7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €
Abgründig. Mystisch. Geheimnisvoll. Die großartige Fortsetzung des All Age-Romans von SPIEGEL-Bestsellerautorin Elisabeth Herrmann
Der Treck der Rentiere zu den Sommerweiden ist ein alljährliches Ritual, zu dem alle Samen der Renzüchterfamilien zusammenkommen. Auch für Ravna Persen, Studentin der Polizeihochschule in Oslo, sind die Wochen hoch im Norden über dem Polarkreis weit ab von der Zivilisation ein Pflichttermin. Doch unter den Clans herrschen große Spannungen und einige sind wenig begeistert davon, dass Ravna zur Polizei gegangen ist.
Als Ravna sich bei der Suche nach verirrten Rentieren verletzt, sitzt sie in der Bärenschlucht fest. Nur mit allerletzter Kraft kann sie sich ins Freie kämpfen. Doch unterwegs macht sie eine schlimme Entdeckung: Eine Mädchenleiche liegt halb verschüttet im Geröll. Und Ravna ist sich sicher, dass sie das Mädchen wiedererkennt. Linnea Berger wird seit zehn Jahren vermisst. Ravna wittert ein Geheimnis und beginnt, zu ermitteln. Doch der Mörder ist mitten unter ihnen und er macht auch vor weiteren Opfern keinen Halt …
Elisabeth Herrmann fesselt mit ihren mitreißenden und atmosphärischen Thrillern ein großes Publikum. Leser*innen erwarten starke Heldinnen, dunkle und mystische Fälle und intelligente Hochspannung.
Alle Bände der RAVNA-Reihe:
Tod in der Arktis (Band 1)
Die Tote in den Nachtbergen (Band 2)
Arktische Rache (Band 3)
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 478
ELISABETH HERRMANN
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Kathrin Schüler, Berlin
unter Verwendung von Fotos von Shutterstock.com
(OyvindAuke, Maridav, xpixel, HAENG, Olha Kozachenko)
FK · Herstellung: AJ
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-23167-5V001
www.cbj-verlag.de
Für Shirin
In den skandinavischen Ländern wird die Berufsbezeichnung in weiblicher Form kaum noch praktiziert. Eine Ärztin ist doktor, eine Lehrerin ist laerer, eine Praktikantin ist ein praktikant. Ebenso wird kaum noch gesiezt (nur noch Mitglieder des Königshauses, aber sogar die bieten gerne an: Nenn mich einfach Harald …).
Für uns klingt das ungewohnt. Um den authentischen Charakter der Geschichte zu bewahren, habe ich mich jedoch, bis auf wenige Ausnahmen, für die norwegischen Umgangsformen entschieden.
Elisabeth Herrmann
Alle Charaktere, Personen und Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig.
Um den Zug der Rentiere zu schützen, wurden die detaillierten Ortsangaben geändert bzw. verfremdet.
Sie war achtzehn
Er
Ein paar Monate jünger
Er nahm sie mit an Orte
An die sie sich niemals gewagt hätte
Ist das die Sonne oder
Der Mond
Könnte sie ihn fragen
Er übernahm die Führung
Und das Kind in ihr fühlte sich zu Hause
Happily Ever After
Text: Mari Boine1
© Sony Music Publishing (Scandinavia) Kb
Mit freundlicher Genehmigung der Sony Music Publishing (Germany) GmbH.
1 Mari Boine ist eine samische Sängerin.
1. Teil
Die Rückkehr
Sommersiedlung am Fuß der Nachtberge, Falkfjellet, Finnmark
Mittsommer. Freitag, 24. Juni 2011
Tageslänge: 24 Stunden
Es gibt viele Arten, sich zu verabschieden. Ich hab’s immer auf meine Art gemacht.
»Linnéa? Willst du nicht aussteigen?«
Mein Vater steht vor der offenen Tür des Hubschraubers, die Arzttasche in der Hand.
»Linnéa?«
Ich schaue auf der anderen Seite zum Fenster hinaus auf eine Mondlandschaft. Er hat mich ins Nichts verschleppt. In eine Steinwüste, ein apokalyptisches Endzeitszenario, die große arktische Leere. Keine Ahnung, was ich mir unter samischen Sommerweiden vorgestellt habe – auf keinen Fall das. Gegen meinen Willen musste ich in diesen Hubschrauber und hinauf ins Gebirge der Varangerhalbinsel.
»Jusse fliegt gleich wieder zurück. Er hat seine Zeit nicht gestohlen.«
Jusse, der Pilot, checkt irgendwas mit den Schaltern. Am liebsten würde ich im Heli bleiben, dann wäre ich in einer Stunde wieder in Kirkenes in meinem Zimmer und könnte heute Nacht Mittsommer feiern. Aber ich musste ja hoch und heilig versprechen, keinen Blödsinn mehr zu machen.
»Die Leute warten auf uns. Wir hatten eine Abmachung.«
Wenn mein Vater »wir« und »uns« sagt, meint er: Ich habe was entschieden und Widerrede ist zwecklos. Er ist Tierarzt. Er hofft, dass ich mich auch eines Tages dafür interessiere, Kühen bis zum Ellenbogen Gott weiß wohin zu greifen oder niesende Kätzchen zu kurieren. Keine Ahnung, ob ich das will. Über die Zukunft mache ich mir keine Gedanken, sie kommt oder sie kommt nicht.
Etwas entfernt steht ein Quad. Auf ihm sitzt jemand in abgewetzten Trekkingklamotten, der jetzt den Helm abnimmt und abwartend den Unterarm aufs Knie legt. Er muss in meinem Alter sein, ein kräftiger Typ, der genau beobachtet, wer sich ihm da nähert.
»Hei Magnus!«
Mein Vater kennt ihn, beide begrüßen sich mit Handschlag.
»Alles in Ordnung bei euch? Das ist meine Tochter Linnéa. Sie wird mich heute begleiten.«
»Linnéa.«
Magnus ist kräftig, aber nicht vom Fitnessstudio, sondern vom Leben hier draußen. Sein Händedruck zerquetscht mir fast die Finger. Er hat ein breites, braun gebranntes Gesicht und grinst mich derart selbstvergessen an, dass ich ihn am liebsten mit einem Schnippen vor den Augen wieder aufgeweckt hätte.
»Kriege ich auch einen Helm?«, frage ich und lächle.
Wenn ich mich nicht täusche, wird er unter der Bräune rot.
»Ja. Klar. Moment.«
Er springt ab und holt den Helm vom Rücksitz. Als er ihn mir reicht, scannt er mich von oben bis unten, von meiner pelzbesetzten Kapuze bis zu meinen pinken Trekkingstiefeln.
»Danke.«
Ich setze mir das Ding auf und nehme hinter den beiden Platz. Die Fahrt dauert nicht lange, aber sie reicht, um mich ein Mal komplett durchzurütteln. Es geht runter in ein weites Tal, in der Ferne schimmert ein Fluss. Überall auf der Welt würden zur Sommersonnenwende Blumen blühen und Bäume grünen, aber nicht hier. Wir sind im Falkfjellet, dem riesigen, grauen Gebirge der Varangerhalbinsel, eintönig, staubig, kalt.
Dann erreichen wir so etwas wie ein Dorf mitten in dieser Felswüste. Holzhütten und Zelte, die ein wenig an Tipis erinnern. Es ist ziemlich viel los. Es herrscht offenbar Aufbruchstimmung – wahrscheinlich wollen alle so schnell wie möglich wieder zurück in die Zivilisation. Magnus zeigt, wie echte Samen bremsen: so abrupt, dass sich das Quad halb um die eigene Achse dreht und kleine Steine wie Geschosse durch die Luft fliegen.
»Unsere Sommersiedlung. Wir haben extra eine Hütte für euch hergerichtet.«
Er geht voran und präsentiert mir die Unterkunft. Vier Holzwände, ein Dach. Immerhin zwei Betten und ein Campingkocher. Auf dem Boden liegen Rentierfelle. Keine Ahnung, ob sie immer so leben oder ob das eine Art Glamping auf Samisch ist.
Mein Vater will es sich gar nicht erst gemütlich machen. Sobald er sein Gepäck abgelegt hat, ist er auch schon wieder draußen. »Wo sind denn die Sorgenkinder?«, fragt er.
Ein paar Leute tauchen auf und begrüßen uns. Alle kennen ihn und ich als seine Tochter werde wohlwollend taxiert. Und anschließend vergessen. Er macht sich sofort auf den Weg zu einem kleinen Gehege abseits, wo ein paar Rentiere auf ihn warten. Ich bleibe in der Hütte und frage mich, wie ich es hier bis zum nächsten Morgen aushalten soll. Man hat ja schon viel gehört. Eine samische Sommersiedlung ist wie ein Zeltlager in den Fünfzigerjahren. Nun sehe ich mich um und stelle fest: Es ist wie ein Zeltlager im 19. Jahrhundert.
»Wer bist du?«
In der Tür steht ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Es hat ein rundes Gesicht mit Apfelbäckchen und dunklen, schmalen Augen. Ihre Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr fast bis zu den Hüften reichen. Sie hat Hosen aus Rentierleder an und einen bunt verzierten Überwurf. Es könnte fast wie Folklore aussehen, wenn die Sachen nicht so abgetragen wären.
