dieses Lesebuch wendet sich an interessierte Leser:innen, die einen ersten Zugang zum Thema suchen, ohne gleich zu einer akademischen Einführung in die Provenienzgeschichte oder zu umfangreichen Aufsatzsammlungen greifen zu müssen, die aus wissenschaftlichen Tagungen hervorgingen. Dieses Buch ist keine Sammlung von Kriminalfällen, keine Kriminalgeschichte des internationalen Kunstdiebstahls. Darstellungen der spektakulärsten Kunstdiebstähle der Welt finden sich anderswo, dort, wo es um »True Stories of Crime and Art« geht.

Bei der Auswahl der Fälle für dieses Buch war es Autor und Verlag wichtig, nicht ausschließlich Fälle aus Deutschland, sondern auch einige Beispiele aus Österreich und der Schweiz zu besprechen, sodass sich ansatzweise ein übergreifendes Bild für den deutschsprachigen Kulturraum ergibt. Dadurch wird erkennbar, dass der NS-Kulturgüterraub, Beutekunst und Kunstraub keine nationalen Phänomene waren und sind und deshalb auch nie vor nationalen Grenzen haltgemacht haben.

BEUTEKUNST DER BRITISCHEN KRONE

Benin-Bronzen

Kurz vor Weihnachten 2022 berichtete die Bremer Tageszeitung Weser Kurier, Hamburg gebe Benin-Bronzen zurück, Raubkunst im Schätzwert von ca. 60 Millionen Euro. Dafür war am 16. Dezember 2022 im Hamburger Rathaus der Vertrag über die Rückgabe von 179 Bronzen aus dem ehemaligen Königreich Benin an die Bundesrepublik Nigeria unterzeichnet worden. Hamburgs Kultursenator sah darin einen Meilenstein in den Verhandlungen zwischen der Hansestadt und dem westafrikanischen Staat. Nigerias Botschafter sprach von einer »Zeitenwende«.

Bemerkenswert an der Nachricht war zweierlei. Zum einen gab es eine gewisse Begriffsverwirrung: Handelt es sich bei den Bronzen um »Raub-« oder »Beutekunst« (oder »Raub-« und »Beutegut«)? Zum anderen stellte sich die Frage, ob der große ästhetische und materielle Wert der restituierten Objekte nicht die problematische vorkoloniale Geschichte des Königreichs Benin überblende, in deren Kontext die Bronzen auch »Blut-Metall« genannt werden.

Den Uneingeweihten und in der Kolonialgeschichte Afrikas wenig Bewanderten erscheint dieser Beutekunstfall komplex und schwierig, weil er eine koloniale und vorkoloniale Geschichte aufweist und die Streitparteien in den Restitutionsverhandlungen nicht nur die Untiefen des postkolonialen Diskurses umschiffen, sondern auch verschiedene Akteur:innen und Institutionen beider Länder einen Interessenausgleich finden mussten.

Die Forderungen nach der Rückgabe der Benin-Bronze reichen weit zurück.

Wie kompliziert der Fall der Benin-Bronzen ist, illustriert eine überraschende Wendung, die diese Rückgabegeschichte im März 2023 genommen hat. Da verkündete der scheidende Präsident Nigerias, dass er die Eigentumsrechte sämtlicher Benin-Artefakte, sowohl der zurückgegebenen als auch der noch zurückzugebenden, an den Oba von Benin übereignet habe, dem »rituellen König« des alten, nicht mehr bestehenden Königreichs Benin, das im heutigen Nigeria liegt. Das kam für die mit dem Fall betrauten deutschen Vertreter:innen aus Politik, Kultur und Museen sowie für die Öffentlichkeit sehr unerwartet. Während man in Deutschland im Dezember 2022 noch davon ausgegangen war, die Rückgabe erfolge an den nigerianischen Staat und seine Bevölkerung, stellte die neue Sachlage die Verhältnisse scheinbar auf den Kopf. Nun wurde »nationales« (d. h. ehemals deutsches, nun nigerianisches) Eigentum zum Privatbesitz des »rituellen Königs«. Der Präsidialerlass schien aus dem öffentlichen Eigentum exklusives Privateigentum zu machen.

