RAVNA - Arktische Rache - Elisabeth Herrmann - E-Book

RAVNA - Arktische Rache E-Book

Elisabeth Herrmann

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Beschreibung

Weiß wie Schnee und rot wie Blut. Die packende Fortsetzung des All Age-Romans von SPIEGEL-Bestsellerautorin Elisabeth Herrmann

Ravnas Heimat liegt hoch im Norden Norwegens bei ihrer Mutter Hedda und deren Rentieren, auch wenn sie mittlerweile Studentin der Polizeihochschule in Oslo ist. Als ihr leiblicher Vater, den sie kaum kennt, ein Treffen in der Hauptstadt vorschlägt, willigt sie überrascht ein. Doch bevor sie miteinander sprechen können, stürzt er ihr mit einem Messer im Rücken vor die Füße. Einem samischen Messer, das ihre Mutter geschnitzt hat. Schwer verletzt wird er ins Krankenhaus eingeliefert und die Polizei nimmt ihre Ermittlungen gegen Hedda auf. Ravna ist die Einzige, die an Heddas Unschuld glaubt. Doch ihre Mutter verschweigt ihr etwas ...

Elisabeth Herrmann fesselt mit ihren mitreißenden und atmosphärischen Thrillern ein großes Publikum. Die Leser*innen erwarten starke Heldinnen, dunkle und mystische Fälle und intelligente Hochspannung.

Alle Bände der RAVNA-Reihe:
Tod in der Arktis (Band 1)
Die Tote in den Nachtbergen (Band 2)
Arktische Rache (Band 3)

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Seitenzahl: 440

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ELISABETHHERRMANN

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© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin

Umschlagmotiv: Alamy Stock Photo (Ole Mathisen, Alexander Cimbal), Shutterstock.com (Kamenetskiy Konstantin, PawelG Photo, Lavrushka, phive)

FK · Herstellung: AJ

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-29673-5V001

www.cbj-verlag.de

Für Shirin

Donnerstag, 4. August 2022

Varangerfjell, Norwegen

Als kleiner Junge hatte Stieg sich den Winter als einen König vorgestellt, der im Norden ein riesiges Reich aus Eis und Kälte regierte. Unbesiegbar seit Ewigkeiten und für alle Zeiten. Herrscher über eine Welt, die niemals untergehen würde. Kathedralen aus Kristall. Gefrorene Wasserfälle. Unendliche weiße Ebenen, zerklüftete Gebirge aus jahrtausendealtem Schnee. Nordlichter – die Reflexe der Smaragde in seiner Krone. Sein frostiger Atem machte alles Leben zum Untertan, und das trockene Knistern in der Polarluft ermahnte jeden, sich diesem Souverän demütig zu nähern.

Jetzt schmolz das Eis. Gletscher stürzten ins Meer. Der Boden taute auf und gab preis, was er vor Zeitaltern begraben hatte.

Stieg nahm die Kettensäge hoch und setzte sie an dem morschen Pfosten an. Der Motor brüllte auf und das Sägeblatt fuhr durch das Holz wie durch Butter. Die Löcher für die Pfosten hatte man damals ins Eis hacken müssen, und über siebzig Jahre hatte sie am Grythaugen gestanden, dem Berg über dem Fluss Stuorrajohka, der sich unten wie ein silbernes Band um die Ausläufer des Gebirges schlängelte.

Der Sommer, dachte Stieg und trat vorsichtshalber einen Schritt zurück, damit der Pfosten ihn beim Umfallen nicht erwischte, der Sommer war eine verspielte Prinzessin gewesen, die sich mit Trollblumen im Haar am Ufer des Eismeeres herumtrieb. Hinauf ins Gebirge hatte sie sich nie gewagt.

Das war anders geworden. Fuß um Fuß, Meter um Meter kletterte sie hinauf, jedes Jahr ein Stückchen mehr. Sie brachte den Schnee zum Schmelzen und verwandelte das Eis in gurgelnde Rinnsale. Sie verspottete den alten König, dem es nichts half, auf die älteren Rechte zu pochen. Denn sie, das spielende Kind, hatte eine viel mächtigere Kraft an ihrer Seite: den Klimawandel.

Früher hatte hier oben auch im August eine kalte Stille geherrscht, nur unterbrochen von den fernen Schreien der Falkenraubmöwen und dem dunklen Brausen des Windes. Nun gluckerte und tropfte es, unaufhörlich, endlos. Plätschernd suchte sich das Schmelzwasser seinen Weg, und die alte Hütte stand nicht mehr im Eis, sondern auf verrottenden Pfählen in einem morastigen, tauenden Boden.

Generationen von Wanderern hatten in ihr übernachtet. Herzen mit Initialen in die dicken Balken geritzt, Kaffee auf dem kleinen Ofen gekocht, nachts wach gelegen und dem Heulen des Windes gelauscht. Tagsüber vielleicht noch gejagt, damals, als die Várnjárgga1 noch kein Nationalpark gewesen war. Sie hatten Tierknochen unter den Bodenbrettern gefunden. Zumindest hofften sie, dass es welche gewesen waren.

Stieg war kein Jäger. Er hasste es, Tiere zu töten. Als die Sonne im Zenit stand und die anderen ihre Schinkenbrote auspackten, holte er sich seine Bentobox aus dem Rucksack und ließ sie ihre dummen Sprüche machen. Quinoa und Shiitake waren Fremdwörter bei den Gebirgsrangern. Sie saßen breitbeinig auf den Werkzeugkisten, schüttelten grinsend den Kopf über ihn und wunderten sich lautstark, dass er bei all dem Gemüse nicht ohnmächtig zusammenbrach.

Stieg ließ sie reden. Es waren nette Kerle. Gutmütige Spaßvögel. Sie hatten ihn, den Neuling, unter ihre Fittiche genommen und erst einmal mit Arbeit eingedeckt. Ordentlich Arbeit. Diese Hütte abreißen, zum Beispiel. Später würden sie die richtig spannenden Sachen machen: Tiere beobachten, Pflanzen dokumentieren, Vogelgelege ausfindig machen. Führungen zu den Wasserfällen. Die Markierungen der Wanderwege erneuern, damit niemand auf die Idee kam, mit einer alten Karte hinaufzustiefeln und sich dann zu beschweren, dass es hier keine Hütte gab.

Die stand jetzt einen Kilometer weiter südlich, Richtung Stuorra Ruitu. Ein Neubau aus hellem Kiefernholz, mit Solarstrom und sogar einem funktionierenden Handynetz. War auch viel schöner dort. An klaren Tagen hatte man von dort Ausblick bis weit hinunter zum Fjord. Und vor allem lief man nicht Gefahr, dass die Hütte unter einem zusammenbrach, weil der Boden nicht mehr gefroren war und die Pfosten faulten.

»Gute Arbeit«, sagte Kjetil.

Der Ranger trug eine dicke Daunenjacke und gefütterte Stiefel. Hier oben waren nicht mehr als zwei Grad über null, aber die Sonne stach vom Himmel, sodass man fast versucht war, sich im T-Shirt auf einen der runden, dunklen Steine zu setzen, die seit 850 Millionen Jahren hier lagen, seit der Varangian-Eiszeit, die dieser Halbinsel in der Barentssee ihren Namen gegeben hatte.

Stieg wusste alles über diesen Flecken Erde. Auch, dass die Menschen erst seit zehntausend Jahren hier lebten und mit ihren Rentierherden über das Fjell zogen. Wenn man das mit 4,6 Milliarden Jahren verglich, die es die Erde schon gab, dann waren Menschen im Lauf dieser Zeit kaum mehr als ein Husten.

Und vielleicht hatte die Erde ja gerade vor, sich diesen Infekt vom Hals zu schaffen.

Er löffelte seine Bowl und lachte über einen von Björns Scherzen, der etwas mit Molteschnaps und einer Party am Wochenende in Vadsø zu tun hatte. Aber etwas in seinem Herzen machte ihn traurig. Vermutlich der Gedanke, wie unwichtig man angesichts dieser Zeitläufe war und wie klein man sich manchmal fühlte.

»In zwei Stunden sind wir fertig.«

Kjetil steckte sich den letzten Bissen seines Brotes in den Mund und spülte mit einem Schluck aus der Thermoskanne nach. Auch die anderen beendeten ihre Mahlzeit.

Das Holz wurde auf dem flachen Platz vor der Hütte gestapelt. Das Gelände war zu unwegsam, um es abzutransportieren. Wind, Regen, Sonne und Frost würden es verrotten lassen. Dann würde nichts mehr daran erinnern, dass hier einmal ein Platz gewesen war, an dem man sich ausruhen und Schutz suchen konnte.

