Raum und Zeit sind relativ - Jörg Becker - E-Book

Raum und Zeit sind relativ E-Book

Jörg Becker

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Beschreibung

Schon immer haben die Menschen auf den Zufall als Erklärung für vieles, was man sich nicht erklären konnte, zurückgegriffen. Allerdings hat sich im Laufe der Zeit die moralische Bewertung des Zufalls verändert. Oft wurde er als das Böse dargestellt, als die Niedertracht des teuflischen Willens, mit dem der Teufel den Menschen daran hindert sein eigenes Leben zu leben. Dieses Bild tritt von dem Augenblick an in den Hintergrund, in dem der Zufall teilweise durch die Berechnung gezähmt wird und in dem die Menschen das Gefühl haben, ihn zu kontrollieren oder zumindest zu verstehen.

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Raum und Zeit sind relativ

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Titel

Raum und Zeit sind relativ

Ein gewohntes Weltbild wird suspendiert

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Prolog

Corona suspendiert ein gewohntes Weltbild

Nicht nur für den Staat, sondern auch für jeden Einzelnen stellen sich plötzlich grundsätzliche Fragen: Worauf kann man sich eigentlich stützen, wenn man einschätzen will, was verhältnismäßig, was gefährlich, was notwendig oder was überhaupt real ist. Wie verlässlich sind Aussagen der Wissenschaftler, die sich wegen der Neuartigkeit des Virus und auch sonst noch vielen Unbekannten laufend ändern?

Das andere ist, was aus diesen Einsichten für das Leben folgen soll, wie sie in ein Verhältnis zu dessen anderen Elementen zu bringen sind. In ruhigen Zeiten darf man die Konventionen und Gewohnheiten des Lebens ruhig auch mit diesem selbst gleichsetzen und auf seine Pläne, seine Ansichten, d.h. seine Identität bauen. Doch in einer Zeit der unmittelbaren Bedrohung des Lebens ist das so einfach nicht möglich. Man sieht sich gezwungen, gewohnte Schemata zu vergessen, um einzelne Facetten -so unterschiedliche, aber eng zusammenhängende Aspekte wie Gesundheit, Arbeit, Schule, Geld, Sicherheit, Beziehungen zu anderen- in ein neues Verhältnis zueinander zu bringen.

Was ist notwendig, was ist verzichtbar? Wie wirken die einzelnen Teile aufeinander ein? Auch die Gesellschaft als Ganzes muss plötzlich Prioritäten setzen, an sie gerade noch nicht denken zu müssen meinte und die vieles vermeintlich Selbstverständliche in Frage stellen.

Wie beim Klimawandel kommt es darauf an, die Natur als eine Wirklichkeit jenseits von Denkschablonen zu akzeptieren und das Leben neu darauf einzustellen. Der individualistischen Gesellschaft wird nicht nur eine Umstellung vieler einzelner Lebensgewohnheiten abverlangt, sondern auch eine zumindest zeitweise Suspendierung ihres gewohnten Selbstbildes.

Tatsächlich gab es noch im neunzehnten Jahrhundert Unklarheiten darüber, wie Seuchen übertragen werden. Mit einem einfachen Modell versuchte man die für die Ausbreitung einer ansteckenden Krankheit relevanten Faktoren mathematisch zu erfassen. Durch Einteilung der Bevölkerung in drei Gruppen: die Empfänglichen, die Infizierten und die Immunisierten. Mit Hilfe von Differentialgleichen konnte man beschreiben, wie sich die Zahl der Personen in diesen Gruppen mit der Zeit ändert, wenn die Ansteckung Gesunder durch Infizierte von Dauer und Grad der Infektiosität sowie der Kontakte beider Gruppen gesteuert wird. Modelle dieser Art werden heute als SIR-Modelle bezeichnet, sind mit relativ geringem Rechenaufwand zu nutzen und erfordern nur wenige Eingangsparameter. Angesichts ihrer langjährigen Verwendung ist über sie ein großes Erfahrungswissen verfügbar.

Und nicht erst seit Corona weiß man, dass die komplexe Netzwerkstruktur sozialer Kontakte eine große Rolle für die Ausbreitungsdynamik einer Epidemie spielt, ebenso wie die geographische Verteilung der Bevölkerung. Komplexe Simulationen, die länderspezifische Informationen wie die regionale Bevölkerungsdichte, mittlere Länge von Arbeitswegen, typische Reisewege, Haushaltsgrößen oder auch das jeweilige Ausbildungssystem abbilden können, sind jedoch rechnerisch sehr aufwendig. Um beispielsweise zu analysieren, welche Auswirkungen bestimmte Maßnahmen wie die Isolation und Quarantäne von Infizierten und deren Kontaktpersonen haben.