Nur wenn man sich der kolonialen Geschichte Afrikas und der vorkolonialen Geschichte des Königreichs Benin gleichermaßen stellt und sich die historische und aktuelle Bedeutung der Benin-Bronzen vergegenwärtigt, lässt sich die Verwirrung aufklären. Dann wird auch erkennbar, dass die weit zurückreichenden Forderungen nach der Rückgabe der Benin-Bronzen eng mit der Geschichte des europäischen Kolonialismus verknüpft sind.

Was sind die Benin-Bronzen?

Mit dem Sammelbegriff »Benin-Bronzen« werden künstlerische Artefakte aus dem Königreich Benin bezeichnet, die vom 16. bis zum 19. Jahrhundert entstanden und vor allem aus Messinglegierungen, Holz und Elfenbein gefertigt wurden. Es handelt sich im Falle der »Bronzen« um Güsse und um Schnitzwerke aus Holz und Elfenbein von höchster Kunstfertigkeit. Besonders die Beniner Handwerker aus der Zeit des 16. und 17. Jahrhunderts waren Meister der Metallverarbeitung. Deshalb verglichen Experten des späten 19. Jahrhunderts ihre Arbeiten mit den besten Werken von Renaissance-Künstlern wie Benvenuto Cellini. Die Benin-Bronzen wurden als Meisterwerke afrikanischer Kunst in eine Reihe mit den wichtigsten Skulpturen der griechischen Antike gestellt.

Die ideelle Wertschätzung drückt sich im materiellen Wert dieser Objekte aus. Ein königlicher Gedenkkopf aus dem 16. Jahrhundert im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe wird auf rund fünf Millionen Euro geschätzt. 2010 wurde im Auktionshaus Sotheby’s eine Oba-Maske aus dem 16. Jahrhundert für 4,5 Millionen Pfund angeboten. Selbst weniger exzellente Stücke erzielen Preise ab 50 000 Euro.

In den Objekten verkörperten (und verkörpern) sich einerseits die Ahnen und andererseits manifestiert sich in ihnen so etwas wie ein dreidimensionales Geschichtsbuch. Das Königreich Benin hatte keine Schriftsprache, es hielt die wichtigsten Ereignisse seiner Geschichte – die dynastischen Folgen auf dem Königsthron, Kriege und Kulte – auf reliefartigen Bronzetafeln fest. Man kann in diesen Bronzen eine Art kollektives Gedächtnis der Menschen des Königreichs Benin sehen, das allerdings zu existieren aufhörte, als die Briten das Reich 1897 eroberten und seine Hauptstadt zerstörten. Die in der Literatur genannte Anzahl der dabei geplünderten Artefakte schwankt zwischen 4000 und 5000 Objekten. Dieser kulturelle Aderlass wäre vergleichbar mit dem Raub des Nationalarchivs eines Volkes. Während wir im nationalsozialistischen Kontext bei dem gewaltsamen Kulturgutentzug von Raubkunst sprechen, stellen die Benin-Bronzen im Krieg des britischen Empire gegen das Königreich Benin Beutekunst im kolonialen Kontext dar. Der Raub demütigte und schwächte den Gegner, indem er seine Kultur und Identität zerstörte.

Das Königreich Benin

Das Königreich Benin lag in Westafrika. Es bildete eines der mächtigsten Reiche in der Zeit vor dem Kolonialismus und herrschte über ein Gebiet, das sich in der Breite vom Fluss Niger bis Lagos erstreckte. Es umfasste den heutigen Südwesten Nigerias. Benin-Stadt war die Hauptstadt. Die Bevölkerung setzte sich aus den Bini und anderen Gruppen zusammen, deren Sprache Edo war. Darüber hinaus gab es noch weitere Gruppen mit anderen Sprachen.

Benin-Stadt war ein wichtiger Handelsplatz. Zu seinem wirtschaftlichen Aufstieg trugen die Portugiesen bei, als sie Anfang der 1470er Jahre die Bucht von Benin entdeckten und mit Rohstoffen zu handeln begannen. Sie tauschten Kupfer und Messing gegen Sklaven und Elfenbein.

