RAUCH - Yrsa Sigurdardóttir - E-Book

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Yrsa Sigurdardóttir

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Beschreibung

Ein grausames Drama vor der Südküste Islands, das weit in die Vergangenheit reicht - der neue große Thriller der SPIEGEL-Bestseller-Autorin.

Eine fünfköpfige Freundesgruppe, die sich aus Studienzeiten kennt, trifft auf einer der Westmännerinseln vor der Südküste Islands zusammen. Sie sind gekommen, um an der Beerdigung einer ehemaligen Freundin teilzunehmen. Im Haus der Verstorbenen machen sie einen grausamen Fund, der auf ein düsteres Ereignis aus der gemeinsamen Vergangenheit hinweist. Was war damals bei der Studentenparty, die außer Kontrolle geriet, wirklich passiert? Und wer war daran schuld? Innerhalb kürzester Zeit schleichen sich Verdächtigungen und Misstrauen in die Gruppe ein. Bis es am Ende nicht mehr um die Wahrheit, sondern nur noch darum geht, die eigene Haut zu retten. Und die Insel schnellstmöglich zu verlassen, bevor das mysteriöse winterliche Feuer entdeckt wird, das die Freunde in Brand gesetzt haben, um Spuren zu verwischen ...

Ein bildmächtiger, perspektivreicher Thriller mit Gänsehaut-Effekt. Erneut gelingt es Yrsa Sigurdardóttir, die eisige isländische Atmosphäre grandios in Szene zu setzen und ihre Leser*innen bis zur letzten Seite in Bann zu halten.

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Seitenzahl: 506

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Zum Buch

Eine fünfköpfige Freundesgruppe, die sich aus Studienzeiten kennt, trifft auf einer der Westmännerinseln vor der Südküste Islands zusammen. Sie sind gekommen, um an der Beerdigung einer ehemaligen Freundin teilzunehmen. Im Haus der Verstorbenen machen sie einen grausamen Fund, der auf ein düsteres Ereignis aus der gemeinsamen Vergangenheit hinweist. Was war damals bei der Studentenparty, die außer Kontrolle geriet, wirklich passiert? Und wer war daran schuld? Innerhalb kürzester Zeit schleichen sich Verdächtigungen und Misstrauen in die Gruppe ein. Bis es am Ende nicht mehr um die Wahrheit, sondern nur noch darum geht, die eigene Haut zu retten. Und die Insel schnellstmöglich zu verlassen, bevor das mysteriöse winterliche Feuer entdeckt wird, das die Freunde in Brand gesetzt haben, um Spuren zu verwischen …

Ein bildmächtiger, perspektivreicher Thriller mit Gänsehaut-Effekt. Erneut gelingt es Yrsa Sigurdardóttir, die eisige isländische Atmosphäre grandios in Szene zu setzen und ihre Leser*innen bis zur letzten Seite in Bann zu halten.

Zur Autorin

Yrsa Sigurdardóttir, geboren 1963, ist eine vielfach ausgezeichnete isländische Bestsellerautorin, deren Bücher in über 30 Ländern erscheinen. Die Ikone zählt zu den »besten Kriminalautorinnen der Welt« (The Times). Ihre faszinierenden Thriller, in denen sie die unbarmherzige Natur Islands meisterhaft beschreibt, werden von Presse und Leser*innen gleichermaßen geliebt. Ihre letzten Thriller waren SCHNEE und NACHT, mit denen sie unter den Top Ten der SPIEGEL-Bestsellerliste stand. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Reykjavík.

Yrsa Sigurdardóttir

Rauch

Thriller

Aus dem Isländischen von Tina Flecken und Anika Wolff

Die isländische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel GÆTTUÞINNAHANDAim Verlag Veröld, Reykjavík.

Dieses Buch ist Fiktion.

Personen, Handlung und Schauplätze sind von der Autorin frei erfunden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

This book has been translated with a financial support from:

Copyright der Originalausgabe © Yrsa Sigurdardóttir, 2022

Published by Agreement with Salomonsson Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30033-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Dieses Buch ist meiner Schwester Laufey Ýr Sigurðardóttir gewidmet.

1. Kapitel — Tag 1 — Donnerstag

Auf der Überfahrt hatte es nicht viel zu sehen gegeben, nur das aufgewühlte Meer. Trotzdem war Trausti an Deck gegangen, nicht um die schäumenden Wellen zu betrachten, sondern weil die Fähre so sehr schlingerte, dass er frische Luft schnappen musste. Er hielt sich an der Reling fest, schloss die Augen und ließ den Schnee auf sein Gesicht prasseln, unaufhörlich und gnadenlos. Sie fuhren gegen den Wind, und die harmlosen Schneeflocken fühlten sich an wie Hagelkörner. Doch merkwürdigerweise taten ihm diese natürlichen Nadelstiche gut. Trausti fühlte sich besser, ihm war nicht mehr übel, und die Kopfschmerzen, die ihm das Denken unmöglich gemacht hatten, ließen nach. Drinnen war die Luft stickig, und es stank nach Erbrochenem, weil einige Fahrgäste den Seegang nicht vertrugen. Er würde bis zum Anlegen der Fähre hier draußen bleiben.

Trausti schirmte die Augen mit der Hand ab, dann öffnete er sie wieder. Durch den Sturm hindurch sah er die undeutlichen Umrisse des Ufers, direkt vor ihnen. Sie mussten gleich am Ziel sein. Er drehte sich um und spähte durch die große Fensterfront in den Aufenthaltsraum, in den Sesseln dort saßen seine Freunde. Er überlegte, sie zu sich zu holen, ließ es aber bleiben. Vorhin hatte keiner mit ihm an Deck gehen wollen. Trotz seiner Beteuerungen, dass es ihnen guttun würde, wollten sie nicht aufstehen, weil sie befürchteten, ihre Sitzplätze zu verlieren. Die Fähre war rappelvoll, so voll, dass sie nur noch vier Fahrkarten bekommen hatten. Trausti hatte sich auf der Rückbank unter den Anoraks versteckt, als sie an Bord gefahren waren. Anschließend hatte er sich einfach unter die Fahrgäste gemischt. Zum Glück. Wie wäre es ihm bei dem starken Seegang wohl auf dem Fahrzeugdeck ergangen?

Als er wieder nach vorne schaute, waren die Felswände an der Hafeneinfahrt schon keine undeutlichen Schatten mehr. Die Fähre näherte sich ihnen schnell und fuhr kurz darauf an den Klippen von Ystiklettur und der Meereshöhle Klettshellir vorbei. Trausti meinte, das Meeresgehege der ehemaligen Show-Wale in der Bucht Klettsvík zu erkennen, aber die beiden Belugas tauchten nicht auf, um die Ankunft der Fähre zu verfolgen. Vielleicht waren sie gar nicht dort oder hatten genug von dem Schiffsverkehr vor ihrer Haustür. Aber es gab noch vieles andere zu sehen: den Hausberg Heimaklettur auf der rechten und das neue Lavafeld auf der linken Seite.

Die Aussicht auf das Wochenende war perfekt, und er bereute nichts. Noch nicht einmal die heftige Überfahrt von Þorlákshöfn. Ursprünglich hätte die Fähre am Landeyjar-Hafen ablegen sollen, von wo es nur ein Katzensprung zu den Westmännerinseln war, doch Ari, der die Fahrkarten besorgt hatte, hatte am Morgen eine SMS bekommen, in der ihm mitgeteilt wurde, dass der Fahrplan wegen der schwierigen Wetterbedingungen geändert werden müsse. Es war ihnen herzlich egal, die Autofahrt war so kürzer, und die Überfahrt mit der Fähre dauerte länger, doch zeitlich kam es fast auf dasselbe raus, und sie konnten die Reise nicht verschieben. Nicht bei einem solchen Anlass.

Die Änderung des Abfahrthafens war nicht das einzige Hindernis gewesen. Fast hätten sie die Reise ganz abblasen müssen, weil es auf den Westmännerinseln keine Übernachtungsmöglichkeit mehr gegeben hatte. Es war Januar, und sie hätten nie gedacht, dass zu dieser Jahreszeit genauso viele Gäste dort waren wie im Sommer. Doch genau so war es. Die Regierung hatte einen Kongress zu den Zukunftsperspektiven der Fischindustrie einberufen und sich dafür entschieden, sie auf der Hauptinsel Heimaey abzuhalten. Die Teilnehmer kamen aus ganz Island, deshalb waren die Hotelzimmer, Pensionen und Ferienhäuser genauso begehrt wie die Fahrkarten für die Fähre Herjólfur. Normalerweise kam das nur anlässlich des beliebten Volksfests Þjóðhátíð im Sommer vor. Die Geschlechterverteilung auf der dicht besetzten Fähre war jetzt allerdings eine völlig andere, und die Stimmung ebenfalls. Wohin man auch schaute, überall nur ernst dreinblickende Männer, die offenbar schon jetzt davon ausgingen, dass ihre Vorstellungen von der Zukunft niemals mit denen der Regierung in Einklang zu bringen wären.

