Real Easy - Marie Rutkoski - E-Book

Real Easy E-Book

Marie Rutkoski

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Beschreibung

Ein kühner, fesselnder Psychothriller über drei unerschrockene Frauen

Irgendwo in den Südstaaten, 1999: Das Lovely Lady ist ein Stripclub in dem eine Schar junger Frauen beinahe rund um die Uhr arbeiten. Eines Nachts verschwinden zwei der Tänzerinnen – eine wird schon bald ermordet aufgefunden, die andere ein paar Wochen später. Die Detectives Holly Meylin und David Baer glauben, dass hier ein Serientäter am Werk ist, da sich die Morde mit älteren Fällen vereinbaren lassen. Klar ist: Irgendjemand aus dem Umfeld des Clubs muss der Täter sein – oder ein Polizist, der auch mit dem Laden zu tun hat ...

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Seitenzahl: 467

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Titel

Marie Rutkoski

Real Easy

Thriller

Aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5143.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© 2022 by Marie Rutkoski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagabbildung: Alisa Rodnova / Getty Images

eISBN 978-3-518-76823-5

www.suhrkamp.de

Real Easy

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Real Easy

SAMANTHA. (RUBY)

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE VICTOR AMADOR

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

SAMANTHA. (RUBY)

DETECTIVE VICTOR AMADOR

SAMANTHA. (RUBY)

MELODY

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

SAMANTHA. (RUBY)

ROSIE

ER

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

SAMANTHA. (RUBY)

GEORGIA. (GIGI)

SAMANTHA. (RUBY)

DETECTIVE VICTOR AMADOR

NICK

SAMANTHA. (RUBY)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

DETECTIVE VICTOR AMADOR

SAMANTHA. (RUBY)

ER

DETECTIVE VICTOR AMADOR

GEORGIA. (GIGI)

RON

SAMANTHA. (RUBY)

MARYANN

FRANKIE

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

GEORGIA. (GIGI)

ER

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

JIMMY

GEORGIA. (GIGI)

ER

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

RACHEL. (MORGAN)

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

SERGEANT TONY RABIDEAUX

CATHERINE. (VIOLET)

GEORGIA. (GIGI)

ER

DALE

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

ER

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

GEORGIA. (GIGI)

ER

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

ER

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

ER

GEORGIA. (GIGI)

DETECTIVE HOLLY MEYLIN

GEORGIA. (GIGI)

HOLLY

GEORGIA

SAMANTHA

DANKSAGUNGEN

Informationen zum Buch

Textnachweis

Real Easy

Für Alexandra Machinist

SAMANTHA

(RUBY)

»Du bist so schön, dass ich am liebsten nach Hause fahren und meiner Frau in die Fresse schlagen würde.«

Samantha lächelt und fragt, ob er einen Tanz möchte. Er riecht wie ein kleiner Junge, nach Schweiß und Trinkpäckchen. Er ist untersetzt, eine seiner Schultern hängt herunter. Mit seiner riesigen Hand fährt er sich über den silbergrauen Bürstenschnitt und sagt: »Auf jeden Fall.«

Sie führt ihn zu den Ledersofas unter der Hauptbühne. Die Bässe dringen durch die niedrige Plexiglasdecke.

Gleich neben ihr tanzt Violet für einen bärtigen Typen, der wie ein Lehrer wirkt. Ihre dunkelbraune Haut glänzt im pinkfarbenen Licht, sie trägt mandarinenfarbigen Lippenstift. Samantha wünscht sich, sie könnten tauschen.

Ihr Kunde macht es sich auf dem Sofa bequem und sagt: »Ich kann mich an dich erinnern. Aus der Zeit, bevor du deine Titten bekommen hast. Du warst flach wie ein geplatzter Reifen.«

Eigentlich sollte sie sich nicht ärgern. Zum einen, weil er recht hat, und zum anderen, weil sie schon Schlimmeres gehört hat. Sie schält sich aus ihrem Kleid. »Wie gefalle ich dir jetzt?«

»Was würde ich nicht dafür geben.«

Samantha greift nach dem winzigen transparenten Häkchen ihres V-Strings und lässt den roten Stofffetzen fallen. Dann nimmt sie die Brüste in ihre Hände. Die falschen Brüste kommen ihr immer noch fremd vor, obwohl sie sie schon vor Monaten bekommen hat. Sie haben die Konsistenz von benutztem Kaugummi. »Willst du ins Champagnerzimmer?«

»Vielleicht später.«

Der Song ist zu Ende. Er gibt ihr einen Zwanziger.

Dann steht er auf, genau wie Violets Typ. Samantha hakt ihren V-String wieder fest. Violet schwankt auf den hohen Absätzen, als sie in ihr Kleid steigt, und greift nach Samanthas Arm, um sich abzustützen. »Guck mal, die Neue«, flüstert sie.

Sie sind die Letzten, die noch draußen sind, beinahe. Das neue Mädchen hat sich mit nacktem Hintern aufs Sofa fallen lassen, um ihren Thong besser über die klobigen Schuhe ziehen zu können. Samantha kann sich nicht an ihren Namen erinnern. Dünnes Mädel, teigiges Gesicht. Violet zieht geräuschvoll die Luft ein.

Samantha ist kurz davor, dem neuen Mädchen das Offensichtliche zu erklären, aber Morgan, eine hochgewachsene Brünette mit Bibliothekarinnenbrille und falschen, aber nicht übermäßig riesigen Brüsten, kommt ihr zuvor. »Setz dich da besser nicht hin«, sagt Morgan.

Das Mädchen schaut zu ihr hoch.

»Da holst du dir Bakterien in deinen Keks.«

Als Samantha auf den Parkplatz vor ihrem Apartmentgebäude biegt, herrscht das trübe Licht des beginnenden Tages. Sie stellt den Wagen neben den von Mrs Zace, den die Nachbarin ihnen manchmal im Gegenzug dafür überlässt, dass sie ihr Lebensmittel mitbringen. Nick behauptet, Samantha wünsche sich die Welt wie eine Postkartenidylle, aber was ist so schlimm daran? Mrs Zace spielt für Rosie nur zu gern die Oma und hat gelegentlich auf sie aufgepasst, bevor Nick seinen Job verloren hat. Mrs Zaces schwarzer PKW wirkt im Nebel grau, als hätte ihn jemand angehaucht. Samanthas Sneakers machen auf dem Asphalt kein Geräusch. Ihre enge Jeans fühlt sich gemütlicher an als ein Schlafanzug, ihre locker herabfallenden Haare riechen nach Zigarren, Schweiß und Körperspray.

Sie ist froh, dass sie ihr Make-up im Club abgewischt hat. Rosie ist schon auf, zu früh für einen Samstagmorgen, und sitzt vor dem Fernseher.

»Ist dein Daddy wach?«, fragt Samantha.

Rosie lutscht an ihren Haarspitzen. »Nein.«

Samantha setzt sich zu ihr aufs Sofa. Es ist neu und mit einem graugrünen Chenillestoff bezogen. Manche Tänzerinnen sprechen davon, nach Chicago zu ziehen, um mehr verdienen zu können, aber hier in Fremont kann sie sich einen angenehmen Lebensstil leisten. Die Schulen sind gut, und wenige Straßen weiter gibt es einen Spielplatz. Fremont hat eine hübsche Hauptstraße mit Antiquitätenläden, einem Laden, der gebrauchte CDs und DVDs verkauft, und einem ehemaligen Theater, das zu einem Kino umfunktioniert wurde. Die samtbezogenen roten Sitze kratzen an den Beinen, aber die Decke ist mit einem Himmel bemalt. Rosie findet es toll, wenn das Licht ausgeht und über ihrem Kopf kleine Sterne auftauchen. Fremont ist genau die richtige Art Stadt: nicht zu groß, aber groß genug, um eine Art Nachtleben zu haben, mit dem Club und einem Casino am Des Plaines River. Die Stadt hat einen Costco, einen Best Buy und reichlich unbebautes Land. Dazwischen ragen die Silos von Farmen auf, die Mais und Sojabohnen anbauen.