Benin jagte und versklavte seine Nachbarvölker und sorgte dafür, dass zahllose Schiffsladungen von ihren Rechten beraubter Menschen in die Karibik und nach Amerika transportiert wurden. Für jeden verkauften Sklaven bekam Benin Messingarmbänder, sogenannte Manillas, aus denen die Benin-Bronzen gefertigt wurden. Daher erhielten sie die Bezeichnung »Blut-Metall«, denn trotz ihrer ästhetischen Schönheit stehen sie auch für einen mörderischen Handel und ein unmenschliches System. Deshalb spricht man auch davon, dass das Königreich Benin seinen Reichtum auf Unterdrückung und Gewalt gründete.

Das Ende der Sklaverei bedeutete auch das Ende des Sklavenhandels im Königreich Benin. Seine Häfen verloren allmählich ihre Bedeutung. Am Ende hatten von hier aus über zwei Millionen Sklaven eine Reise ins Ungewisse antreten müssen.

Berliner Kongokonferenz und britisches Protektorat

Auf der Kongokonferenz in Berlin 1884/85 teilten die europäischen Mächte den Kontinent Afrika unter sich auf. Teile des heutigen Nigeria wurden britisches Protektorat. Das Königreich Benin gehörte nicht dazu. 1892 vereinbarten die Briten mit dessen König ein Freihandelsabkommen, das aber nicht konfliktfrei war, weil der Oba Zölle erhob. Um die zu umgehen, wollte das britische Empire seine Einflusssphäre auf Benin ausdehnen. Man dachte im britischen Außenministerium und bei der Marine darüber nach, wie das Königreich mit militärischen Mitteln bezwungen und der König abgesetzt werden könnten.

Anfang 1897 brach eine britische Delegation auf, um den König aufzusuchen. Das Unternehmen verfolgte keineswegs rein friedliche Ziele, und die Delegation war auch nicht beim König willkommen, der angab, keine Zeit zu haben. Er forderte die Briten auf, umzukehren oder zu einem späteren Zeitpunkt wiederzukommen. Das lehnte der Leiter der britischen Delegation jedoch ab. Er beharrte auf der Fortsetzung der Expedition und setzte sich über alle Warnungen hinweg. Das Unternehmen endete in einem Fiasko. Benins Krieger griffen den Expeditionszug aus dem Hinterhalt an und töteten sieben der neun britischen Delegationsmitglieder. Zweien gelang verwundet die Flucht. Der britische Historiker für Kolonialgeschichte Paddy Docherty sieht das eigentliche Ziel der Expedition in der Führung des Beweises, dass beim König von Benin friedlich nichts auszurichten sei. Ein Scheitern des Unternehmens sei daher durchaus willkommen gewesen, weil sich so der Druck auf London erhöht habe und dieses gezwungen gewesen sei, militärische Maßnahmen gegen das Königreich von Benin zu ergreifen. Genau das geschah auch nach dem Überfall auf die Expedition. Das Empire schickte eine Strafexpedition, die seine getöteten Staatsbürger rächen sollte.

Die Strafexpedition

Im Februar 1897 erreichten 1200 britische Soldaten Benin-Stadt. Der militärisch weit unterlegene Gegner war der Streitmacht nicht gewachsen und die Briten marschierten in Benin-Stadt ein. Dort stießen sie auf Spuren von Menschenopfern und die Leichen geopferter Menschen, die sich in verschiedenen Stadien der Verwesung befanden. Später wurden diese grausamen Funde als Rechtfertigung der Strafexpedition angeführt, man habe dem barbarischen Kult des Menschenopfers ein Ende bereitet und den Menschen die christliche Zivilisation gebracht.

Die Militäraktion dauerte drei Tage und kostete viele Einheimische das Leben. Der König konnte fliehen, doch das Ende seines Reichs war besiegelt. Der Königspalast wurde vollständig ausgeraubt und anschließend dem Erdboden gleichgemacht. Die britischen Soldaten erbeuteten viele Objekte, darunter die Bronzen und Elfenbeinschnitzereien.