Glücklicherweise hatte Ari über seine Kontakte eine Übernachtungsmöglichkeit für die Clique organisieren können. Und zwar eine richtig schicke. Anstatt in Einzelzimmern im Hotel, würden sie alle zusammen in einem frisch renovierten Haus mit reichlich Platz auf dem Kap Stórhöfði schlafen. Dort gab es eine Küche, zwei Wohnzimmer und für jeden ein Schlafzimmer mit eigenem Bad. Fast perfekt. Genau genommen gab es vier Schlafzimmer, und sie waren zu fünft. Aber Leifur, einer der drei Männer, hatte kein Problem damit, auf dem Sofa im Wohnzimmer zu schlafen, und damit war die Sache geritzt. Trausti war erleichtert gewesen, als Leifur angeboten hatte, das Sofa zu nehmen, denn es kamen nur sie beide dafür in Frage. Die Frauen waren außen vor, aus Gründen, über die nicht gesprochen wurde, und Ari hatte das Haus organisiert und deshalb automatisch Anspruch auf ein Zimmer. Da die Vermieter nicht wissen durften, dass einer von ihnen auf dem Sofa schlafen würde, hatte Trausti damit gerechnet, in den sauren Apfel beißen zu müssen. Er war viel ordentlicher als Leifur und würde nichts schmutzig machen. Aber Leifur war ihm zuvorgekommen.

Trausti blickte Richtung Süden und hoffte, schon vom Hafen aus einen Blick auf das Haus erhaschen zu können, doch es war nicht zu sehen. Er freute sich wahnsinnig, schließlich übernachtete er nicht jeden Tag in einem Haus, das zu einem Leuchtturm gehörte. Es handelte sich um das Haus, das der Leuchtturmwärter von Stórhöfði bewohnt hatte, bevor er in Rente gegangen war. Seitdem waren der Leuchtturm und die Wetteraufzeichnungen automatisiert. Investoren hatten das Haus langfristig gemietet und aufwändig renoviert. Ari kannte einen von ihnen über seinen Job bei einer großen Bank, und der hatte Mitleid gehabt, als er von ihrem Übernachtungsproblem erfahren hatte. Sie konnten Ari wirklich dankbar sein, dass er das Haus organisiert hatte, besonders weil noch niemand vor ihnen in diesem frisch renovierten Luxusschuppen übernachtet hatte. Sie waren die ersten Gäste, denn das Haus sollte erst offiziell eingeweiht werden, wenn die schlimmsten Winterstürme überstanden waren. Wahrscheinlich wollten die Investoren nicht riskieren, vom Kap aufs Meer hinausgeweht zu werden.

Der zweite große Vorteil war, dass sie das Haus umsonst bekamen. Trausti machte in den USA gerade seine Facharztausbildung in Rheumatologie, und obwohl er bereits die meiste Zeit im Krankenhaus mitarbeitete, war das Gehalt unterirdisch. Sein Stundenlohn war wahrscheinlich nicht viel höher als bei einem Schülerjob am Drive-in einer Fastfoodkette. Deshalb hatte er am Monatsende kaum etwas übrig, und das Flugticket nach Island war sauteuer gewesen, weil er es kurzfristig hatte kaufen müssen. Ein Hotelzimmer für drei Nächte hätte seiner Geldbörse noch mehr zugesetzt, deshalb freute er sich, dass die einzige Bedingung lautete, sich anständig zu benehmen und das Haus sauber und unversehrt zu hinterlassen. Die Vermieter hatten wohl auch deswegen keine Bedenken gehabt, weil sie den Grund ihrer Reise kannten. Wer zu einer Beerdigung ging, benahm sich meistens korrekt.

Als die Fähre sich an den Kai herantastete, schaute Trausti wieder durch das Fenster. Seine Freunde standen auf, und Sigga winkte ihn herein. Er lächelte ihr zu, winkte zurück, ließ die Reling los und machte sich auf den Weg. Er hoffte, dass sein Lächeln nicht zu fröhlich gewirkt hatte, denn bei diesem traurigen Anlass wollte er nicht, dass man ihm ansah, wie sehr er sich auf das Wochenende freute. Hoffentlich waren die anderen auch der Meinung, dass das Leben weiterging und sie sich nach der morgigen Beerdigung eine schöne Zeit machen sollten. Aber er konnte ja schlecht fragen: Unternehmen wir was Cooles, wenn Gugga unter der Erde ist? Zumal sich gute Stimmung nicht planen ließ. Wenn er Glück hatte, würde die gute Laune sich von ganz alleine einstellen.

Trausti folgte den anderen zum Fahrzeugdeck, und sie stiegen in die Autos. Er hätte sich gewünscht, dass sie nur mit einem Auto angereist wären, sodass sie alle zusammen fahren könnten, aber sie hatten zu viel Gepäck. Also waren sie mit zwei Autos unterwegs, und immerhin musste so niemand hinten in  der Mitte sitzen. Womöglich wäre ihm dann der schmale Mittelsitz zugefallen. Nein, so war es besser. Trausti bekam die Rückbank in Aris schickem E-Auto, und Sigga saß vorne. Ragga fuhr in Leifurs Kombi mit. Die Autos standen nebeneinander, und er nickte Ragga zu, als sich ihre Blicke trafen. Sie lächelte kurz und drehte sich dann um, während er nicht aufhören konnte, ihr Profil zu betrachten.

»Was ist das denn? Hat man nie Ruhe vor diesem Werbescheiß?« Ari zeigte genervt auf einen Zettel, der unter dem Scheibenwischer steckte.

Trausti konnte sich nicht vorstellen, dass es hier wirklich um eine Werbeaktion ging, denn an keinem anderen Auto war ein solcher Zettel befestigt. »Ist das ein Knöllchen?«

Ari regte sich nur noch mehr auf. »Ein Knöllchen? Warum? Weil ich die Parkuhr auf der Fähre nicht bezahlt habe? Weil ich zu schnell an Bord gefahren bin?«

»Vielleicht haben sie mitgekriegt, dass ich ein blinder Passagier bin.« Trausti hoffte, dass dem nicht so war, sonst würden die anderen womöglich erwarten, dass er die Strafe bezahlte, und die war bestimmt höher als der Fahrpreis. Am Flughafen hatte er exakt die Summe am Automaten gezogen, die er auf der Reise ausgeben konnte, ohne sein Budget zu überziehen. Ein Strafzettel würde diesen Plan zunichtemachen.

»Verdammte Ordnungsfanatiker.« Ari schnallte sich ab, öffnete die Tür und las, was auf dem Zettel stand, indem er sich aus dem Auto reckte. Dann ließ er ihn auf den Boden fallen. »Was für ein Schwachsinn.«

»Was ist es denn?«, fragte Sigga und klang so, als würde sie immer noch mit der Übelkeit kämpfen.

»Irgendein Mist. Aber kein Knöllchen.« Ari schnallte sich wieder an und umfasste mit beiden Händen das Lenkrad. »Come on! Wann lassen die uns endlich raus?«

»Jetzt gleich.« Trausti hatte die Schrift auf dem Zettel gesehen. »Was steht drauf?«

»Irgendein Mist, sag ich doch. ›Fahrt nach Hause! Haut ab!‹ So was in der Art. Da hat bestimmt irgendein wütender Reeder die Autos verwechselt und gedacht, der Wagen gehört einem Politiker, der zu dieser Konferenz fährt.«

Das Quietschen und Knarren von Stahl hallte durch das Fahrzeugdeck, und kurz darauf ging die große Klappe auf, und in die Autoschlange kam Bewegung. Ari seufzte erleichtert, und Trausti gab es auf, den Text auf dem Zettel durch das Seitenfenster zu entziffern. Er schaute nach vorne, darum bemüht, nicht unbewusst zu lächeln oder sich anmerken zu lassen, wie sehr er sich auf die kommenden Tage freute, falls Sigga oder Ari zufällig in den Rückspiegel schauten. Er wollte ja nicht seltsam erscheinen.

Und es gelang ihm ganz gut, ein Pokerface aufzusetzen. In diesem Moment wollte er nirgendwo anders sein als mit seinen Freunden auf den Westmännerinseln. Das hier war die einzige Clique, der er jemals angehört hatte, und er hatte sie schmerzlich vermisst. Vom ersten Tag an hatten die anderen ihn gut aufgenommen. Keiner hatte sich über irgendwelche Verhaltensweisen beschwert, die seine Klassenkameraden in der Grundschule und auf dem Gymnasium unmöglich gefunden hatten. Dabei war ihm selbst nie klar gewesen, was eigentlich an ihm verkehrt sein sollte. Trotzdem hatte er alles getan, um seinen Mitschülern zu gefallen. Immer, wenn er etwas an sich geändert hatte, fanden sie etwas anderes lächerlich, dumm oder abartig. Er hatte sich so an die Hänseleien und den Frust gewöhnt, dass er lange dafür gebraucht hatte, nicht mehr ständig auf der Hut zu sein und zu begreifen, dass seine neuen Freunde echte Freunde waren. Keine Feinde im Schafspelz, die ihr wahres Gesicht erst zeigten, wenn er sich entspannte.

Sie hatten sich am Anfang des Studiums im Wohnheim kennengelernt, waren zur gleichen Zeit auf demselben Flur eingezogen. Alle stammten vom Land und kannten in der Stadt noch niemanden. Tatsächlich hatte sie eher die Einsamkeit als eine ähnliche Lebenseinstellung oder ein gemeinsames Hobby zusammengeführt. Das Besondere war, dass sie trotzdem gut harmonierten. Auseinandersetzungen gab es selten, und keiner ging den anderen übermäßig auf die Nerven. Natürlich gab es ab und an Reibereien, aber die waren immer schnell beigelegt. Es fühlte sich beinahe so an, als wären sie Geschwister.

