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Reaktanz - das ist der Blindwiderstand, den Menschen empfinden, wenn sie sich in ihrer Freiheit beschränkt oder bevormundet fühlen. Zack, schon schwillt der Hals, und das innere "Dagegen!"-Schild geht hoch. Kennt jede-r - doch dass die vermeintliche Bockigkeit viel mehr kann, wissen nur wenige. Wer es versteht, Reaktanz als Frühwarnsystem und Gerechtigkeitssensor zu erkennen und zu nutzen, kann alle zwischenmenschlichen Begegnungen, Meetings, Entscheidungen und Neuerungen stressfreier, effektiver und gerechter gestalten und ungeahnte Kreativität und Gruppenklugheit entfalten. Die bekannte Moderatorin Carmen Thomas hat die Dynamik der Reaktanz in vielen Facetten erforscht. In diesem Buch teilt sie unterhaltsam und humorvoll ihre Erfahrungen und Erkenntnisse aus 50 Jahren voller kniffliger Themen, gegensätzlicher Meinungen und schwieriger Situationen: - 7 Schlüssel-Sätze für ein besseres Miteinander - 10 handfeste Tools, mit denen jede Begegnung stressfreier und lösungsorientierter wird
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Seitenzahl: 213
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Carmen Thomas
Reaktanz – Blindwiderstand erkennen und umnutzen
7 Schlüssel für ein besseres Miteinander
Inhalt
Prolog
Ein Feldversuch in Sachen Reaktanz
Einführung: Reaktanz, was ist denn das?
Wer hat sich die Reaktanz überhaupt ausgedacht?
Grüße aus dem Neanderthal
Emotionale Bevormundung
Was Reaktanz kann
7 Schlüssel zum besseren Miteinander
Live aus Dublin ohne Ahnung oder: Wie alles anfing
1. Schlüssel:
Zulassen statt zumachen. Offenheit bringt weiter
Vom Zumachen vor dem Zulassen
Zulassen – das Abenteuer beginnt
Schräges zulassen als Motor der Kreativität
Den richtigen Dreh finden
Tool 1 „Türöffner“ als „Vergissmeinnichte“
Zulassen als Ausweg in Extrem-Situationen
Tool 2 Redezeiten rationieren mit dem Handy-Timer
Begrenzendes Zulassen
Zwischenruf:
„How words can change the world“ oder: Von der Macht der Sprache
Am Beispiel Reaktanz erzeugen: Gender-gerechte Sprache
Reaktanz senkende Sprache
2. Schlüssel:
Addieren statt konkurrieren. Systematisch Gruppen-Klugheit entfalten lernen
Eine Einsicht, die alles veränderte
Das Schlüssel-Symbol für alle Fälle
Tool 3 „1‘-Eskimo-Stormen“: Ideen erzeugen in einer Minute
Wie das Addieren neue Einsichten in Sachen Reaktanz schafft
Tool 4 Die Eierbecher-Runden-Kommunikation
3. Schlüssel:
Verwerten statt bewerten. Wie geht’s beim nächsten Mal (noch) besser?
Zwei Seiten einer Medaille
Tool 5 Der Janus-Klärer
Wie Verwerten weiterführen kann
Tool 6 Das „Dreiecks-Prinzip“ als Entstress-Geheimnis
Tool 7 Mein klarer schneller Weg zur Sache: Vistem
4. Schlüssel:
Umnutzen statt runterputzen. Begeisterung wecken
Wie jedes Thema spannend werden kann
Tool 8 Kränkungsfrei Feedback geben und annehmen
5. Schlüssel:
„Interessiert mich“ statt „Kenn’ ich“. Sich selbst aufschließen.
Den Innovations-Funken entfachen
6. Schlüssel:
Ahhh statt Oooh. Wenn Fehler zu Aha-Erlebnissen werden
Aus Fehlern klug werden
Tool 9 Machtvoll ohne Worte: Reaktanz vermindernde Settings
Fehlerfreundlichkeit und Freiheit
Tool 10 Rotations-Karten für mehr Klarheit und Gerechtigkeit
7. Schlüssel:
Kopieren zum Kapieren. Warum Imitieren schlau machen kann
Im Nachmachen besser begreifen
Nachwort und Dank
Anmerkungen
Ein Feldversuch in Sachen Reaktanz
Von Karoline Kuhn, Programmleiterin des adeo-Verlags
Während ich mit Carmen Thomas an dem vorliegenden Buch arbeitete, bereitete das adeo-Verlagsteam eine extrem schwierige Pressekonferenz vor. Der Autor, dessen Buch in der Pressekonferenz vorgestellt werden sollte, ist sehr bekannt und sehr umstritten und vielleicht ist er sogar zurzeit eine der meistgehassten Personen Deutschlands. Bei der Pressekonferenz war daher zu erwarten, dass ihm von Seiten der Journalist-inn-en eine so feindselige Stimmung entgegenschlagen würde, wie es bei seinen jüngeren öffentlichen Auftritten leider jedes Mal der Fall gewesen war. Ebenso erwartbar: unfaire Fragen und nachfolgend eine von Vorurteilen gefärbte Berichterstattung. Das Team fragte sich: Wie lässt sich diese Pressekonferenz so gestalten, dass der Autor zumindest eine faire Chance erhält?