Die Kriegsbeute wurde nach London gebracht und ihr Verkauf trug zur nachträglichen Finanzierung der Militäraktion bei. Einige britische Soldaten veräußerten aber auch schon in Benin geraubte Artefakte, etwa an deutsche Seeleute, durch die diese dann nach Hamburg gelangten.

In Europa lösten die Benin-Bronzen einen regelrechten Hype aus. Vertreter vieler europäischer Völkerkundemuseen interessierten sich für sie. Der Direktor des Hamburger Kunstgewerbemuseums kaufte im September 1897 zwei Objekte und stellte sie als »merkwürdige Bronzen aus Benin« auf dem Anthropologenkongress in Lübeck vor. Die Presseberichterstattung heizte das Interesse in Deutschland an und animierte weitere Museen, Stücke für ihre Sammlungen zu erwerben. Das Königliche Museum für Völkerkunde in Berlin kaufte auf einem Schlag 271 Objekte. Die Bronzen wurden ein Verkaufshit und zogen in großen Mengen in die bedeutendsten völkerkundlichen Sammlungen ein. Das British Museum hatte mit 800 Objekten die meisten, es folgte Berlin (600) und das Museum in Wien (400).

Allein diese Zahlen provozieren zu der Frage, wie es möglich war, dass diese Mengen Teil der musealen Sammlungen werden konnten. Warum wurde die Frage nach der Herkunft von Kulturgütern aus kolonialen Kontexten erst so spät gestellt? Und was hat das alles mit der bis heute in Deutschland und andernorts immer noch unvollständig aufgearbeiteten Geschichte des Kolonialismus zu tun? Wenn die Benin-Bronzen Beutekunst sind, warum nahm daran so lange niemand Anstoß?

Restitutionsforderungen

Ab 1933 versuchten die Nachfolger der ehemaligen Könige des Königreichs Benin, die Obas, besonders die herausragendsten Bronzen zurückzuerlangen. Doch sie fanden lange kein Gehör, ihre Forderungen wurden abgewiesen. Im Verlauf einer intensivierten Kolonialismus-Debatte Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre wurde das Thema erneut aufgegriffen. Der senegalesische UNESCO-Generalsekretär Amadou-Mahtar M’Bow erklärte 1978, die Völker hätte man nicht nur wertvoller Kunstobjekte beraubt, sondern auch ihrer Erinnerungen. 1979 griff ein Symposium am Bodensee mit dem Titel »Das Museum und die Dritte Welt« das Thema in Deutschland auf. Dort trug der deutsche Ethnologe Eike Haberland seine »Überlegungen zum Problem der Restitution von Kulturgütern an die Dritte Welt aus der Sicht des Ethnologen« vor. Haberland stellte fest: »Wenn die Mehrzahl der Kunstwerke durch Kauf bei freiem Willen ihrer vorherigen Besitzer erworben wurde, so dürfen wir nicht vergessen, dass sehr viele Stücke, vielleicht die Mehrzahl der Kunstwerke, nur deshalb verkauft wurden und aus ihrer Heimat in ein fremdes Land kamen, weil die durch den Kolonialismus veränderten Verhältnisse das möglich machten. Vielfach war der Kolonialismus mit seinen Begleiterscheinungen überhaupt erst der Anlass, dass man sich von den Dingen trennte, die ursprünglich kostbarsten religiösen oder politischen Besitz bildeten.« Diese Auffassung teilten aber nur wenige. Bis zu Beginn der 2000er Jahre spielte die Frage der Restitution der Benin-Bronzen kaum eine Rolle. Als 2007 in Wien eine große Benin-Ausstellung gezeigt wurde (mit Stationen in Paris, Chicago und Berlin), forderte eine Delegation des Königshauses von Benin einzelne Stücke zurück. Doch der nigerianische Kulturminister erklärte, sein Land habe keine Restitutionsansprüche.