Bevor ihn Gedanken über die eigene Vergänglichkeit einholen konnten, hatte Stieg auch schon wieder die Schutzbrille aufgesetzt und die Kettensäge in Position gebracht. Es lief alles wie am Schnürchen. Nichts hinderte ihn daran, Pfosten um Pfosten und Brett um Brett zu zerteilen. Kein einziger Nagel war verwendet worden. Alles hatte sich zusammengefügt, allein durch die Kunstfertigkeit vergangener Generationen. Es musste Wochen gedauert haben, das Holz hier hochzuschaffen, zu bearbeiten und die Hütte zu bauen.

Und wir reißen sie in ein paar Stunden ab.

»Vorsicht!«

Kjetil brüllte ihn an. Sofort schaltete Stieg die Säge aus und wurde im nächsten Moment schon nach hinten gezerrt.

Der Balken krachte ihm direkt vor die Füße. Obwohl er Stiefel mit Stahlkappen und einen Schutzhelm trug, hätte das hässlich enden können.

»Pass doch auf«, wurde er angeknurrt. »Wir kappen jetzt erst mal die Seitenbretter.«

Kjetil trat gegen den morschen Stumpf, der einmal die nordöstliche Ecke der Hütte getragen hatte.

»Dann kannst du die restlichen Pfosten absägen.«

»Okay.«

Er legte den Sicherheitshebel um und brachte die Säge außer Reichweite, damit sich niemand daran verletzen konnte. Kjetil und Björn spielten Demolition Man und hämmerten unter begeisterten Anfeuerungsrufen auf die letzten Seitenbretter ein, die sich krachend aus der Verankerung lösten.

Übrig geblieben waren nur noch die vier waagrechten Balken, die Seitenwände getragen hatten. Das ewige Eis war ihr Fundament gewesen. Jetzt gähnte dort ein morastiges Loch. Sie waren schon von oben bis unten verdreckt. Aber wenn sie fertig wären, würden sie aussehen, als hätten sie neun Runden Schlammcatchen hinter sich.

»Okay!«

Die Jungens traten zur Seite. Stieg setzte die Säge an – und ließ sie wieder sinken. Etwas schimmerte im schlammigen Dunkel unter dem Balken. Etwas metallisches.

Er sicherte die Säge und legte sie ab. Dann ging er auf die Knie und versuchte, unter den Balken zu kommen, was einfacher gesagt als getan war. Was er ertasten konnte, ließ darauf schließen, dass es eckig war und sich unter der Hütte irgendwie verkeilt hatte.

»Ich hab was gefunden!«, rief er den anderen zu, die daraufhin alles stehen und liegen ließen und zu ihm kamen.

»Was denn?«, fragte Robin, Student der Umweltwissenschaften in Tromsø.

Er leistete bei den Rangern gerade sein Praktikum ab. Obwohl sie beide fast gleich alt waren, fühlte sich Stieg in seiner Gegenwart wie ein Nerd. Robin war jemand, dem immer zu allem ein cooler Spruch einfiel. Sportlich, groß, blond, gut aussehend. Ein Bilderbuch-Norweger.

»Ich weiß es nicht«, keuchte Stieg.

Das Ding klemmte fest. Kein Wunder, nach all der Zeit. Wahrscheinlich war es durch einen Spalt unter die Hütte gerutscht oder gefallen. Aussichtslos, es da wieder herauszuholen, es sei denn, man riss die Hütte einfach ab. Was sie gerade taten.

»Eine Kiste?«

Er zog seinen Arm zurück, dreckig von oben bis unten, während Robin immer noch aussah, als wäre er gerade vom Shooting für ein Hochglanz-Outdoor-Magazin gekommen.

Kjetil kam dazu und spähte hinab ins Dunkel.

»Wir sägen ein Stück von dem Balken raus, dann kommen wir besser ran. Weiß der Geier, was da einer entsorgt hat. Wahrscheinlich einen alten Campingkocher oder eine Vorratskiste aus dem Krieg.«

Die Deutschen waren in Tana bru gewesen. Danach hatte die Stadt in Trümmern gelegen. Auch so eine Geschichte vom Varangerfjord, die nicht vergessen werden würde. Und doch nur ein Wimpernschlag der Ewigkeit im Schatten der Berge.

Stieg hatte seine Zweifel, äußerte sie aber nicht. Er griff erneut nach der Säge und machte sich an die Arbeit.

Die Tragebalken waren ein anderes Kaliber. Keine Ahnung, wie sie hier heraufgeschafft worden waren. Schwer, dick und ausgesprochen widerstandsfähig. Vielleicht war die Akku-Säge auch einfach zu schwach, jedenfalls musste Stieg häufiger absetzen als bisher. Endlich hatte er den ersten Balken durchtrennt und setzte einen Meter weiter zum nächsten Schnitt an. Als er damit durch war, mussten sie zu dritt gegen das dicke Holz treten, damit es endlich nachgab. Mit einem dumpfen Aufschlag fiel es in die Grube unter der Hütte.

»Ein Koffer.«

Robin beugte sich vor und griff nach dem Ding. Stieg ärgerte sich, denn eigentlich hätte es ihm zugestanden, den Fund zu bergen. Allerdings hatte es sich zwischen den Felsen verklemmt, und erst nach einigen Flüchen und Tritten konnte es aus seinem Versteck geholt werden, in dem es so lange gelegen hatte.

Alle standen am Rand der Grube und sahen hinunter auf Robin, dem man zu Stiegs heimlicher Freude nun auch endlich einmal ansah, dass er sich die Finger schmutzig gemacht hatte.

Das Ding war aus Aluminium und so groß wie zwei Schuhkartons.

»Das ist kein Koffer«, sagte Kjetil und kratzte sich am Hinterkopf.

»Doch.«

Robin hielt Stieg die Hand entgegen, damit er ihm beim Herausklettern half. Als er oben ankam, stellte er das Ding auf dem Boden ab.

»Das ist ein Fotokoffer. In so etwas hat man früher seine Kamera aufbewahrt.«

»Mach es auf.«

Robin ging in die Hocke und Kjetil reichte ihm einen Lappen. Stieg stand daneben und beobachtete, wie Robin das Ding erst grob säuberte und dann versuchte, es zu öffnen.

»Eine Schatzkiste.« Björn grinste.

Eine gespannte, freudige Anspannung lag in der Luft. Wer weiß, wie lange dieses Ding schon unter der Hütte gelegen hatte. Aluminium … Stieg überlegte, wann es hergestellt worden sein könnte und Leute mit einer so schweren Ausrüstung hinauf in die Berge geklettert waren. Vielleicht vor dreißig Jahren? Oder doch eher zwanzig?

Etwas klackte und der erste Schnappverschluss sprang auf. Unter Jubel, Anfeuerungsrufen und Schulterklopfen machte Robin sich an die zweite Verriegelung. Die war etwas widerspenstiger, doch mithilfe eines Stechbeitels löste sich irgendwann auch dieser Mechanismus.

Robins Handflächen blieben links und rechts auf den Seiten der Kiste liegen. Die Spannung stieg.

»Mach schon!«, rief Björn. »Da ist bestimmt Bargeld aus einem Raubüberfall drin!«

Kjetil schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich eine versteinerte Wurst.«

Alle lachten.

Robin hob den Deckel, und jeder drängelte sich vor, um einen Blick auf den Schatz zu werfen, der so plötzlich aufgetaucht war.

Zunächst sahen sie gar nichts, denn ein Stück grauer Schaumstoff deckte den Inhalt ab. Robin hob es hoch und legte es zur Seite.

»Eine Kamera«, sagte Björn enttäuscht.

Der Inhalt des Koffers musste luftdicht verschlossen gewesen sein, denn er sah aus, als hätte man erst gestern den Deckel zugeklappt. Die Schaumstoffpolsterung war etwas bröselig, doch die Kamera machte den Eindruck, als hätte sie gestern noch im Schaufenster gestanden. Robin wollte nach einem der Objektive greifen, aber Kjetil wies ihn darauf hin, sich erst einmal die Hände zu waschen.

»Das gehört jemandem«, sagte er und deutete auf den aufgeklappten Deckel.

Mit Lackstift, der die Witterung erstaunlich gut überstanden hatte, stand dort eine Adresse.

»Sander Holmvang, Idrettsveien, Nesseby.«

Etwas regte sich in Stiegs Gedächtnis. Irgendwo hatte er diesen Namen schon einmal gehört. Aber verlorene Erinnerungen waren wie entflogene Vögel: Immer, wenn man ihnen zu nahe kam, stoben sie flatternd davon.