Sie hatten sich zwar ewig nicht mehr getroffen, konnten aber schon an Bord der Herjólfur wieder an alte Zeiten anknüpfen – trotz der allgemeinen Seekrankheit und der Trauer. Wenn man mit der Übelkeit kämpfte, konnte man niemandem etwas vormachen, weshalb die oberflächlichen Gespräche auf dem Weg zum Fährhafen nach Þorlákshöfn schnell in völlige Offenheit übergegangen waren. Alle nahmen ihre alten Rollen wieder ein, obwohl sie am Ende des Studiums ganz unterschiedliche Richtungen eingeschlagen und sich längst in neuen Rollen bewiesen hatten. Sie arbeiteten in den Fachbereichen, die sie studiert hatten, und natürlich hatten sie sich im Lauf der Jahre weiterentwickelt und verändert. Trausti fürchtete schon, dass sich die Gruppe nicht wieder zusammenschweißen ließe, dass es nicht mehr so wie früher werden würde. Doch diese Sorge entpuppte sich als völlig unbegründet – so wie die meisten Sorgen, mit denen er sich herumschlug. Bis jetzt hatte er jedenfalls den Eindruck, dass alle noch genauso waren wie damals, nur ein paar Jahre älter. Vielleicht lag das auch daran, dass sie noch kinderlos und ledig waren, obwohl sie dieses Jahr alle dreißig wurden.

Die auffälligste Veränderung betraf ihre Kleidung. Einige von ihnen trugen wesentlich schickere Klamotten als früher. Ari hatte anscheinend am Morgen aus reiner Gewohnheit sein Banker-Outfit angezogen, dann wohl Skrupel bekommen, das Jackett wieder abgelegt, einen Pullover über das Hemd gezogen und war in Lackschuhen zum Auto gegangen. Auf Siggas Klamotten prangten alle möglichen Initialen, von denen Trausti annahm, dass es sich um die Logos von Modefirmen handelte. Sogar ihre Gürtelschnalle war aus zwei Buchstaben gefertigt. Sigga war Anwältin in einer großen Kanzlei, und auf dem Weg nach Þorlákshöfn hatte sie ihnen erzählt, dass es sehr gut laufe. Und da sie das nicht allen Leuten, denen sie begegnete, auf die Nase binden konnte, wollte sie wohl ihre Kleidung für sich sprechen lassen. Raggas Kleidungsstil hatte sich ebenfalls weiterentwickelt, von flippig zu gesettelt. Zum Beispiel war das kleine goldene Nasenpiercing verschwunden und hatte eine winzige Narbe hinterlassen, die man nur sah, wenn man ganz genau hinschaute.

Traustis Kleidungsstil hatte sich nicht ganz so stark verändert, aber ein bisschen schon. Im Krankenhaus gab es bestimmte Anforderungen an die Dienstkleidung, und in den gut zwei Jahren, die er in den USA lebte, hatte er unbewusst begonnen, mehr auf sich zu achten. Trotzdem sah er nicht so schick aus wie Ari, eher wie eine Art Schlussverkaufsversion seines Banker-Freundes. Nur Leifur war ganz er selbst geblieben, was seine Kleidung betraf. Er sah immer noch aus wie der Roadie einer Band, die den Durchbruch noch nicht geschafft hatte, trug ein verschlissenes T-Shirt mit einem kaum noch erkennbaren Aufdruck, Jeans und einen abgewetzten Anorak. Merkwürdigerweise freute sich Trausti darüber. Er wünschte, alles wäre noch so wie früher.

Aber das war natürlich unmöglich. Kleidungsstile konnten sich ändern, mit der Mode, dem Alter und dem Beruf, aber dass die Clique kleiner geworden war, das würde sich nie wieder ändern.

Traustis Glücksgefühle verschwanden augenblicklich. Sein Magen verkrampfte sich, und er schloss die Augen. Er verdrängte die unangenehmen Erinnerungen und versuchte, nur noch an die schönen Ereignisse während seiner Studienzeit zu denken. Doch die Erinnerungen an die schlimmen Dinge wollten nicht weichen. Als er plötzlich an eine drohende Strafzahlung denken musste, versteckte er sich wieder unter den Jacken, falls ein aufmerksamer Mitarbeiter auf dem Fahrzeugdeck die Passagiere in den Autos zählen würde. Seine Stimmung trübte sich noch mehr, als er sein Handy sah, das auf dem Boden lag. Es musste ihm aus der Tasche gerutscht sein, als er sich bei der Auffahrt auf die Fähre unter den Jacken zusammengekauert hatte. Später an Bord hatte er ins Leere gegriffen und gedacht, er hätte das Handy in seinen Rucksack gesteckt. Was wesentlich besser gewesen wäre, denn selbst in dem Dämmerlicht unter den Anoraks erkannte er, dass das Display zersplittert war. Alle Versuche, das Handy einzuschalten, waren vergeblich. Er musste draufgetreten sein, wahrscheinlich beim Aus- und Einsteigen, wobei nicht nur das Display zerbrochen war, sondern das Gerät sich auch verbogen hatte.

Ari fuhr von der Fähre auf den Kai, und sobald Trausti sich wieder sicher fühlte, richtete er sich auf und untersuchte das kaputte Handy genauer. Es ließ sich immer noch nicht einschalten, deshalb steckte er es in die Tasche und hoffte, dass es vielleicht später klappte. Es war nervig, kein Handy zu haben, und ein neues kostete einen Haufen Geld. Anstatt sich auf die nächsten Tage zu freuen, bekam Trausti ein mulmiges Gefühl. Er musste an die Nachricht auf dem Zettel unter dem Scheibenwischer denken. War sie wirklich für andere Passagiere bestimmt gewesen, wie Ari vermutet hatte? Oder galt sie doch ihnen?

Wohl kaum. Das konnte einfach nicht sein. Fahrt nach Hause! Haut ab!

Keiner von ihnen drehte sich noch einmal um oder schaute in den Rückspiegel. Und so sah auch niemand, wie eine Person das leere Fahrzeugdeck betrat, den Zettel aufhob und ihnen hinterherschaute, als sie im Winterwetter verschwanden.

2. Kapitel — Tag 5 — Montag

Ausnahmsweise war es windstill. Der Wetterdienst hatte für den Nachmittag ein Sturmtief angekündigt, und wie so oft war das Wetter frühmorgens noch schön, wenn kaum einer wach war, um es zu genießen. Ásta war bisher nur einem einzigen Menschen begegnet, einem Mann, der bei Breiðabakki über die Wiese ging, einem Hof, auf dem Nebenerwerbsbauern Pferde und Schafe hielten. Zum Glück hatte sie kein Hobby, bei dem man in aller Herrgottsfrühe die Tiere füttern musste.

Ásta stieg aus dem Wagen und schlug die Tür zu. Ihr Hund Móri bellte und tobte auf der Rückbank, weil er im Auto zurückgelassen wurde. Er war davon überzeugt, dass es sich dabei um ein Versehen handelte und er sich nur laut genug bemerkbar machen musste. Aber da stieß er bei ihr auf taube Ohren, er würde sich damit abfinden müssen. Ásta wollte ihn im Dunkeln nicht verlieren. Nicht jetzt. Man konnte nie wissen, was passierte.

Sie hatte am Straßenrand angehalten, obwohl sie eigentlich bis hinauf zum Kap Stórhöfði fahren wollte. Vorhin hatte es so ausgesehen, als würde im Osten schon die Sonne aufgehen, dort jenseits der Landenge, die das Kap mit der Insel Heimaey verband, aber das war unmöglich. Als sie näher gekommen war, hatte sie festgestellt, dass der Lichtschein gar nicht vom Horizont kam, sondern von Brimurð, dem steinigen Strand auf der schmalen Landzunge zwischen Ræningjatangi und Garðsendi. Obwohl sie es eilig hatte, beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen. Eigentlich wusste sie, dass das keine Neugier war, sondern nur eine Ausrede, um ihr eigentliches Vorhaben aufzuschieben. Wenn sie sich nicht zusammenriss, würde sie umkehren, sobald sie wieder im Auto saß. Würde zurück nach Hause fahren, anstatt das abzuschließen, was sie aus dem Bett und aus dem Ort getrieben hatte, obwohl es fast noch Nacht war.

Als Ásta ausgestiegen war, roch sie es sofort. Sie kniff die Augen zusammen und meinte, Rauch zu erkennen, der in den nächtlichen Himmel aufstieg. Da brannte etwas. Vorsichtig überquerte sie die Straße und ging zu der Böschung, die zum Strand hinunterführte. Die dünne Schneeschicht auf dem Asphalt hatte sich in eine harte, glatte Fläche verwandelt. Sie wollte auf keinen Fall ausrutschen, sich den Fuß brechen und frierend auf der Straße liegen, bis zufällig jemand vorbeikam. Das konnte hier lange dauern. Als sie auf der anderen Straßenseite angekommen war, entspannte sie sich wieder. Das heimelige Knirschen ihrer Schritte im Schnee durchbrach die Stille, und ihre Atemwölkchen wetteiferten mit dem Rauch in der Luft.

Ásta dachte daran, wie der Ort hier zu seinem Namen gekommen war. Ræningjatangi. Räuberlandspitze. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und sie schlang die Arme um den Oberkörper. Wie albern, dass sie sich gruselte, als sie an den Überfall im 17. Jahrhundert dachte, bei dem algerische Seeräuber Hunderte Inselbewohner getötet und verschleppt hatten. Angeblich waren sie an dieser Stelle angelandet. Aber natürlich hatte Ásta keine Angst davor, dass Männer mit Krummsäbeln am Strand stehen und sie versklaven würden. Unheimlich war nur, dass die Gegenwart und die Vergangenheit etwas gemeinsam hatten: Die Gegend war menschenleer. Deswegen waren die Piraten unbemerkt an Land gekommen, und genau das könnte auch sie in Bedrängnis bringen. Die Person, die das Feuer entfacht hatte, könnte auf die Idee kommen, sie anzugreifen. Ásta stand reglos da und atmete tief ein. Ihre Lungen füllten sich mit der kalten, rauchigen Winterluft, und das mulmige Gefühl wurde stärker.