»Ich bin Linnéa. Die Tochter vom Tierarzt. Und du?«
»Ich bin Ravna. Die Tochter von Hedda.«
Sie starrt auf meine Haare. Zugegeben, ich bin ein bisschen stolz auf meine Mähne und tue auch eine Menge dafür, damit sie auf Hochglanz gestriegelt über meine Schultern fällt. Aber dieses Kind sieht mich an, als hätte es noch nie eine Blondine gesehen.
»Was machst du hier?«, fragt es.
»Ehrlich gesagt: keine Ahnung. Gibt es irgendwo was zu trinken?«
Das Mädchen nickt eifrig. »Am Fluss. Da holen wir unser Wasser.«
»Ah. Klar. Ich dachte eher an Cocktails.«
Die Kleine wagt sich einen Schritt über die Schwelle. Ich nehme eine der Decken auf den Betten hoch und schüttele sie aus.
»Was ist das?«
»Cocktails? Das sind gemixte Drinks. Habt ihr noch nie von gehört, oder?«
Vinnan wollte heute Abend eigentlich mit mir in eine Bar gehen. Vor Kurzem hat in der Kirkegata ein neuer Laden aufgemacht, den wir uns ansehen wollten. Viel Auswahl gibt es nicht in Kirkenes, weder an Bars noch an männlicher Begleitung. Er ist etwas nervig und bildet sich ein, wir wären zusammen. Aber ich bin achtzehn und habe keine Lust, der Welt die Tür vor der Nase zuzuschlagen, die sie gerade geöffnet hat. Wenigstens hat er Geld. Die Stiefel sind von ihm und neulich stand er lange mit mir zusammen vor dem Schaufenster des kleinen Schmuckgeschäftes und stierte sehnsüchtig in die Auslage mit den Eheringen.
»Brauchst du Wasser?«
Ich habe eine Thermosflasche dabei. Warme Klamotten, denn es wird selbst im Hochsommer hier oben ziemlich kalt.
»Ja.« Auf einem roh gezimmerten Holzbrett liegen Kerzen und Streichhölzer. Außerdem steht da ein ziemlich verbeulter Teekessel. Ich hole ihn herunter – und habe kohlrabenschwarze Finger. Das Teil ist komplett verrußt. »Ja, Wasser wäre toll.«
»Ich bring dir welches.«
Das Mädchen saust davon. Ich suche nach irgendetwas, womit ich mir die Finger abwischen kann. Die Decken sind aus grob gewebter Wolle in Beige und Braun, das würde man sofort sehen.
Noch nicht mal Gras gibt es hier. Ein bisschen Moos und ein paar Flechten, das ist alles. Dafür Steine im Überfluss. Als ich vor die Tür trete, kommt Magnus vorbei, ein Lasso über die Schulter geworfen. Kaum sieht er mich, verändert er seinen Gang.
»Alles okay?«, fragt er.
Ich hebe die dreckigen Hände und er lacht. »Passiert. Nimm das.«
Er zieht ein Tuch aus der Hosentasche und reicht es mir.
»Danke. Gibt es hier irgendwo was zu trinken?«
»Wasser?«
»Vielleicht gemixt mit irgendwas Stärkerem?«
Ich wische mir die Hände ab, während Magnus überlegt.
»Wenn wir mit der Arbeit fertig sind, sitzen wir alle noch zusammen und trinken Kaffee.«
»Kaffee«, sage ich und reiche ihm das Tuch zurück. »Nichts anderes?«
Klar gibt es da noch was. Ich kann es ihm ansehen.
»Was hast du denn vor?«
»Heute ist Mittsommer.«
»Das feiern wir nicht.«
»Schade.«
Ich will wieder in die Hütte zurück, aber meine Frage scheint bei Magnus etwas in Gang gesetzt zu haben. Denken, beispielsweise.
»Ich könnte was organisieren. Eine Party, mit ein paar anderen.«
An ihm vorbei spähe ich aus der Tür auf die Auswahl: lauter Männer und Frauen in einem Alter, in dem man unter Feiern vermutlich ein Schälchen Cognacbohnen zum Nachmittagskaffee versteht.
»Ach ja?«, frage ich, nicht sehr überzeugt.
Aber Magnus möchte offenbar beweisen, dass mehr in der hiesigen Jugend steckt als Rentiere züchten und Fischen.
»Mein Bruder hat immer was. Und ich kann auch noch ein paar andere fragen.«
Ich denke an die beiden Tabletten in meiner Tasche – die einzigen, die mein Vater nicht entdeckt hat. Warum eigentlich nicht? Eine Party mit Lagerfeuer, Tipis, Musik … ich denke kurz an Vinnan, aber ich bin mir sicher, dass er nichts dagegen hätte. Schließlich bin ich auf einer Strafexpedition in der Wildnis gelandet und nicht er. Und man sollte die Feste feiern, wie sie fallen.
»Um Mitternacht?«
Er verzieht den Mund. Es sieht aus, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
»Da sind wir alle in der Gerde, zur Kälbermarkierung. Dein Vater auch.«
»Schade. Ich bin nur heute hier, morgen geht es wieder zurück. Das wäre deine Chance gewesen!«
Ich grinse ihn an und erkenne, dass ich einen Schritt zu weit gegangen bin. Chancen hat Magnus bis jetzt nicht sehr viele gehabt, das merkt man ihm an. Er versteht den Scherz nicht, er nimmt ihn ernst.
»Zum Feiern, meine ich.«
Hoffentlich kapiert er, was ich meine. Hinter seiner breiten Stirn arbeitet es und er fasst einen Entschluss. »Um Mitternacht. Da hinten hinter den Lávvus.«
»Den was?«
»Den Zelten.«
Er weist auf drei Tipis, die etwas abseitsstehen.
»Da treffen wir uns.«
»Alles klar.«
Ich klopfe zum Abschied leicht mit der Handfläche auf die Türfüllung und verschwinde in der Hütte. Dann schreibe ich Vinnan eine SMS. Mittsommerparty!!! Nette Jungen gibt es hier …
Mit einem Grinsen schicke ich die Nachricht ab, muss aber noch mal vor die Tür, um Empfang zu bekommen. Dabei stolpere ich fast über das Mädchen, das einen riesigen Kanister Wasser angeschleppt hat.
»Der ist für dich.«
Ich streiche der Kleinen über den Kopf. »Bring ihn rein. Danke!«
Wahrscheinlich halten mich alle für verrückt, wie ich mit ausgestrecktem Arm über den Platz in der Mitte der Hütten laufe auf der Suche nach einem einzigen Balken, aber schließlich habe ich ihn gefunden, und die Nachricht ist durch.
Das Mädchen steht vor der Hütte und starrt mich an. Irgendwie spooky. Aber das ist ja fast alles hier. Mein Vater ruft mich, und die nächsten Stunden helfe ich ihm, Kälber zu impfen und Verbände anzulegen. Er ist glücklich, dass ich bei ihm bin. Und ich bin glücklich, dass ich um Mitternacht abhauen kann.
Zehn Jahre später …
Falkfjellet, Varangerhalbinsel, Finnmark
Mittsommer. Donnerstag, 24. Juni 2021
Tageslänge: 24 Stunden
1.
Die Wolken über dem Varangerfjord rissen auf, die Sonne tupfte mit goldenen Fingern über das Wasser. In der Ferne die uferlose Weite der Barentssee, gegenüber, wie Scherenschnitte aus blassem Aquarellpapier, die sanften Bergrücken der Finnmark. Für ein paar Minuten zeigte Sápmi2, was es im Juni an ganz großem Kino zu bieten hatte. Weite, Einsamkeit, arktischer Mittsommer.
Ravna blieb keuchend stehen und schenkte sich diese Minute, um den Ausblick zu bewundern. Der eisige Wind zerriss die Hoffnung, hier oben, sechshundert Kilometer über dem Polarkreis und auf halbem Weg ins Gebirge, wenigstens wettertechnisch nicht ständig gebeutelt zu werden.
Sie spürte ihren Rucksack, als hätte sie sich ein ausgewachsenes Rentier über die Schulter gelegt. Doch je höher sie kam, desto schärfer pfiff der Wind, der von den schneebedeckten Gipfeln des Falkfjellet3 kam und steil zum Eismeer hin abfiel. Der Splitt knirschte unter ihren Trekkingboots, als sie sich den letzten Hügel hinaufquälte und mit hängender Zunge die Baracke erreichte.
Dort stand eine Bank, die aus schartigen Brettern zusammengenagelt worden war. Ravna stellte den Rucksack ab und setzte sich. Ihr Blick fiel zurück auf die Strecke, die sie hinter sich gebracht hatte: Splitt und Geröll zu ihren Füßen, durch das sich ein Pfad schlängelte, den nur die Einheimischen kannten. Natürlich führte auch eine Autopiste hier hinauf, die breiter und bequemer zu laufen gewesen wäre. Aber Ravna hatte sich dagegen entschieden. Je eher sie sich daran gewöhnte, den steinigen Weg zu wählen, umso besser. Er war wie eine Vorbereitung auf das, was sie erwartete.