»Nesseby?« Kjetil strich sich über das Kinn. »Das ist unten, am Fjord. Richtung Varangerbotn. Die Kamera sieht teuer aus und der Koffer auch. Da wird sich einer freuen, wenn er sie zurückbekommt.«

Robin hatte sich mittlerweile die Finger abgewischt und unterzog den Koffer nun einer genaueren Inspektion.

»Zwei Objektive, glaube ich. Ziemlich schwer. Und dann noch so Zubehörkram. Und die Kamera natürlich.«

Er holte sie heraus. Sie wirkte groß, schwer und klobig, aber vielleicht lag das auch nur daran, dass man sie unwillkürlich mit seinem Handy verglich.

»Irgendein Fabrikat?«, fragte Kjetil. »Vielleicht ist es eine Hasselblad. Oder eine Leica. Die sind richtig teuer.«

Björn schenkte seinem Boss einen anerkennenden Blick. »Du kennst dich ja richtig aus.«

»Das hat mal zum Allgemeinwissen gehört. Und?«

Robin begutachtete die Kamera. »Nö. Ist ’ne Canon. Was ist die wert? Vielleicht gibts ja Finderlohn – für die Kaffeekasse«, setzte er schnell hinzu, als er den Blick seines Chefs bemerkte, und reichte sie Kjetil.

Der schien tatsächlich Ahnung von solchen Antiquitäten zu haben. Er sah durch den Sucher, wog sie in der Hand, betätigte den Aufzug und sagte dann überrascht: »Da ist sogar noch ein Film drin. Lasst mal sehen … Es sind noch vier Bilder übrig! Also alle mal zusammenrücken!«

Björn, Stieg und Robin stellten sich nach etwas Gerempel vor der Grube auf.

»Und lächeln!«

Alle grinsten. Kjetil drückte auf den Auslöser und ein klickendes Geräusch erklang. Er reichte Robin die Kamera zurück, der sie in dem Koffer verstaute.

»Was machen wir denn jetzt damit?«, fragte er.

Kjetil sah auf seine Armbanduhr. »Wir nehmen sie mit runter ins Quartier und sehen in den Gule Sider2 nach, ob es diesen Sander Holmvang in Nesseby noch gibt.«

Stieg wusste alles über den Fjord. Er war seine Heimat. Und über die Geschichten, die sich am Ufer entlang wispernd verbreiteten. Es hatte auch eine Geschichte um Sander Holmvang gegeben, da war er sich sicher.

»Ich mach das«, sagte er.

Und er hatte das Gefühl, dass diese Geschichte noch nicht bis zum Ende erzählt worden war.

1Sam.: Varangerhalbinsel.

2Gelbe Seiten, Einwohnerverzeichnis mit einer Vielzahl persönlicher Angaben.

1.

Samstag, 4. Februar 2023

Jokkmokk, Wintermarkt der Samen

Die Tage wurden länger.

Jeden Morgen stand die Sonne etwas früher auf, jeden Nachmittag verschwand sie ein paar Minuten später. Ihr mattes, aschgoldenes Licht traf auf den Rauch und die Wärme und die vielen Menschen, die sich durch die engen Gassen zwischen den Ständen schlängelten.

Jedes Jahr fand in der kleinen Stadt Dálvvadis3 im Norden Schwedens einer der ältesten Märkte der Welt statt: der Vintermarknad4. Vierzigtausend Menschen kamen in die kleine, kaum dreitausend Einwohner zählende Stadt am Polarkreis und verwandelten das verschlafene Örtchen in das Zentrum der samischen Welt.

Bei knackigen Minusgraden zogen Rentier- und Hundeschlitten durch die verschneiten Straßen. Die bunten Trachten erzählten von der Herkunft ihrer Träger: Kautokeino, Trondheim, Jämtland, Dalarna … Touristen bestaunten das Kunsthandwerk; Konzerte, Ausflüge und vor allem die samische Küche rundeten das Angebot ab. Familientreffen, Socialising, Geschäft. Aber insbesondere eines: ein riesengroßer Spaß in eisiger Kälte.

Ravna packte Lars am Arm und schob ihn durch die Menge, die sich vor dem Stand ihrer Mutter Hedda zusammengedrängt hatte.

»Hier! Hier ist es!«

Mit glühenden Wangen und leuchtendem Blick deutete sie auf die Auslage, in der Messer mit stählernen, breiten Klingen und einem Schaft aus geschnitztem Rentierhorn und Masurbirke lagen. So kunstvoll, filigran und fein ausgeführt unterschieden sie sich sehr von den normalen Gebrauchsmessern, die für tägliche Arbeiten und zu wesentlich günstigeren Preisen an anderen Ständen angeboten wurden.

»Unsere stuoraniibi5.«

Sie hob den Glasdeckel der Vitrine an und holte eines der schweren Stücke heraus.

»Jeder von uns Samen besitzt mindestens drei Messer, für die verschiedensten Arbeiten. Das hier zum Beispiel wird für alle groben Sachen verwendet. Zum Spalten der Rentierknochen oder fürs Hacken von Feuerholz.«

Sie reichte ihm das Messer. Er trug wie jeder hier bei minus fünfzehn Grad bis minus vierzig Grad dicke Fäustlinge. Die Kälte hatte seine Nasenspitze gerötet und unter der dicken Wollmütze, über die er noch die Kapuze seiner Daunenjacke gezogen hatte, blitzten sie seine blauen Augen an.

»Interessante Tatwerkzeuge.«

Vorsichtig nahm er ihr das Messer ab und betrachtete es neugierig. Er war Politibetjent6 in Kirkenes und wusste, wie schnell ein Gebrauchsgegenstand zur Waffe werden konnte. Ravna, aus eigener, bitterer Erfahrung, auch.

»Heddas Messer sollte man sich eher an die Wand hängen. Schau mal, diese Verzierungen. Und hier …« Sie wies auf das flache Ende des Schafts. »Da hat sie ein paar von unseren Runen eingearbeitet. Jedes sieht anders aus. In dieses hier hat sie die Sonne und den Gott der Jagd geschnitzt. Und unser Familienzeichen, diese Striche in der Mitte.«

»Was kostet so eins?«

Er sah aus, als würde er sich wirklich überlegen, es zu kaufen.

»Verhandlungssache«, sagte sie. »Wenn man natürlich die Tochter der Künstlerin kennt und sie ein gutes Wort einlegt –«

»Ravna!«

Sie fuhr zusammen und drehte sich um. Hedda, bis eben im Gespräch mit einem Kunden, blitzte sie wütend an.

»Sag diesem Trottel, er soll das Messer zurücklegen!«, fauchte sie auf Samisch.

»Eadni?7«

Ravna schenkte ihrer Mutter ein liebenswürdiges Lächeln.

»Das ist Lars«, sagte sie auf Norwegisch. »Mein Freund aus Kirkenes.«

Hedda stemmte die Arme in die Hüften und scannte den potenziellen Bewerber um einen Platz am Familientisch von oben bis unten ab. Nichts in ihrem braun gebrannten, runden Gesicht mit den kleinen Fältchen ließ erkennen, was sie dachte.

Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Ravna, in einem dicken Parka mit Fellkapuze und Skihosen, und Hedda, in der Tracht der Fjellsamen vom Varanger gekleidet. Eingehüllt in dicke Schichten Wollfilz und Rentierfell, darüber der blaue, knöchellange Mantel mit dem breiten, bestickten Saum in demselben Rot wie der Gürtel und die Armstulpen. Ein dickes Dreieckstuch aus Wolle wärmte die Schultern. Ihr Gahrpir, der samische, perlenverzierte Hut, war ein Erbstück von Léna, Ravnas verstorbener Urgroßmutter. Eines Tages würde sie ihn tragen.

Lars streckte seine freie rechte Hand über den Tresen, aber Hedda machte keine Anstalten, sie zu ergreifen. Stattdessen forderte sie ihn mit einer energischen Handbewegung auf, ihr das Messer zu geben, als ob sie ihn gerade beim Klauen erwischt hätte. Lars hielt es ihr hin, den Schaft zuerst, aber sie ignorierte die Geste.

»Damit spielt man nicht.«

»Aber –«

Brüsk wandte sie sich ab, um den nächsten Kunden zu vergraulen. Die Plane hinter ihr wurde geöffnet und Issko schob sich in den engen Stand.