Sie durfte sich nicht so kindisch benehmen. Da verbrannte bestimmt nur jemand Müll. Die Menschen kamen auf die seltsamsten Ideen, um Geld zu sparen: Wenn sie im Schutz der Nacht Müll verbrannten, sparten sie die Abfallgebühren. Etwas sprach allerdings gegen diese Theorie – es war nirgendwo ein Fahrzeug zu sehen. Und wer würde schon seinen Müll zu Fuß herschleppen? Ásta trat an den Rand der Böschung und war erleichtert, als sie sah, dass niemand bei dem Feuer am Strand stand.

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie unmöglich erkennen, was dort verbrannt wurde. Die Flammen stiegen zwar nicht sehr hoch, aber es war trotzdem ein ziemlich großes Feuer. Sie ließ den Blick über die Umgebung schweifen, aber bei dem schwachen Mondlicht konnte sie niemanden entdecken, der diesen sonderbaren Scheiterhaufen entfacht haben konnte. Allerdings war es nicht schwierig, sich hier hinter einem Felsen zu verstecken – aber wozu? Schließlich war sie nicht James Bond im schwarzen Anzug, und das hier war kein Agentenfilm. Sie war Ásta Jóns, trug einen lächerlichen, aber bequemen Jogginganzug und befand sich auf Heimaey. Die Vernunft gewann wieder die Oberhand, und sie traute sich, näher heranzugehen. Sie wollte nur kurz nachschauen, was dort verbrannt wurde, anschließend hinauf zum Kap fahren, um zu erledigen, was sie sich vorgenommen hatte, und wieder nach Hause zurückkehren. Alles ohne viel nachzudenken, damit die Zweifel ihr nicht die Kraft raubten.

Die Böschung war schneefrei, aber mit glitschigem Tang bedeckt, und an einigen Stellen glänzte Eis im Mondschein. Ásta tastete sich vorsichtig hinunter zum Strand, erreichte wohlbehalten ebenen Boden und ging auf das Feuer zu. Es befand sich in einer Einbuchtung bei den steilen Dünen, so weit wie möglich von der Gezeitenzone entfernt. An dieser Stelle konnten die Wellen das Feuer nur bei einer Springflut und sehr hohem Wasserstand löschen. Dieser Ort war bestimmt nicht zufällig gewählt worden. Obwohl Ásta sich mit schnellen Schritten dem Feuer näherte, konnte sie immer noch nicht erkennen, was dort brannte. Die Flammen blendeten sie, aber allmählich gewöhnten sich ihre Augen daran, und der schwarze, brennende Haufen nahm Form an. Ásta stieß weder einen Schrei aus, noch taumelte sie zurück, sie schlug sich nur die Hände vor den Mund und starrte in das Feuer. Durch das Knacken der Flammen hindurch hörte sie das Plätschern der Wellen, das ihr bisher gar nicht aufgefallen war. Ihr Gesicht brannte von der Hitze, obwohl es kurz zuvor noch eiskalt gewesen war. Auch der Geruch hatte sich verändert. Jetzt roch sie Benzin. Es war, als hätten sich ihre Sinne geschärft.

Das, was dort brannte, war ein Mensch. Auf dem Holzstoß lag etwas, das nur eine Leiche sein konnte. Sie war kohlrabenschwarz, weder als Mann noch als Frau zu identifizieren, aber eindeutig keine Puppe. Dort brannte Fleisch, kein Kunststoff. Zwei Arme, zwei Beine, ein Rumpf und ein ihr zugewandter Kopf, der Kiefer schlaff und die Augen zwei schwarze Löcher.

Ásta merkte, dass sie unbewusst angefangen hatte, in ihre Handflächen zu schreien. Man musste nicht in Erster Hilfe geschult sein, um zu erkennen, dass diese Person nicht mehr zu retten war. Langsam wich sie zurück, ohne den Blick von dem brennenden Kopf und den züngelnden Flammen zu lösen. Die Zeit schien stillzustehen, und jeder Schritt dauerte unendlich lange. Irgendwann zwang sie sich kehrtzumachen. Als sie wieder in die Richtung blickte, aus der sie gekommen war, wurde ihr klar, dass sie beim Umdrehen etwas aus dem Augenwinkel gesehen hatte. Etwas Grelles, das nicht in die dunkle Landschaft passte und halb hinter einem großen Felsbrocken verborgen war. Ásta zwang sich, den Kopf zu drehen, obwohl ihr Körper sich dagegen sträubte. Was war das? Ein Stück Plastik, das dorthin geweht war, oder jemand, der sie bemerkt hatte? War er ihr gefolgt? Sie musste es herausfinden.

Ásta fixierte die Stelle, bereit loszurennen, falls es ein Mensch war. Wenn sich außer ihr noch jemand an diesem Strand befand, musste diese Person auch das Feuer entfacht haben. Ásta hatte die Hände vom Gesicht genommen, sodass der Schrei ungehemmt aus ihr herausbrach, als sie oben an dem großen Felsbrocken jemand sitzen und geradeaus starren sah, direkt auf das Feuer. Sie konnte das Gesicht unter der Kapuze nicht erkennen und bei dem flirrenden Feuerschein nicht sehen, ob es eine Frau oder ein Mann war. Instinktiv stürmte sie los. Sie musste zum Auto, nur weg von hier. Hilfe holen.

Als sie sich über den glitschigen Tang zur Straße hochgekämpft hatte, warf sie einen Blick über die Schulter. Niemand folgte ihr. Hektisch versuchte sie, die Stelle zu finden, an der die Person gesessen hatte. Bei dem schwachen Licht und dem hellen Feuerschein ließ sich kaum etwas erkennen, deshalb hatte sie wahrscheinlich auch auf dem Hinweg nichts bemerkt. Die Person im Anorak hatte vielleicht schon die ganze Zeit dort gesessen.

Ásta kniff die Augen zusammen. Endlich sah sie den roten Anorak aufblitzen und atmete erleichtert auf. Anscheinend saß die Person noch immer dort, an den Felsen gelehnt. Vielleicht war es ja nur ein Anorak, den jemand abgestreift hatte, um schneller laufen zu können? Die Vorstellung allein reichte. Sofort stürmte sie weiter, hielt den Blick starr auf ihr Auto gerichtet und achtete nicht auf die glatte Straße. Sie rutschte aus, fiel hin und schrammte über den vereisten Asphalt. Ihre Knie und die aufgerissenen Handflächen taten höllisch weh, aber als sie von links ein leises Motorengeräusch hörte, war sie so geschockt, dass sie den Schmerz nicht mehr spürte. Das war bestimmt kein Auto, vielleicht ein Elektroroller.

Der Gegenstand, von dem das Geräusch ausging, war näher, als sie vermutet hatte, und kleiner. Wesentlich kleiner. Ásta fühlte sich wie in einem surrealen Traum.

Auf allen vieren beobachtete sie verwirrt, wie ein Saugroboter auf der Straße an ihr vorbeiglitt und Kurs auf den Ort nahm. Sie starrte ihm eine ganze Weile hinterher, bis ihr wieder einfiel, dass sie hier schnellstens wegwollte. Die aufgeschlagenen Knie ignorierend, stand sie auf, ging zu ihrem Wagen und suchte in der Jackentasche nach dem Schlüssel. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie ihn fast fallen gelassen hätte. Erst da bemerkte sie, dass sie hemmungslos schluchzte. Móri, der auf der Rückbank kläffte und an der Fensterscheibe hochsprang, setzte sie noch mehr unter Stress. Als sie schließlich im Auto saß, verriegelte sie sofort die Türen und startete den Motor, ohne sich die Tränen aus dem Gesicht zu wischen. Móri verstummte, quetschte sich zwischen die Vordersitze und wollte auf ihren Schoß. Ásta schob ihn auf den Beifahrersitz, weil es unmöglich war, mit dreißig Kilo überschäumender Freude auf dem Schoß Auto zu fahren.

Da der Wagen in der falschen Richtung stand, musste sie auf der schmalen Straße wenden. Sie stellte sich so ungeschickt an, dass der Wagen vor- und zurückschoss, als sie zu viel Gas gab. Hektisch trat sie auf die Bremse, der Wagen wurde durchgeschüttelt wie in einem Cocktailshaker. Schließlich gab sie es auf, wollte nicht noch im Straßengraben landen. Sie musste sich zwingen, noch ein Stück weiterzufahren, bis zu der kleinen Parkbucht, wo sie wenden konnte. Das Auto stand noch einigermaßen gerade, es würde ganz schnell gehen. Ásta atmete ein paarmal tief ein und aus, umklammerte das Lenkrad und fuhr los. Wenn jemand vom Strand hinaufkommen und sie bedrohen sollte, würde sie ihn überfahren.

Ásta lehnte sich weit vor, die Nase fast an der Windschutzscheibe. Bei der Glätte konnte sie nicht schnell fahren, zumal ihre Reaktionsfähigkeit in diesem Zustand zu wünschen übrig ließ. Sie erinnerte sich daran, dass ihr Handy mit der Freisprechanlage verbunden war, und schaltete das Autodisplay ein, um die Polizei anzurufen. Obwohl hier nicht viele Menschen lebten, war der Notruf Tag und Nacht besetzt, die Polizei wäre in höchstens zehn Minuten da. Sie brüllte einen Befehl, die 112 anzurufen.