Am Ufer des Fjords, eine schweißgetränkte Stunde entfernt, lag das kleine Fischernest Krampenes – ein paar Häuser, blau, gelb, grau und dunkelrot. Man hätte meinen können, eine riesige Hand hätte sie wie Würfel zufällig an die Küste geworfen. Von dort musste der SUV gekommen sein, der neben der Baracke stand. Ein riesiger Wagen, brandneu mit Osloer Nummernschild, aber schon an den Seiten verkratzt vom Steinschlag und den Felsen, die man beim Wenden gerne übersah. Die Insassen waren nirgendwo zu sehen. Wahrscheinlich hatten sie sich in die Baracke zurückgezogen, um die letzten Formalitäten für den Flug zu erledigen.
Auf einem kreisrunden Plateau stand ein Eurocopter AS350, ein kleines, wendiges Fluggerät mit Platz für 4 Passagiere und einen Piloten. Seit gestern hatte Ravna ungeduldig auf Jusses Anruf gewartet, bis sich endlich Touristen für einen Rundflug über den Fjord und das Gebirge gemeldet hatten, die sie mitnehmen würden. Ziel: die Sommersiedlung der Samen im Gebirge, wo die Hütten von Ravnas Siida4 standen. Für Touristen war so ein Abstecher der Höhepunkt ihres Abenteuers in der Wildnis. Sie zahlten und Heli-Tramper wie Ravna kamen in den Genuss eines Rundflugs mit anschließender Landung auf den Sommerweiden. Die Touristen waren begeistert. Bei echten Samen in einem echten Lávvu vorbeischauen, das bekamen sie nicht alle Tage.
Sie ließ den Kopf kreisen und rieb sich die schmerzende Schulter. Drei Monate in Oslo und sie war völlig verweichlicht. Natürlich machten sie Sport an der Polizeihochschule, aber keine kilometerlangen Wanderungen über Geröll und arktische Pisten. Ein paar wenige Mücken schwirrten noch herum, doch Ravna ignorierte sie. Irgendwo in ihrem Rucksack lag die schwarze Salbe, mit der sie sich einreiben konnte, aber sie wollte die beiden Großstädter mit diesem Anblick nicht erschrecken. Für viele waren die Samen immer noch ein rückständiges Volk und bis vor ein paar Jahren waren sie noch schwarz angemalt in Volkstheaterstücken verspottet worden. Dabei half nichts so gut gegen eine Mückenplage wie dieses alte Hausmittel. Es sah nur leider gewöhnungsbedürftig aus.
Sie checkte ihr Handy – noch ein Balken. Hoffentlich hatten sie den Mast auf dem Fjell repariert, sonst war sie die nächsten Tage und Nächte ohne Empfang. Lars hatte auf ihr kurzes Mach mich jetzt auf den Weg nicht reagiert. Das Gefühl, eine Nachricht von ihm mehr zu vermissen als seine Anwesenheit, beunruhigte sie.
Er war Norweger und arbeitete bei der Polizei in Kirkenes, sie studierte in Oslo. Sie dateten sich nun schon fast ein halbes Jahr, und noch immer war ihr nicht klar: Waren sie nun zusammen oder nicht? Er müsste sie doch fragen oder irgendwann einmal etwas Verbindliches sagen. Und dann war diese Party dazwischengekommen und seitdem war irgendetwas nicht mehr so wie vorher. Ravna traute sich nicht zu fragen, ob es mit Turid zusammenhing. Turid, eine Schönheit mit Gletscherblick und sonnenblonden Haaren, Norwegerin, Beste ihres Jahrgangs an der Polizeihochschule, Supergirl der Polizeiwache Kirkenes, ein Ass im Umgang mit der Dienstwaffe, in Polizei- und Ordnungsrecht, Selbstverteidigung, Kriminalistik … und im Rappen, was sie auf der Party sowohl ein- wie auch zweideutig unter Beweis gestellt hatte.
Dann war es eben so.
Sie konnte ja nichts daran ändern.
Täte sie aber gerne. Wusste nur nicht, wie.
Die Sonne stand hoch am Himmel und würde auch in dieser Nacht nicht untergehen. Sie versuchte, den Gedanken an ihre Mutter zu verdrängen, die sie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Hedda hatte es nicht gewollt, dass sie kam. Wer in ihren Augen mit der Familientradition brach, sollte sich gefälligst ganz zurückziehen und nicht nur zu den großen Events auftauchen. Wenn Ravna Pech hatte, musste sie sich einen Schlafplatz draußen suchen, zumindest so lange, bis Hedda sie in ihre Hütte lassen würde. Dass sie Ravna hereinbitten würde, stand außer Frage. Aber es war anstrengend und würde eine Weile dauern, bis Mutter und Tochter wieder einigermaßen unbefangen miteinander reden konnten.
Die Barackentür wurde aufgestoßen und Jusse kam heraus.Ein drahtiger Mittvierziger, krummbeinig und wettergegerbt, mit buschig abstehenden Haaren und runden, muskelbepackten Schultern. Die Saison für Flüge war so kurz wie der arktische Sommer, gerade einmal ein paar Wochen. Im Winter, wenn das Thermometer nicht selten unter dreißig Grad minus fiel, ging gar nichts – außer für Rettungsflüge. Jusse war umtriebig, fleißig und geschäftstüchtig. Trotzdem kam er gerade mal so über die Runden. Sein Overall hatte schon bessere Tage gesehen und durch die Baracke pfiff der Wind. Aber der Helikopter war sein ganzer Stolz. Während sein alter Volvo nur noch durch Dreck zusammengehalten wurde, spiegelte sich das Sonnenlicht in den Cockpitscheiben und dem glänzenden Lack des Hubschraubers.
»Bures boahtin«,5 begrüßte er Ravna auf Nordsamisch. »Mo dat manná?«6
»Hei«, erwiderte sie auf Norwegisch, weil gerade ein Paar hinter Jusse auf der knarrenden Holzveranda auftauchte. »Alles okay. Geht’s los?«
Es waren Norweger. Unschwer zu erkennen: Touristen auf ihrem ersten Ausflug ins Gebirge. Neue Schuhe, dünne Windjacken, keine Mützen. Nach zehn Minuten da oben würden ihnen die Ohren abfallen, Hochsommer hin oder her. Aber ohne die beiden müsste Ravna drei Tage durch die Wildnis stapfen oder hoffen, dass irgendein Zwölfjähriger auf seinem Quad sie auflesen und mitnehmen würde. Selbst das war unwahrscheinlich. Sie war spät dran, der Winter war mild gewesen, der Treck der Rentiere hatte sich schon vor ein paar Tagen in Bewegung gesetzt.
»Ravna«, stellte sie sich den beiden vor und streckte der Frau zuerst die Hand entgegen.
»Eina«, erwiderte die Frau.
Sie war noch jung, viel jünger als ihr Mann, der schon graue Haare hatte und aussah, als würde er sich von Jusses Hubschrauber am liebsten irgendwo im Süden auf einem Golfplatz absetzen lassen. »Und das ist Steffen Berger, mein Mann.«
Sie reichte auch ihm die Hand. Er hatte einen unsteten Blick, der ihrem auswich. Die beiden wollten sie nicht dabeihaben, waren aber zu gut erzogen, sich das anmerken zu lassen. In Oslo hätten sie Nein gesagt. Aber hier, in Sápmi, am Ende der norwegischen Welt, wollten sie nicht als Spielverderber dastehen.
»Danke, dass ihr mich mitnehmt.«
Eina lächelte. Sie schien ein offener, unvoreingenommener Mensch zu sein. »Das machen wir doch gerne. Nicht wahr, Steffen?«
Steffen grummelte etwas und lief zu seinem SUV, um den Kofferraum zu öffnen.
»Ihr habt Gepäck dabei?«, fragte Ravna erstaunt.
Das junge Gesicht der Frau, umrahmt von fliegenden blonden Haaren, verschloss sich. »Ja«, sagte sie knapp.
Ravna sah zu Jusse, aber der war schon auf dem Weg zum Heli. Ein Rundflug mit Gepäck? Oder hatten die beiden vor, in der Sommersiedlung zu bleiben? Im Gebirge? In einer unbeheizten Hütte oder einem Lávvu7 mit Birkenreisig auf dem Boden und offener Kochstelle, von der der Rauch direkt durch ein Loch nach oben abzog? In Sommerkleidung?
Steffen holte ein riesiges, flaches Paket heraus und schloss seinen Wagen ab, der das mit einem jaulenden Fiepsen quittierte. Das Paket war fast einen Meter im Durchmesser und eine Ellenlänge hoch. Es war in weißes Papier eingeschlagen, von dem sich eine Ecke gelöst hatte, die im Wind flatterte. Eine Mega-Pralinenschachtel? Ein Hut in der Größe eines Wagenrades? Was zum Teufel wollten sie damit auf dem Fjell?
Jusse hatte bereits die Tür zum Gepäckraum geöffnet. Er half erst der jungen Frau beim Einsteigen. Dann nahm er Steffen das Paket ab und legte es in den Gepäckraum. Ravna stopfte noch ihren Rucksack dazu und hüpfte anschließend auf den Nebensitz. Es war eng, aber sie flog nicht zum ersten Mal mit einem Heli. Hauptsache, die Kopfhörer und das Mikrofon saßen richtig.