Da uns schon ein wenig über die Macht der Reaktanz und die Möglichkeiten zum Umnutzen bekannt war, wurde Carmen Thomas um Rat gebeten. Die Beteiligten bekamen Herausforderndes zu hören: „Die Sitzordnung ändern: kein Podium, einfach drei normale Stühle. Barrierefrei und ohne Abgrenzung, um die Reaktanz zu senken. Autor und adeo-Team von Anfang an mit den Medienleuten auf Augenhöhe. Die Stühle für die Presse halbkreisförmig anordnen statt in geraden Reihen. Ohne lange Vorreden loslegen und vor allem ohne den Versuch, die Journalist-inn-en mit gefakt-vorbereiteten Antworten zu steuern oder zu manipulieren. Das macht nur reaktant. Stattdessen gleich zu Anfang alle Anwesenden bitten, sich in einer kurzen Runde mit Namen und Funktion vorzustellen und eine erste Frage an den Autor zu nennen. Die Fragen alle notieren und nacheinander beantworten. So entsteht ein ernst nehmendes Klima auf beiden Seiten. Und wer nicht anonym im Raum ist, verhält sich anders, inklusive Beißhemmung.“
„Ach du Schreck“, dachte das Team. „Kann das funktionieren – bei 60, 70 Leuten? Das dauert doch viel zu lange! Und was, wenn das Ganze völlig aus dem Ruder läuft?“
Doch mit dem Einverständnis des Autors ließ sich das Team auf das Wagnis ein und setzte die Anregungen von Carmen Thomas um. Und erlebte Verblüffendes: Alle Journalist-inn-en spielten nach kurzem Erstaunen bereitwillig mit, und es war spürbar, wie sich die Stimmung im Raum dank des ungewöhnlichen Settings und durch die Vorstellungsrunde positiv veränderte. Es gab viele kluge Fragen und keine einzige gemeine. Eher entspann sich ein von Respekt und Offenheit geprägter Dialog zwischen Autor und Journalist-inn-en. Die vorab befürchteten Reaktanz-Reaktionen blieben einfach aus.
Noch positiver überrascht als der Autor und das adeo-Team waren manche Journalist-inn-en. Von denen spiegelten hinterher mehrere „altgediente Recken“ beeindruckt, dass sie so eine Pressekonferenz ja noch nie erlebt hätten.
Wer vorher noch nicht 100 % überzeugt von Carmen Thomas’ Erkenntnissen rund um die Kraft der Reaktanz und vom handfesten Nutzen ihrer praxiserprobten Werkzeuge für ein besseres Miteinander war, wurde hier auf äußerst beeindruckende Weise eines Besseren belehrt.
Reaktanz, was ist denn das?
Dieses Buch handelt von einer großen Entdeckung für mein persönliches und berufliches Leben: von der Kraft der Reaktanz.
„Wie bitte?“, fragen Sie jetzt vielleicht. „Ach näää, Reaktanz, was soll das denn schon wieder sein?“ Da haben sich viele gerade erst von der allgegenwärtigen „Resilienz“, der inneren Widerstandskraft, erholt, und nun kommt schon wieder so ein sperriger Begriff daher? Oder finden Sie das Wort Reaktanz etwa sexy? Ich offen gestanden nicht.
Und echt schlimm ist ja, dass das gerade mir passiert: mich in ein Phänomen zu verlieben, das auf ein so befremdliches Fachwort hört. Denn zu meinen Markenzeichen im Radio gehörte stets, dass ich Expertinnen und Experten konsequent fragte: „Können Sie das auch auf Deutsch sagen?“, wenn sie solch fremde Fremdwörter benutzten. In zahllosen Briefen wurde ja von meinem Publikum zu Recht geschimpft, wie unverständlich die Sprache von Fachleuten sei.
Seit ich die Reaktanz für mich entdeckte, habe ich immer wieder festgestellt, wie lange es allein schon braucht, sich einfach nur das fremde Wort zu merken. Und die deutsche Übersetzung „Blindwiderstand“ ist kaum besser. Widerstand – okay. Aber was soll das „Blind“ denn dabei? Wenn das beides schon so bescheuert-abstrakt heißt, wer kriegt da schon Lust, hinter dieses Phänomen zu schauen?