Samantha lässt sich tief ins Sofa sinken. Ihre Füße mit der doppelten Schicht fersenloser Socken tun weh. Die Vorhänge sind noch geschlossen. »Komm her, Baby.«

Rosie rührt sich nicht. Auf ihrem Gesicht reflektiert das Licht des Fernsehers. Ein Werbespot geht in den nächsten über.

»Was schaust du dir an?«

Rosie zuckt die spitzen Schultern. Dann lehnt sie sich an Samantha und kuschelt sich zusammen. »Warum kommst du immer so spät, Samantha?«

»Nicht immer.«

»Ich hab auf dich gewartet.«

Samantha streicht über Rosies Haare, bis zu den stachligen feuchten Spitzen. »Ich gehe mit dir frühstücken. Kleine Pfannkuchen mit Schokostreuseln.« Sie möchte die perfekte Stiefmutter sein, mustergültig und liebenswert, immer bereit, dem Augenblick etwas Besonderes zu geben.

»Okay.« So dicht an ihrem Körper klingt Rosies Stimme gedämpft. »Du riechst nicht gut.«

Das Gefühl, dass etwas möglich ist, wird in ihrem Inneren zerknüllt wie Cellophan, wie etwas, das nicht mehr in seine ursprüngliche Form zurückfindet, auch wenn man es sorgsam glattstreicht.

Als sie vom Frühstück zurückkommen, ist Nick wach. Er bedankt sich, als sie ihm die Hälfte des Geldes gibt.

»Lasst uns heute Abend ins Kino gehen«, schlägt er vor.

Rosie strahlt. »Ich will den Film aussuchen.«

»Ich muss arbeiten«, sagt Samantha.

Das gefällt Rosie nicht. »Dann gehen wir ohne dich«, droht sie.

»Macht das. Amüsiert euch.« Samantha will Rosie eine ihrer blonden Locken hinters Ohr schieben, aber das Mädchen weicht zurück.

Später, als Samantha aus der Dusche kommt und Rosie in ihrem Zimmer spielt, sagt Nick: »Ich frag mich, ob diese Scheißer, für die du tanzt, ahnen, dass du zum Teil ein Typ bist.«

Es ist noch hell, als sie auf den Parkplatz des Lovely Lady fährt. Anhand der Autos kann sie teilweise erkennen, wer heute Abend arbeitet. Skyes gelber Hummer, Morgans blauer Taurus. Außerdem steht da ein schicker schwarzer Caddy, den Samantha nicht kennt. Seine schwarze Farbe reflektiert das Licht des Sonnenuntergangs, so wie schwarze Haare es manchmal tun. Mit einem Hauch von Rot.

Sie betritt den Club durch die Tür zur Garderobe. Auf ihrem Spind klebt einfaches Kreppband mit ihrem Namen. Andere Mädchen haben ihre Türen richtig dekoriert, wie Paris, die innen und außen alles mit Fotos ihrer Tochter beklebt hat, die ebenfalls Paris heißt. Auch auf einigen anderen Türen finden sich Fotos der Kinder. Samantha hat auf der Innenseite eins von Rosie aufgehängt. Sogar Sasha, die alles andere als mütterlich wirkt, hat das Bild eines still wirkenden, dunkeläugigen Mädchens auf der Tür. Ihr Name – Melody – ist vor dem Hintergrund von Notenlinien gemalt, das d sieht aus wie eine Achtelnote. In den Lüftungsschlitzen mehrerer Spinde stecken künstliche Blumen. Das ist nicht erlaubt, weil diese Blumen irgendwann auf den Boden fallen. Weil so viele Mädchen hier arbeiten, mehrere Dutzend, und ihre Dienstpläne sich in obskuren Mustern überlappen, kann hier schnell Chaos entstehen. Dale, der Manager, hat es eine Million Mal gesagt: »Das Lovely Lady bleibt sauber.« Er ist pingelig, aber ein guter Boss. Er sagt, seine Tür steht ihnen immer offen, und so ist es auch. Man kann jederzeit zu ihm ins Büro kommen.

Samantha öffnet das Zahlenschloss ihres Spinds. Sie spürt, wie die Spannung bei den richtigen Zahlen ein wenig nachgibt, und denkt an Nicks Gesicht in dem Moment, als er sie »zum Teil ein Typ« genannt hat. Sie hat im ersten Augenblick nicht reagieren können, bloß den Druck von Worten gespürt, die hinauswollten, ihr aber im Hals stecken blieben. Nick hat gesagt, es tue ihm leid. Und dass er wisse, dass das, was er gesagt hatte, nicht stimme. Sie sei eine Frau. Das sei ihm klar.

»Denk nur mal daran, wie schwer das für mich ist«, hat er gesagt.

»Es ist bloß ein Job.«

»Aber ich komme mir klein dabei vor.«

Das war ihr egal. Sie verzieh ihm nicht.

»Samantha, komm her. Ich hab doch gesagt, es tut mir leid.« Er strich ihr die feuchten Haare aus dem Gesicht. »Du schönes Mädchen. Wie die Frau von JFK jr.« Das sagte Nick immer, und früher hatte Samantha sich regelmäßig geschmeichelt gefühlt. Bis Carolyn Besette Kennedy im Sommer bei einem Flugzeugabsturz gestorben war, ihr Mann war im Dunkeln geflogen. Samantha wünschte, Nick würde aufhören, sie mit einer Toten zu vergleichen. »Wie konnte ich so viel Glück haben?«, fragte Nick. Als sie sich weiterhin versteifte, sagte er: »Sei nicht so.« Jetzt war er verletzt, und der Ärger war nicht weit, also verzieh sie ihm, denn wenn sie das nicht tat, würde sie bald Vorwürfe zu hören bekommen. Obwohl er sie verletzt hatte, würde er ihr Schuldgefühle einreden, weil sie ihn diese Verletztheit hatte spüren lassen.

Das Wichtige ist, dass er sich entschuldigt hat, sagt sie sich. Sie sind nicht verheiratet, aber so gut wie. Sicher werden sie es eines Tages sein, und wie jeder weiß, erfordert die Ehe eine Menge Arbeit. Samantha öffnet den Spind, stopft ihre Handtasche hinein und schnappt sich ein rotes, mit Federn besetztes Kleid.

Violet sitzt in der Garderobe vor dem Spiegel und trocknet ihre dünnen schwarzen Braids, die wiederum zu zwei dicken Braids geflochten sind. Das neue Mädchen trägt sein Make-up selbst auf, obwohl sie inzwischen wissen sollte, dass das keine gute Idee ist. Sie sollte Bella dafür bezahlen.

Bella rät Rhiannon, sich eine Maklerlizenz zu besorgen. Rhiannon hat das Kleid bis zur Hüfte hinuntergezogen. Sie reibt orangefarbene Grundierung in die Kurven ihres spärlichen Dekolletés, um es größer wirken zu lassen.

Violet begegnet Samanthas Blick im Spiegel. »Hey, Ruby.« Ihr Akzent ist weich, fast britisch. Und sogar echt. Sie wurde in Trinidad geboren.

»Hey«, sagt Samantha.

»Schneid die Schnur ab, wenn du den Tampon reingesteckt hast«, sagt Morgan zu Desirée. »Eine Schnur ist das Letzte, was sie sehen wollen.«

»Manche mögen es«, mischt Gigi sich ein, die sich gerade eine Gabel mit selbstgemachtem, gourmetverdächtigem Risotto in den Mund schiebt.

»Sei still.«

»Einmal ist es mir bis auf den Oberschenkel runtergelaufen. Und dieser Typ wollte es ablecken. Hat mir ein Extrahonorar geboten.«

Die ganze Garderobe heult auf. Gigi lacht so heftig, dass ihr Bauch wackelt. Ihre Haut ist hellbraun und hat Dehnungsstreifen, die verraten, dass sie früher mehr gewogen hat. Sie liebt das Essen nach wie vor, hat sie erklärt, nur ist sie jetzt wählerisch. Das Essen muss gut sein.