Jusse schlug die Türen zu und kontrollierte ein letztes Mal die Verriegelung. Dann umrundete er den Hubschrauber und schwang sich ins Cockpit. Während er die Instrumente prüfte und Funkkontakt mit dem Flughafen Vadsø aufnahm, sah Ravna aus dem Seitenfenster hinunter auf den Fjord.
Sie hatte Lars drei Mal gefragt, ob er mitkommen wollte.
Nach dem dritten Mal fragte man nicht mehr.
2 Samische Bezeichnung für das Siedlungsgebiet der Samen.
3 Gebirgszug im Süden der Varangerhalbinsel.
4 Samische Großfamilie.
5 Sam.: gutes Ankommen; hier: Willkommen!
6 Sam.: Wie geht’s?
7 Samisches traditionelles Zelt, auch Kote genannt. Ein Stativ aus Ästen trägt die Wand aus Rentierfell, in neuerer Zeit auch Leinwand. Es ähnelt entfernt den nordamerikanischen Tipis.
2.
Jusse wusste, was man von ihm erwartete. Der Hubschrauber stieg in einer eleganten Schleife auf und schenkte den Insassen einen erinnerungswürdigen Blick über das Gebirge des Nationalparks. Obwohl die Gipfel nur ein paar Hundert Meter über dem Meeresspiegel lagen und in einem Wettkampf um die spektakulärsten Höhenzüge klaglos untergehen würden, zog sich Ravnas Herz vor Freude zusammen. Das war ihre Heimat, ihr Zuhause: ein steinernes Wellenmeer bis zum Horizont, fast eine Mondlandschaft im schrägen Licht der Nachmittagssonne. Im Norden am Trollfjord schneebedeckt und zerklüftet, zum Süden der Varangerhalbinsel ein sanftes Auslaufen der Berge in grauen Schiefer und hellen Dolomit. Grüne, moosbewachsene Täler, in denen Seen schimmerten wie dunkle Augen, durch die die Erde in den Himmel sah. Eispalast und Schneehölle im Winter, Felslabyrinth, Mückenparadies und Windkanal im Sommer. Schluchten, Höhlen und Felsspalten, in denen sich Geheimnisse versteckt hielten und man nachts das Flüstern der alten Sagen und Legenden hören konnte …
Doch statt direkt in die Berge zu fliegen, drehte Jusse ab und schwebte gemächlich hinunter zur Küste. Ravna wollte schon fragen, warum er das machte, hielt dann aber doch den Mund. Die Bergers hatten die Route festgelegt und wollten offenbar lieber noch mal ans Meer.
Der Hubschrauber ließ die wenigen Häuser von Krampenes links liegen und hielt direkt auf die kleine Vogelinsel Ekkerøy zu. Die wenigen Hundert Meter Höhenunterschied machten sich sofort bemerkbar. Ein schroffes Stück Felsen im eisigen Meer, aber bedeckt mit grünen Wiesen und graubraunen Gräsern, die sich im Wind wiegten. Durchzogen von schiefen Staketenzäunen und Trampelpfaden, mit steilen Klippen und einer zur See hin abfallenden, kleinen Bucht. Eine Schafherde weidete nah am Wasser, wo Gestelle aus Holz zum Trocknen der Fische auf den nächsten Fang warteten. Ravna mochte die Insel. Vage erinnerte sie sich an Familienausflüge zu niedrigen Mauern aus Felsensteinen, einem weiten Sandstrand und Krebse mit Mayonnaise und Toastbrot. Nur einmal, als sie mit ihrer Schwester Inga eine der Höhlen erforschen wollte, waren Rodmar und Hedda energisch geworden.
Rodmar und Hedda, Vater und Mutter, früheste Kindheit. Kratzige Wollstrümpfe, glühende Wangen, salzige Luft. Das Jauchzen, wenn sie in die Luft geworfen und wieder aufgefangen wurde. Heddas leuchtende Augen. Rodmar ein Mann wie der Schatten eines Bären – groß, dunkel, gutmütig. Nach der Trennung – Ravna war vier oder fünf Jahre alt gewesen – hatte es keinen Kontakt mehr gegeben. Was war vorgefallen, dass es wert war, einen Vater zu vergessen?
»Ihkkot«, kam Jusses schnarrende Stimme aus dem Mikrofon. »Das ist der samische Name für die Insel Ekkerøy. Hier liegt eines der ältesten Fischerdörfer der Finnmark. Rund vierzig Einwohner. Es gibt noch Bunker aus der Zeit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg auf der Insel. Die Nazis konnten auf ihrem Rückzug über den Tana-Fluss nicht mehr alles zerstören.«
Dann waren die Schwestern damals vielleicht in einen Bunker gekrochen und nicht in eine Höhle? Ravna fröstelte. Der Gedanke, unterirdisch irgendwo gefangen zu sein, war für sie schlimmer als alles andere.
Jusse machte einen Schlenker, die Schafe hoben die Köpfe und beobachteten den seltsamen Vogel über ihnen. Vor ihnen lag die breite Sandbucht, hineingeschmiegt in die zackige Küstenlinie und flach auslaufend zum Meer. Kleine Häuser duckten sich unter dem Wind. Der Hafen.
»Früher hat man hier Fischöl hergestellt. Die Ölkocher kann man jetzt im Museum sehen, genau wie den Tante-Emma-Laden und die alte Fischfabrik.«
Sonst gab Jusse sich nicht so eine Mühe, schon gar nicht mit Touristen. Aber vielleicht hatten sie einen Sonderpreis ausgemacht, mit Sightseeing von oben und einem Hubschrauberpiloten als Fremdenführer.
»Wollt ihr hier runter?«
Dann war die Zwischenlandung wohl ausgemachte Sache.
»Ja«, kam es, vom Funk zerhackt, von der Rückbank.
Jusse flog eine Schleife, blieb dann in der Luft stehen und ließ den Helikopter sanft auf einem Sandstreifen landen. Es war zu nass, als dass irgendetwas aufgewirbelt wäre. Dennoch war klar, dass ganz Ekkerøy mitbekam, was sich hinter der weit ins Meer ragenden Steinmole tat.
Als die Rotorblätter zum Stillstand gekommen waren, schaltete Jusse die Instrumente ab und verließ das Cockpit. Ravna folgte ihm und half, das Paket mit dem zarten Papier unter ihrem Rucksack herauszuholen, das glücklicherweise nicht zu sehr gelitten hatte. Für seine Größe war das Teil ganz schön leicht. Ihm entströmte ein zarter Duft, auf den sie sich keinen Reim machen konnte. Steffen nahm es ihr ab.
»Wir sind gleich wieder da«, sagte Eina und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Vergebene Liebesmüh, denn der Wind pfiff über die ganze, ungeschützte Insel.
Die beiden stapften davon in Richtung Mole und Hafen. Ravna sah ihnen nach.
»Was wollen die hier?«, fragte sie. »Bringen sie das Paket zum Vogelfelsen?«
Die Klippe war weltberühmt und lockte Touristen aus aller Herren Länder an. Aber Jusse zuckte nur mit den Schultern. Er holte sein Handy heraus, setzte sich auf einen Stein und begann, konzentriert seine Mails zu checken. Oder Candy Crush zu spielen. Oder sich eine Abfuhr bei Tinder einzuholen. Jedenfalls blickte er nicht hoch, und Ravna vertrieb sich schließlich die Zeit bis zur Rückkehr des Ehepaars Berger damit, Tee aus ihrer Thermoskanne zu trinken und die Ketchup-Sandwiches aufzuessen, die eigentlich für den Fall gedacht waren, dass ihre Mutter sie hungernd und frierend erst mal vor die Tür setzen würde.
Dann fiel ihr auf, wie schön dieser Ort war. Ravnas Siida gehörte zu den Gebirgs-Samen. Ihre Heimat reichte bis weit hinauf ins Eis, zum Königs- und Batsfjord. Sie umfasste die Berge und die kristallklaren Flüsse, die Hochplateaus und die kahlen Gipfel, aber nicht den Fjord. Ravnas Leute fischten mit Angel und Speer, im Gegensatz zu den Seesamen, die mit Booten und Netzen aufs Meer hinausfuhren, schutzlos den Wellen ausgeliefert. Obwohl ihre Heimatstadt Vardø von der Barentssee umgeben war, hatte Ravna zu ihr ein eher distanziertes Verhältnis. Einfach auf einem Felsen sitzen und in die Wellen starren, dabei dem Kreischen der Möwen und dem Heulen des Windes zuhören kannte sie kaum. Sie saß lieber windgeschützt in einer Kuhle auf dem sanften Gipfel eines Berges und ließ den Blick in die Weite unter ihr schweifen.
Aber dieses Meer, es hatte was. Wie die Wellen anrollten, eine nach der anderen, und wie ihr Schaum vom nassen Sand aufgesogen wurde. Die Möwen kreisten zu Hunderten in der Luft und stürzten sich dann wie auf Kommando nach unten. Die Luft schmeckte salzig und nass und war so satt vom Meer, man konnte sie fast trinken. Salzmieren und Sternenkraut klammerten sich in den Spalten zwischen den Steinen fest. Die Möwen zeterten enttäuscht – sie hatten Essbares erwartet und nicht diese beiden undankbaren Gestalten neben einem metallenen Riesenvogel.