Hektisch versuchte sie, zwei Dinge gleichzeitig zu machen, schlug gegen das Lenkrad und betätigte versehentlich die Hupe. Der laute Ton erschrak sie so sehr, dass sie Gas gab, in die Parkbucht schlingerte und den Wagen wendete wie bei einer Rallye. Dann raste sie los, ohne an den vereisten Asphalt zu denken.

Was sie besser getan hätte.

3. Kapitel — Tag 1 — Donnerstag

Trausti nahm das Heulen des Windes schon gar nicht mehr wahr. Er hatte sich innerhalb kürzester Zeit daran gewöhnt, wesentlich schneller als an das Rauschen der Klimaanlage vor seinem Schlafzimmerfenster in Amerika. Dort hatte es Monate gedauert, bis ihm der Lärm nicht mehr auf den Geist gegangen war. Aber den Wind konnte man schließlich nicht einfach ausschalten, während sich eine Klimaanlage leicht an einer anderen Stelle an der Hauswand anbringen ließ. Außerdem musste man an einem Ort, der als Sturmloch Europas galt, damit rechnen, das Heulen des Windes zu hören. Seit er hier war, zweifelte er jedenfalls nicht mehr daran, dass diese Gegend ihren Titel zu Recht trug. Stórhöfði war der südlichste Zipfel Islands und bis auf einen schmalen Streifen, der das Kap mit Heimaey verband, komplett vom Meer umgeben. Es war dem Wind vollkommen ausgeliefert, und Trausti war froh, fürs Erste nicht mehr rauszumüssen.

Seit sie auf dem Parkplatz vor dem Haus ausgestiegen waren, hatte der Sturm nicht nennenswert nachgelassen. Sigga und Ragga hatten sich kaum auf den Beinen halten können, weil sie viel leichter waren als die Männer. Siggas glattes blondes Haar hatte waagerecht in der Luft gestanden, als sie zum Haus gewankt war, und Trausti hätte gerne ein Foto von ihr gemacht, aber dann war ihm wieder eingefallen, dass sein Handy kaputt war. Wobei er das wahrscheinlich sowieso nicht hingekriegt hätte, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt, selbst nicht umgeweht zu werden. Und Sigga hätte bestimmt darauf bestanden, dass er das Foto löschte. Sie sah normalerweise immer perfekt aus, aber in diesem Moment ähnelte sie einem dienstunfähigen Clown, weil sie von der Überfahrt immer noch leichenblass war.

Der Sturm hatte der allgemeinen Begeisterung, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, keinen Abbruch getan. Der Wind war erfrischend und vertrieb den schalen Geschmack aus dem Mund. Außerdem hatte er die negative Stimmung fortgeweht, die Trausti auf der kurzen Strecke vom Hafen überfallen hatte, und er war wieder guter Dinge. Der Rotwein, den sie tranken, nachdem sie sich eingerichtet hatten, vertrieb endgültig jegliches Unwohlsein. Selbst sein Handy vermisste Trausti nicht mehr.

Ein schwacher Geruch von Wandfarbe und Holz hing in der Luft. Trausti wusste nicht, wie das Innere des Hauses vorher ausgesehen hatte, aber es waren definitiv alle Türen und Fenster ausgetauscht, die Wände neu verputzt, die Küche modernisiert und mehr Badezimmer eingebaut worden. Jedenfalls bezweifelte er, dass der Leuchtturmwärter vier Bäder gebraucht hatte. Es gab keinen Wasseranschluss, aber in einer Zisterne wurde Regenwasser gesammelt und ins Haus geleitet. Er wunderte sich, wie das zu der modernen Unterkunft passte, aber wahrscheinlich hing es damit zusammen, dass niemand dauerhaft hier wohnte. Vermutlich vergingen Wochen, wenn nicht gar Monate zwischen den Duschorgien der Gäste, sodass sich in der Zwischenzeit genug Wasser sammelte. Die Renovierungsarbeiten waren noch nicht ganz abgeschlossen, aber es gab bereits Möbel und Bilder an den Wänden. Der letzte Schliff fehlte angeblich noch, aber Trausti fragte sich, wo. In der Küche war alles Notwendige vorhanden, der hohe Glasschrank im Wohnzimmer war voller Weingläser, in den Bädern gab es Handtücher, Bademäntel und Seife und in den Schlafzimmern gemachte Betten. Die Einrichtung war nagelneu und vom Feinsten, trotzdem war das Haus gemütlich, nichts wirkte arrangiert, sondern alles völlig ungezwungen.

Falls Leifur befürchtet hatte, auf einem alten, durchgelegenen Sofa schlafen zu müssen, entpuppte sich diese Sorge als grundlos. »Echt der Hammer, Ari. Voll krass.« Leifur lehnte sich auf dem weichen Sofa in einem der beiden Wohnzimmer zurück, wo sie es sich bequem gemacht hatten. Er schwang die Beine auf den Couchtisch, trank einen Schluck und grinste breit. »Krass.«

Leifur hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Im Vergleich zu ihren früheren Partys in den kleinen Apartments im Wohnheim war dies das Paradies. Damals hatten sie sich damit begnügt, auf Betten, Schreibtischstühlen und dem Boden zu hocken. Auch der Wein war wesentlich besser als damals, kein billiger Kartonwein, sondern Glasflaschen mit Korken. Selbst die Gläser waren kultiviert, langstielig und aus Kristall. Ganz anders als das Sammelsurium von Gläsern, aus denen sie früher getrunken hatten. Und es gab wesentlich mehr Alkohol – die Anrichte bog sich fast unter den mitgebrachten Flaschen, darunter auch Traustis sorgfältig ausgewählter mittelteurer Wein aus dem Duty-free-Shop. Der Einzige, der wie früher eingekauft hatte, war Leifur, der wortlos zwei Kartons Dosenbier und zwei kleine Flaschen Lakritzschnaps auf den Tisch geknallt, sich dann aber wie alle anderen für den Wein entschieden hatte.

»Runter mit den Füßen!« Ari beugte sich vor und stieß gegen Leifurs Beine. Immerhin trug er zueinander passende Socken, allerdings unterschiedlich verschlissen, eine war gräulich verwaschen und hatte am dicken Zeh ein Loch. »Wir müssen uns anständig benehmen.«

Widerwillig nahm Leifur die Füße vom Tisch, aber er war nie lange eingeschnappt und grinste breit, sodass seine vom Rotwein verfärbten Zähne zu sehen waren. »Ich hätte in die Finanzbranche gehen sollen. Verdammter Fehler.«

Leifur hatte Informatik studiert. Bevor er auf der Fähre blass geworden war und sich entschuldigt hatte, hatte er ihnen von seiner Unzufriedenheit im Job erzählt. Es überraschte Trausti nicht sonderlich. So war Leifur nun mal. Er hangelte sich so durch und war garantiert nicht der richtige Mann, wenn es darum ging, Fehler zu beheben und exakt zu arbeiten. Er war eher der Typ, der die Bierflasche köpfte, wenn er keinen Flaschenöffner fand. Trausti hatte nie verstanden, warum er sich für dieses Studium entschieden und wie er den Abschluss geschafft hatte. Es war typisch für Leifur, sich irgendwie durchzulavieren, sei es bei Prüfungen oder durch Schneewehen auf dem Parkplatz. Wenn er den Job wechseln würde, dann bestimmt nicht in Richtung Finanzen. Das würde noch weniger zu ihm passen als die IT-Branche. Trausti würde ihm jedenfalls keine Investments anvertrauen, falls er sich das je leisten könnte.

»Ach, Trausti, schenkst du mir noch mal nach?« Sigga hielt ihm ihr leeres Rotweinglas hin. Trausti stand schon, bevor sie den Satz beendet hatte – wie damals während des Studiums. Da war er immer gesprungen, wenn Sigga ihn um etwas gebeten hatte. Dabei war er gar nicht in sie verliebt gewesen, auch wenn die anderen das zweifellos geglaubt hatten. Sigga ließ einem einfach keine andere Wahl, als ihr alle Wünsche zu erfüllen. Sie war es gewohnt, bedient zu werden, und wenn sie um einen Gefallen bat, dann machte sie das immer überaus freundlich und bedankte sich herzlich.

Ari und Sigga waren schon immer die Wortführer gewesen und waren es noch heute. Sie trafen die wichtigsten Entscheidungen für die Gruppe und setzten ihre Vorschläge meistens durch. Sigga war diejenige gewesen, die vorgeschlagen hatte, zu Guggas Beerdigung auf die Westmännerinseln zu fahren. Ari hatte noch einen draufgesetzt und gemeint, sie sollten ein richtiges Treffen daraus machen. Trausti hatte den Vorschlag sofort gelikt.

Nach dem Studium waren Ragga, Sigga, Ari und Leifur aus dem Wohnheim ausgezogen, und Trausti war alleine zurückgeblieben. Danach war der Kontakt schnell abgerissen, obwohl sie sich jedes Mal, wenn wieder jemand zusammenpackte und sein winziges Apartment räumte, hoch und heilig versprochen hatten, in Kontakt zu bleiben. Sie richteten eine Chatgruppe ein, die anfangs noch fleißig genutzt wurde, aber irgendwann einschlief. Ab und zu erwachte sie noch mal zum Leben, aber Trausti vermutete, dass er der einzige Neugierige war, wenn sein Handy piepte. Die anderen hatten sich besser eingerichtet im Leben, hatten mehr soziale Kontakte, lebten aber auch noch in Island und mussten nicht zur weiteren Ausbildung ins Ausland, so wie er.