Rhiannon lehnt sich zurück, um ihre Brüste zu mustern, und sagt, sie würde am liebsten ihren Slip anlassen, damit sie sich um Tamponfäden keine Gedanken machen muss. Oh nein, das willst du nicht, rufen die anderen. Komplett nackt bedeutet nach der Gesetzeslage in Illinois, dass die Männer sie nicht berühren dürfen. Kein Lapdance, keine Ekzeme. Einen Slip tragen bedeutet auch Pasties oder zurechtgeschnittene Heftpflaster auf den Nippeln, denn in den betreffenden Staaten erlaubt das Gesetz keine Löcher.

»Titten sind doch keine Löcher.«

»Was zum Teufel glaubst du, wo die Milch rauskommt?«

Die ganze Zeit über trocknet Violet ungerührt ihre Haare. Samantha hat ihr erstes Kleid angezogen, ein tiefrotes. Violet entflicht die großen Braids und schüttelt die kleineren auf. Die Neue stöbert in ihrer Kosmetiktasche. Samantha spürt ein gereiztes Kribbeln, so intensiv, dass es sie selbst überrascht. Aber was soll man machen, wenn jemand so ahnungslos, so hilflos ist, und nicht mal versucht, etwas zu lernen?

Samantha sieht das neue Mädchen erst später wieder, als sie von Bühne 3 steigt, der kleinsten Bühne. Sie liegt etwas versteckt im ersten Stock. An weniger lebhaften Tagen liegt Bühne 3 völlig einsam da. Niemand mag Bühne 3, jedenfalls behaupten das alle. Samantha beschwert sich, wie alle es tun, aber in Wahrheit hat sie hier schon ordentlich abgesahnt. Deshalb fragt sie sich jedes Mal, wenn die Mädchen über Bühne 3 herziehen, ob sie etwas weiß, was die anderen nicht wissen. Oder ob die anderen auch nur so tun als ob.

Jimmy streckt Samantha die Hand entgegen. Dale hat die Rausschmeißer angewiesen, das grundsätzlich zu tun, damit die Mädchen in ihren High Heels nicht stürzen.

Vorsichtig geht Samantha die Plexiglastreppe hinunter. Zu jeder vollen Stunde gibt es ein Zwei-für-einen-Special, alle wissen, dass sie rechtzeitig hinter der Bühne sein müssen, um die T-Shirts zu holen. Die Neue tanzt noch immer. Samantha sieht sie kurz unterhalb der Hauptbühne. Ihre Tanzschritte wirken auf den High Heels ein wenig hüpfend, ihr Hüftschwung ist ruckartig. Auf dem Sofa sitzt ein schlaksiger Typ mit eingefallenen Wangen und einer Baseballkappe mit dem Buchstaben »Z« über dem Schirm. Samantha hat auch schon für ihn getanzt. Nicht viel zu holen. Sie registriert die Miene der Neuen: ungezwungen, sanft, mit einem öligen Strahlen im Gesicht. Samantha fühlt sich genervt. Das Ungezwungene kommt ihr irgendwie unpassend vor. Letztlich scheint das Gesicht des Mädchens pures Vergnügen auszudrücken.

Natürlich kommt das Mädchen zu spät zum Special. Sie ist die Letzte in der Reihe und hat sich gerade noch eins der XXL-T-Shirts mit dem Namen des Clubs geschnappt. Bezahl einen Tanz, und du bekommst den zweiten umsonst. Plus ein Gratis-T-Shirt.

»Schaut euch unsere Schönheiten an!«, ruft der DJ mit extratiefer Stimme über die Lautsprecheranlage. Hintereinander treten sie auf die Bühne hinaus und gehen dann durch die Reihen, neckisch mit den T-Shirts wedelnd.

Samantha hasst es, die T-Shirts zu verkaufen. Aber ihr ist auch klar, dass dieses Special die Gelegenheit ist, einen Mann zu finden, der bereit ist, zweihundert Dollar für eine Stunde mit Champagner auszugeben.

Skye ist gerade auf der Hauptbühne, als Samantha Glück hat.

Der Mann, für den Samantha tanzt, hat freie Sicht auf die Hauptbühne. Später wird ihr der Gedanke kommen, dass sein Angebot vielleicht etwas mit dem Kontrast zwischen Skye und ihr zu tun hatte. Skye hat Pech mit einer Brustoperation gehabt. Ihre Brüste sehen aus, als hätten Kaffeefiltertüten als Form gedient. Dazu hat sie opulente Hüften und vorstehende Augen mit jeder Menge Wimperntusche. Nach Feierabend hat sie Sex für Geld. Die meisten Mädchen wissen das, nur Dale nicht, sonst würde er sie feuern. »Ich hab ein Kind«, hat sie einmal laut gesagt, damit die anderen den Mund hielten.

»Dir zuzuschauen macht Spaß«, sagt der Mann zu Samantha, als der Song endet. Er ist im mittleren Alter, vielleicht fünfzig, aber fit, mit einem kräftigen Superhelden-Brustkorb. Er schiebt ihr noch einen Zwanziger ins Strumpfband. Sie packt ihn zu den anderen, die sie mit einem Gummiband umwickelt hat. »Mach weiter.« Das tut sie. »Hübscher kleiner Arsch«, sagt er. »Ministrantenhüften.«

Normalerweise würde sie sich nicht daran stören. Sie weiß, dass sie einen jungenhaften Körper hat, von ihren neuen Brüsten einmal abgesehen. Aber seine Worte erinnern sie daran, dass Nick genau wusste, was sie am meisten verletzen würde.

Der Mann sagt: »Was kostet der Champagner?«

»Zweihundert.«

»Ich hasse Champagner. Davon bekomme ich Blähungen.«

»Dann trinke ich ihn für dich.«

»Und was tun wir sonst noch?«

»Reden.«

Er verzieht das Gesicht. »Reden?«

»Die Rausschmeißer behalten uns im Auge.«

»Hast du was für Glücksspiele übrig?«

»Klar.«

»Dann komm mit ins Casino, wenn ihr schließt. Ich zahle dir dasselbe, was du im Champagnerzimmer verdienen würdest. Pro Stunde.«

Sie hört nicht auf zu lächeln, demonstriert ihm aber, wie seriös sie ist. »Ich mache das nicht. Ich schaffe nicht an.«

»Es geht nur ums Spielen, versprochen. Ich möchte beim Spielen ein hübsches Ding an meiner Seite haben. Vielleicht auch zwei. Frag deine Lieblingskollegin, ob sie mitkommen will. Ich zahle ihr dasselbe.« Er lehnt sich zurück und breitet die muskulösen Arme aus, als wolle er das Ausmaß seiner Unschuld demonstrieren. Dann setzt er ein gerissenes Lächeln auf, zieht sein Portemonnaie aus der Tasche und zeigt ihr ein Bündel Scheine. »Ich hab genug. Ich geb euch auch ein bisschen Geld zum Spielen.«

»Hör mal, ich mag dich und würde wirklich gern mitkommen, wenn ich könnte.«

»Ich bin die Solidität in Person.«

»Das merke ich«, sagt sie, weil es nie schaden kann, einen Mann in seiner guten Meinung von sich selbst zu bestätigen. »Aber es geht nicht.«

»Du bist klug. Du achtest auf deine Sicherheit, das respektiere ich. Dann überrede doch einen Rausschmeißer, dem du vertraust, uns zu begleiten. Ich bezahle ihn. Warum nicht?«

Samantha schaut quer durch den Raum zu Jimmy hinüber und überschlägt im Kopf den potenziellen Gewinn, den die Nacht abwerfen könnte. Sie überlegt, sich morgen krankzumelden und die sonntägliche Doppelschicht auszulassen. Sie könnte heute Nacht in Rosies schmales Bett schlüpfen und den Balsam ihres Atems riechen. Sie könnte aufwachen, wenn Rosie aufwacht.