Ravna war froh über diese geschenkte Viertelstunde, denn sobald sie oben auf dem Fjell eintreffen würde, ging die Arbeit los, und der Varangerfjord war nur noch Teil einer Landschaft in weiter Ferne.
Der Pilot sah von seinem Handy hoch in Richtung Hafen. Die beiden Bergers kamen wieder, ohne das Paket. Vielleicht hatten sie es irgendwo abgegeben? Ein Geburtstagsgeschenk? Ein dringend benötigtes Gut, das man selbst über Onlineshopping nicht so schnell auf diese Insel bekam? Jusse sprang eilfertig auf und ging zum Hubschrauber, wo er von Steffen angesprochen wurde. Ravna bekam nicht mit, um was es ging. Vielleicht wollten die beiden noch über Mortensnes fliegen oder sich ein paar der Sieidi von oben ansehen – ungewöhnlich geformte Steine oder Baumstämme, heilige Stätten, die man als Ortsfremder in dieser gewaltigen, von urzeitlichen Kräften geformten Landschaft kaum zu sehen bekam.
Doch bevor sie fragen konnte, saß Jusse auch schon auf seinem Platz und überließ es ihr, die Tür hinter den beiden zu schließen. Dann hoben sie ab, und Ravna spürte das flaue Gefühl in der Magengegend, wenn man zu schnell die Richtung wechselte. Anders als sie es erwartete, flog er nicht zurück zum Land, sondern erst zum Hafen und dann hinaus aufs Meer. Er ging tiefer. Noch tiefer. So tief, dass sie keine zwei Meter mehr von der Wasseroberfläche und den schäumenden, eiskalten Wellen entfernt waren. Und dann sah sie, was er gesucht hatte: Es war ein Totenkranz.
Gewunden aus weißen Rosen und Lilien schien er auf der Wasseroberfläche zu schweben. Die Flut würde ihn hinaus aufs Meer treiben, vorbei an den letzten Küsten Norwegens und Russlands, vielleicht hinauf in den Norden Richtung Spitzbergen oder zum Cambridge Sund oder zum unbewohnten Alexandra-Land, vielleicht in die Grönlandsee oder noch weiter nördlich in den arktischen Ozean bis zum ewigen Eis. Schnee würde die Rosen bedecken, Eistropfen die Lilien. Ihre Schönheit würde nie verwelken, weil sie eingefroren war. So wie die Erinnerung an den Menschen, dem dieser Kranz gewidmet war.
Nur das atmosphärische Funkrauschen und Knattern drang an Ravnas Ohren. Dann hörte sie ein Geräusch, das sie nicht einordnen konnte. Ein Schluchzen war es vielleicht, oder ein schwerer Atemzug. Sie wusste: Hinter ihr saßen zwei Trauernde.
Jusse wendete den Hubschrauber mit einem fast eleganten Schwung, dann legte er sich quer, was Ravnas Magen an den Rand seiner Fähigkeiten brachte, den beiden hinter ihr aber die Gelegenheit gab, den Kranz auch noch einmal von der anderen Seite aus zu sehen.
Ein leises »Danke« kam von Eina und endlich legte sich der Helikopter wieder gerade. Ravna atmete auf und verwünschte die Ketchup-Sandwiches. Der Rest des Fluges verlief schweigend.
Was durch die Luft keine zehn Minuten dauerte, wäre zu Fuß ein Elend gewesen, vor allem mit dem Rucksack. Mittlerweile benutzten alle Rentierzüchter Enduros – leistungsstarke Motorräder – um hinauf in die Berge zu kommen, oder Quads. Früher waren Ravna und ihre Schwester Inga bei ihrer Mutter mitgefahren. Zwei, drei Stunden wie bei einem Rodeo: die bockenden Räder, die aufspritzenden Steine, das Brüllen des Motors, wenn er schier unüberwindliche Steigungen in Angriff nahm. Aber Heddas Anruf war dieses Jahr einfach zu spät gekommen.
»Ich kann den Rentieren nicht befehlen, auf meinen Handyempfang Rücksicht zu nehmen«, hatte ihre Mutter auf Ravnas Beschwerde scharf erwidert. »Ich bin nur kurz runter in die Sommerhütte, um eine neue Gaskartusche zu holen. Sie haben sich jetzt endlich in Bewegung gesetzt und vielleicht kannst du das auch tun.«
Peng, aufgelegt. Ravna hatte in fliegender Hast ihre Siebensachen zusammengesucht und auf dem Weg zum Flughafen gerade noch Lars erwischt. Er wusste, dass sie Stand-by war und auch schon in der Polizeihochschule Bescheid gesagt hatte – kalvmerking-Urlaub, sorry, meine Familie braucht mich …
Noch immer keine Nachricht von ihm. War sie vielleicht zu kurz angebunden gewesen? Lieber hätte sie sich die Zunge abgebissen, als Turid zu erwähnen. Aber zumindest sich selbst gegenüber musste sie zugeben, dass sie eifersüchtig war.
Sie schoss ein Foto – gerade flogen sie über den Vasavannet, einen See, der von vielen kleinen Flüssen aus dem Gebirge gespeist wurde. Die Rotorblätter des Hubschraubers ließen die Wasseroberfläche zittern. Die Sonne lugte kurz hervor, brach sich in den Wellen und reflektierte das Licht.
Dort, wo die Flüsse entsprangen, lag die samische Sommersiedlung von Ravnas Renbeitedistrikt8: kaum ein Dutzend kleine Holzhütten, ohne Strom und fließendes Wasser.
Samen waren ein hartes Leben gewohnt und dennoch verschloss kaum jemand die Augen vor dem Fortschritt. Aber die Rentiere, die zogen immer noch übers Land wie seit Tausenden von Jahren. Der große Treck im Frühjahr, das Kalben, das Markieren der Tiere im Sommer, die Schlachtung im Herbst, der Zug auf die Winterweide – daran änderten auch die modernen Zeiten nichts. Sie machten die Sache nur schwieriger. Straßen durchzogen die Tundra. Windräder blockierten die Stellen, an denen die Rentiere ihre Kälber zur Welt brachten. Neue Erzvorkommen wurden erschlossen. Die Welt griff mit gierigen Fingern nach den letzten unberührten Reserven der Natur. Jagd- und Fischereilizenzen wurden vom Staat an den Meistbietenden verhökert. Die Samen wehrten sich, bekamen teilweise Recht, aber Hass und Rassismus flammten wieder auf. Ravna konnte verstehen, dass viele dem Staat und der Welt enttäuscht den Rücken kehrten. Auch sie rechnete damit, angefeindet zu werden. Ravna Persen, Student der Polizeihochschule Oslo. Für manche ihrer Leute hatte sie die Seiten gewechselt.
Jusse zog den Hubschrauber noch einmal hoch, denn jetzt überquerten sie einen hügeligen Gebirgszug, überzogen vom samtigen Grün der Moose und Flechten. Der letzte Schnee verschwand. Schimmernd wie geschmolzenes Blei durchzogen Bäche und Flüsse das Gelände bis hinunter zum Fjord.
Nun flogen sie über das Nattfjelldalen, das Tal der Nachtberge: eine dunkle Schlucht, in deren Grund, gespeist von einem Wasserfall, ein brodelnder, schäumender Fluss seinen Weg durchs Gebirge grub. Und noch höher hinauf: über den Gebirgspass des Ordofjell und die einzige Ost-West-Verbindung der Halbinsel, eine Schotterpiste, die man im Winter nur in Kolonne zu festgelegten Abfahrtszeiten passieren durfte. Ravnas Blick schweifte über die bizarren Felsformationen und Klippen zurück zum Fjord und bis zur russischen Fischerinsel.
Und dann sah sie sie.
Erst einzeln. Dann in Gruppen. Dutzende. Hunderte. Tausende. Die Rentierherden zogen über die Tundra. Angetrieben von einem Instinkt, der älter war als jedes Menschendenken, sammelten sie sich nach dem langen Winter und machten sich auf den Weg Richtung Süden. Ihre Route würde um den Fjord herum bis in die Gegend um Kirkenes führen. Und, bei dieser Gelegenheit, auch in die Gerden ihrer Besitzer. In den riesigen, kreisrund eingezäunten Flächen wurden die Kälbchen markiert und gezählt, damit jede Renzüchterfamilie wusste, wie viel Zuwachs ihre Herde in diesem Frühling bekommen hatte.
Ravnas Herz begann vor Freude zu jagen. In Jusse hingegen erwachte der Hirte: Er ließ den Hubschrauber sinken und trieb damit ein paar Nachzügler und Ausreißer zurück zu ihrer Herde. Zwei Minuten später erreichten sie eine flache Ebene, auf der einige Holzhütten und ein paar Lávvus standen: die Sommersiedlung. Niemand war zu sehen, und auch nach der Landung sah es so aus, als ob die kleinen Häuser verlassen wären.
Doch das täuschte. In fiebernder Ungeduld wartete Ravna darauf, dass die Rotorblätter endlich langsamer wurden und Jusse das Kommando zum Abschnallen gab.