»Ravna! Uhcci8!«

Er strahlte sie an. Was zum Teufel machte ihr Onkel hier? Beim letzten Treffen war er mit ihrer Mutter ziemlich aneinandergeraten und im Streit davongefahren. Aber das schien Schnee von gestern zu sein.

Er sah besser aus, drahtiger. Als käme er wieder mehr an die frische Luft. Mit seinen braunen Augen und der breiten Nase sah er seiner Schwester Hedda ziemlich ähnlich. Auch er trug Tracht, dazu die samischen Lederstiefel mit der hochgezogenen Kappe und die Kuksa an seinem Gürtel, das Trinkgefäß aus Holz. Im Gegensatz zu vielen Feiertagstrachten, die hier einmal im Jahr ausgeführt wurden, schienen seine Sachen getragen und viel benutzt. Die Persens waren Rendrifter – Rentierzüchter – seit Ewigkeiten. Im Gegensatz zu ihren Brüdern betrieb Hedda die Zucht nicht als Nebenerwerb, sondern als Haupteinnahmequelle.

Die Messer schnitzte sie, um sich etwas dazuzuverdienen.

»Issko. Schön dich zu sehen«, sagte Ravna auf Samisch.

»Gleichfalls, Uhcci. Was ist mit deiner Nase?«

Sofort hatte sie den Impuls, sich mit ihrer Hand ins Gesicht zu fahren.

»Nichts. Warum?«

»Sieht aus, als hättest du sie dir gebrochen.«

Im vorletzten Sommer war es geschehen, auf Ekkerøy9. Nichts war heil geblieben. Ihre Nase nicht und ihre Seele erst recht nicht. Irgendwann hatte sie beschlossen, ihr Studium an der Polizeiakademie fortzusetzen, damit zu den vielen Verlusten nicht auch noch der ihrer Zukunft hinzukam. Aber sie war eine andere geworden. Das tiefe Vertrauen in die Richtigkeit ihrer Entscheidungen hatte gelitten.

»Lars?« Ravna wandte sich an ihren Begleiter, der immer noch den Messerschaft bewunderte. Schnell an ein anderes Thema denken, bevor die Erinnerungen an die Ereignisse von damals wieder hochkamen.

Dass er das tat. Sich wirklich für so etwas interessierte, das für die meisten Norweger nur Folklore und Kitsch war. Mit ihr zusammen das Wochenende hier verbrachte und viel öfter nach Oslo fuhr, um sie zu besuchen, als sie hinauf nach Kirkenes.

Am liebsten hätte sie ihn geküsst. Und vermutlich hätte sie es auch getan, wenn nicht die Gefahr bestünde, dass sie bei dieser Kälte aneinander festfrieren würden.

»Mein Onkel Issko«, sagte sie zu ihm. Und zu Issko: »Mein Freund Lars.«

Issko hob die Augenbrauen, der einzige Kommentar, den er sich zu ihrer Partnerwahl erlaubte.

Ungerührt von Heddas Reaktion versuchte Lars erneut einen Handschlag, der dieses Mal gelang. Issko griff beherzt zu.

»Lars! Schön, dich endlich kennenzulernen. Ravna hat viel von dir erzählt.«

Blödsinn. Sie hatte mit Issko seit Ewigkeiten nicht gesprochen.

»Ach ja? Hoffentlich nur Gutes.«

Lars grinste und reichte ihm das Messer zurück. Er war das genaue Gegenteil dessen, was Mütter wie Hedda sich für ihre Töchter wünschten. Polizist, Norweger, Städter. Ravna legte ihren Arm um seine Hüfte und zog ihn etwas enger zu sich heran.

Er war sofort von der Idee begeistert gewesen, den großen Wintermarkt der Samen zu besuchen. Ein Fest, das mittlerweile Gäste aus aller Welt anzog und bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückging. Jedes Jahr begann er am ersten Donnerstag im Februar, dauerte drei Tage und war der place to be für alle Samen, von Norwegen bis Russland.

Noch immer wurde hier geheiratet, noch immer gab es Konzerte, Schlittenrennen und Rentierfütterungen. Die Bahn setzte Sonderzüge ein und alle Unterkünfte waren schon Monate im Voraus ausgebucht. Es war das größte Treffen der samischen Community, aber es kamen eben auch immer mehr Touristen. Schon wurden erste Stimmen laut, die den wachsenden Kommerz kritisierten.

Als sie den Ausflug ins schwedische Jokkmokk planten, hatte Ravna überlegt, ihre Mutter zu fragen, ob sie in deren traditionellem Lavvu unterkommen könnten, einem runden, windstabilen Zelt, in dessen Innerem man ein Feuer machen konnte. Aber dann hatte sie den Gedanken wieder verworfen. Glücklicherweise, musste man nach Heddas kühlem Empfang sagen. Sie waren mit dem Wohnmobil von Lars’ Vater gekommen, das eine Standheizung hatte und ein Dachfenster, durch das man die Sterne und mit etwas Glück die Nordlichter sehen konnte.

Sie war glücklich.

Zum ersten Mal in einer richtigen Beziehung, und dann auch noch glücklich.

Issko legte das Messer vorsichtig zurück in die Vitrine. »Nur Gutes? Da gehe ich mal lieber nicht ins Detail«, sagte er und lachte. »Habt ihr schon bidos10 gegessen? Nisse macht den Besten.«

»Haben wir«, erwiderte Ravna und war froh, dass Issko norwegisch mit ihnen sprach.

Hedda würdigte sie keines Blickes mehr. Der Stand war belagert von Interessierten, Kunden und solchen, die nur einen kurzen Blick auf die Preise warfen und sich dann kopfschüttelnd entfernten.

Ihr Onkel schloss die Vitrine.

»Was machst du hier?«, fragte sie ihn.

»Hab was mit Hedda zu besprechen«, brummte er in seinen dicken Schal.

Hoffentlich nicht wieder die Frage, wer von ihnen in Zukunft das Stimmrecht im Sameting11 haben sollte. Noch lag es bei Hedda, die nach Lénas Tod als Einzige die Rentierzucht professionell weiterbetrieb. Aber es hatte erste Palastrevolutionen gegeben.

»Was denn?«, fragte sie auf Samisch.

Lars checkte sein Handy und verließ seinen Platz in der vordersten Reihe am Stand. Sofort drängten die nächsten Neugierigen nach.

»Es geht um unseren Zug am Nationalfeiertag. Sie hat da was geplant. Ein paar finden das nicht so gut.«

Ravna sah zu Hedda, die sich gerade in einem nicht sehr freundlichen Gespräch mit potenziellen Kunden befand. Ihre Mutter war wirklich kein geborener Verkäufer. Sie hasste es, angestarrt zu werden und Fremden etwas zu erklären, was die ihrer Meinung nach sowieso nicht verstanden.

»Na dann, viel Glück.«

Issko klappte vorsichtig den Glasdeckel der Vitrine zu.

»Sehen wir uns heute Abend?«, fragte er. »Im Folkets Hus gibts ein Konzert mit Vera Winter und Erik Jensen.«

Ravna sah sich nach Lars um. Er stand etwas abseits und versuchte gerade, eine WhatsApp zu beantworten, ohne dass ihm seine Finger abfroren.

»Wahrscheinlich nicht. Die singen doch auf Kalix12, das verstehe ich nicht.«

Issko nickte. »Kaffee?«

»Nein danke. Báze dearvan!13«

Sie wollte sich gerade abwenden, als Hedda ihren Platz verließ und zu ihnen kam. In ihrem Gesicht stand pure Fassungslosigkeit.

»Golbma14«, sagte sie und drehte sich noch einmal zu der Stelle um, an der sie gerade noch gestanden hatte.

»Was, drei?«, fragte Ravna.

»Drei Messer.«

»Ja, und?«

»Von den großen. Die zu sechstausend Kronen15 das Stück.«

»Ja und?«, fragte Ravna und überlegte, auf was ihre Mutter hinauswollte.

»Verkauft. In bar.«

Hedda hob die Hand, die in einem dicken Fäustling steckte und ein Bündel 1000-Kronen-Scheine hielt.

»An Touristen, aus der Telemark. Was wollen die denn mit samischen Messern?«

Ravna sah zu den Menschen, die sich an den Ständen vorüberschob, aber diese seltenen Kunden waren schon in der Menge verschwunden.

Sie zuckte mit den Schultern. »Das ist doch egal. Du hast achtzehntausend Kronen eingenommen! Wahnsinn!«

Hedda schenkte ihr einen Blick, in dem die ganze Hoffnungslosigkeit einer Mutter gegenüber ihrem unwissenden Kind stand.