Das Blöde ist allerdings, dass wirklich neue Dinge, die es bisher noch nicht gab, leider auch neue Begriffe brauchen. Also gibt es ein Problem. Ach nein. Ein Berliner Hoteldirektor brachte mir mal bei: „Probleme? Gibt es hier nicht. Hier existieren nur Lösungsbedarfe.“
Also gut, mein Lösungsbedarf sieht so aus: Wie kann es gelingen, Ihnen die Sache mit der Reaktanz auf möglichst einfach-amüsante Art schmackhaft zu machen? Wie lässt sich ein Thema, von dem Sie vermutlich noch nie im Leben gehört haben, so vermitteln, dass Sie neugierig werden und mehr darüber wissen wollen – zumal es Ihnen täglich mehrfach begegnet, wie Sie beim Lesen erfahren werden?
Okay. Wie sagte dieser witzige Lehrer im Film „Die Feuerzangenbowle“ doch so schön? „Da stelle mer uns ma janz dumm!“ ... und fangen „janz vorne“ an.
Wer hat sich die Reaktanz überhaupt ausgedacht?
Im Lexikon steht: „Den Begriff der Reaktanz gibt es als ‚Blindwiderstand‘ sowohl in der Elektrotechnik als auch in der Psychologie.“
Die elektrotechnische Reaktanz hat ein Mann aus Breslau „erfunden“, der 1865 als Carl August Rudolph Steinmetz geboren wurde und als Sozialist 1889 in die USA emigrieren musste. Dort nannte er sich dann Charles Proteus Steinmetz. Um die Jahrhundertwende galt er zusammen mit Einstein, Tesla und Edison als einer der führenden Elektroingenieure. Doch seinen Namen kennen sogar Physiker heutzutage nicht mehr. Dabei dürfte er ein sehr interessanter Mensch gewesen sein: Gehandicapt und nur 1,30 Meter groß, wird er als genial scharfsinnig beschrieben. Er hat als Erster das Phänomen der Reaktanz in der Elektrotechnik beschrieben und benannt. Hier ist er rechts neben Einstein zu sehen.
In der Elektrotechnik steht Reaktanz für „eine Größe der Elektrotechnik, die einen Wechselstrom durch Aufbau einer Wechselspannung begrenzt (…). Der Zusatz ‚blind‘ rührt daher, dass elektrische Energie zu den Blindwiderständen zwar transportiert, aber dort nicht in Energie umgewandelt wird.“ So steht’s bei Wikipedia.
Uff, Bahnhof!? Genauso ratlos, wie Sie jetzt vielleicht gucken, lässt mich das auch zurück. Könnte das bedeuten, dass der Reaktanz-Blindwiderstand eine Gesetzmäßigkeit ist, die erstens nicht zu beeinflussen und zweitens ohne produktiven Output ist? Hmmm. Also, die Mechatronikerin meines Vertrauens erklärte mir das so: „Jedes Autofenster hat im Fensterheber ein Relay. Durch seinen Widerstand verbraucht es auch dann ständig Strom, wenn es nicht bedient wird. Der Blindwiderstand verhindert im Auto, dass Energie fließt. Damit wird die Energie blockiert und der Strom am Fließen gehindert, bis der Fensterheber aktiv benutzt wird, oder jemand den Finger dazwischensteckt. Der Reaktanz ist eine schnelle Reaktion zu verdanken, und dass der Finger dranbleibt.“
Das finde ich jetzt gar nicht so übel. Genauso verbraucht die Reaktanz in der Kommunikation Energie und blockiert den Energiefluss, der nötig ist, um Lösungen zu finden. Denn die innere Energie wird im Blockieren gebunden.
Und die psychologische Seite der Reaktanz? Laut dem „Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache DWDS“ taucht das Wort „Reaktanz“ in der Presse nur selten auf. 2011 gab es einen großen Artikel in der ZEIT zum Thema Reaktanz mit dem Titel „Sog der Masse“1. Darin geht es um das sozialpsychologische Phänomen der Reaktanz. Und das hat sich Jack Brehm, Harvard-Absolvent und Professor an der Universität von Kansas, ausgedacht und mit seiner Frau Sharon beschrieben. Das ist er:
Über ihn gibt es nicht mal einen Wikipedia-Eintrag. Bekannt ist, dass er von 1928 bis 2009 lebte und 1966 das erste Buch über die Theorie der Reaktanz schrieb2. Schade, dass er schon tot ist; ich hätte ihm gern dieses Buch geschickt und ihm geschrieben, wie dankbar ich ihm für seine Erkenntnisse bin.