Es dauerte noch bis in die 2010er Jahre, bis die ethnologischen Museen in Europa sich der Frage der Rückgabe stellen mussten. Auch in der Kulturpolitik der Länder setzte sich die Überzeugung durch, dass die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte allein nicht ausreiche und über eine Rückgabe nachgedacht werden müsse. Man strebte internationale Kooperationen an und den Dialog mit den afrikanischen Staaten, es sollte Forschungsprojekte geben, die die ethnologischen Sammlungen auf Kulturgut im kolonialen Kontext untersuchen und zur Erhellung der historischen Umstände der Erwerbung und der Wege nach Europa beitragen sollten.

Durch diese seit 2018 geführten Provenienz- und Restitutionsdebatten wurde immer deutlicher, dass auch Deutschland ein Defizit in der Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte hatte. Der mangelhafte Kenntnisstand erschwerte die Beantwortung wichtiger Fragen wie die nach den rechtmäßigen Eigentümern von musealen Objekten mit kolonialer Herkunft. Und auch bei den Benin-Bronzen stand die Frage im Raum, an wen eigentlich zu restituieren sei: an den nigerianischen Staat oder an die Nachfahren des Königreichs Benin? Oder vielleicht an die Nachfahren der vom Königreich Benin versklavten Menschen, deren Nachfahren heute in den USA und der Karibik leben? Die Restitution Study Group in New York, die aus Nachfahren dieser Sklaven besteht, kritisierte Deutschlands pauschale Restitution der Benin-Bronzen an Nigeria. Die Objekte sollten nicht an den Staat zurückgegeben werden, der der Nachfolger jenes Königreichs sei, das seinen Reichtum mit dem Menschenhandel erwirtschaftet hatte.

Die Benin Dialouge Group und die Rückgabeverhandlungen in Deutschland

Die an der Restitution der Hamburger Benin-Bronzen 2022 beteiligte Sozialanthropologin und Afrikanistin Barbara Plankensteiner, Direktorin des Hamburger Museum für Kulturen und Künste der Welt (MARKK), brachte 2010 in der Benin Dialogue Group verschiedene Akteure – Museumsleute, Afrikawissenschaftler:innen, Ethnolog:innen – zusammen, damit sie auf regelmäßigen Treffen die Angelegenheit der Benin-Bronzen vorantrieben. 2018 gab es Gespräche im Ethnologischen Museum von Leiden in den Niederlanden. Hier entwickelten die Beteiligten einen Fahrplan für ein neues Museum in Benin-Stadt, in dem die Bronzen gezeigt werden sollten. Anvisiert wurde eine Museumskooperation zwischen Europäern und Nigerianern. Über das künftige Museum sagte man: »Die europäischen und nigerianischen Partner werden bei Fragen der Schulung, der Finanzierung und der rechtlichen Rahmenbedingungen zusammenarbeiten, um die dauerhafte Präsentation von Kunstwerken aus Benin im neuen Museum zu ermöglichen. Diese weit gefasste Vereinbarung bedeutet weder, dass die nigerianischen Partner auf Ansprüche einer eventuellen Rückgabe von den ehedem aus dem Königreich entnommenen Kunstwerken verzichten, noch, dass die europäischen Museen eine solche Zukunft ausschließen.« Deutschland entschied, den Bau des Edo Museum of West African Art (EMOWAA) im nigerianischen Bundesstaat Edo finanziell zu unterstützen. Zudem wurde die Plattform »Digital Benin« geschaffen, auf der die einst geraubten Kunstschätze aus dem Königreich Benin dokumentiert und öffentlich gemacht werden. Die Plattform stellt die umstrittenen Objekte in ihren verschiedenen Kontexten vor.

Keine zwei Jahre nach diesen Aktivitäten, kurz vor Weihnachten 2022, flog die deutsche Delegation ins nigerianische Abuja, um die ersten 21 Benin-Bronzen zurückzugeben. Damit wollte man ein starkes Zeichen für die Restitution der fast 1100 Objekte setzen, die in deutschen Museen lagern. Die Nigerianer begriffen die Rückgabe als »Repatriierung«, als »Wiederbeheimatung« der Objekte.