Trausti hatte Medizin studiert, der längste Studiengang in Island. Sigga hatte nach dem Bachelor in Jura direkt mit dem Master weitergemacht, war aber aus dem Wohnheim in eine Mietwohnung gezogen. Die anderen hatten sich mit dem Grundstudium begnügt oder danach ein Jahr Pause eingelegt. Trausti war ohne die Clique noch zwei weitere Jahre im Wohnheim geblieben, was zwar einsam gewesen war, aber dafür hatten sich seine Noten dank des eingeschränkten Soziallebens gegen Ende deutlich verbessert. Ein Dozent hatte das sogar ausdrücklich erwähnt. Er hatte gemeint, Trausti habe sich von ganz unten fast bis an die Spitze hochgearbeitet und ihn so zu seinem Leidwesen daran erinnert, dass er bei der Aufnahmeprüfung der Zweitschlechteste gewesen war.

Als sie von Guggas Tod erfuhren, hatte Sigga die Chatgruppe reaktiviert. Vor der Reise waren mehr Nachrichten geschrieben worden als in den knapp vier Jahren seit Traustis Abschluss. Je mehr Nachrichten sie schrieben, desto offensichtlicher wurde, wie sehr sich alle auf ein Wiedersehen freuten, auch wenn die Umstände natürlich sehr traurig waren. Trausti war froh, dass er nicht der Einzige war, der es nicht erwarten konnte, die anderen wiederzutreffen. Aber er war wesentlich aufgeregter und vertraute ihnen lieber nicht an, dass er extra nach Island gereist war, um sie zu treffen. Er hatte behauptet, rein zufällig plane er ohnehin einen kurzen Besuch. Die anderen sollten ihn auf keinen Fall für bemitleidenswert halten. Denn das war er keineswegs. Er galt in der Facharztausbildung sogar als talentiert, trotz des schlechten Starts in seine Medizinerlaufbahn.

Trausti holte die halbleere Flasche und schenkte Sigga ein. Dann füllte er auch Leifurs fast leeres Glas, und weil Ragga die Hand auf ihres legte, bekam Ari den Bodensatz. Trausti hatte noch genug und trank nie übermäßig viel. Er setzte sich wieder und hoffte, dass niemand vorschlagen würde, eine weitere Flasche zu öffnen. Er war müde und hätte sich gerne bald hingelegt. Die Zeitverschiebung machte ihm zu schaffen, und morgen, wenn der traurige Teil der Reise anstand, musste er fit sein. Er wollte nicht dabei ertappt werden, bei Guggas Beerdigung gähnen zu müssen. Oder vor lauter Müdigkeit die Tränen nicht zurückhalten zu können.

Ragga schenkte ihm ein Lächeln, und Trausti erwiderte es. Hoffentlich sahen seine Zähne nicht so aus wie Leifurs. Eine Zeitlang hatte er ein Auge auf Ragga geworfen, sich von ihrer ruhigen Art angezogen gefühlt und ihren nachdenklichen Gesichtsausdruck unwiderstehlich gefunden. Er hatte ihre Kurzhaarfrisur bewundert, denn damals hatten alle jungen Frauen lange Haare. Ihre Frisur hatte ihr etwas Besonderes verliehen, was ihn vermuten ließ, sie würde ihn verstehen. Allerdings konnte er seine Frisurentheorie nicht unter Beweis stellen, weil er nie die Initiative ergriffen hatte und nicht wusste, ob die Anziehung gegenseitig gewesen war. Er ahnte, dass dem nicht so war, und war heilfroh, dass er es nie darauf hatte ankommen lassen, denn er hätte sicher nur eine Abfuhr kassiert. Und selbst wenn sie ein Paar geworden wären, hätte ihre Beziehung garantiert nicht gehalten, als er in die USA gezogen war. Ragga hatte Maschinenbau studiert und leitete bei einem Energieversorger Projekte, die mit der Erneuerung von Hauptleitungen der Warmwasserversorgung zu tun hatten. Trausti interessierte das nicht im Geringsten, aber Ragga hatte gestrahlt, als sie an Bord der Fähre von ihrem Job erzählt hatte. Seines Wissens gab es in dem Bundesstaat, in dem er wohnte, keine Geothermie, weshalb sie dort bestimmt nie so glücklich geworden wäre wie in Island.

Die Glasscheibe des bodentiefen Fensters neben dem Sofa wölbte sich leicht, als der Wind mit frischer Kraft gegen das Haus fegte. Trausti trank noch einen Schluck Rotwein, froh, nicht draußen zu sein, drehte sich zum Fenster und starrte in die Dunkelheit. Sigga gab noch einmal die Geschichte zum Besten, wie Leifur im Wohnheim einen Trockner ruiniert hatte, weil er versehentlich einen Gewürzstreuer mit Knoblauchpulver anstelle eines Tennisballs in die Maschine getan hatte, als er seine Daunenjacke nach der Wäsche trocknen wollte. Der Streuer war in der rotierenden Trommel aufgegangen, und der Knoblauch hatte sich in der Maschine verteilt. Den Trockner konnte man danach nicht mehr benutzen, und Leifur roch immer nach Knoblauchbrot, wenn er seinen Anorak anhatte. Sie lachten bei der Erinnerung, und Trausti stimmte mit ein, aber angesichts der Umstände blieb ihm das Lachen im Hals stecken. Bis die Beerdigung überstanden war, überdeckte die Trauer um Gugga alles andere. Er stellte sich vor, wie sie wohl aussähe, wenn sie jetzt bei ihnen wäre. Hätte sie sich stärker verändert als die anderen? Sie war dreißig gewesen, als sie starb, also ein Jahr älter als die anderen. Aber ein Jahr machte keinen großen Unterschied, sie wäre bestimmt noch genauso chaotisch gewesen wie früher.

Gugga war immer politisch aktiv gewesen und hatte für irgendein Thema gebrannt, meist für das jeweils aktuelle. Ihr Enthusiasmus hatte jedoch nie dafür gereicht, an einer Demo teilzunehmen, denn die verschlief sie regelmäßig. Außerdem änderten sich ihre Interessen andauernd. Auch ihr Engagement in der Hochschulpolitik endete abrupt. Sie kandidierte für den Studierendenrat, setzte sich aber nie besonders ein, sodass niemand überrascht war, als sie bei der Wahl keine Unterstützung bekam. Die Niederlage war ihr egal, denn sie interessierte sich längst für etwas anderes. Sie hatte es noch nicht mal hingekriegt, zum Wahllokal zu gehen und sich selbst zu wählen.

Trausti hoffte, dass es Gugga nach dem Auszug aus dem Wohnheim gelungen war, sich besser zu fokussieren, auch wenn sie nie einen Abschluss gemacht hatte. Sie hatte Soziologie studiert und sich immer sehr dafür interessiert. Zumindest hatte sie nie davon gesprochen, das Fach zu wechseln, obwohl das typisch für sie gewesen wäre. Es hatte ihn erstaunt, dass sie so kurz vor dem Ziel aufgegeben hatte, doch im Nachhinein betrachtet war es eigentlich zu erwarten gewesen. Ihre Mutter hatte mit einer schweren Krebserkrankung gekämpft, und nach ihrem Tod hatte Gugga den Halt verloren. Vielleicht hätten Trausti und die anderen sich aufraffen und sie unterstützen sollen, aber damals hatten alle genug mit sich selbst zu tun. Ihre Tage waren vollgestopft mit Vorlesungen, Prüfungen, Hausarbeiten und Lerngruppen – und die restliche Zeit wurde gefeiert.

Trausti verdrängte diese unerfreulichen Gedanken und versuchte stattdessen, es sich auf dem weichen Sofa gemütlich zu machen und das Hier und Jetzt zu genießen. Es war ja nicht verwerflich, alte Freunde zu treffen und sich ein paar Tage vom Alltagsstress freizunehmen. Im Gegensatz zu den anderen würde er jeden einzelnen freien Tag abarbeiten müssen. Wenn er zurück war, erwartete ihn wochenlange, ununterbrochene Schufterei. Aber das war es zweifellos wert. Er hatte sich in den USA noch keinen Freundeskreis aufgebaut und verbrachte die meiste Zeit mit Arbeiten, Lernen und Schlafen. Deshalb brauchte er ihre Freundschaft wirklich. Diese Reise war ein Vitaminschub für seine Seele.

»Hast du schwarze Klamotten dabei, Leifur?« Ari stellte sein Glas ab und fügte erklärend hinzu: »Damit meine ich kein schwarzes Heavy-Metal-Shirt und schwarze Jeans. Wir müssen morgen angemessen gekleidet sein.«

Leifurs Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er sich darüber keine Gedanken gemacht. Sigga griff ein, bevor Leifur antworten konnte, und rettete ihn aus seiner misslichen Lage: »Glaubt ihr, wir hätten etwas daran ändern können? Gugga retten können?« Sie lallte leicht, und ihre untere Gesichtshälfte war ziemlich schlaff. Das schien sich seit ihrer Zeit als Jurastudentin nicht geändert zu haben. Nach zwei Gläsern wuchsen den Wörtern Schwänze, und Sigga brauchte länger, um sie auszusprechen. Sie vertrug am wenigsten von allen, war aber auch zierlich und leicht.