Unter „psychologischer Reaktanz“ heißt es also im Lexikon: Darunter „versteht man eine komplexe Abwehrreaktion, die als Widerstand gegen äußere oder innere Einschränkungen aufgefasst werden kann. Reaktanz wird in der Regel durch psychischen Druck (emotionale Argumentation, Nötigung, Drohungen) oder die Einschränkung von Freiheits-Spielräumen (Verbote, Zensur) ausgelöst. Als Reaktanz im eigentlichen Sinne bezeichnet man dabei nicht das ausgelöste Verhalten, sondern die zugrunde liegende Motivation oder Einstellung.“
Das heißt, dass die Reaktanz, also der „innere Blindwiderstand“, psychologisch dann entsteht, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht. Inklusive der Tendenz, gegen diese Bedrohung zu rebellieren, ergibt sich daraus eine innere Abwehrhaltung, ein unklarer, also blinder Widerstand gegen Beeinflussungsversuche bis hin zu blockierenden Trotzreaktionen. Ist jetzt wohl schon eine erste Idee entstanden, was reaktantes Verhalten ist?
Die Reaktanz, also der „innere Blindwiderstand“, entsteht dann, wenn ein Mensch die eigene Entscheidungsfreiheit gefährdet sieht.
Und das legen Menschen buchstäblich ja bereits seit Adam und Eva an den Tag: „Dann legte Gott, der Herr, einen Garten im Osten an, in der Landschaft Eden, und brachte den Menschen, den er geformt hatte, dorthin. Viele prachtvolle Bäume ließ er im Garten wachsen. Ihre Früchte sahen köstlich aus und schmeckten gut. (…) Er gab ihm die Aufgabe, den Garten zu bearbeiten und ihn zu bewahren. Dann schärfte er ihm ein: ‚Von allen Bäumen im Garten darfst du essen, nur nicht von dem Baum, der dich Gut und Böse erkennen lässt‘“, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte (1. Mose 2,8-9; 16-17). Und vermutlich ist den meisten noch in Erinnerung, was diese winzige Einschränkung in der Entscheidungsfreiheit und die darauf folgende Reaktanz alles ausgelöst hat.
Irre, dass das bis heute unverändert genau so weiterläuft. Und das von klein auf. Kürzlich traf ich den TV-Moderator und Arzt Eckart von Hirschhausen. Er fragte, was ich denn aktuell mache. Ich sagte: „Ein Buch über Reaktanz schreiben.“ Und da haute er mich vom Hocker, indem er in all den Jahren, in denen mich die Reaktanz bereits fasziniert, der erste Mensch war, der auf Anhieb etwas Konkretes zum psychologischen Teil des Themas beizutragen hatte: „Den Begriff kenne ich von meiner Frau. Die ist Psychologin. Sie hat mir auch ein illustrierendes Beispiel erzählt: Wenn ein Kind zwanzig Buntstifte bekommt und ihm jemand sagt: ‚Du darfst mit allen 19 Stiften malen, nur nicht mit dem gelben‘, dann will das Kind natürlich unbedingt mit dem gelben malen.“ Von Hirschhausen grinste: „Das darf ruhig mit Quellenangabe mit ins Buch kommen.“ Voilà: ist verdient.
Ein anderes, vermutlich gut bekanntes Beispiel ist der Gedanke: „Vor dem Urlaub muss ich unbedingt drei Kilo abnehmen! Ab sofort gibt’s FdH-Diät!“ Und schwupps – schon folgt eine Fressattacke nach der anderen, die die Bikini- beziehungsweise Tarzan-Figur aufs Tragischste boykottiert.
Diesen „Jetzt erst recht“-Effekt, der zu den Reaktanz-Reaktionen gehört, nutzt auch die Werbung für sich, indem sie mit Schlagwörtern wie „Nur so lange der Vorrat reicht“ oder „Nur noch fünf Stück auf Lager!“ eine Knappheit suggeriert, die das Angebotene besonders begehrenswert macht. Wenn Kundinnen und Kunden so ihre Wahlfreiheit bedroht sehen, sind sie versucht, den reaktanten Spannungszustand abzubauen. Dabei kann dann allerhand passieren: fieberhaftes Bemühen, um den schwer zugänglichen Artikel zu bekommen. Aber auch Trotz mit Abwertung des Gegenstands oder Aggression mit Ächtung des Geschäftes.