»Keine Tricks«, sagte der Mann. »Ehrenwort.«

»Ich kann einen Rausschmeißer mitnehmen.«

»Ja.«

»Und eine Freundin.«

»Himmel, ja!«

Im Casino hängt dichter Rauch. Die Lichter der Slot Machines flackern. Die Glückssymbole auf ihren Rollen kommen und gehen, ratter-ratter-ratter. Aber Tony steht auf Roulette, also schließen Samantha und Violet sich an, wobei Violet nach ein paar Runden ihre Chips eintauscht, sich auszahlen lässt und den größten Teil ihres Gewinns in der Handtasche verschwinden lässt. »Was für eine Großmutter«, sagte Tony. Violet lacht, wie es von ihr erwartet wird, und zeigt ihre hübschen großen Zähne. Ein paar ihrer unteren Schneidezähne stehen so leicht schief, dass es noch als süß durchgehen kann. Ihre schmale Hand liegt auf Tonys Ärmel.

Jimmy kratzt sich am Kinn, als die weiße Kugel sich in der Rouletteschüssel dreht. Jimmy ist kräftig und ein wenig aufgedunsen. Samantha hat seine rundliche Figur und die rosigen Wangen immer als Zeichen von Sanftheit genommen, jetzt aber wirkt er nur riesig, gelangweilt und sogar unfreundlich. Samantha hat ein kleines Bollwerk aus Chips vor sich stehen. Sie schiebt ihm einen Stapel hinüber, was ihn den Mundwinkel hochziehen lässt. Aber er verliert. Er verliert immer weiter.

Tony streicht Samantha über die Haare und schiebt ihr eine Locke hinters Ohr, wobei er den kleinen Perlenohrring streift. Dann dreht er sich um und drückt sein Gesicht an Violets Hals. »Meine Mädchen.«

Violet begegnet Samanthas Blick. Sie versteifen sich nicht und weichen nicht zurück, obwohl es Samantha lieber wäre. Aber dafür ist die Bezahlung einfach zu gut.

Tonys Hand gleitet zum unteren Teil von Samanthas Wirbelsäule, während sein Gesicht sich an Violets Haut zu einem Grinsen verzieht. Mit Blicken verständigen die beiden sich darauf, nichts zu sagen. Leichte Berührungen sind okay, solange es an Stellen passiert, wo es nicht darauf ankommt. So oder so: Ihnen kann nichts passieren. Sie haben einander und Jimmy.

Samantha hatte vor dem Verlassen des Clubs Morgan auf sich aufmerksam gemacht und auf Tony gedeutet, der schon am Ausgang wartete. Morgan schob sich die Brille auf die Nase. Andere Mädchen hätten eifersüchtig reagiert. Oder geglaubt, Samantha und Violet würden sich austricksen lassen. Bella hätte nur gesagt: »Kassier ihn ab!« Morgan fragte: »Warum sagst du es mir?«

»Es ist so, wie wenn man auf eine Wanderung geht und jemandem Bescheid sagt, wohin man will. Nur für alle Fälle.«

»Er wird mehr von dir erwarten.«

»Ich komme schon klar. Jimmy und Violet begleiten mich.«

Morgans glänzende braune Haare fielen wie ein Wasserfall, als sie sich hinunterbeugte, um sich an einem Riemchen ihres Schuhs zu schaffen zu machen. »Ruf mich an, wenn du nach Hause kommst.«

»Machen Sie Ihr Spiel«, sagt der Croupier.

Samantha ist dankbar für den Vorwand, ein Stück von Tony abzurücken. Sie setzt einen Stapel Chips auf die Zwölf.

»Deine Glückszahl?«, fragt Tony.

»Mein Geburtstag«, sagt sie, dabei ist es Rosies Geburtstag.

Sie gewinnt.

Violet drückt Samanthas Arm und schüttelt ihn. »Lass dich auszahlen! Lass dich auszahlen!«

Samantha fühlt sich wacklig auf den Beinen, ihr Blut ist übersäuert. Sie legt all ihre Chips auf den Tisch und bekommt dafür einen blauen mit weißen Einsprengseln, dazu ein paar rosafarbene, grüne und rote. Tausende Dollar.

»Kannst du gehen?«, zieht Violet sie auf. »Fällst du in Ohnmacht? Muss ich dich zur Kasse tragen?«

»Ich kann dich tragen«, bietet Tony an, aber Violet gibt ihm einen Klaps. Jimmy folgt den Mädchen mit schweren, sicheren Schritten zum Käfig, in dem die Chips in Bargeld umgetauscht werden. Er zögert, als Samantha ihm einen pinkfarbenen Chip gibt. Er rollt ihn über seine Fingerknöchel und scheint ihn zurückgeben zu wollen, dann umschließt er ihn mit der Faust. »Danke.«

Später, auf der Damentoilette, wirft Violet sich die Braids über eine Schulter und beugt sich zum Spiegel vor, um ihren Lippenstift aufzufrischen. Samantha befeuchtet ein Papiertuch und wischt sich die verschmierten Augen ab. Violet wendet den Blick nicht vom Spiegel ab. »Wir sehen gut aus zusammen.«

»Ja«, sagt Samantha. »Fette Beute, hm?«

Violet lässt den Lippenstift in die Handtasche gleiten und zieht den Reißverschluss zu. »Wie Königinnen sehen wir aus.«

Friedlich trinkt Tony sein Bier aus, dann leckt er seinen Daumen an und zählt das Geld für sie, Violet und Jimmy ab. Als er fertig ist und sieht, wie dünn sein Portemonnaie geworden ist, seufzt er erleichtert.

Violet und Jimmy sind bereits auf dem Weg zur Tür, durch die schon die Morgendämmerung dringt. Orangefarbenes Licht fällt auf Tonys Gesicht und lässt eine alte Narbe noch deutlicher hervortreten, die sich durch seine rechte Augenbraue zieht, dünn wie ein Faden.

Abrupt sagt Samantha: »Du hast so viel für uns ausgegeben.«

Tonys braune Augen wirken müde. Er sieht sie an, scheint aber gleichzeitig etwas in seinem Inneren zu betrachten. »Ich hab sonst nichts, wofür ich es ausgeben könnte.«

Samantha ist ehrlich zu Nick, das ist ein Fehler.

»Dieser verdammte Job«, sagt er.

»Aber schau doch!«

Er schlägt ihr die Scheine aus der Hand. Sie flattern zu Boden.

»Es ist nichts passiert«, sagt sie. »Ich war die ganze Zeit in Sicherheit. Violet war bei mir. Du hast sie mal kennengelernt. Ihr richtiger Name ist Catherine, weißt du noch? Du mochtest sie. Und einer der Rausschmeißer ist auch mitgekommen.«

»Er will, was sie alle wollen.«

»Du kennst ihn nicht.«

»Du aber schon? Wie gut denn?«

»Mein Gott, Nick.«

Er berührt ihren Hals, als würde er ihr den Puls fühlen. Eine zärtliche, überraschende Berührung, wie der Auftakt zur Versöhnung. »Hör auf«, sagt er.

»Nein.«

Sein Daumen liegt leicht auf ihrer Kehle. Dann drückt er zu. Sie weicht zurück. Sein Griff wird fester. Ihr Kopf prallt gegen die Wand des Schlafzimmers. Nicht, will sie sagen, aber es geht nicht. Sie denkt an Rosies neue Bettwäsche, frisch und hell, mit einem Aufdruck ihrer Lieblingsprinzessin. Und an Nicks Job, der kein Job ist und bei dem sie nur so tun, als wäre er einer. Sie schluckt unter dem Druck seines Daumens und versucht, sich an die Zeit in der Highschool zu erinnern, als sie sich schon kannten, irgendwie, aus der Ferne. Als er sich vor dem Abschlussball einen Smoking anzog und Handzettel verteilte. Viel später erzählte er ihr, er habe sich damit die Leihgebühr verdient und sich geschämt. Warum?, fragte sie, du hast gut ausgesehen. So gut, dass ich richtig eingeschüchtert war. Seine Augen glänzten. Da ist noch was, das ich dir nicht erzählt hab, sagte er. Es war bei ihrer vierten Verabredung. Ich hab eine Tochter. Sie heißt Rosie. Sie ist acht.

Sie kriegt keine Luft. Sein Griff tut weh. Das ist toll, hatte sie gesagt.

Wirklich?

Ich liebe Kinder.