»Danke!«, rief sie und setzte dann die Kopfhörer samt Mikrofon ab. Jusse nickte nur. Die Bergers blieben sitzen. Ihr Flug war kein touristisches Unternehmen gewesen, das war spätestens seit dem Totenkranz im Meer klar. Und da keiner, auch Jusse nicht, etwas zur Erklärung beisteuern wollte, hob Ravna nur die Hand zu einem kurzen Gruß, holte ihren Rucksack und lief dann geduckt aus der Reichweite der Rotorflügel. Jusse startete, und unter ohrenbetäubendem Lärm stieg der Hubschrauber wieder auf und flog zurück nach Krampenes.
Ravna schulterte den Rucksack und atmete tief durch. Sie war wieder da. Und sie wusste nicht, was sie erwartete.
8 Weidebezirk der Rentiere. Bei den Fjellsamen ist dies der Distrikt 5 und 6, die Varangerhalbinsel.
3.
Die Tür zu Heddas Hütte klemmte. Erst dachte Ravna, ihre Mutter hätte abgeschlossen – ein Unding unter Samen. Aber dann schaffte sie es doch, die Tür mit einem Ruck zu öffnen. Ihr schlug ein Geruch nach Holz und geräuchertem Schinken entgegen. Durch zwei winzige Fenster, die im Winter zusätzlich mit Brettern zugenagelt wurden, damit der Schnee sie nicht eindrückte, drang etwas Licht ins Innere auf die karge Einrichtung, zu der sich Hedda hatte durchringen können.
Ravnas Mutter war Traditionalist, in jeder Hinsicht. Einem Radio hatte sie noch zugestimmt, auch einem kleinen Gaskocher. Mehr einundzwanzigstes Jahrhundert kam ihr nicht in die Hütte. Den Boden bedeckten Rentierfelle, ebenso wie das schmale Bett in der Ecke, wo sie die harten Birkenreiser, mit denen es gepolstert war, etwas bequemer machten. An der Wand hingen kleine Beutel aus Rentierleder, in denen Zucker und Kaffee aufbewahrt wurden. Ein rot kariertes Wolltuch, das Čea betliidni, das sie sich umband, wenn es kälter wurde, und ihre mit Stickereien verzierte, vom vielen Tragen blank gewienerte Tasche, in der sie Schlüssel, Geld und Ausweis aufbewahrte. Ravna strich mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche und griff dann zu einer Kette, auf die sich Fremde keinen Reim machen konnten, die aber das Wichtigste im Leben eines samischen Rendrifters9 war: winzige, gleich große, getrocknete Lederstückchen, aufgefädelt auf eine Schnur. Ravna nahm die neuste in die Hand: Die Schnitte waren noch nicht getrocknet, etwas Blut blieb an ihren Fingern kleben. Es waren die kleinen Teile aus dem Ohr der Kälbchen, die zum Markieren herausgeschnitten und gesammelt wurden. Jedes Lederläppchen bedeutete ein Tier mehr in der Herde.
Sie verstaute den Rucksack in die Ecke neben dem kleinen Holzherd. Es war kalt, keine zehn Grad. Nachts würde die Temperatur fast bis zum Gefrierpunkt sinken. Deshalb hatte sie auch ihren Schlafsack mitgenommen. Den größten Teil des Gepäcks bildete leicht zu trocknende, wärmende Wäsche. Sie holte ihre Wasserflasche heraus, trank einen Schluck und schüttete den Rest vor der Tür auf den Boden. Leitungswasser vom Flughafen Kirkenes. Sie würde die Flasche an einem der glasklaren Bäche und Seen wieder auffüllen.
Die Ungeduld, die sie bis jetzt so gut unter Kontrolle gehalten hatte, verstärkte sich. Auspacken konnte sie später, wenn Hedda entschieden hatte, wie sie mit ihrer verlorenen Tochter umgehen wollte. Doch statt die Hütte zu verlassen, setzte sich Ravna auf das Bett. Sie spürte die Reisige unter der dünnen Unterlage und fragte sich, warum Hedda nicht nur zu anderen, sondern auch zu sich selbst so hart war. Als ob sie sich und die Welt für etwas bestrafen wollte und diese Lebensart, der sie sich verschrieben hatte, eine Art Pilgerpfad auf dem Weg zu etwas Erstrebenswerterem war, das jenseits von Bequemlichkeit und Zerstreuung lag.
Wie anders Léna doch mit der Vergangenheit umgegangen war … Ravnas Urgroßmutter war im Winter in den Schnee gegangen. So umschrieb man das, was passiert war. Damit war alles gesagt. Sie kehrte nicht wieder zurück. Es war, wie ihr ganzes Leben und Streben, so irrational und falsch es vielleicht in vieler Augen aussehen mochte, ihre Entscheidung gewesen. Eine konsequente, willensstarke, liebende Frau. So liebend, dass es bestimmt auch als Ausgleich hatte dienen müssen für Heddas schroffes Wesen. Ravna schloss die Augen und erinnerte sich an Lénas Gesicht mit den tausend kleinen Fältchen. An den Sommerwein, ihren Joik10, und an die Trommel, die sie an ihre Urenkelin vererbt hatte. Sie lag, eingeschlagen in weiches Leder, unter Ravnas Bett in ihrer kleinen Wohnung in Vardø.
Der Gedanke, dass sie sich die Miete eigentlich nicht leisten konnte und sie sie aufgeben sollte, wenn sie die nächsten drei Jahre auf der Hochschule in Oslo blieb, ließ sie unruhig werden und aufstehen. Es standen so viele Entscheidungen an. Lars, Vardø, die Trommel, ihre Zukunft … dafür war es in diesen vier Wänden einfach zu eng. Außerdem näherte sich von ferne ein Geräusch, das sie kannte. Sie holte ihre Messer11 aus dem Rucksack, hängte sie an den Gürtel und trat hinaus.
Das Hochplateau, auf dem sich die Sommersiedlung befand, war groß wie zwei Fußballfelder und eingerahmt von Hügeln und Hängen, die es etwas gegen den Wind schützten. Und über einen Hügel kam aus Nordost das laute, wütende Aufbrüllen eines Motors. Ein ATV12 quälte sich über die Böschung und preschte dann mit großer Lust am Querfeldeinfahren unter aufspritzenden Fontänen von Steinchen, Moos und staubfeiner Erde herunter, fuhr eine Wende und kam vor Ravna zum Stehen. Die stand mit verschränkten Armen vor Heddas Hütte und verzog keine Miene.
»Issko«, sagte sie nur.
Ihr Onkel grinste über beide Backen und stieg breitbeinig ab, als wäre sein Quad ein Wildpferd, das er gerade gezähmt hatte. Dann kam er auf sie zu und drückte sie an seine Heldenbrust.
»Ravna. Uhca nieida!13« Er trug eine Lederjacke und darunter ein Hoodie. Auf dem Kopf ein Bandana, das nach vielen durchgeschwitzten Rockkonzertnächten aussah, um die Hüften ziemlich teure silberbeschlagene Gürtel und Lederhosen. Wie ein verkleideter Rockstar, der mit vierzig aussehen wollte, als wäre er gerade von der Schule geflogen. Bis zum Hals tätowiert, was man dank seines Rollkragens nicht sah, aber mit den teuersten Messern am Gürtel und einem Lasso auf der Rückbank. Früher hatte er es ordentlich krachen lassen und angeblich hatte er sogar einmal im Gefängnis gesessen. Bagatellen nannte er das. Jugendsünden. Man muss wissen, wann man damit aufhört.
Sein rundes Gesicht trug Spuren eines ungesunden Lebens mit zu viel Bier und zu wenig frischer Luft. Doch die braunen Augen blitzten vor Wiedersehensfreude, als er sie losließ und von oben bis unten musterte.
»Bist du dicker geworden?«
Sie wollte ihm aus Spaß in die Magengrube boxen, aber er fing ihre Faust ab und hielt sie fest. »Die füttern dich zu gut.«
Ravna befreite ihre Faust und schüttelte die Hand. Isskos Griff war eisenhart.
»Wo ist Hedda?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
»Bei den anderen in der Gerde. Wir müssen die Zäune ausbessern, letzte Nacht sind ein paar durchgebrochen. Komm.«
Er stieg auf sein Quad, Ravna nahm direkt hinter ihm Platz, und los ging es mit Gebrüll. Sie spürte den Wind in den Haaren und die PS unter ihrem Hintern. Die Räder fraßen sich den Hang hinauf, und oben wehte sie eine Sturmbö fast vom Sitz, aber es war genauso herrlich wie früher.
Die Gerde stand in einer natürlichen Mulde. Ein Rondell, nur an einer Seite geöffnet, um die Tiere hineinzutreiben und nach der Markierung wieder in die Freiheit zu entlassen.
»Gestern Nacht waren es tausendfünfhundert!«, brüllte Issko. Der spärliche Boden war aufgewühlt von den Tritten der Tiere, die längst verschwunden waren, um Platz für den nächsten Schwung zu machen.