Zum Zeitpunkt der symbolträchtigen Übergabe war jedoch mit dem Bau des neuen Museums noch gar nicht begonnen worden. Es gab nur den Bauplatz, auf dem der von Deutschland kofinanzierte Ausstellungspavillon einmal stehen soll. Und bis zum Mai 2023 war unklar, ob er überhaupt je gebaut wird. Denn an der Idee des Museums gibt es Zweifel. Die nigerianische Demokratie ist fragil. Terrorgruppen wie Boko Haram sorgen in einigen Teilen des Landes für Unsicherheit. Es bräuchte Museen wie ein Fort Knox, um die Sicherheit der repatriierten Kunstschätze zu garantieren, war von einigen Europäern zu hören. Der die Deutschen überraschende Präsidenten-Erlass im März 2023 hatte überdies die Frage aufgeworfen, ob die Benin-Bronzen jemals in das EMOWAA einziehen werden. Denn mit dem Erlass wurde verfügt, dass sämtliche Bronzen an den Oba übereignet werden. Dem neuen (alten) Eigentümer wird das Recht gegeben, allein zu bestimmen, was mit den Objekten geschieht. Und der Oba ließ schnell verlautbaren, dass er die Bronzen in seinem Palast-Museum haben wolle. Das allerdings gab es im März 2023 auch noch nicht, auch dieses muss erst noch gebaut werden.

Nach dem Bekanntwerden des Erlasses stoppte das Museum für Anthropologie und Archäologie der Universität Cambridge, Besitzer der zweitgrößten Benin-Bronzen-Sammlung in Großbritannien, seine Rückgabe. Der Kolonialhistoriker Docherty, der Großbritannien das Fehlen einer Kultur der Dekolonisierung attestiert, sieht dennoch eine Verpflichtung zur Restitution: »Die Rückgabe der Benin-Bronzen ist eine moralische Notwendigkeit. Jeder würde von der Beseitigung einer Ungerechtigkeit profitieren.«

Die Zukunft muss zeigen, wie es in diesem Rückgabefall weitergeht. Das Beispiel Benin-Bronzen hat vor Augen geführt, dass der Rückgabeprozess nicht einfacher wird und die Restitutionspraxis einem komplexen und komplizierten Umfeld gerecht werden muss.

DAS »PRACHTBOOT« UND DER DEUTSCHE KOLONIALISMUS IN DER SÜDSEE

Luf-Boot

2021 erschien das Buch Das Prachtboot. Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten des Historikers Götz Aly. Auch wenn die Presse die Publikation sehr breit und mit reißerischen Überschriften wie »Mord und Raub in Ozeanien« (Weltkunst) oder »Am Luf-Boot klebt Blut« (General-Anzeiger) besprochen hat, ist die sogenannte Raubkunstfrage beim berühmten Luf-Boot, dem größten Objekt der ethnologischen Museen im Berliner Humboldt Forum, weniger eindeutig als es den Anschein hat.

Das Luf-Boot ist ein zentrales ethnologisches Museumsobjekt des Humboldt Forums. An dessen Erwerbungsgeschichte versuchte der Historiker Götz Aly beispielhaft aufzuzeigen, welche Kolonial- und Erwerbungsgeschichte sich hinter solchen Kulturobjekten verbergen und mit welchen Strategien diese Geschichte in den vergangenen 120 Jahren verdrängt wurde. Im Gegensatz zur Presse, die in ihren Rezensionen und Feuilleton-Artikeln Alys kritischer Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte und Ethnologie folgte, war eine Reihe von Ethnolog:innen und anderen Wissenschaftler:innen mit seinen Schlussfolgerungen nicht einverstanden, sie veröffentlichten kritische Entgegnungen in Fachzeitschriften und Zeitungen.

Das Luf-Boot ist das größte und ein sehr umstrittenes Objekt der ethnologischen Museen im Berliner Humboldt Forum.