Aber obwohl er ihr sein Geheimnis verraten hatte, behielt sie ihres für sich, damals jedenfalls noch. Als sie es ihm dann doch erzählte – dass sie ein Chromosom hatte, das sie eigentlich nicht haben sollte, eine seltene genetische Abweichung –, sagte er nur: Warum hast du es mir nicht schon längst gesagt? Du hättest es ruhig sagen können.

Ich dachte, du könntest ein Problem damit haben, sagte sie. Er sagte, es sei ihm egal.

Der Druck seiner Hand lässt nach. Sie schnappt nach Luft. »Okay«, flüstert sie.

Er lässt los, aber sie ist nicht sicher, ob er sie gehört hat. Sein Unterkiefer hängt schlaff herunter, sein Blick scheint nach innen zu gehen, als würde er nicht sie sehen, sondern sich selbst in einem Zerrspiegel. »Okay«, sagt sie noch mal. »Ich höre auf.«

Er tritt zurück. Er ist panisch. Er sagt, er hätte es nicht so gemeint. Er nimmt es zurück, alles. Er sagt, sie solle arbeiten, wenn es das ist, was sie wolle. Sie solle tun, was sie wolle. Er klingt furchtbar. Es tut ihm so leid. Sie versucht, ihn zu trösten, weil er ihr wehgetan hat.

Dale kommt nur selten in den Umkleideraum, aber die Mädchen schenken seinem überraschenden Auftauchen kaum Beachtung. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, sich für den arbeitsreichen Freitagabend fertigzumachen. Gigi küsst Dale mit einem lauten Schmatzer auf die hohle Wange. Desirée reißt sich provozierend das Kleid herunter. Er lächelt nachsichtig.

»Geht’s dir besser, Ruby?« Dales Augen sind limettengrün und scheinen im Dunkeln beinahe zu leuchten. Seine Haare glänzen seidig, sein Gesicht ist attraktiv, seine Zähne sehen aus wie Kiesel. Früher war er in der Army. Man sieht es noch immer an seinen Schultern. Seine Stimme ist leicht und sanft und vornehm. Wenn man im Club anruft und an den AB gerät, ist es Dale persönlich, der Adresse und Öffnungszeiten nennt und einen einlädt, eine Nachricht zu hinterlassen.

»Ja«, sagt sie. »Nur ein ordentlicher Schnupfen.«

»Komm, ich will mit dir reden.«

»Oh, oh!«, gurrt Bella. »Ruby muss ins Büro des Direktors!«

Samantha folgt ihm. Seltsamerweise nicht in sein Büro, sondern in die ungenutzte untere Etage des Clubs, wo es nach Sägemehl riecht. Regale aus unbearbeitetem Holz teilen den Raum in mehrere Bereiche. Dale klappt zwei Metallstühle mit Stoffbezug auseinander, wie man sie in Kirchen benutzt, die sich keine Bänke leisten können. Er fordert Samantha auf, sich zu setzen.

»Wir haben dich am Sonntag vermisst«, sagt er.

»Tut mir leid. Ich hab mich nicht gut gefühlt.«

»Wie lange bist du jetzt bei uns?«

»Zwei Jahre.«

»Dann kennst du ja die Regeln.«

Minimum drei Schichten pro Woche, eine davon muss entweder auf einem Wochentag oder sonntags liegen. Samantha arbeitet nicht unter der Woche. Dann holt sie Rosie von der Schule ab, hilft ihr bei den Hausaufgaben und bringt sie abends ins Bett.

»Von allen Mädchen hier« – er streicht sich den Anzug glatt – »bist du die Klügste.«

Sie versteht, worauf er hinauswill. »Ehrlich gesagt …«

»Ja?«

»Ich war nicht krank.«

Er nickt leicht und schaut sie aufmerksam an. »Warum hast du gelogen?«

Er ist neugierig, nicht sauer. Sie will, dass es so bleibt. Dale ist in Ordnung. Er versucht nicht, seine Tänzerinnen zu bumsen, anders als viele andere Clubbesitzer. Außerdem kann man mit ihm reden. Man muss sich nur Gigi anschauen. Sie lässt ständig Schichten aus, und er sieht darüber hinweg, weil ihre Mutter im Sterben liegt. Samantha sagt: »Mein Freund will, dass ich aufhöre.«

Langsam sagt Dale: »Und willst du das auch?«

»Nein. Aber ich hab ihm gesagt, ich würde aufhören.« Samantha lässt es zu, dass ihr Tränen in die Augen steigen. »Ich war nicht krank. Ich hab mich geschämt, hier aufzutauchen, so wie ich aussah.« Dabei hat Nick keine blauen Flecken hinterlassen. Er hat so etwas vorher nie gemacht und war anschließend so sanft zu ihr, dass sie, wenn sie Dale alles genau erzählen würde, trotzdem das Gefühl haben würde, irgendwie zu lügen.

Dale sagt: »Muss ich mir Sorgen um dich machen?«

»Nein, jetzt ist alles gut.«

»Sicher?«

»Ja«, sagt sie. »Ich hole den Sonntag nach.«

»Vergiss es.«

Darauf hat sie gehofft. Sie verbirgt ihre Zufriedenheit und setzt ein tapferes Lächeln auf.

»Wir brauchen dich, Schätzchen«, sagt er. »Vor allem an den Abenden, wo nicht viel los ist. Du bist mein Star. Wenn diese VIP-Räume hier fertig sind, wenn die Wände stehen und alles so aussieht, wie ich es mir vorstelle, wird dieser Club eine echte Legende, ein Publikumsmagnet. Die Männer werden aus Chicago herkommen, von überall. Banker, Anwälte. Geld. Das willst du dir doch nicht entgehen lassen, oder?«

Noch einmal betrachtet Samantha die kahlen Balken der unfertigen VIP-Räume. Jeder einzelne wird zu einer Kabine werden, malt sie sich voller Unbehagen aus. Abgeschottet, im Keller des Clubs. Hier könnte ihnen alles Mögliche zustoßen. Ein entscheidender Grund, warum sie im Lady arbeitet, besteht darin, dass Dale konsequent auf der Regel besteht, dass niemand seine Tänzerinnen anfasst. Aber Regeln können sich jederzeit ändern. Ohne nachzudenken sagt sie: »Bist du sicher, dass diese Zimmer wirklich eine gute Idee sind?«

Für einen Moment wirkt er beleidigt. »Ich bin schon ziemlich lange im Geschäft.«

»Oh, ich bin natürlich dabei«, sagt sie. »Sie werfen sicher einen Haufen Geld ab. Ich meinte nur, dass es zu Konflikten zwischen den Mädchen führen kann. Sie werden sich darum streiten, wer in die VIP-Räume darf.«

»Sie?«

»Wir, meine ich.«

Einen Moment lang wirkt sein Mund verkniffen wie ein zugeklebter Briefumschlag. Als würde er ihr doch noch die Extraschicht aufbrummen. Dann lächelt er und sagt, sie kann gehen.

Ihr Gespräch mit Dale hat Zeit gekostet, trotzdem wartet sie hinter der Bühne, um ihr Make-up machen zu lassen, denn Bella ist ihr Geld wert.

Bella klopft auf die Sitzfläche eines Barhockers. »Steig auf.« Bella ist heiß auf eine sportliche Art, ihre rötlichen Haare sind kurz und struppig geschnitten, ihre Arme schlank und muskulös. Eigentlich ist sie die Einzige, die wie eine echte Tänzerin aussieht. Sie nennt sich selbst eine Lesbe, was vielleicht stimmt, vielleicht aber auch nur einen bestimmten Typ von Stammkunden ansprechen soll. »Süß oder verrucht?«

»Verrucht«, sagt Samantha.

Bella tupft ihr eine klebrige Schicht Foundation auf Stirn und Wangenknochen, wischt ihr über die Nase. Eine Wolke aus Puder. »Augen zu.«

Mit geschlossenen Augen spürt Samantha den Pinsel, der überschüssigen Lidschatten entfernt. Sanft, aber fest berührt der Pinsel ihre Augen.