»Das ist nicht egal. Die wissen doch gar nichts damit anzufangen. Die Messer gehören in die Hände von Leuten, die wissen, was sie da gekauft haben!«

Ravna unterdrückte einen Seufzer. »Dann hättest du sie ihnen halt nicht verkaufen dürfen.«

Es war einfach kompliziert. Wenn Hedda nichts verkaufte, war sie sauer. Wenn sie etwas verkaufte, auch. Die Welt konnte es ihr nicht recht machen.

Hedda sah auf die Scheine und steckte sie dann in ihre kleine Ledertasche, die an ihrem Gürtel hing.

»Das wollte ich auch nicht. Normalerweise versuchen sie ja zu handeln, und wenn ich meinen Preis sage, rollen sie mit den Augen und zischen wieder ab. Aber dieses Mal …«

Sie brach ab.

»Ja?«, fragte Issko und reichte Hedda einen Becher dampfenden Kaffee.

»Die hat gar nicht gefragt. Sie sich überhaupt nicht richtig angesehen. Als ob sie drei Dosenöffner kauft, das Geld hingeknallt und gegangen.«

Das war wohl die schlimmste Beleidigung, die Hedda sich für ihre Messer vorstellen konnte.

»Hei!« Ravna grinste ihre Mutter an. »Herzlichen Glückwunsch! Achtzehntausend Kronen! Da können wir ja heute Abend richtig feiern.«

»Wer redet hier von ›feiern‹?«

Lars kam wieder zu ihnen und steckte sein Handy ein. Hedda wandte sich wortlos ab, ging zurück auf ihren Platz und verschanzte sich hinter den Vitrinen.

Ravna wandte sich an Issko und sagte auf Samisch: »Wir sehen uns.«

»Klar, Kleines.«

Dann hakte sie sich bei Lars unter und tauchte gemeinsam mit ihm in den Strom der Menschen ein, die zum Marktplatz gingen. Dort gab es Lachs und Elch, tiefgefroren oder direkt vom Grill, Rentierkebab und Moltebeermarmelade, Kokosboller, Sahnebonbons, vor allem aber: große, offene Feuer, über denen etwas brutzelte, dampfte und verführerische Duftwolken in die arktische Kälte aufsteigen ließ.

»Sag mal …« Lars zog sie an sich und küsste sie kurz auf den Mund. »Hast du was dagegen, wenn Turid heute Abend mitkommt?«

»Turid?«, fragte Ravna, als hätte sie diesen Namen noch nie gehört.

Dabei reichte die pure Erwähnung dieser Frau, dass sie sich wie ein Schaf fühlte, das mit der Nase einen elektrischen Zaun berührte.

»Sie ist mit ihren Eltern übers Wochenende im Eishotel in Jukkasjärvi.«

»Mit ihren Eltern?«

»Sie hat Stress mit ihrem Freund. Hör zu, das ist nicht so weit weg von hier. Sie sagt, sie stirbt da vor Langeweile.«

»Und da will sie auf einen samischen Wintermarkt?«

Turid. Schön wie die Eiskönigin und ungefähr genauso warmherzig. Zumindest Ravna gegenüber, die ein paar Mal das nicht sonderlich große Vergnügen gehabt hatte, ihr in Kirkenes zu begegnen. Sie gehörte zu der Freundesgruppe von Lars, mit der Ravna eigentlich ganz gut klarkam. Nur mit Turid hatte es von Anfang an nicht geklappt.

Sie mochten sich nicht. Aus welchen Gründen auch immer. Aber wenn man genauer nachforschen würde, hätte der wichtigste Grund wohl einen Namen: Lars. Ravna wurde das Gefühl nicht los, dass Turid entweder einmal etwas mit ihm am Laufen gehabt hatte – was Lars kategorisch verneinte – oder dass sie vorhatte, mit ihm etwas zum Laufen zu bringen. Was Lars ebenso vehement bestritt.

»Sie sagte, sie stellt sich das spannend vor.«

»Spannend.«

Die ganze Vorfreude war mit einem Mal weg. Wenn Turid hier auftauchte, würde sich ihr Interesse an der samischen Kultur darin erschöpfen, dass sie sich über sie lustig machte.

»Muss das sein?«

Zwischen Lars’ blonden Augenbrauen tauchte eine kleine, steile Falte auf. Er ärgerte sich, wollte es aber nicht zeigen.

»Nein, natürlich nicht, wenn du nicht willst. Ich sag ihr ab.«

»Wo würde sie denn schlafen? Jukkasjärvi ist zwei Stunden entfernt und die Sonne geht um drei Uhr unter.«

Er zuckte mit den Schultern und presste die Lippen zusammen.

»Bei uns? Zu dritt im Wohnmobil?«, fragte sie entgeistert.

Nicht nur, dass diese Frau einfach so hier auftauchen wollte. Sie hatte ernsthaft vor, sich auch noch im Bett zwischen sie zu drängen!?

»Ist ja schon gut. Jetzt mach nicht wieder einen Aufstand.«

Lars holte sein Handy aus der Jackentasche.

»Ich mache gar keinen Aufstand. Ich finde es nur seltsam.«

»Du findest vieles seltsam. Ihr geht es nicht gut, und wir sind Freunde, deshalb hat sie mir geschrieben. Ihr Freund hat sie wegen einer anderen sitzen gelassen. Ich sage ihr jetzt, dass es nicht geht.«

Ravna blieb stehen. Es klang einleuchtend, und trotzdem gelang es ihr nicht, über ihren Schatten zu springen.

»Und was genau schreibst du ihr? Ravna will das nicht oder wir wollen das nicht?«

»Macht das einen Unterschied?«

Sie sollte jetzt aufhören und damit zufrieden sein, dass er Turid absagen würde. Stattdessen sagte sie: »Ja.«

Lars musterte sie scharf. »Und der wäre?«

»Das weißt du ganz genau«, erwiderte sie schnippisch. »Aber ich will dir nicht den Abend verderben. Lade sie ruhig ein, wenn du das gerne möchtest.«

Er stieß einen ärgerlichen Seufzer aus. »Wenn irgendetwas ist, dann sag es. Turid ist eine Freundin, eine alte Freundin. Sie weiß, dass wir zusammen hier sind. Da ist nichts, was irgendwie zweideutig wäre, weder bei ihr noch bei mir. Sie hat einfach nur gefragt.«

»Und du kannst auch zusagen, was du möchtest. Ich hatte mir den Abend zwar anders vorgestellt, aber von mir aus …«

Sie ging wieder los und wich gerade noch einem Hundeschlitten aus, der ihnen entgegenkam.

»Ravna! Kannst du mir mal verraten, was du gegen sie hast?«

»Nichts«, antwortete sie und versuchte, so unbefangen wie möglich zu klingen.

Was nicht ganz einfach war.

»Das stimmt nicht.«

Sie liefen wieder nebeneinander, aber nicht miteinander. Der Abstand zwischen ihnen betrug höchstens einen halben Meter, aber in Wirklichkeit wurde er immer größer.

»Du magst keinen meiner Freunde«, sagte er. »Deshalb sind wir fast immer nur zu zweit.«

»Nur?«, fragte sie bitter, weil er heillos übertrieb.

»Du weißt doch ganz genau, wie ich das meine. Ich hätte auch mal Lust, was mit der Gang zu unternehmen und mit dir, gemeinsam.«

»Das haben wir. Ziemlich oft sogar.« Er presste die Lippen zusammen und sah in den Himmel. Dann warf er einen Blick auf das Display seines Handys.

»Sie ist schon losgefahren.«

»Okay.«

»Was heißt das, okay?«

Sie sagte nichts. Jedes weitere Wort würde etwas hervorrufen, das sie fürchtete und dem sie sich doch irgendwann stellen musste. Die Kluft zwischen ihnen überwanden sie nur, indem sie immer wieder Bretter über einen Abgrund legten und zum anderen hinüberbalancierten. Sie fand, dass Lars nun mal wieder an der Reihe war.

Er fand das wohl nicht.

»Heißt das, ich soll mich jetzt entscheiden, mit wem ich den Abend verbringe? Warum zum Teufel können wir nicht gemeinsam Spaß haben?«

»Ich schlafe bei Hedda.«

»Was?«

Er sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Dann könnt ihr beide ins Wohnmobil. Es ist zu eng für drei.«

Sie hoffte, er würde ihr Angebot ablehnen. Wenn er sie liebte, würde er ablehnen. Wenn er irgendwo noch einen Funken Verstand besaß, der ihm sagte, was er ihr zumutete, würde er ablehnen.