Das Ungewöhnliche an der Debatte war, dass über das berühmte Auslegerboot aus Ozeanien und seine Vergangenheit so ausführlich diskutiert wurde wie zu keiner Zeit davor. Plötzlich sollten Museumsbesucher:innen das Prachtboot nicht nur staunend betrachten, sondern auch über seine Herkunftsgeschichte unterrichtet werden. Provenienz war jetzt nicht mehr nur etwas, was Leute vom Fach anging (wenn es sie denn vorher überhaupt interessiert hatte), sondern etwas, über das die interessierte Öffentlichkeit informiert zu werden hatte. Während der langen Zeit, die das »Prachtboot« erst im Völkerkundemuseum Berlin und dann im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem ausgestellt gewesen war, hatten die Besucher über die Geschichte seiner Erwerbung im Kontext des deutschen Kolonialismus wenig bis nichts erfahren. Für dieses Defizit waren auch die Völkerkundler:innen bzw. Ethnolog:innen verantwortlich, weil sie an dem Thema Kolonialismus nicht rühren wollten oder es schlicht ignorierten. Ihre Gereiztheit in der Raubkunstdebatte über das Luf-Boot rührte sicher auch daher, dass scheinbar Selbstverständliches im Rahmen des aufgeheizten Diskurses plötzlich nicht mehr selbstverständlich war. Die Forderung nach Provenienzforschung, mit der sich ab den 2000er Jahren zunehmend die Kunstmuseen und das Hochschulfach Kunstgeschichte unter Druck gesetzt sahen, erreichte nun auch die ethnologischen Sammlungen in Museen und Universitäten. Die Fachwissenschaft sah sich mit ungewohnten Ansprüchen konfrontiert und vor ungewohnte Herausforderungen gestellt.

Die Herkunft des Luf-Boots: die Hermit-Inseln

Das Luf-Boot stammt von den Hermit-Inseln, einem kleinen Atoll am Rand des Bismarck-Archipels in Papua-Neuguinea. Das Atoll besteht aus zwölf Eilanden, die vulkanischen Ursprungs sind. Die größte Insel trägt den Namen Luf, auf ihr wurde das prächtige Auslegerboot mit den zwei Masten und viereckigen Segeln gebaut. Es war eines der ersten hochseetauglichen Schiffe in der Menschheitsgeschichte und konnte bis zu 50 Krieger oder Personen aufnehmen – Krieger deshalb, weil die Bewohner der Insel Luf solche Boote für ihre Kriegszüge zu den ca. 100 Kilometer entfernten Inseln Kaniet und Ninigo verwendeten. Mit seinen etwas mehr als 15 Metern Länge und prachtvollen Verzierungen aus Schnitzwerken und Ornamenten avancierte das Luf-Boot gleich nach seinem Einzug in den Lichthof des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin 1904 zu einem Publikumsliebling. Als »Prachtboot« regte es zum Träumen an über die vermeintlich paradiesische Südsee. Nach Deutschland gelangte das Boot mithilfe der Hamburger Handelsfirma Hermsheim & Co., die auf den Handel mit Waren aus der Südsee spezialisiert war.

Als das Boot 2018 in den neu errichteten Rohbau des Humboldt Forums umzog, sorgte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz dafür, dass der aufwendige Transport von einer großen Medienkampagne und viel Öffentlichkeitsarbeit begleitet wurde. Wegen der schieren Größe des Objekts hatte man eine Wand im Humboldt Forum offen lassen müssen, um die große Transportkiste mit einem Kran ins Gebäude hieven zu können. Erst nach dieser letzten, sehr fernsehtauglichen Aktion konnte die Außenwand zugemauert werden. Sollte das Boot jemals nach Papua-Neuguinea zurückkehren, müsste es auf demselben Weg wieder hinaus.

Im Humboldt Forum steht es in einem großen Saal, der die Geschichte der »globalen Entwicklung der Menschheit« erzählen soll. Bei der Eröffnung des Forums hagelte es jedoch Kritik, denn zu offensichtlich war die Unterbelichtung der Geschichte des Kolonialismus. Das traf auch auf die Präsentation des Luf-Boots zu, auf das sich die Blicke der Presse besonders richteten, da Alys Buch schon vorher erschienen war und zum Vergleich der Darstellungen herausforderte.