Oder: Wenn im Lokalteil der Zeitung steht, dass das alte Kino im Ort dichtgemacht werden soll, sind Menschen plötzlich aufgebracht, traurig, ja zornig, weil diese Möglichkeit der Freizeitgestaltung wegfällt. Und das auch, wenn sie im Grunde schon seit Jahren nicht mehr in dem Kino waren und auch kein Bedürfnis danach verspürt haben, weil die Sitze dort unbequem waren, das Popcorn muffig schmeckte und die Filmauswahl bei Netflix sowieso besser ist. Angesichts der bedrohten Entscheidungsfreiheit ist das alles plötzlich nebensächlich: Aus der Reaktanz gespeist sollen bisher gewohnte Möglichkeiten dann unbedingt erhalten werden.
Der Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor E. Frankl, nutzte bei seinen Patienten etwas, das er „paradoxe Intervention“ nannte. Und das ist im Grunde umgenutzte Reaktanz: Wer Schlafstörungen hat, so Frankl, solle sich mit aller Kraft vornehmen, unbedingt wach zu bleiben – und schläft dann unweigerlich ein. Wer bei Auftritten in der Öffentlichkeit errötet, versuche beim nächsten Mal mit aller Kraft, rot anzulaufen – und dann geht es nicht.
Und hier noch eine schmutzige Erfolgs-Geschichte unter dem Motto „Reaktanz künstlich erzeugen, um damit auszubeuten“: Der Finanzbetrüger Bernie Madoff nutzte ab den 1960er-Jahren in den USA über lange Zeit den Reaktanz-Trick: Er verbreitete überall, er könne leider keine anlagewilligen Kunden mehr annehmen – egal, wie viel Geld sie anböten. Mit dieser angeblichen Verknappung löste er einen regelrechten Run auf seine Firma aus. Und dann veruntreute er die ihm anvertrauten Gelder in Milliardenhöhe. Er schreckte auch nicht davor zurück, gemeinnützige Organisation und Stiftungen zu schröpfen.
Grüße aus dem Neanderthal
Mich hat die Einsicht fasziniert, dass die Reaktanz als Blindwiderstand ganz unbewusst aufkommt. Denn klar: Wem etwas gegen den Strich geht, das er oder sie begründetermaßen als scheußlich oder schlecht empfindet, der oder die stellt sich meist offen dagegen und rebelliert. So erleben die meisten Menschen den normalen erkennbaren inneren Widerstand.
Bei der Reaktanz dagegen spricht interessanterweise als Erstes der Körper unwillkürlich mit. Es ist eine deutlich spürbare, aber verdeckte Sprache, die offenbar aus einer chemischen Reaktion des Körpers stammt: Der berühmte „dicke Hals“ schwillt an, der Bauch wird hart, oder es entsteht Druck irgendwo anders im Körper. Die Stellen sind individuell verschieden. Aber – und das ist der Unterschied – der Grund dafür ist nicht sofort transparent. Er ist „blind“. Ein Mensch versteht sich dann plötzlich selbst nicht mehr: „Ich bin dagegen, ich weiß aber gar nicht, warum.“ Dieser innere Blindwiderstand kann komplizierenderweise sogar dafür sorgen, dass ein Mensch nicht mehr seiner eigenen Meinung ist und anders empfindet als sonst, ohne das recht einordnen zu können.
Bei der Reaktanz spricht als erstes der Körper unwillkürlich mit: Der berühmte „dicke Hals“ schwillt an, der Bauch wird hart, oder es entsteht Druck irgendwo anders im Körper.
Es passiert ständig und unterschwellig überall. Sowohl im Umgang mit sich selbst als auch im Verhalten mit anderen: in der Familie, im Job, in Gruppen, in der Freizeit, im Internet. Shitstorms mit komplett unbekannten Menschen können Beispiele für Widerstand und für Blindwiderstand sein. Den „Shittys“ ist ja oft selbst nicht wirklich klar, weshalb sie sich gerade diesen Menschen zum Anscheißen herauspicken. Sie durchschauen nicht genau, was die Wurzeln ihrer Wut auf einen komplett fremden Menschen in Wirklichkeit sind.
Ich nenne diesen körperlich spürbaren Impuls gern spaßeshalber „Grüße aus dem Neanderthal“. Denn die instinkthafte Reaktanz gab es ja schon in der Steinzeit. Da war sie für die frühen Menschen unter Umständen überlebenswichtig. Unbekanntes verursacht zuverlässig bis heute diese blockierende Fremdel-Angst oder einen merkwürdigen, sachlich eigentlich unbegründeten Ekel. Und das war ja immer schon gut so. Schließlich mussten die Urvorfahren erst mal schmerzlich lernen: „Alles ist essbar. Aber manches nur einmal.“ Deshalb konnte sich instinktive, scheinbar grundlose Spontan-Abwehr als lebensrettend erweisen.