»Okay«, sagte er knapp. »Wenn du das willst.«

Er steckte das Handy ein und ging weiter nach rechts, wo sich ein Essensstand an den nächsten reihte.

Ravna blieb stehen und wartete darauf, dass er sich umdrehen würde. Als er es nicht tat, wandte sie sich nach links, wo Holzpferdchen aus Dalarna angeboten wurden und Frauen zeigten, wie sie aus Birkenwurzeln Körbe flochten oder aus Zinndraht und weichem Rentierleder Armbänder und Ketten herstellten. Sie ging mit blinden Augen von Stand zu Stand, registrierte kaum, wenn sie angesprochen wurde, und verschwand schließlich in einer Seitenstraße, in der es ruhiger zuging.

Was um Himmels willen war das gewesen? Auf jeden Fall mehr als ein Streit. Es ging tiefer, sehr viel tiefer. In freiem Fall in den Abgrund.

3Nordsamischer Name von Jokkmokk.

4Seit 1605 findet der Markt statt.

5Sam.: große Messer.

6Polizist.

7Sam.: Mutter.

8Sam.: Kleine.

9Nachzulesen in RAVNA – Die Tote in den Nachtbergen.

10Samischer Eintopf aus Rentierfleisch.

11Parlamentarische Vertretung der Samen.

12Schwedischer Norrland-Dialekt.

13Sam.: Auf Wiedersehen.

14Sam.: Drei.

15Ca. 537 Euro

2.

Heddas Lavvu stand außerhalb von Jokkmokk am Lille Luleälven. Obwohl der Weg dorthin über eine halbwegs geräumte Straße führte, brauchte Ravna ohne Scooter mehr als eine halbe Stunde und stapfte die letzten paar Hundert Meter durch tiefen Schnee.

Im Zelt empfing sie tiefste Dunkelheit und eisige Kälte. Als Erstes schaltete sie die Campingleuchten ein, dann machte sie ein Feuer und verkroch sich, bis es warm wurde, unter den Rentierfellen auf Heddas Lager.

Ihr Handyakku hatte noch 25 %, aber keine Nachricht von Lars. Nach Sonnenuntergang waren die Temperaturen weiter gefallen, und sie hatte sich gezwungen, wenigstens ein Sandwich zu essen, bevor sie losging.

Ganz allein war sie trotzdem nicht. Auch andere Siidas16 hatten sich ebenfalls für das traditionelle Zelt entschieden und die Nähe zum Fluss gesucht. Manchmal trieb der Wind eine Ahnung von gebratenem Fisch oder Rentiersteak zu Heddas Lavvu und ab und zu blitzte das Licht einer Taschenlampe oder eines Feuers durch die kahlen Äste der Bäume.

An Schlaf war nicht zu denken. Erst fühlte sie sich hundsmiserabel, weil sie aus einer Mücke einen Elefanten gemacht hatte, dann kam es ihr vor, als hätte sie noch viel zu milde auf diese Frechheit reagiert.

Turid.

Dass es ihr mit einer einfachen Frage gelungen war, diesen Streit vom Zaun zu brechen, sagte eine ganze Menge über ihre Beziehung zu Lars. Er gab sich unbestreitbar Mühe und sie versuchte es ebenfalls immer wieder. Aber sollte es zwischen zwei Menschen, die sich liebten, nicht ab und zu auch einmal unkompliziert und harmonisch zugehen?

Schritte näherten sich dem Zelt. Im Bruchteil einer Sekunde richtete Ravna sich auf. Der schwache Widerschein der Glut durchdrang kaum die Dunkelheit. Jemand schlug die Fellplane zurück und betrat geduckt das kleine Zelt, in dem man kaum aufrecht stehen konnte.

»Hedda?«, flüsterte Ravna.

»Du bist noch wach?«

Sie sank zurück auf das Lager.

»Ja. Ich konnte nicht schlafen.«

»Kein Wunder bei dem Trubel«, antwortete ihre Mutter und nahm als Erstes die Mütze ab. »Ich brauche erst einmal einen Kaffee.«

»Ich mach ihn dir.«

Ravna schlug die gefühlten drei Zentner Rentierfelle zurück und schlüpfte in ihre Stiefel. Der Wasserkanister war noch fast voll, und als sie den Kessel über die Glut hängte, hatte Hedda sich auch schon aus den ersten Schichten ihrer Kleidung geschält. Sorgfältig hängte sie sie an den Haken auf, die an Seilen von der Decke baumelten. Dann kramte sie zwei Becher aus Blech hervor, erntete auf ihren fragenden Blick hin ein Nicken von Ravna und setzte sich auf die Lebensmittelkiste.

Sie schwiegen, bis der Kaffee fertig war.

»Wie ist es gelaufen? Hast du noch viel verkauft?«, fragte Ravna nach dem ersten Schluck.

Hedda brummte etwas, das genauso gut hellste Begeisterung wie abgrundtiefe Enttäuschung ausdrücken konnte. Der Feuerschein spiegelte sich in ihren Augen.

»Nur noch ein paar von den kleinen Messern, den billigen. Den Touristen sitzt das Geld nicht mehr so locker. Und unsere Leute brauchen Messer nicht mehr als eine Kostbarkeit, sondern um ihr Sushi damit zu schneiden.«

Ravna nickte. Vermutlich war es noch nie anders gewesen. Die teuren, aufwendigen Dinge leistete man sich, wenn überhaupt, nur einmal im Leben.

»Was hast du am Nationalfeiertag vor?«, fragte sie. »Issko hat etwas erwähnt.«

»Ah ja?«

Hedda hob ihren Blick und spähte zu ihrer Tochter auf die andere Seite des Feuers.

»Er will dich von etwas abbringen. Etwas Illegales?«

Die Antwort war ein verächtliches Schnauben. Illegal war Auslegungssache bei Hedda.

»Stimmt ja, du bist ja jetzt bei der Polizei.«

Ravna angelte nach dem Zuckerglas und schraubte es auf.

»Nur auf der Polizeiakademie, im dritten Semester. Ich darf noch nicht mal zur Schutzstaffel, und in den Staatsdienst komme ich erst nach dem Examen. Also brauchst du dir keine Gedanken zu machen, dass ich dir bei der Parade plötzlich in Uniform gegenüberstehe. Also was ist es? Was hast du vor?«

»Hm.« Hedda streckte die Beine aus, eins nach dem anderen, um Zeit zu gewinnen. »Vor ein paar Wochen haben sie wieder Polarfüchse gejagt.«

»Wilderer?«

Ravnas Herz pochte schneller. Diese bedrohte Tierart war vor zwanzig Jahren schon einmal fast ausgestorben gewesen. Aber es gab immer noch Leute, die das nicht interessierte. Die Wilderer waren das eine. Das andere waren diejenigen, die sich weiterhin in die schneeweißen Pelze kleideten. Pelztierfarmen in Finnland züchteten grotesk gemästete Tiere, an denen die Felle in schweren Falten hinunterhingen. Die Füchse litten entsetzlich unter diesem Gewicht.

Hedda nickte. »Ein Pelz von einem in freier Wildbahn gejagten Fuchs bringt das Zwanzig- bis Fünfzigfache von dem, was man für die Felle aus der Qualzucht bekommt. Er ist dichter, weißer und hat einen ganz anderen Strich. Auf den ersten Blick ist der Unterschied für den Laien nicht zu erkennen, aber jeder Kürschner bei Verstand weiß, was so ein Fell wert ist. Reiche Leute zahlen mehr dafür als für einen Zobel.«

»Warum zieht man sich das überhaupt an? Wir tragen auch Pelze. Aber wir tun das, weil wir sie brauchen. Ich kenne niemanden, der mit einem Polarfuchsmantel herumrennen würde.«

»Oh, Léna hat das getan.«

Ravnas geliebte Urgroßmutter.

»In ihrer Jugend, also vor siebzig Jahren etwa. Sie hat die Füchse selbst gejagt, das Fell selbst gegerbt und den Mantel selbst genäht. Sie hat ihn getragen, bis er auseinandergefallen ist. Weil sie ihn gebraucht hat, und nicht, weil er eine Kostbarkeit war. Damals gab es auch noch viele Polarfüchse auf dem Fjell.«

Ravna nickte. Immer wieder wurde sie mit diesen Fragen konfrontiert, am liebsten von Kommilitoninnen, die sich vegan ernährten und keine Ahnung davon hatten, wie man einen Winter bei minus dreißig, vierzig Grad in einem Lavvu überlebte. Dabei unterstützte sie das, was diese Leute forderten: Schluss mit Qualzucht, Massentierhaltung und hin zu mehr Respekt vor anderen Lebewesen. Also eigentlich zu der Weise, in der die Samen seit Jahrtausenden lebten.