Jedes Modell, welches auch immer, hat Schwachstellen. Die Kunst ist, ein Modell so zu nutzen, dass solche Schwachstellen für die resultierenden Prognosen möglichst wenig ins Gewicht fallen. Das gilt nicht nur für die Abbildung einer Pandemie, sondern genauso und in noch stärkerem Maß für die Vermessung und deren Erzählung des Standortgeschehens: Regional genauso wie lokal direkt vor Ort.

1

Die Macht der Algorithmen wächst, sie steuern unser Leben, stehen mit uns auf, gehen mit uns schlafen. Algorithmen machten die Handlungen eines jeden Einzelnen berechenbar und vorhersagbar. Wenn eine Ehefrau beim Kauf eines Anzuges für ihren Mann dann moniert, dass er sich einfach nicht entscheiden könne: der Algorithmus hätte es, quasi als Doppelgänger jeden Individuums,  gewusst

"Also können diese ganzen faszinierenden Computerprogramme, gespeist mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, einfach nicht irren?"

"Meinen viele, und schon gar nicht im Vergleich zu den Beschränkungen unserer menschlichen Gehirne."

"Das heißt aber doch, dass Menschen wie Marionetten an den Fäden des Algorithmus in den Fängen der Manipulierbarkeit hängen."

"Nicht mehr der Einzelne kann entscheiden, sondern nur noch ein gefühlloser Algorithmus?"

"Man weiß es nicht."

"Abseits von aller Sachproblematik ist damit ein Knackpunkt angesprochen."

"?"

"Die Gefühlswelt des Menschen."

"Aber auch ein noch so gescheiter und mit Daten vollgestopfter Algorithmus muss doch wohl eher ratlos vor solchen den Menschen innewohnenden Gefühlsschwankungen stehen."

"Und dann mit dem Datensammeln von vorne beginnen?"

"Warum nicht? Quasi ein RESET des Algorithmus."

Nur wer ohne Vorbehalte akzeptiert, dass er sich vorhersehbar verhält, wird auch vorhersehbar handeln. Nur wer daran glaubt, dass eine anonyme Datenanalysemaschine besser weiß, was für ihn gut ist, verzichtet auf eigene Entscheidungen, auf Freiheit und selbstbestimmtes Handeln.

Freies Denken, menschliche Unvollkommenheit und Gefühlswelten  können daher als wirksame Schutzmechanismen gegen die anonyme Macht der Algorithmen funktionieren. Dies ist umso dringender ein Gebot der Stunde, als durch anonyme Algorithmen, vielleicht zunächst nur unbemerkt, ein sich destotrotz dynamisch entwickelnder sozialer Druck aufgebaut wird: jede Interaktion (und sei sie auch noch so kritisch) wird als wertvoller Input zur weiteren Perfektion des Systems erfasst und aufgezeichnet.

"Alle Versuche, den Mustern der Algorithmen entgegenzuwirken, werden ausgewertet und für neue Algorithmen verwendet?"

"Schlimmer noch, niemand weiß, welche Instanz an den Reglern der Algorithmen sitzt, man kennt weder Motive noch hat man Einfluss auf sie."

"Die größten Gefahren, die aus solcher Erkenntnis der Ohnmacht entstehen, lauern in den Wahrscheinlichkeiten einer zunehmenden Selbstzensur."

2

Die Sterne sind nicht dort wo sie zu sein scheinen, wo wir sie sehen. Bereits 1905 hat Einstein festgestellt, dass eine stimmige Physik die Phänomene Raum und Zeit anders auffassen muss, als der Alltagsverstand sie bis dahin verstanden hatte. Für Strecken und Zeitintervalle eines beobachteten Vorgangs können demnach keine absoluten Werte gemessen werden, sondern nur welche, die von der Geschwindigkeit des Beobachters relativ zum Beobachteten abhängen. Damit hatte sich ein ganzes Weltbild nicht nur verschoben, sondern geradezu komplett umgekrempelt. Als Einstein Jahre später die Schwerkraft mathematisch auch noch als Krümmung von Raum und Zeit beschrieb, stieß er viele der bis dahin geltenden Theorien vom Thron. Raum und Zeit waren nun nicht nur relativ, sondern auch durch in ihnen verteilte Materie und Energie verformbar.

"Statt die feste Bühne des Welttheaters zu sein, entpuppten sich Raum und Zeit als Mitspieler in den darin aufgeführten Dramen."

"?"

"So verzerrt die Sonne die Raumzeit um sich herum, weswegen Licht dort auf gekrümmten Bahnen läuft."

"Licht wird also von der Sonne angezogen?"

"Ja, Licht ist schwer. Eine Sache, von der man vorher annahm, dass es sowas überhaupt nicht geben könne."

"?"

"Licht betrachtete man als Schwingungen, die nichts wiegen."

"?"

"Es sei denn, man folgt Einsteins spezieller Relativitätstheorie, der zufolge Energie, also auch Schwingungsenergie, über die Formel E=mc2 mit einer Masse verknüpft ist."