Und im nächsten Schritt provozierte das „neanderthalerische Keulen-Gen“ den Impuls, auf das Undurchschaubare, Fremde, Verunsichernde, ja Einschüchternde sicherheitshalber erst mal draufzuhauen. Auch diese Reaktion ist eigentlich bis heute ganz ursprünglich, von der Reaktanz getriggert, in den meisten Menschen erhalten geblieben – nur die Form der Keulen hat sich geändert .
Das ist täglich erlebbar. Hier ein paar bekannte Situationen als Beispiel:
Bei Unbekanntem: Jemand bietet Ihnen gebratene Seidenraupenlarven zum Probieren an, mit der Versicherung, dass die leckerer und gesünder als Krabben seien. Jetzt greift die Neanderthal-Reaktanz. Motto: „Wat der Buur net kennt, freet he nich“.
Bei emotional Bevormundendem: Jemand stellt voller Begeisterung ein neues Projekt in der Firma oder einen tollen Urlaubsplan in der Familie vor. Zwei typische Basis-Reaktionen – je nach Beziehung und Hierarchie – laufen so ab: Entweder erklingt spontanes Maulen: „Och nööö!“, „Kenn ich schon“ (einer der beliebtesten Totschläger) oder „Find’ ich langweilig“...
Oder die ersten paar Kollegen beziehungsweise Familienmitglieder reagieren noch wunschgemäß offen auf die Ideen. Und dann greift das bislang ungeschriebene Reaktanz-Gesetz: „Ab dem/der Fünften kippt’s“: Es ist fest damit zu rechnen, dass spätestens ab der fünften Meinungsäußerung das gesetzmäßig reaktante Dagegenhalten eintritt. Je nach Charakter von Nr. 5 oder sogar 6 kann es auch mal bis zum siebten oder achten Rundenmitglied dauern, bis es passiert. Aber dann widerspricht unvermeidlich jemand dem allgemeinen Tenor – oft ohne selbst zu wissen, weshalb, und manchmal sogar gegen die eigentliche persönliche Überzeugung. Das geschieht bei zu glamourösen Schilderungen, bei allzu großer Einigkeit oder bei dem Gefühl, nicht auf der „Schleimspur von Nettigkeit“ der Vorherredenden ausglitschen zu wollen. Ist das emotionale Gleichgewicht gestört, dann will die Balance einfach wiederhergestellt werden.
Es funktioniert tatsächlich so gesetzmäßig wie bei (Hufeisen-)Magneten in der Physik: Wenn ein Pol des Magneten abgetrennt wird, organisiert sich wie durch Zauberhand sofort der entgegengesetzte am abgeschnittene Ende neu. In meinen Coachings und Trainings demonstriere ich das gern an einem Beispiel.
Emotionale Bevormundung
Ich unterbreche ganz nebenbei den Ablauf und hole ein neutrales Gläschen mit handelsüblichen Pfefferminzbonbons hervor. Mit großer Geste gehe ich jetzt von links nach rechts an den ersten fünf Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorbei und sage mit übertrieben begeistertem Tonfall: „Ich habe hier suuuperleckere Pfefferminze. Wirklich ganz außergewöhnlich lecker. Bestimmt haben Sie noch nie so wohlschmeckendes Pfefferminz gegessen.“ Manchmal unterschreite ich dann auch noch die körperliche Individualdistanz und drängele: „Hier, probieren Sie mal!“
Und dann fange ich die Runde noch mal von vorn an und frage provokant: „Und? Wie schmeckt es?“
Erfahrungsgemäß antwortet die erste Person meist mit schal-höflichem Unterton: „Gut.“
„Na ja, halt wie Pfefferminz“, sagt die zweite Person schon einen Hauch gereizter.
„Normal“, echot die Dritte noch einen Hauch abweisender.
„Schmeckt wie TicTac“, sagt die Vierte dann schon leicht patzig.
Und voll aufgestauter Reaktanz flötet die Fünfte jetzt entweder übertreibend: „Hmmmmm, himmmmlisch!“ Oder sie bricht – durch die unehrliche Höflichkeitswelle getriggert – in offene Aggression aus: „Total langweilig!“ Oder sagt angewidert: „Die schmecken irgendwie komisch!“
Die Reaktanz sorgt dafür, dass jede Art der Bevormundung, jede Aufdringlichkeit, jede Unterdrückung zur entgegengesetzten Instabilität führt. Also: Zu viel Schwärmen lässt mechanisch in Abwehr kippen. Zu viel Maulen ins Zustimmende. Besonders faszinierend ist, dass es tatsächlich in beide Richtungen funktioniert: Wenn ich die Bonbons mit den Worten präsentiere: „Bitte probieren Sie mal, die schmecken doch irgendwie komisch?“, führt das gesetzmäßig dazu, dass das Gegenteil der emotionalen Bevormundung eintritt und die Nächsten die Bonbons plötzlich besonders lecker finden.