Es war genug da auf dieser Welt, für alle, wenn jeder sich nur das nehmen würde, was er brauchte. Polarfuchsmäntel jedenfalls trug hier oben keiner mehr. Man sah sie auf roten Teppichen und um die Schultern von Damen mit Diamantcolliers oder in noblen Skiorten, wo man sich gerade mal von der Boutique zur Bar bewegen musste. Machte niemand diesen Menschen klar, mit wie viel Leid sie sich schmückten?

»Sie sind doch grade erst wieder angesiedelt«, sagte sie wütend. »Nachdem sie fast ausgerottet waren. Und da kommt jemand daher und knallt sie einfach ab?«

»Ich habe vier gehäutete Kadaver gefunden.«

»Vier?«, fragte Ravna entsetzt.

Hedda nickte. »Die werde ich in Oslo vor das LMD17 legen. Die Route der Parade führt genau durch die Teatergata.«

»Vier Kadaver. Vor das Ministerium. Am Nationalfeiertag. Während der Parade.«

Ravna vergaß für einen Moment das Umrühren.

»Tiefgefroren natürlich, aber deshalb nicht weniger widerlich. Oben am Grythaugen habe ich sie gefunden, über den Quellen des Gállojohka, im Gebirge. Ein Streuner hatte sich verlaufen.« Ein ausgebüxtes Rentier. »Normalerweise hätte ich ihn da oben gelassen, aber die Zeiten sind hart, jedes Tier zählt. Also bin ich rauf, da wo früher …«

Sie brach ab und schaute gedankenverloren in ihren Becher.

Ravna nahm den Löffel aus ihrem Kaffee und leckte ihn ab.

»Wo früher was?«

»Früher war das eines der Reviere der Polarfüchse«, sagte ihre Mutter mit fester Stimme.

Ravna hatte den Verdacht, dass sie an etwas ganz anderes gedacht hatte.

»Wie willst du vier tote, gehäutete, tiefgefrorene Polarfüchse nach Oslo bringen?«

Hedda zog die Beine wieder an. »Hier kommt dein Onkel ins Spiel. In Isskos Angeltruhe. Die in seinem SUV. Die ist groß genug und kühlt auf minus elf Grad. Da können sie bis Mai bleiben.«

»Und … Issko ist nicht ganz so begeistert von der Idee, dass er in seinen Wagen bis Mai mit toten Füchsen teilen soll.«

In Heddas Mundwinkel stahl sich ein winziges Lächeln. So winzig und so ungewöhnlich, dass Ravna zweimal hinsehen musste.

»Ja. Aber er wird sich an seine Mitfahrer gewöhnen. Hast du Hunger?«

»Nein, danke. Ich hab was in Jokkmokk gegessen.«

»Und …« Hedda nahm einen weiteren Schluck. »Wo ist dein Freund?«

»Abgereist«, sagte sie schnell und hoffte, ihre Mutter würde ihr die Lüge abkaufen.

»Norweger.«

»Jep.«

»Nun ja.«

Sie tranken den Kaffee aus und verbreiterten das Lager, damit sie nebeneinander Platz fanden. Nachdem Ravna sich die Zähne geputzt hatte, krabbelte sie unter die Rentierfelldecke.

Eine Weile lagen sie nebeneinander. Ravna blinzelte ins Feuer, das langsam in sich zusammenfiel. Diese Nächte im Lavvu erinnerten sie an ihre Kindheit, die sie im Gebirge bei den Herden verbracht hatte. Das Zusammenrücken, das enge Miteinander, der Schutz, den die Gemeinschaft gab, all das hatte sich unauslöschlich in ihre Seele gegraben.

Es waren die Momente, in denen sie ihre ältere Schwester Inga am meisten vermisste. So sehr, dass der Schmerz und die Sehnsucht kaum zu ertragen waren.

Inga war tot. Seit fast fünf Jahren. Aber sie lebte immer noch in Ravnas Herzen und in dem von Hedda und dem aller, die sie gekannt hatten.

»Warum ist das damals auseinandergegangen mit dir und Papa?«

Keine Antwort. Aber Hedda schlief nicht. Sie lag wach, ruhig und bewegungslos neben ihr. Ravna stützte sich auf ihrem Ellenbogen auf, griff nach dem dünnen Holzstock und stocherte in der Glut herum.

»Warum? Du hast immer gesagt, er ist fortgegangen und hat sich nie wieder gemeldet.«

Stille.

»Aber da muss es doch was gegeben haben, vorher.«

Als er gegangen war, waren sie noch kleine Kinder gewesen, sie und Inga. Ein leises, kaum wahrnehmbares Schnauben kam aus der Dunkelheit, die nicht mehr vom Schein der Glut erfasst wurde.

»Ist es, weil er auch Norweger ist und keiner von uns?«

Das Schnauben wurde zu einem ungeduldigen Seufzen.

»Wahrscheinlich.«

»Habt ihr nie darüber gesprochen? Ihr habt euch doch mal, na ja, geliebt, oder? Wenigstens gemocht.«

Lars, funkte es in ihrem Kopf. Aber sie wollte nicht an ihn denken. Nicht jetzt. Vielleicht nie mehr. Wahrscheinlich lag er schon längst mit Turid im Wohnmobil und zählte die Sterne …

»Ja. Sehr sogar«, sagte Hedda mit einer erstaunlich leisen, heiseren Stimme. »Wir haben geglaubt, es wäre für immer.«

»Und was ist passiert?«

Ein paar Atemzüge lang blieb es still, bis auf das Knacken der Glut und das leise Brausen des Windes, der um das Lavvu fuhr.

»Wir mochten uns nicht mehr.«

Ravna legte den Stock weg und wandte sich nach ihrer Mutter um. Aber die hatte ihr den Rücken zugedreht und schien nicht bereit, noch mehr Fragen zu beantworten. Sie wollte die Hand ausstrecken und Hedda berühren, aber dann ließ sie es bleiben.

Die Glut fiel in sich zusammen. Die Dunkelheit kroch näher und die Wildnis schloss ihre Arme um sie und wiegte sie in den Schlaf.

16Samische Familienverbände.

17Landbruks- og matdepartementet – Landwirtschafts- und Ernährungsministerium.

3.

Es war stockdunkel, als von irgendwoher das Intro von The New Years Resolution erklang. Was sich erst anhörte wie eine Rückkoppelung, machte in der Zeit, in der Ravna verzweifelt ihr Handy suchte, eine klangliche Volte zu einem der größten Spielbergs18-Hits.

»Ravna! Um Himmels willen! Mach das aus!«

Hedda saß aufrecht im Bett.

»Ich hab’s gleich!«

Sie ertastete ihren Anorak und kämpfte mit dem Reißverschluss. Endlich hatte sie das Handy herausgefischt.

Lars. Fünf Uhr neunzehn. Sie starrte auf das Display.

»Ravna!«, knurrte Hedda.

Sie wollte den Anruf wegwischen, aber dann nahm sie ihn doch an.

»Ravnnn … Ravna?«

»Ja?«

»Kannsu kommen?«

»Lars, bist du das?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

»Hmmmjaaa.«

»Wo bist du?

»Weissichnich.«

Es war stockfinster im Lavvu. Eine dicke Schicht Asche lag auf der Glut. Sie versuchte, sich in den Ärmel ihres Anoraks zu winden.

»Du musst doch wissen, wo du bist. Im Wohnmobil?«

»Nee. Es isso kalt hier. So absolut spooky. Da steht ein Elch in der Ecke. Und ein Kobold.«

Sie kletterte raus ins Freie.

»Ist Turid bei dir?«

»Hör mal, ich glaub, ich hab einen Filmriss. Das Letzte, was ich weiß …«

Er stöhnte auf. Es hörte sich beängstigend an.

»Turid hat mich … Ravna, hol mich hier raus! Bitte!«

»Und wo bist du?«, fragte sie mit einer Stimme, die jedem geraten hätte, genau das nicht zu verraten.

»Ssss… Standort.«

Er legte auf. Drei Sekunden später ploppte eine Meldung auf: Marknadsvägen 63, Jukkasjärvi. Das Eishotel.

Also hatte er die Nacht dort mit Turid verbracht. Sie lief ein paar Schritte auf und ab, stolperte dabei in der Finsternis fast in ein Kaninchenloch und rief dann die Rezeption eines der berühmtesten schwedischen Hotels an.

Und legte wieder auf.