»Ich hab sie gesehen«, schrie Ravna gegen den Wind und den Motorlärm. »Jusse hat welche zusammengetrieben!«
»Wir dachten uns schon, dass du das bist mit dem Heli.«
Er gab Gas und fuhr die Gerde entlang zur Öffnung. Gut dreißig Männer, Frauen und Kinder waren versammelt, hämmerten die Pflöcke fest, besserten Löcher im Zaun aus oder standen um eine kleine Feuerstelle herum, auf der schwarz verrußte Kannen standen, mit denen der Kaffee zubereitet wurde. Der Geruch nach Feuer und Rauch lag in der Luft, nach Tier und Moos und Diesel. Ravna atmete tief durch. Wie hatte sie das alles vermisst!
Vor dem Eingang zum Gehege bremste Issko ab und parkte sein Quad neben den anderen. Ravna stieg ab und wurde sofort lautstark von einer Gruppe Kinder begrüßt, allen voran ihre beiden Neffen.
»Ravna!«
Die kleine Sárá war um mindestens einen Kopf in die Höhe geschossen. Ihr Bruder Eidnár sah mit seinen elf, zwölf Jahren, die er mittlerweile alt sein musste, fast schon erwachsen aus. Er ließ ihre Umarmung ungeduldig über sich ergehen und wandte sich dann direkt an seinen Vater Issko: »Darf ich fahren?«
Issko strubbelte ihm durch die Haare. »Wir üben lieber noch mal zusammen.«
Ravna befreite sich aus den Armen der Kleinen, um eine schlanke Frau mit dunklem Pferdeschwanz zu begrüßen: Yárá, Isskos Frau und Mutter der beiden Kinder. Im Gegensatz zu ihrem Mann trug sie sichtbar teure Outdoorkleidung vom Feinsten: tiefschwarz mit silbern schimmernden Reißverschlüssen und Stiefel aus feinstem Wildleder. Sie mussten ein Vermögen gekostet haben, und alles an ihr wirkte etwas overdressed, wenn man bedachte, welche Drecksarbeit ihnen bevorstand. Aber vielleicht verzog sie sich ja auch am Abend in die Hütte und ließ die anderen schuften. Ravna kannte sie kaum, denn die Besuche des Persen-Clans aus dem Süden rund um Kirkenes waren selten.
»Es ist eine Ewigkeit her, seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben!«
Yárá schenkte ihr eine herzliche Umarmung, die Ravna verblüfft erwiderte, weil sie eine Beziehung vorgab, die nicht existierte.
»Juvven ist auch da.« Sie trat einen Schritt zurück und musterte Ravna, wie ihr schien, mit einem prüfenden Blick. »Schön, dass du kommen konntest.«
Als ob Yárá sie persönlich eingeladen hätte. Oder besser: als ob Yárá das Recht hätte, Ravna hierher einzuladen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Yárá das letzte Mal hier oben aufgetaucht war. Ein flüchtiger Ärger begleitete diesen Gedanken. Um sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen, drehte sie sich um und sah zu ihrem zweiten Onkel.
Juvven war etwas jünger als Issko. Er und Hedda sahen sich ähnlich, als wären sie Zwillinge: der gleiche, aufrechte Gang, dieselben dunklen, glänzenden Haare, die ein rundes Gesicht umrahmten. Er stand mit einer Gruppe Rendrifter abseits und nickte nur kurz in Ravnas Richtung. Sie würden sich später begrüßen.
Bevor Ravna sich wundern konnte, warum die gesamte Persen-Familie mit Kind und Kegel in der Gerde aufgetaucht war, hatte sie ihre Mutter entdeckt. Sie stand zusammen mit Torbjørn Skjelsbæk am anderen Ende des Rondells mit dem Rücken zu den Neuankömmlingen, als ob es sie überhaupt nicht interessieren würde, dass ihre Tochter gerade eingetroffen war, und reparierte ein Loch im Zaun. Ravna spürte einen kleinen Stich ins Herz, aber sie hatte es ja gewusst: Ihre erste Rückkehr als Polizist würde schwierig werden.
Auf dem Weg über das Gelände zu Hedda grüßte sie nach links und rechts. Die Nystøs waren da, die Ragnarssons, die Bruhaugs und noch viele mehr – alle aus Heddas Renbeitedistrikt. Einige fehlten. Rássmos’ hagere Gestalt tauchte nirgendwo auf. Auch Jonne Trygg, mit dem sie fest gerechnet hatte, war nirgends zu sehen. Vielleicht hatten sie ihre Kälber schon in der letzten Nacht markiert und waren wieder abgezogen. Es würde zu ihnen passen. Die reichen Tryggs und die bitterarmen Rássmos hatten mehr gemeinsam, als sie wahrhaben wollten: Die Gemeinschaft der Siidas war ihnen herzlich egal.
Bekannte Gesichter aus vielen gemeinsamen Jahren tauchten auf. Grußworte und witzige Bemerkungen flogen zu ihr, und sie erwiderte sie etwas lauter als sonst, damit ihre Mutter auch hörte, dass sie eingetroffen war.
»Hedda?«
Torbjørn entdeckte sie als Erster. Er richtete seine hünenhaften fast zwei Meter auf und grinste über sein Wikingergesicht. Alle zogen ihn damit auf, dass eine seiner Ahnen wohl mal mit einem Walfänger durchgebrannt war. Der rote Bart und das strohige Nest aus Haaren auf seinem Charakterschädel könnten diesen Schluss durchaus zulassen. Er konterte gerne, dass er der einzige echte Same weit und breit wäre und die anderen nur aus einer Paarung mit Trollen entstanden seien.
»Bures, bures«, brummte er ihr auf Samisch entgegen und deutete auf das Loch im Zaun. »Wir müssen das zukriegen bis heute Nacht.«
Ihre Mutter drehte mit einer Zange gerade zwei dicke Drähte zusammen. Immerhin stand sie nun auf und drehte sich zu ihrer Tochter um.
Ravna erschrak. Heddas dichte, braune Haare waren von Grau durchzogen, und die Fältchen, die in den letzten Jahren in ihrem Gesicht aufgetaucht waren, hatten sich mittlerweile tief eingegraben. Sie war nie eine lebensfrohe Natur gewesen, aber der Blick, mit dem sie ihre Tochter musterte, war enttäuscht. Nicht unbedingt von der Person, die vor ihr stand. Eher vom kaputten Zaun, den vielen Neuankömmlingen, dem Lauf der Dinge und der Summe aller Erwartungen in ihrem Leben, die sich nicht erfüllt hatten. Ravna war nur eine gescheiterte Hoffnung von vielen, aber das machte es auch nicht besser.
»Ich bin wieder da«, erklärte Ravna überflüssigerweise.
Hedda schnaubte. »Mit denen. Ich hab’s mir schon gedacht.«
Mit denen meinte sie ihre beiden Brüder. Sie wandte sich wieder dem Zaun zu und ging in die Hocke.
Ravna hätte nichts anderes erwarten dürfen. Aber sie hatte es trotzdem getan und spürte den Stich im Herzen, den diese rüde Begrüßung hervorrief.
Torbjørn sah jetzt auch hinüber zum anderen Ende der Gerde, wo Issko seinem Sohn gerade irgendwas am Quad erklärte. Der Kleine hörte nur mit halbem Ohr zu und wartete hibbelig darauf, dass er endlich aufsteigen konnte. Juvven hingegen stand entspannt am Zaun gelehnt und plauderte mit den Ragnarssons, Vater und Sohn. Der Sohn, Odd, schielte etwas zu hungrig zu Ravna hinüber. Sie wandte schnell den Blick ab, um ihn nicht zu ermuntern, zu ihr zu kommen. Er war zehn Jahre älter als sie und noch immer auf der Suche.
»Gute Reise gehabt?«, fragte Torbjørn.
»Danke. Ich bin eben erst angekommen. Wo ist Malin?«
Malin war Torbjørns Tochter.
»Bei den Großeltern. Sie hat Schule.«
Irgendetwas riet Ravna, nicht weiter zu fragen. Schule war noch nie eine Entschuldigung gewesen für eine Renzüchtertochter, die Kälbermarkierung zu verpassen. Es gab andere Gründe, aber die gingen sie nichts an.
Torbjørn verstaute seine Zange am Gürtel. »Wie gehts in Oslo?«
»Gut.«
»Haben sie dich noch nicht aus dem Wohnheim geworfen, weil du auf dem Balkon deinen Gurpi14 gegrillt hast?«
»Nein«, lachte Ravna. »Ich mach das immer mit einem halben Rentier.«
Torbjørn hieb ihr auf die Schulter. »Sauber. So will ich das haben, Mädel.«
Damit stapfte er davon. Mit einem Gang, der wirklich mehr an einen Seemann erinnerte als an den eines Läufers und Jägers.
Ravna hockte sich neben ihre Mutter. Hedda trug Trekkinghosen, die im Gegensatz zur Hochglanzausrüstung ihrer Brüder schwer beansprucht worden waren, und einen dicken Pullover aus Wolle. Darüber den uralten, zerschlissenen Kolt – einen mit bunten Bändern verzierten Überwurf. Ihre Stiefel waren aus Rentierleder mit der typischen, nach oben gebogenen Spitze, damit man im Winter nicht aus den Schneeschuhen rutschte. Dort, wo das Leder noch nicht völlig abgenutzt war, schimmerte es dunkelbraun vom jahrelangen Wienern mit Talg.