Die Reaktanz sorgt dafür, dass jede Art der Bevormundung, jede Aufdringlichkeit, jede Unterdrückung zur Instabilität führt. Also: Zu viel Schwärmen lässt mechanisch in Abwehr kippen. Zu viel Maulen ins Zustimmende.
Dieser Ablauf passiert so sicher wie das Amen in der Kirche.
Einmal hatte ich die Bonbons nicht dabei. Über 100 Leute im Saal. Da ich schon mit der kleinen Vorbereitungsshow begonnen hatte, verlegte ich mich in meiner Not kurzerhand darauf, so zu tun, als hätte ich Pfefferminzbonbons. Und siehe da: Alle, die die virtuellen Pfefferminzbonbons angeboten bekamen, spielten spontan mit und fanden die Bonbons überraschend lecker. Und Bingo, selbst bei den rein imaginären Bonbons sagte Teilnehmerin Nr. 5 wie auf Bestellung: „Die sind bestimmt vergiftet.“ Herrlich – das ist Reaktanz in Reinkultur.
Das Phänomen, dass immer die fünfte Person kippt, hat übrigens zwei Richtungen.
> Ich kann das Kippen selbst erzeugen (monaktionell): „Ist das nicht unfassbar lecker?“
> Das Kippen wird von Gruppen ohne mein Zutun und ohne emotionale Bevormundung („Wie finden Sie die Uhr?“) selbst erzeugt, als heimlich „beratender“ Impuls aus dem Yin-Yang (koaktionell).
Das Pfefferminz-Beispiel ist die Form der selbst verursachten Reaktanz: Ich bevormunde Menschen mehr oder weniger bewusst und verursache damit Reaktanz und Mauern. Diese Form ist besser zu steuern, weil es leichter fällt, auf eigenes Verhalten Einfluss zu nehmen. Sprich: Emotionale Bevormundungen lassen sich mit Hilfe der Reaktanz-Körperempfindungen wahrnehmen, modifizieren und sogar unterlassen.
Und dann ist da das noch tiefer greifende Phänomen der „koaktionell verursachten Reaktanz“, die ohne eigenes Zutun im Umgang mit anderen entsteht. Als Beispiel zum „koaktionellen Selbsterleben“ halte ich in Gruppen gern meine Armbanduhr hoch und frage ganz sachlich: „Wie finden Sie meine Uhr?“ Und dann läuft ein gesetzmäßiger Prozess ab:
1. Person: „Die Uhr ist groß und gut lesbar.“
2. Person: „Schwarz und weiß finde ich gut.“
3. Person: „Da sind auch noch Zusatzfunktionen unten drauf.“
4. Person: ärgert sich, weil diese intelligente Beobachtung nun vorweggenommen ist. Und um nicht nachzuquasseln, oder die Gruppe mit „Ich wollte das Gleiche sagen wie mein-e Vorredner-in“ zu langweilen, rettet sich die Person nun auf die äußeren Knöpfe zum Funktionenändern. Und dann kommt’s. Mit schöner Regelmäßigkeit kippt die
5. Person jetzt zuverlässig reaktant und sagt, um die Schleimspur von Nettigkeit zu beenden, mit fast vorwurfsvollem Tonfall so etwas wie: „Ich finde diese Uhr für ein Frauenhandgelenk viel zu groß.“
Das Spannende daran ist, dass das auch dann geschieht, wenn diese Person der Uhr vorab die höchste Punktzahl gegeben hätte. Der Blindwiderstand hat dafür gesorgt, dass die Person nicht mehr ihrer eigenen Meinung ist. Und wenn die zweite Person bereits ins übertriebene Schwärmen oder Ablehnen geraten wäre, dann wären bereits Nr. 3 oder 4 in die Reaktanz-Falle geraten.
In diesem Beispiel liegt die Chance, die Gruppendynamik so durchschauen zu lernen, dass die Gesetzmäßigkeit aktiv umnutzbar wird. Das koaktionelle Kippen zeigt vor allem das erstaunliche Phänomen, dass Menschen in einer Gruppe quasi unfreiwillig zum Balancieren und Komplettieren des Yin-Yangs verführt werden können – bis hin zu dem Punkt, dass sie nicht mehr ihrer eigenen Meinung sind.
Wer beide Sorten von Reaktanz verstehen und umnutzen lernt, erhält damit zwei Werkzeuge, um bewusst eine bessere Umgangs-Kultur zu erzeugen.