»Augen auf.«

Samantha sieht das neue Mädchen, das ihnen zuschaut. Bella folgt Samanthas Blick, sie zieht den Mundwinkel hoch. Bellas Haut ist über und über mit Sommersprossen bedeckt, selbst ihre Lippen.

»Hoch.« Samantha schaut zur Decke. Sie spürt den kühlen flüssigen Eyeliner. »Schließen. Hast du es schon gehört?«

»Was?«

»Die Cops haben ein Mädchen am Straßenrand gefunden. Sie war schon eine ganze Weile tot. Allerdings konnte sie ziemlich leicht durch ihre Titten identifiziert werden.«

Samantha öffnet die Augen. Bella protestiert, sodass Samantha sie schnell wieder schließt, aber nicht so schnell, dass ihr das schockierte Gesicht der Neuen entgangen wäre.

»Was?«, fragt das neue Mädchen. Sie heißt Jolene, jetzt fällt es Samantha wieder ein. »Wie meinst du das, an ihren Titten?«

Bellas Hände bleiben in Bewegung. »Implantate eben.«

»Ich kapier’s nicht.«

»Implantate haben Nummern. Die Polizei hat sie zurückverfolgt. Besser als ein Zahnschema. Öffnen!«

Das Erste, was Samantha sieht, ist Bellas Sommersprossenlächeln. Sie spricht noch immer mit Jolene. »Ich schätze, es bedeutet, dass du, wenn du in einem Container landest, eben Pech gehabt hast.« Jolenes Brüste sind nichts Besonderes, aber nicht zu klein und echt, mit einem leicht eingezogenen Nippel. Bella wirkt vergnügt. »Wer weiß?«, sagt sie. »Der Mörder könnte schon draußen vor dem Club stehen und darauf warten, dass er reingelassen wird. Vielleicht wird er dich um einen Tanz bitten.« Sie pinselt Gloss auf Samanthas Lippen.

Samantha stößt sie an. »Wo ist das passiert?«

»Im Wald am Highway, bei Hodgkins.« Also ein paar Städte weiter. »Wenn du eine Auffrischung brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.«

Als die Mädchen sich für die Eröffnungsnummer auf den Weg zum Vorhang machen, bei der sie vom DJ wie bei einem Schönheitswettbewerb einzeln vorgestellt werden, findet Samantha sich trotz sorgfältiger Ausweichmanöver neben Jolene wieder. Jolene hat angstvoll aufgerissene Augen. Allmählich fühlt Samantha sich an eine dieser lemurenäugigen Trollpuppen erinnert, also sagt sie: »Bella will dir nur einen Schrecken einjagen.« Dann fügt sie, obwohl sie nicht ganz sicher ist, hinzu: »Sie hat sich das ausgedacht.«

Jolene blinzelt. »Warum?«

»Du bezahlst sie nicht fürs Make-up.«

»Das schaffe ich auch allein.«

»Du machst das beschissen, man sieht das.«

»Ich bin nicht so wie du«, murmelt Jolene. »Ich verdiene nicht viel.«

»Du weißt nicht, was ich verdiene.«

»Mehr als ich.«

»Na und? Lass es von Bella machen. Sieh es als Investition.« Sie benutzt dasselbe Wort, mit dem sie Nick die Brustvergrößerung schmackhaft machen wollte.

Desirée rauscht vorbei, nicht ohne (»Hallo, Süße!«) Samantha an den Hintern zu greifen.

»Glaubst du, das hilft?«, fragt Jolene.

»Ich glaube, du kannst jede Hilfe gebrauchen, die du kriegen kannst.«

Die Stimme des DJs dröhnt durch den Raum. Violet sagt den Mädels, sie sollen den Mund halten. Hinter der Bühne wird es einen Moment leiser, dann schwillt der Lärm wieder an. Rhiannon, die vor Samantha geht, dreht sich zum Spiegel über der Treppe, zupft ihr Kleid zurecht und streicht über den Stoff. »Klopapier« sagt sie und pflückt einen Fetzen herunter.

Jolene wirkt niedergeschlagen. »Ich meine es ernst«, sagt Samantha. »Mit einem besseren Make-up bekommst du mehr Tänze, und Bella wird dich mögen. Es ist eine Win-win-Situation.«

»Warum ist es wichtig, ob Bella mich mag?«

»Du solltest darauf achten, dass alle dich mögen.«

Die Bühnenscheinwerfer schicken pulsierendes, hin und her zuckendes Licht durch den Vorhang.

»Dann stimmt es also nicht?«, fragt Jolene. »Sie hat das gesagt, um mir Angst einzujagen?«

»Glaub mir«, sagt Samantha. »Es war nur eine Horrorgeschichte für Stripperinnen.«

Trotzdem muss Samantha den ganzen Abend daran denken. Es fällt ihr wieder ein, als sie den Mann mit der hängenden Schulter von letzter Woche entdeckt, der langsam zum Stammkunden wird und für fünf Tänze hintereinander gut ist. Sie denkt an den Kerl, der sie ins Casino mitgenommen hat und seitdem nicht mehr im Club aufgetaucht ist. Bellas Geschichte schleicht sich in ihr Bewusstsein, als ein Pärchen aus dem College den doppelten Preis für einen Tanz hinblättert. Allerdings wirken die beiden zusammen so glücklich und dämlich, dass sie zu dem Schluss gelangt: Nein, die nicht. Niemals. Während die Nacht sich hinzieht und ihre Füße sich langsam in Blutblasen verwandeln, geht ihr die Geschichte immer mal wieder durch den Kopf.

Sie fragt die anderen lieber nicht, schließlich könnte sich herausstellen, dass es stimmt.

»Mein Geld!« Von den High Heels abgesehen ist Jolene nackt. Sie steht vor ihrem offenen Spind, am ganzen Körper angespannt, die Hände zu Fäusten geballt. Dann werden ihre Hände fahrig, wühlen im Spind herum, suchen nach dem, wovon alle im mucksmäuschenstillen Raum wissen, dass es nicht dort ist. »Jemand hat mein Geld gestohlen!«

Der Spind rechts daneben ist verschlossen; Angel arbeitet heute nicht. Der links von ihr gehört Sasha, die halbnackt und mit in die Hüften gestemmten Händen erklärt: »Ich war es nicht. Mach schon. Durchsuch mich.« Sasha – trockene, ringelblumengelbe Haare, schlechte Zähne – dürfte mit etwas Glück an einem Freitagabend zweihundert Dollar mit nach Hause nehmen. Sie trägt Jogginghose und einen BH mit Leopardenmuster, auf ihrem Bauch glänzt das frisch aussehende Abziehtattoo eines Schmetterlings. Ihre Haltung ist trotzig.

»Ich wette, sie hat es sich reingeschoben«, sagt Violet.

»Da sucht sicher keiner«, sagt Rhiannon.

»Eklig.«

»Joley kann es machen.«

»Jolene.«

»Wie auch immer«, sagt Desirée. »Lass uns nachschauen.«

»Ha, ha«, sagt Sasha, aber sie ist jetzt nervös. Jolene weint.

»Ich mach es«, erklärt Skye.

»Untersteh dich!«

»Wer hält sie fest?«

Dale taucht auf. Plötzlich fällt die Spannung im Raum rapide ab. Nur Jolenes abgehacktes Keuchen ist noch zu hören.

Dale beruft eine Versammlung ein. Spindtüren werden zugeschlagen. Die Mädchen ziehen ihre Jeans an, gehen hinaus und lassen sich in die Ledersessel an der Hauptbühne fallen. Mürrisch lauschen sie Dales Vortrag darüber, dass sie aufeinander achtgeben sollen. »Ihr mögt nicht alle Freundinnen sein«, sagt er. »Aber ihr seid Schwestern.«

Jolene besteht nur noch aus Rotz und Papiertaschentüchern. Sie trägt ihr T-Shirt auf links.

Dale hält eine Glasschüssel hoch. »Jede Einzelne von euch. Wir passen aufeinander auf.«

Sasha wirft einen Zwanziger für Jolene in die Schüssel. So machen es alle. Als Samantha dran ist, will sie zuerst mehr geben, lässt es aber bleiben.