»Jusse hat mich raufgebracht.«
»Es war nicht zu überhören. Du weißt, dass ich gegen Hubschrauber hier oben bin.«
Hedda kniff ein neues Stück Draht von einer Rolle ab. Ihre Hände steckten in zerfransten Handschuhen, von denen sie die Finger abgeschnitten hatte.
»Es war ein Rundflug mit Touristen.«
Wieder ein Schnauben. Hubschrauber und Touristen rangierten ungefähr gleich hoch in der Achtung ihrer Mutter. Für eine Sekunde blitzte der Kranz im Meer vor Ravnas innerem Auge auf. Aber jetzt war nicht der Moment, von der Begegnung mit dem trauernden Ehepaar zu erzählen.
»Und er hat ein paar Streuner zurückgetrieben«, setzte Ravna hinzu. »Ich war in deiner Hütte und dann ist Issko aufgetaucht. Warum ist er hier? Und dann auch noch mit Juvven, Yárá und den Kindern?«
Hedda wand das Drahtstück um die aufgerissene Stelle im Zaun. »Drei Mal darfst du raten. Weil sie was wollen.«
»Und was?«
Das Drahtende löste sich und sprang federnd zurück in seine ursprüngliche Form. Hedda fluchte, fing es ein und montierte es noch einmal.
»Warum interessiert dich das überhaupt? Du hast doch mit alldem nichts mehr zu tun.«
»Ich hab was mit dir zu tun.«
Hedda presste die Lippen aufeinander. Ravna wollte nach der Drahtzange greifen und ihr helfen, aber schon hatte ihre Mutter sie zurückgezogen.
»Wir beide sind die letzten Persens«, sagte Ravna leise. Diese ewigen, kleinen Zurückweisungen nervten. »Ich finde schon, dass ich dir helfen kann.«
»Das sind wir nicht. Issko und Juvven gehören auch zur Siida.«
»Aber sie sind keine Rentierzüchter.«
»Oh, dann hör dir mal an, was sie zu sagen haben! Juvven hat im Süden einen samischen Touristenpark aufgemacht. Mit Übernachtung im Lávvu und Rentierstreicheln im Gehege. Und Issko steckt mit den Skoltsamen15 unter einer Decke, die die Jagd- und Fischereirechte höchstbietend verkaufen wollen. Und beide zusammen wollen, dass wir Norwegern, Schweden, Finnen und jedem Dahergelaufenen erlauben, Rentiere zu züchten.«
»Was?«
Ravna spähte zu den beiden, von denen gerade die Sprache war. »Du hast ihnen hoffentlich gesagt, dass das nicht infrage kommt.«
Hedda arbeitete verbissen, um das Loch im Zaun zu stopfen.
»Das hast du doch, oder? Du bist der Boss.«
Hedda schwieg. Ravna reichte es jetzt. Sie nahm ihrer Mutter einfach die Zange aus der Hand.
»Was zum Teufel geht hier vor?«
Hedda stand auf und wischte sich die Hände an ihrer Hose ab. Zum allerersten Mal bemerkte Ravna einen Hauch Unsicherheit bei ihr. Sie wusste nicht, was beunruhigender war. Das Hedda Schwäche zeigte oder die wahnwitzige Idee, die Rentierzucht auch Nicht-Samen zu erlauben.
»Heute Abend gibt es einen Familienrat. Wir stimmen ab, ob ich weiter Clanchef bleibe.«
»Nein.« Fassungslos kam Ravna auf die Beine. »Issko und Juvven sind keine Rendrifter! Das bist du, du allein! Du bist das Oberhaupt der Persens!«
Ein spöttisches Lächeln nistete sich in Heddas Mundwinkel ein. »Und wer sagt das? Du? Mein einziges Kind, das mir noch geblieben ist und nun ein norwegischer Polizist wird?«
»Ich werde verdammt noch mal ein samischer Polizist!«
Doch Hedda wandte sich ab und stapfte davon. Ravna steckte die Zange an den Gürtelkarabiner und warf sich die Rolle mit dem Draht über die Schulter. Sie atmete tief durch, dann lief sie, ohne nach links und rechts zu sehen, über die Gerde auf ihre beiden Onkel zu. Issko checkte als Erster, dass etwas nicht stimmte. Er stellte sich vor sein Quad, als ob Ravna vorhaben würde, es an der nächsten Felswand zu schreddern. Juvven riss sich hastig von den Ragnarssons los und gesellte sich mit verschränkten Armen zu seinem Bruder. Mit einer Kopfbewegung scheuchte der die Kinder fort. Yárá nahm sie unter ihre Fittiche und zog sie aus der Gerde hinaus, um sich mit ihnen auf den Weg zu den Hütten zu machen. Oder um einfach nicht im Weg zu sein, wenn es unter den Persens zur Sache ging.
Zwei Meter vor den beiden blieb Ravna stehen. In ihr brodelte es.
»Ihr wollt den Clan?«, fragte sie lauernd und warf die Drahtrolle vor sich auf den Boden, als wäre sie ein Fehdehandschuh.
Juvven ließ die Arme sinken und trat zwei Schritte vor. »Ravna, lass uns doch alle erst mal in Ruhe darüber reden.«
»Worüber?«
»Das wird Hedda doch alles zu viel. Sie schafft das nicht mehr. Du hast das all die Jahre nicht mitbekommen, weil du und Inga in Vardø bei deiner Urgroßmutter Léna aufgewachsen seid. Das ist ja auch nichts Schlimmes, das machen ja viele so. Du hast die Schule besucht und bist jetzt Student. Aber Inga ist … sie ist nicht mehr bei uns, und du bist im Staatsdienst. Damit steht Hedda alleine da.«
Ravna biss die Zähne zusammen. Obwohl so viel Zeit seit dem Tod ihrer Schwester vergangen war, wäre sie Juvven am liebsten ins Gesicht gesprungen. Und Issko gleich dazu. Ihr Timing war nicht schlecht, das musste man ihnen lassen. Wahrscheinlich hatten sie damit gerechnet, Hedda alleine anzutreffen und zu überstimmen. Pech für sie, dass Ravna aufgetaucht war. Damit stand es zwei gegen zwei. Wenn Yárá nicht wäre. Sie würde sich mit Sicherheit auf die Seite ihres Mannes schlagen.
»Sagt bloß, ihr beide wollt Heddas Job übernehmen?«
Issko, der bis jetzt an seinem tollen Quad gelehnt hatte, stieß sich ab und kam nun auch auf Ravna zu. Die anderen Züchter in der Gerde bekamen mit, dass bei den Persens der Haussegen schief hing, und hielten sich auf Abstand.
»Natürlich nicht«, sagte Issko. »Sie kann alles genau so machen wie bisher. Nur Chef des Clans werde in Zukunft ich sein.«
»Du«, sagte Ravna und ließ den Blick über seine abgehalfterte Rockerkluft gleiten. »Warum?«
»Können wir das nicht heute Abend klären?«
»Ich will es jetzt wissen.«
Hinter dem lächerlichen Bandana über seiner Stirn arbeitete es. Ravna war ein ebenso vollwertiges Mitglied des Clans wie er, auch wenn es ihm nicht gefiel. Ihre Stimme hatte Gewicht.
»Du siehst doch selbst, dass es so nicht weitergeht. Soll sie enden wie Léna, die noch mit über achtzig auf den Sommerweiden dabei war?«
Wieder ein Stich ins Herz. Die beiden hatten keine Ahnung, wer und was ihre Urgroßmutter gewesen war.
»Du meinst, sie soll das alles hier aufgeben?«, fragte sie gefährlich ruhig. »Weil ihr euch dann um die Tiere kümmert, weil ihr das halbe Jahr draußen auf dem Fjell verbringt und ihr sie schlachtet und vermarktet?«
»Ravna …«
»Das ist Bullshit. Ihr benutzt eure Messer doch nur, um einen Hamburger damit zu zerteilen. Ich will wissen, was ihr wirklich im Schilde führt.«
»Ach, lernst du das jetzt, solche Fragen zu stellen?«, mischte sich Juvven jetzt ein, dem es tierisch auf den Geist ging, dass Ravna ihn keines Blickes würdigte. »Du bist bei den Bullen und arbeitest für den Staat. Was hast du hier eigentlich noch zu suchen?«
»Und du?« Ravna drehte sich zu ihm um. »Musst du nicht deinen Touristenbussen die Parkplätze zuweisen?«
Juvvens Augen verengten sich. »Willst du mir vorschreiben, wie ich mit unserer Kultur umgehe?«
Ein schrilles, wütendes Motorgeräusch näherte sich, und im nächsten Moment schoss ein Dirt Bike über den Hügel, auf ihm ein echter Könner. Es flog ein paar Meter durch die Luft, landete federnd und bretterte auf die Gerde zu. Die Bremsung erfolgte mit einem solchen Schwung, dass eine Fontäne von Steinchen aufflog und der Fahrer sich fast auf die Nase legte.
Es war Ove aus der Nystø-Familie. Keine vierzehn Jahre alt, ein flinker Junge mit unglaublicher Körperbeherrschung, der den drohenden Sturz gerade noch abfing. Sein großer Held warAilo Gaup, der samische Iceman, ein Freestyle-Motocross-Held, der mit Schneemobilrennen begonnen hatte und als Erster einen