Die Einsicht um das Kippen des fünften Menschen half nicht nur mir. Kürzlich erzählte mir zum Beispiel ein bekannter Wirtschaftsboss, der längere Zeit im Coaching war: „Früher bin ich, sobald mein Hals schwoll, immer sofort reingegangen und hab draufgehauen, nach dem Motto: ‚Wehret den Anfängen‘. Jetzt lehne ich mich in allen Gremien zurück, zähle gemütlich bis fünf, höre hin, verstehe meistens sofort oder frage freundlich nach. Ich sehe, dass mich alle erstaunt anschauen und sich fragen: ‚Was nimmt er wohl seit einiger Zeit?‘“
Was Reaktanz kann
Für mich bedeutet jedes Erlebnis mit Einzelnen und mit Gruppen stets, die Reaktanz immer besser verstehen zu lernen. Deshalb kann ich heute viel gelassener reagieren. Denn ich begreife reaktante Äußerungen und Verhaltensweisen nicht mehr als individuelle Fiesheiten, sondern als ungeplanten Hinweis darauf, dass die innere oder äußere (Entscheidungs-)Freiheit bedroht wird. Die Auslöser sind oft ganz filigran: ein reaktanziger Tonfall kann ausreichen, und schon wird das Gegenüber verwunderlich-reizbar und blockierend. Wer an das Zusammenleben mit pubertierenden Teenagern denkt, merkt: Das kann ein einziges Reaktanz-Minenfeld sein.
Eins ist für mich inzwischen verständlicher: Reaktanz ist einer der Hauptgründe, weshalb Menschen und Gruppen neue Ideen oder Anregungen nicht sofort begeistert begrüßen und annehmen können, sondern gerade Innovatives standardmäßig ablehnen. Das ist an sich ja eher lästig und verkomplizierend. Auf jeden Fall wirkt es auf den ersten Blick nicht sonderlich nützlich oder hilfreich.
In über 50 Jahren als Radio-, TV- und Veranstaltungs-Moderatorin, als Trainerin und Coach für Gruppen jeder Art und Größe ist mir die Reaktanz in all ihren Ausdrucksformen und Möglichkeiten vieltausendfach begegnet. Mit der Zeit erfuhr ich immer mehr, dass sie nicht nur eine tumbe neanderthalermäßige Bockigkeits-Reaktion ist. Vielmehr lernte ich den Blindwiderstand immer mehr als eine bedeutsame Hilfe zur Veränderung zu schätzen.
Im Laufe der Jahre zeichneten sich aus vielen herausfordernden Situationen vier Reaktanz-Bereiche ab:
1. Ein Frühwarn-System aus der Steinzeit, eine Art „Fremdel-Gen“, das seine Berechtigung hat. Denn Hegel hat ja recht: „Man erkennt nur, was man kennt.“ Die Reaktanz-Gefühle heißen: Vorsicht, kann potenziell gefährlich sein. Ein weiser Grund, weshalb Menschen allem Neuen und Fremden erst mal widerständig begegnen (Beispiel: Ekel vor mit Lebensmittelfarbe grün gefärbter Milch oder vor Protein-Riegeln aus Grillen).
2. Ein Gerechtigkeits-Sensor. Menschen reagieren ablehnend, wenn ihr „Paritäts-Bedürfnis“ gestört wird: das „Balance-Gen“. Es möchte quasi magnetisch für die Wiederherstellung des Gleichgewichts sorgen (Beispiel: Mitleid im TV mit einem drangsalierten, politisch komplett Andersdenkenden, der eigentlich unter „unsympathisch“ rangiert).
3. Ein Autonomie-Gespür, das mit reaktanten Verwerfungen darauf reagiert, wenn jemand in seiner Entscheidungsfreiheit beschnitten oder beraubt wird. Das „Freiheits-Gen“ will sowohl die horizontale wie auch die vertikale Balance von unten nach oben wahren (Beispiel auf Augenhöhe: innerer Widerstand bei emotionalen Bevormundungen wie: „Der Film ist der beste, den ich je gesehen habe. Der wird dir mega gefallen!!!“). Und vertikal passiert das auch, wenn die Einschränkungs-Gefühle „nur“ emotional und vielleicht sogar unberechtigt sind. (Beispiel: Widerwillen beim durchaus sinnvollen Einweisen durch Parkwächter-innen).
4. Ein angeborenes Harmonie-Streben, das „Friedens-Gen“, das Menschen bei Streit, Mobbing und Gewalt trotz Angst zum Eingreifen bewegen und mutig machen kann. Reaktante Gefühle zeigen an, wenn Harmonie und Freiheit so gestört werden, dass eine Änderung nötig ist (Beispiel: Einschreit-Impuls als Zeuge oder Zeugin bei unfairen oder rassistischen Äußerungen in der Bahn).