Ein Dutzend Rosen stehen auf dem Küchentisch. Rot, gerade aufgegangen. Genau der Strauß, den auch Samanthas Vater ihr zum Geburtstag geschenkt hätte. So einen Strauß hat sie an dem Tag von ihm bekommen, als sie ihre Diagnose erfahren und ihre Mutter sie vom Arzt abgeholt hat.

In der dunklen Wohnung brummt der Kühlschrank. Sie greift nach der Karte, auf der steht, dass Nick seine Bewerbung eingereicht hat. Und dass er sie liebt.

Ein Junggesellenabschied wird gefeiert. Toll für den Club. Nicht notwendigerweise für die Mädchen. Sicher werden viele Tänze bestellt, aber kein Mädchen wird die Aufmerksamkeit eines Kunden lange genug fesseln können, um wirklich Geld zu verdienen. Ein Mann jubelt der vorbeigehenden Violet zu (»Gib mir ein Stück von der Schokolade«), und als die Gesellschaft den Champagnerraum reserviert, ohne sich auf ein bestimmtes Mädchen festzulegen, dürfen alle ran.

Samantha hält sich abseits. Der Pulk von Mädchen, die es in den Champagnerraum zieht, bedeutet weniger Konkurrenz auf der Tanzfläche. Sie nimmt durch ein paar irische Touristen, die sich in einer gemieteten Limousine aus Chicago haben herkutschieren lassen, einen Hunderter ein, dann sieht sie Jolene bei einem Kunden sitzen. Jolenes Make-up ist tadellos. Sie nippt an einem Drink.

Das Gefühl, das sich auf Samanthas Brust legt, ist so etwas wie Mitleid, aber auf eine sehr persönliche Art. Es kommt ihr vor wie der Nachhall eines uralten Gefühls aus ihrer eigenen Vergangenheit. Die Erinnerung an einen nicht näher bestimmbaren Augenblick, der sie mit Bedauern und der Sehnsucht erfüllt, ihn rückgängig machen zu können. Sie steht auf, geht zum Tisch hinüber und legt einen Arm um Jolene. »Darf ich sie dir kurz entführen?« Sie schmiegt sich an das Mädchen. Der Mund des Mannes öffnet sich in kindlichem Staunen. Männer stehen auf Lesbennummern. Sie stellen sich gern vor, wie die Tänzerinnen es sich hinter der Bühne gegenseitig besorgen.

Samantha sagt: »Ich bringe sie zurück, wenn ich mit ihr fertig bin.«

Sie zieht Jolene am Handgelenk mit sich. Jolene stolpert (»Du gehst zu schnell«), aber Samantha lässt nicht locker (»Du trägst die falschen Schuhe«), bis sie in die leere Garderobe kommen.

»Was hast du gemacht?«, fragt Samantha.

»Etwas getrunken«, sagt Jolene. »Ich darf mir doch einen Drink bestellen.«

»Hat er dich dafür bezahlt, dass du bei ihm sitzt?«

»Er hat die Drinks bezahlt.«

»Schätz mal, was ich pro Abend verdiene.«

»Du hast mich bloß hergebracht, damit ich mich mies fühle.«

»Tausend«, sagte Samantha. »Mindestens.«

Jolene verzieht den Mund.

»Willst du das nicht auch?«, fragt Samantha.

»Das ist nicht fair«, sagt Jolene. »Für dich ist es leicht. Dich wollen alle.«

Mit sanfter Stimme sagt Samantha: »Am Anfang fühlen sich hier alle fehl am Platz.«

»Du doch nicht.«

»Doch, ich auch.«

Die Spannung weicht aus Jolenes Schultern. Sie beißt auf einen Niednagel und schaut nach unten. »Was ist falsch an meinen Schuhen?«

»Du bist in ein normales Schuhgeschäft gegangen und hast das Paar mit den höchsten Absätzen gekauft.«

»Und?«

»Schau mal.« Samanthas Plateauschuhe sind aus transparentem Plexiglas und machen sie ein gutes Stück größer, ohne ihre Gelenke zu verdrehen. Der hohe Absatz ist zum größten Teil Illusion. Cinderella-Stripper-Slipper. »Wahrscheinlich hast du dich hingesetzt, weil dir die Füße wehgetan haben.«

»Ich hatte nichts Besseres zu tun.« Jolenes blasse Haare hängen ihr ins Gesicht. »Keiner will einen Tanz von mir.«

»Du brauchst Stammkunden. Wie wäre es mit dem Typen mit der Baseballkappe? Mit dem Z über dem Schirm. Ich hab ihn schon mal in der Nähe des DJs gesehen. Manchmal tanzt du für ihn.«

»Das ist mein Freund.«

»Oh!«

»Ich meine, er war mein Freund. Zack hat mich sitzen lassen.«

»Das tut mir leid«, sagt Samantha, obwohl sie eigentlich die Augen verdrehen möchte. Keine Verabredungen mit Kunden! Das wissen sie alle.

Jolene zuckt die Schultern. »Er wollte sich bloß eine Stripperin angeln.«

»Du hast etwas Besseres verdient.«

»Ja.« Aber Jolene schaut zur Tür.

»Der Club ist rammelvoll«, sagt Samantha. »Du kannst heute Abend richtig gut absahnen. Ich sag dir, wie.«

Auf Jolenes Gesicht blitzt ganz kurz etwas auf, beinahe schillernd wie ein winziger Fisch im Wasser, so flüchtig und köstlich, dass Samantha so tut, als hätte sie nichts bemerkt. Sie erklärt ihre Strategie. Als sie fertig ist, spürt sie die Trockenheit in der Kehle. Sie ist nervös. Wegen Jolenes Schweigen. Wegen ihres Gesichtsausdrucks. Wenn sie aussieht wie jetzt, ist sie gar nicht schlecht, denkt Samantha. Aber plötzlich bedauert sie, überhaupt etwas gesagt zu haben. Sie kommt sich besitzergreifend vor – oder besser: vom Besitzen besessen, gewärmt und beschützt von diesem Gefühl, so wie sie auch Jolenes vergängliche Schönheit beschützen möchte, ihre glänzende Haut und den feuchten Mund, die silbrig-blonden Wimpern, das ergebene Lächeln.

»Ich wette, du bist eine gute Mutter«, sagt Jolene.

»Ich kann keine Kinder bekommen.«

Als der Club schließt, suchen die Rausschmeißer den Parkplatz ab. Die Mädchen dürfen das Gebäude nicht verlassen, bevor die Rausschmeißer ihr Okay gegeben haben. Diese Regel ist neu.

Die Fröhlichkeit, mit der die Mädchen sich voneinander verabschieden, ehe sie zu ihren Autos gehen, klingt ein wenig aufgesetzt. Deshalb glaubt Samantha, dass auch die anderen Bellas Geschichte gehört haben. Die Lampen tauchen den Parkplatz in ein klinisches Licht. Der feuchte Asphalt glänzt wie Metall. Die riesenhaften Rausschmeißer versuchen, noch etwas riesiger zu wirken. Schlüssel klimpern, Autotüren werden geöffnet und geschlossen. Jolene hüpft zu ihrem Auto und wackelt vor dem Einsteigen triumphierend mit dem Hintern.

Samantha wartet eine Weile, ehe sie den Wagen anlässt. Die Luft ist sauber und feucht. Sie hatte Jolene nicht erzählen wollen, dass sie keine Kinder bekommen kann. Es stimmt nicht einmal so ganz. Das Baby einer anderen Frau könnte in ihr heranwachsen. Sie könnte eine Eizellspende bekommen. Dafür hat sie früher jeden Monat Geld beiseitegelegt. Dann hat Nick gesagt: Ist Rosie denn nicht genug? Doch, sagte Samantha, und so meinte sie es auch.