»Was redest du denn da?« Leifur runzelte die Stirn. »Was zum Teufel hätten wir machen sollen? Gugga ist an Krebs gestorben. Hätten wir sie … äh … heilen sollen, oder was?«

Trausti musste sich beherrschen, um nicht laut zu stöhnen. Jetzt würden sie ihn garantiert zu dem Thema löchern. So war es immer gewesen, wenn es um Krankheiten ging. Alle glaubten, damit bei ihm an der richtigen Adresse zu sein. Wobei es den anderen genauso erging. Sigga musste alles über Gerichtsverfahren, Gesetze und Vorschriften wissen, Leifur wurde zu Computern, Software und KI befragt, obwohl er über Letzteres kaum etwas wusste, und Gugga sollte sich mit Fluchtursachen und sozialen Angelegenheiten auskennen. Ari war Banker und musste Auskünfte über die Zinspolitik der Notenbank geben. Wenn sie versucht hatten, Ragga über Anlagenbau, Industrie und Energieunternehmen auszufragen, hatte sie meistens nur mit den Achseln gezuckt und sich geweigert, irgendetwas dazu zu sagen. Besonders bei strittigen Themen.

Sigga wirkte gekränkt. »Nein, ich spreche nicht von Heilung. Ich meine nur, wenn es Menschen psychisch gutgeht, dann halten sie mehr aus. Gugga ging es bestimmt nicht gut.«

Leifur war in die weichen Polster des Sofas gesunken und setzte sich wieder auf, ohne seine Gereiztheit zu verbergen. »Warum glaubst du, dass es ihr schlecht ging? Das können wir nicht wissen. Sie war bestimmt total happy.« Als er merkte, wie absurd das klang, ergänzte er: »Also in Anbetracht der Umstände.«

Sigga schüttelte mit einer übertriebenen Bewegung den Kopf, sodass ihr langes blondes Haar hin und her schwang, was zu ihrem leichten Lallen passte. »Ihr habt ihre Message doch gesehen.« Sigga senkte den Blick. »Sie hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs und wollte, dass wir sie im Krankenhaus besuchen. Das haben wir nicht gemacht. Dabei wussten wir, dass sie sonst niemanden hat.« Guggas Vater war zwei Jahre zuvor gestorben und hatte sie zur Waise gemacht. Sie war Einzelkind und hatte keine nahen Verwandten mehr, die ihr Halt gaben. Zu dem Zeitpunkt war sie plötzlich wieder in der Chatgruppe aufgetaucht und wollte sich mit ihnen treffen, woraus nichts geworden war, genauso wenig wie später aus einem Besuch im Krankenhaus.

Ari verdrehte die Augen. »Woher sollten wir wissen, dass es so ernst war?«

Jetzt kam das Medizinthema an die Reihe. Sigga blickte zu Trausti und gab ihm einen Wink, damit er das Zepter übernahm. Was er auch tat, allerdings sehr diplomatisch. »Bauchspeicheldrüsenkrebs ist fast ausnahmslos sehr ernst. Aber wie hättet ihr das wissen sollen? Und ich war im Ausland und konnte nicht weg.« Er fragte nicht, warum keiner die Krankheit einfach mal gegoogelt hatte. Das hätte nämlich alle Zweifel ausgeräumt.

»Immerhin sind wir jetzt hier. Für eine Beerdigung so weit zu reisen, würde auch nicht jeder machen. Wir sind nun mal gute Freunde, das macht dieses Versäumnis wieder wett.« Ari schien sich selbst davon überzeugen zu wollen, und vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, wenn Ragga seine Scheinheiligkeit nicht entlarvt hätte.

»Zu einer Beerdigung zu gehen, ist doch kein Ersatz dafür, jemanden am Sterbebett zu besuchen. Beerdigungen sind für Trauernde. Der Leiche im Sarg ist das vollkommen egal.« Ragga atmete scharf durch die Nase ein. »Wir waren beschissene Freunde.« Sie zuckte mit den schmalen Schultern. »Aber das lässt sich jetzt nicht mehr ändern.«

Während Leifur genauso theatralisch stöhnte wie früher, wenn die Mädchen über Feminismus gesprochen hatten, kniff Sigga die Augen zusammen und fixierte das Regal an der Wand. Trausti versuchte zu ergründen, was ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte, sah aber nur einen Stapel Brettspiele. Vielleicht überlegte sie, zur Auflockerung eine Runde Monopoly vorzuschlagen. Aber sie hatte etwas anderes im Sinn. »Sollen wir Gläser rücken?«, schlug sie vor.

Die Reaktionen waren alles andere als euphorisch. Sie waren alle eher pragmatische Menschen und hatten für Spiritismus nicht viel übrig. Leifur und Ari fielen gleich mit Spötteleien über Sigga her, und Ragga und Trausti sagten erst etwas, nachdem die anderen verstummt waren. Überraschenderweise ergriff Ragga Partei für Sigga. »Ich bin dabei. Warum nicht?«

Nach diesem Kommentar änderten die anderen drei schlagartig ihre Meinung. Wahrscheinlich lag es am Alkohol. Oder sie wollten nicht weiter darüber reden, dass sie Gugga im Stich gelassen hatten, als sie mit dem Tod gekämpft hatte. Kurz darauf saßen sie mit ihren Weingläsern und einem amerikanischen Ouija-Brett am Esstisch im Erdgeschoss. Sigga hatte das Licht gedimmt, sodass man kaum noch etwas sehen konnte, trotzdem war die Atmosphäre alles andere als spirituell, sie alberten herum und kicherten. Niemand glaubte, dass sie mit den Toten in Kontakt treten konnten, und Trausti war gespannt, wer das Spiel manipulieren würde.

Sie legten ihre Finger auf den tropfenförmigen Zeiger mit dem Sichtfenster, und Sigga bat um Stille, bevor sie fragte, ob sich ein Geist im Glas befinde. Es lief so, wie Trausti vermutet hatte. Der Zeiger setzte sich sofort in Bewegung, allerdings war schwer auszumachen, wer ihn steuerte.

»Bist du verstorben?«

Antwort: ja

»Wohntest du in diesem Haus?«

Antwort: nein

»Bist du ertrunken?«

Antwort: nein

»Warst du ein Mann oder eine Frau?«

Antwort: F R A U

»Starbst du jung?«

Antwort: ja

»Kennen wir dich?«

Antwort: ja

Sigga zog die Hand zurück, und der Zeiger bewegte sich nicht mehr. »Das ist doof. Wer auch immer uns hier verarscht – hör bitte auf. Es ist nicht witzig, sich über Guggas Tod lustig zu machen.«

In der Stille, die einsetzte, hörte Trausti wieder das Tosen des Sturms. Es klang so, als würde der Wind pfeifen, weil niemand draußen war, um seine Wucht und Stärke zu bezeugen. Doch gegen Leifurs laute Stimme kam nicht einmal dieses durchdringende Pfeifen an: »Das ist doch Quatsch!« Offenbar hatte er seine Meinung komplett geändert und wollte unbedingt weitermachen. »Es gibt jede Menge Verstorbene, die wir alle kennen. Prominente und alle möglichen anderen Leute. Lasst uns weitermachen. Ich will sehen, wie dieser Schwachsinn ausgeht.«

Zögernd legte Sigga den Finger auf den Zeiger, und sobald sie ihn berührte, nahm das Gespräch mit dem imaginären Geist wieder Fahrt auf.

»Warst du berühmt?«

Antwort: nein

»Bist du bei einem Unfall gestorben?«

Antwort: nein

»Bist du an einer Krankheit gestorben?«

Der Zeiger bewegte sich nicht von der Stelle. Sie tauschten Blicke aus, und Trausti sah, wie Ragga die Stirn runzelte. Sie starrte Ari an, als hätte sie ihn in Verdacht, dahinterzustecken. Nach einer kurzen Pause machte Sigga weiter.

»Hast du eine Botschaft aus dem Jenseits für uns?«

Antwort: ja

»Welche?«

Antwort: H A L L O

»Hallo?« Ari schüttelte lachend den Kopf. »Wer auch immer das Ding manipuliert, lass dir was Besseres einfallen!«

Sigga schnitt eine Grimasse und machte weiter.

»Hallo zurück. Willst du uns etwas sagen?«

Antwort: M I R I S T K A L T

Leifur lachte. »Aha. Jetzt wissen wir es. Der Geist befindet sich nicht in der Hölle.«

Sigga ignorierte seine Bemerkung und fragte weiter.

»Wie heißt du?«

Ari lachte weiter, während die Buchstaben sich aneinanderreihten. G U D B J … »Ich verstehe. Wenn man tot ist, verwendet man keine Spitznamen mehr. Gugga ist im Jenseits wohl nicht cool genug. Deshalb benutzt sie ihren vollen Namen. Vielleicht nennt sie sich sogar Frau Guðbjörg. Wie gefällt dir das, Frau Sigríður?« Er grinste Sigga neckisch an, aber die Heiterkeit war schnell verflogen. Als der Zeiger anhielt und der Name komplett war, veränderte sich Aris Gesichtsausdruck, und er blickte verwirrt auf das Brett.