Sie kannte Turids Nachnamen nicht. Ganz zu schweigen davon, dass sie nicht wusste, was sie eigentlich sagen sollte. Könnten Sie mal nach meinem Freund sehen, der irgendwelche Halluzinationen in einem ihrer Zimmer hat, das offenbar von einer Turid gemietet worden ist, deren vollständigen Namen ich nicht kenne?

Sie kletterte zurück ins Zelt. Hedda hatte eine der Campinglampen eingeschaltet. Das kalte, bläuliche Licht blendete sie.

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte sie. »Ist Issko schon weg?«

»Der wollte erst morgen fahren.«

»Wo steht sein Wagen?«

Hedda, schon den Stock in der Hand, um die Glut wieder anzufachen, schenkte ihr einen prüfenden Blick.

»Irgendwo in der Nähe.«

Ravna kletterte wieder aus dem Zelt und begann, mit dem Spotlight ihres Handys die Umgebung abzusuchen. Knapp hundert Meter weiter standen zwei Lavvus und mehrere Wohnmobile waren zu einer Art Wagenburg zusammengestellt worden. Isskos SUV parkte dort, wo der Weg zurück in die Stadt begann. Sie klopfte an die Scheibe und aus den Tiefen des Liegesitzes tauchte das ebenso verständnislose wie verschlafene Gesicht ihres Onkels auf.

Die Scheibe fuhr herunter.

»Bures19…«

»Ich muss nach Jukkasjärvi.«

Issko sah sie an, schien aber nicht zu begreifen, was genau sie meinte.

»Ich brauche dein Auto.«

Er fuhr sich durch die drahtigen Haare, die in alle Richtungen abstanden.

»Äh – jetzt?«

»Ja.«

Issko schüttelte den Kopf. »Das ist nigelnagelneu und hat nicht einen Kratzer.«

»Ich nehm es auch in diesem Zustand. Hauptsache, es fährt. Rutschst du rüber oder gehst du zu Hedda?«

Mit einem Grunzen öffnete Issko die Tür und stieg aus.

»Wohin willst du eigentlich?«

Ravna stieg ein und schnallte sich an. »Nur mal kurz weg. Danke.«

Sie schlug die Tür zu, startete und ließ Issko im Schein der Rücklichter stehen. Er würde sich in Heddas Lavvu noch einmal aufs Ohr legen. Bevor er wieder aufwachte, wäre sie schon wieder zurück.

Sie nahm hinter Jokkmokk die Europastraße E45 nach Norden. Als die Ahnung einer violetten Morgendämmerung am Horizont auftauchte, bog sie auf die E10 Richtung Kiruna, einer schnurgeraden, einsamen Straße durch endlose Wälder. Nur wenige Autos kamen ihr entgegen.

Sie legte sich Sätze zurecht, mit denen sie Lars gegenübertreten würde. Cool wollte sie erscheinen, über den Dingen stehend, aber in Wirklichkeit tobte in ihr das heulende Elend.

Turid und Lars. Lars und Turid.

Obwohl sein Verrat abgrundtief und unentschuldbar war, spürte sie doch tief in ihrem Inneren, dass auch sie ihn verletzt hatte. Sie konnte mit dieser Frau nichts anfangen. Aber vielleicht hätte sie sich doch etwas mehr Mühe geben können?

Aber es war müßig, darüber nachzugrübeln. Er hatte sie verlassen für einen netten Abend. Hätte er den nicht auch mit ihr haben können?

Du bist unfair, sagte sie sich und drückte das Gaspedal durch. Die Straße zog sich endlos. Aus dem Radio kam einschläfernder Jazz, der sie noch begleitete, als in der Dämmerung die ersten Lichter von Jukkasjärvi auftauchten.

Sie war von Oslo aus mit dem Flieger aufgebrochen, da der Zug volle 24 Stunden gebraucht hätte. Lars war von Kirkenes aus mit dem Auto gekommen. Beides umwelttechnisch nicht ganz einwandfrei, aber in Skandinavien ließen sich viele Entfernungen sonst nur schwer bewältigen. Auch Lars war einen ganzen Tag unterwegs gewesen, um mit ihr zusammen auf den Wintermarkt zu gehen.

Und jetzt trat er alles in die Tonne.

Oder tat sie das gerade?

Die Sache war zu kompliziert und der Morgen zu früh, um das abschließend zu beantworten. Die Sonne würde erst gegen halb neun aufgehen. Sie verließ die geräumte Straße und bog in die tief verschneite Hoteleinfahrt ein.

Es war ein Wintermärchen. Dicker Schnee lag auf den Dächern des Haupthauses und der kleinen, modernen Hütten, die für all jene gebaut worden waren, die nicht unbedingt eine Nacht bei minus fünf Grad verbringen wollten. Diese Hütten waren beheizt und eigentlich ganz normale Unterkünfte.

Aber dann gab es noch die Zimmer aus Eis. Jedes Jahr wurden sie von namhaften Künstlern aus aller Welt neu gestaltet. In ihnen befand sich ein Bett aus Eis. Stühle aus Eis. Sessel aus Eis. Skulpturen, Wandreliefs, Deckenschnitzereien, sogar die Vorhänge – alles aus Schnee und Eis. Unnötig zu sagen, dass dieses vergängliche Vergnügen auch gleichzeitig eines der exklusivsten war.

Hier also war Turid abgestiegen. Mit ihren Eltern, klar. Sie selbst würde wohl kaum für ein Wochenende mehr bezahlen, als Ravna in einem Monat verdiente.

Sie stellte Isskos SUV auf dem Parkplatz ab und griff zum Handy. Beim ersten Mal ließ sie es so lange klingeln, bis die Mailbox ansprang. Beim zweiten Mal nahm er den Anruf an.

»Ich bin da. Willst du rauskommen?«

»Ich finde meine Jacke nicht.«

Ravna ließ das Handy sinken, atmete tief durch und hob es wieder ans Ohr.

»Vielleicht liegt sie auf der anderen Seite vom Bett?«, fragte sie honigsüß.

»Ravna, ehrlich, ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin und was passiert ist. Bitte glaub mir das.«

»Aufs Wort.«

»Die haben vorne an der Rezeption Capes. Für Besucher. Du musst mir eins bringen.«

»Klar.«

»Ich bin in diesem Zimmer mit dem Elch und dem Kobold. Es ist gruselig. Und arschkalt. Ich friere mir die … also ich frier mir was ab, wenn ich so rauskomme.«

Er wartete.

»Verstehe«, sagte sie schließlich und legte auf.

Hoffentlich war der Nachtportier vor seinen Monitoren eingeschlafen. Sie verließ das Auto so leise wie möglich und lief zu dem Gebäude, in dem die Eiszimmer untergebracht waren.

Glücklicherweise brauchte sie keine Chipkarte, um in die Eingangshalle zu gelangen. Offenbar trafen sich hier die Gäste abends auf einen Drink, denn es waren mehrere Bars aus Schneeblöcken aufgebaut. Der Boden bestand aus festgestampftem Schnee, der bei jedem Schritt unter ihren Stiefeln knirschte. Niemand war zu sehen. Von der Decke hingen Kronleuchter mit Perlen aus gefrorenem Wasser, Zwischenwände aus gläsernen Eisziegeln trennten die einzelnen Bereiche ab. Ein hoher Gang führte wie in einen Berg aus Schnee gehauen zur linken Seite ab. An der Wand hing ein Monitor, auf dem die Themen der einzelnen Zimmer aufgelistet waren und die Namen der Künstler, die sie geschaffen hatten.

In einer riesigen Truhe lagen Capes. Gefertigt waren sie aus dickem blauen Steppstoff, der auf der Innenseite noch einmal mit silberner Isolierfolie versehen war. Eine mit weißem Kunstpelz verbrämte Kapuze hielt die Ohren warm. Sie schnappte sich eines und suchte dann auf der Tafel nach einem Zimmer, das im weitesten Sinne mit Kobolden und Elchen in Verbindung gebracht werden konnte.

The enchanted forest – Der verzauberte Wald, das könnte passen. Oder: Out in the wilderness – Draußen in der Wildnis. Oder: Fairytale Dream – Märchentraum. Sie fotografierte die drei Zimmernummern ab und betrat den Gang aus Schnee. Links und rechts gingen die Zugänge zu den Zimmern ab. Sie klopfte vorsichtig am Fairytale Dream an, erhielt aber keine Antwort. Out in the wilderness reagierte auch nicht. Aber in The enchanted forest schien sich etwas zu regen.

»Lars?«

Sie drückte die Klinke hinunter und trat ein.