Antwort: G U D B J O R T

Sigga trank einen großen Schluck Wein und schob ihren Stuhl vom Tisch zurück. »Das reicht. Wir machen keine miesen Witze über Guðbjört.« Sie stand auf und fixierte ihre Freunde, die schweigend auf das kleine Sichtfenster im Zeiger starrten. Durch das Vergrößerungsglas war der letzte Buchstabe des Namens deutlich zu erkennen. Es bestand kein Zweifel, dass der Zeiger bei T angehalten hatte, nicht bei G. Die Buchstaben auf dem Brett standen in zwei Reihen, und das G befand sich direkt über dem T. Vielleicht hatte die Person, die den Zeiger geschoben hatte, sich vertan. Oder auch nicht. Wahrscheinlich war es Absicht.

Trausti hatte sich getäuscht. Sie hatten sich verändert. Zumindest einer oder eine von ihnen. Früher wäre niemand auf die Idee gekommen, diesen Namen aus der Vergangenheit leichtfertig ins Spiel zu bringen. Unter keinen Umständen. Trausti sah den Flur im Wohnheim vor seinem geistigen Auge. Die Tür zu seinem Apartment, die Türen zu Aris, Siggas, Raggas, Leifurs und Guggas Apartments.

Und am Ende – ganz hinten im Flur – war die Tür zu Guðbjörts Apartment.

4. Kapitel — Tag 5 — Montag

Die Bezeichnung »Flughafen« war ganz schön übertrieben für dieses Häuschen am Rande des Rollfelds. Die Anlage wurde von einer regionalen Fluggesellschaft mit einer oder höchstens zwei kleinen Maschinen genutzt. Es gab einen einzigen Schalter, eine Waage fürs Gepäck und ein paar Stühle für die wartenden Passagiere. Und natürlich einen Automaten für Snacks und Getränke. Aber da es kostenlosen Kaffee gab, hatte noch niemand etwas gekauft. So früh am Morgen kam Kaffee auch einfach besser an als Limos und Süßigkeiten.

Nachdem der Pappbecher ein wenig abgekühlt war, musste Iðunn ihn nicht mehr von einer Hand in die andere wechseln lassen. Sie starrte in den Becher, dann auf die Uhr an der Wand, und stöhnte innerlich. Sie hatte es zu lange hinausgezögert. Jetzt konnte sie nicht mehr aufstehen und sagen, dass ihr schlecht sei und sie die Reise leider nicht antreten könne. Ihre Reisetasche war bereits im Flugzeug verschwunden, und in den nächsten Minuten würden auch die wenigen Passagiere an Bord gebeten werden. Wenn sie jetzt einen Rückzieher machte, würde es dauern, bis Ersatz gefunden war – mal ganz abgesehen davon, dass es niemanden gab, der erfahren genug war, um für sie einzuspringen. Die Arbeit war ihr Leben, und normalerweise gefiel es ihr, unersetzlich zu sein. Aber das hier war eine Ausnahme. Wäre ein weiterer Rechtsmediziner in Reichweite gewesen, sie hätte ihm sofort den Vortritt gelassen. Der- oder diejenige hätte noch nicht einmal besonders versiert sein müssen, sondern einfach nur in der Lage, gute Fotos zu machen, sich am Tatort vorschriftsgemäß zu verhalten und die Leichen nach Reykjavík zu schaffen, wo sie selbst dann die Obduktion übernommen hätte. Aber leider war sie die Einzige, die das konnte – und außerdem war dieser Fall wirklich spannend. Allein vor der Reise zum Tatort graute es ihr.

Sie straffte den Rücken. Das konnte sie nicht bringen. Außerdem durfte sie sich nicht von ihrer selbsterschaffenen Angst unterkriegen lassen. Das Problem war nur in ihrem Kopf, und weil sie es jahrelang weggeschoben hatte, war es zu einer himmelhohen, unüberwindbaren Mauer angewachsen. Nüchtern betrachtet handelte es sich höchstens um eine Türschwelle, ein paar Zentimeter hoch. Also kein Ding. Sie trank einen Schluck Kaffee. Doch leider blieb die mutmachende Wirkung aus. Immer noch kämpfte sie gegen den Drang an, aufzustehen, sich ins Auto zu setzen und dieser Situation zu entfliehen.

»Der Flug ist superkurz. Schnell hoch und dann gleich wieder runter.« Offenbar hatte die junge Kriminalpolizistin Karólína, Karó genannt, bemerkt, dass ihr nicht ganz wohl war. Sie saß in voller Montur neben ihr, die sanften braunen Augen halb unter dem Schirm ihrer Mütze verborgen. Sie war die erste schwarze Frau bei der isländischen Polizei, doch Iðunn wusste, dass weder ihr Geschlecht noch ihre Hautfarbe ausschlaggebend für ihre Einstellung gewesen war. Karó war durch und durch Polizistin, und zwar eine gute. Ruhig, besonnen und unkompliziert. Und noch dazu war sie Iðunn sympathisch. »Hast du Flugangst?«

»Nein. Nicht die Bohne«, antwortete Iðunn wahrheitsgemäß und ärgerte sich darüber, dass sie sich nicht besser unter Kontrolle hatte. Normalerweise war das ihre leichteste Übung, denn sie war von Haus aus wortkarg und nicht leicht zu beeindrucken. Und ein Pokerface aufzusetzen, war für sie ein Kinderspiel. »Wieso fragst du?«

Karó zuckte mit den Schultern. »Nur so. Irgendwie wirkst du angespannt.«

»Nein. Überhaupt nicht.« Als Iðunn bemerkte, dass ihre Beine zitterten, drückte sie schnell ihre Knie aneinander.

Nach einer Weile beendete Karó das unangenehme Schweigen: »Kaum zu fassen, aber das ist tatsächlich mein erster Trip auf die Westmännerinseln. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Und du? Bist du schon dort gewesen?«

Iðunn atmete aus und bemühte sich, entspannt zu wirken. »Ja. Aber das ist lange her.« Das stimmte tatsächlich. Aber sie erwähnte nicht, dass sie auf den Inseln geboren war und bis zu ihrer Konfirmation dort gelebt hatte. Und auch nicht, dass sie noch Familie dort hatte, zwei Halbgeschwister und ihren Vater. Geschwister, mit denen sie nichts gemein hatte, und einen Vater, den sie seit der Trennung ihrer Eltern genau einmal gesehen hatte. Als er zur Abschlussfeier ihres Medizinstudiums erschienen war. Ungeladen. Dieses Wiedersehen war alles andere als erfreulich gewesen, und wenn es nach ihr ginge, würde es keine weiteren Begegnungen zwischen ihnen geben. Doch dieser Arbeitseinsatz hatte das Potenzial, die Dinge zu verkomplizieren. So klein, wie der einzige Ort auf den Inseln war, lief sie ihm vermutlich sofort in die Arme. Und genau daher rührte ihr Unwohlsein.

Karó stellte keine weiteren Fragen, sondern konzentrierte sich wieder auf die junge Mitarbeiterin der Fluggesellschaft, die sich daranmachte, die Passagiere aufzurufen. Wahrscheinlich würde der Aufruf nicht ganz so förmlich ausfallen wie bei einem gewöhnlichen Linienflug. Diesen Flug hier hatte die Polizei gechartert, sodass außer Iðunn lediglich einige Ermittler und Kriminaltechniker an Bord gehen würden. Die meisten Gesichter kamen ihr bekannt vor, doch nur zwei ihrer Mitreisenden kannte sie mit Namen, und zwar Karó und Týr von der Kriminalpolizei. Sie war sich noch unschlüssig, wie sie es finden sollte, dass die beiden mit auf die Inseln flogen.

Vor allem der Umgang mit Týr fiel ihr im Moment schwer. Sie hatte etwas herausgefunden, das er eigentlich erfahren musste, doch sie hatte noch nicht den richtigen Moment gefunden, mit ihm zu reden. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie es ihm überhaupt sagen sollte. Manchmal war es besser, etwas nicht zu wissen. Er sah zufrieden aus, wirkte entspannt, schien sich mit der Vergangenheit arrangiert zu haben. Es war sicher nicht leicht für ihn gewesen, bei Tante und Onkel aufwachsen zu müssen, nachdem sein Vater seine Mutter ermordet hatte. Und dass die große, auffällige Narbe an seiner Stirn nicht von einem Dreiradunfall herrührte, wie man ihm immer erzählt hatte, sondern dass Týrs Vater auch seinen kleinen Sohn angegriffen hatte, musste ein Schock gewesen sein. Erst im letzten Moment waren ihm Zweifel gekommen, und er hatte von dem Jungen abgelassen. Wieso es dazu gekommen war, konnte nie aufgeklärt werden, denn nach der Verhaftung hatte der Mann sich in seiner Zelle das Leben genommen.

Iðunns Entdeckung betraf genau diesen alten Fall. Nachdem sie sich die Akte dazu angesehen hatte, bezweifelte sie, dass Týrs Vater wirklich der Mörder und Angreifer gewesen war. Denn seine Aussage bei der Verhaftung passte nicht zu den Verletzungen an der Leiche. Er hatte die Tat zwar gestanden, aber er wäre nicht der erste Mensch in der Geschichte, der der Polizei genau das bestätigte, was sie hören wollte. Nach seinem Suizid waren die Ermittlungen noch eine Weile fortgesetzt worden, aber es war natürlich nie zu einem Prozess gekommen. Týrs Vater galt als der Schuldige, er hatte gestanden, und es gab keine weiteren Verdächtigen. Unter solchen Umständen war es nicht verwunderlich, dass die Ermittler etwas übersehen hatten. Im Zweifel hatten sie die Ungereimtheit als Missverständnis abgetan, das sich bei weiteren Vernehmungen noch geklärt hätte. Im schlimmsten Fall hatten sie absichtlich weggeschaut.