Samantha spielt mit dem Gedanken, von zu Hause aus ihre Eltern anzurufen, die inzwischen in Florida leben. Ihr früherer Kinderarzt fällt ihr ein, der von einem Syndrom gesprochen hatte. Sie hatte »Sündendom« verstanden und sich nicht zu fragen getraut, was das bedeuten sollte. Der Arzt redete immer weiter. Er war freundlich, aber seine Freundlichkeit war müde, abgerieben, wie Stoff, der vom vielen Tragen glänzt. An den Ellbogen, den Knien. Karyotyp, Dysgenesie. Die Zeit hatte die Worte herausgemeißelt, jede Silbe deutlich hervorgehoben und ihr im Nachhinein gezeigt, wie genau sie damals zugehört hatte, ohne wirklich etwas zu verstehen. Ihre Mutter hatte den Arzt unterbrochen. Die Eltern hatten sie für eine Spätentwicklerin gehalten. Nein, das kommt nicht ganz hin, sagte der Arzt. Eine Nichtentwicklerin. Oder Vielleichtentwicklerin. Man könnte etwas tun. Ihr Hormone geben. Eine schöne junge Frau. Ein Chromosom an der falschen Stelle, XY statt XX, aber sie sei äußerlich betrachtet eine Frau, ihre Organe normal und voll funktionsfähig. Aber nicht die Eierstöcke, sagte ihre Mutter. Mal gewinnt man, mal verliert man, schien das Lächeln des Arztes zu sagen. In vielerlei Hinsicht, sagte er, kann sie sich glücklich schätzen. Die Eierstöcke sind hypoplastisch, das stimmt, eigentlich nur Gewebefasern. Aber wenn man es mit den Symptomen der meisten intersexuellen Störungen vergleicht, würde ich sagen, sie hat Glück im Unglück.

Danach saß sie lange mit ihrer Mutter zusammen im Auto. Ein Sturm zog auf. Marineblaue Wolken türmten sich am gelblichen Himmel. Die Tornadosaison hatte begonnen. Wenn jetzt die Sirenen losgingen, würden sie zurück in die Klinik und im Keller Schutz suchen müssen. XY haben die Jungen, sagte sie.

Du bist ein Mädchen, sagte ihre Mutter.

Aber nicht richtig.

Du bist mein Mädchen.

Samantha lässt den Motor an. Sie hat keine Lust mehr, den auf und ab laufenden Rausschmeißern zuzusehen. Sie ist müde, aber es ist eine innere Müdigkeit. Sie wird ihre Mutter nicht anrufen. Wenn man Leuten sagt, dass man sie vermisst, vermisst man sie nur noch mehr.

Jolenes Augen strahlen, als Samantha an ihrem nächsten Arbeitstag die Garderobe betritt. Violets Füße liegen auf dem Schminktisch, sie lackiert geduldig ihre Zehennägel. Aber die anderen Mädchen sind offensichtlich verärgert über Jolene.

Jolene eilt Samantha entgegen. »Rat mal!«

»Ähm, was denn?«

»Ich hab meinen Namen geändert.«

Sie alle haben Künstlernamen. Einer anderen Stripperin den richtigen Namen zu verraten, ist eine große Sache. Samantha kennt ein paar: Violet heißt Catherine, Morgan heißt Rachel, Paris heißt Paris. Dass man einen Namen nochmal ändert, ist eher unüblich, aber es kommt vor. Dante, eine Collegestudentin, wurde erst zu Titania, dann zu Althea und schließlich zu Molly. Dann hat sie gekündigt.

»Ich wette, du weißt schon, welchen ich genommen hab«, sagt Jolene zu Samantha.

»Nein, ehrlich nicht.«

»Denk nach.«

»Spuck’s aus, Daley«, sagt Bella.

»Siehst du?«, sagt Jolene. »Das ist genau mein Problem. Ich hab mich für Jolene entschieden, weil er nach Südstaaten klingt und irgendwie süß ist.«

»Weil es nach Dolly Parton klingt«, sagt Gigi.

»Dolly Parton hat größere Starterknöpfe«, merkt Bella an. »Ich wette, sie hat zumindest darüber nachgedacht, Stripperin zu werden.«

»Aber alle verstehen meinen Namen falsch«, sagt Jolene.

Violet sucht einen neuen Nagellack aus und schüttelt die Flasche.

»Mein neuer ist viel besser.«

»Wir können es kaum abwarten, ihn zu hören«, sagt Bella.

Jolene sagt: »Green.«

»O ne«, sagt Gigi.

»Genau, das wird nicht funktionieren.«

»Das soll dein neuer Name sein?«

»Das ist nicht mein Name«, sagt Jolene. »Bloß ein Hinweis.«

»Du solltest ihn uns einfach verraten«, schlägt Samantha vor.

»Lady Jade.« Jolene stößt einen Tusch aus. »Ich bin Lady Jade.«

»Na«, sagt Samantha. »Gar nicht schlecht.« Aber Jolene hält den Atem an, als hätte er sich plötzlich in Sprengstoff verwandelt. Dann platzt sie heraus: »Weil wir ein Team sind.«

Im Spiegel begegnet Samantha Violets schweren Lidern. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.«

»Du und ich«, sagt Jolene. »Ruby und Jade.«

»Oh.«

»Ich hätte auch Diamond nehmen könnten, aber« – sie zuckt verlegen die Schultern – »so besonders bin ich nun auch wieder nicht. Ruby ist natürlich die Beste. Die hübscheste.«

»Lady Jade ist ein toller Name«, sagte Samantha. »Klingt königlich.«

Das Mädchen drückt Samantha fest an sich. »Ich wusste, dass er dir gefällt.« Ihre Haut riecht nussig, ihre Haare wie ein zuckriger Latexhandschuh. »Ich muss pinkeln! Bis gleich auf der Tanzfläche, Schwestern«, ruft sie und eilt davon. Die Tür knallt hinter ihr zu.

»Na«, sagt Violet zu Samantha. »Du bist ja ziemlich nett zu ihr.«

Es ist mitten in der Woche. Der Abendhimmel hat die Farbe von Lavendel, die Wolkenschichten erinnern an Trocknertücher. Nick fährt am Ausgabeschalter eines Drive-in-Restaurants vor, und sie entdecken, dass Rosie auf der Rückbank eingeschlafen ist. Nick greift nach hinten, um das Kindermenü neben ihr abzustellen, dann reicht er den Rest an Samantha weiter. Von ihrem Schoß steigt das Aroma von Pommes Frites auf.

Er fährt langsam und setzt bei jedem Abbiegen den Blinker. Auf der Beifahrerseite tauchen die Modellhäuser eines Neubaugebiets auf. Die hell erleuchteten Fenster ohne Vorhänge erlauben den Blick auf die perfekte Einrichtung.

Nick nimmt den Blick nicht von der Straße, aber Samantha spürt, wie der Wagen scheinbar von den Häusern angezogen wird. Sie fragt sich, ob auch er sich ausmalt, wie sie zu dritt als glückliche Familie hinter diesen goldenen Fenstern wohnen. Jede Wette, dass die Häuser große Gärten haben. Kinder brauchen Rasen, sie brauchen Bäume. Samantha mag ihr Zuhause, aber sie ist sicher, dass sie eines Tages ein noch schöneres haben werden. Das will auch Nick. Er hat ihr zwar wehgetan, aber doch sicher, weil er es so ernst mit ihr meint? Ist Eifersucht nicht auch ein Ausdruck von Liebe? Er kennt sie in- und auswendig. Samantha hat nie jemandem von ihrem Syndrom erzählt, außer Nick. Sie ist dankbar dafür, dass er sie trotzdem liebt.

Auf der anderen Spur nähert sich ein entgegenkommender LKW mit nur einem intakten Scheinwerfer. Nick kneift die Augen ein Stück zusammen und richtet sich kerzengerade auf.

Später, als Rosie im Bett ist und sie fernsehen, hebt er Samanthas große Füße auf seine Knie und massiert ihre Fußsohlen, die eine Seite viel länger als die andere. Sie glaubt, dass er sich an die Scheinwerfer erinnert, einer hell, einer blind, und an die magnetische Anziehungskraft der Häuser auf ihren Wagen. Ein wenig zu schnell wechselt er wieder zu ihrem anderen Fuß über, als könne er ihre Gedanken erraten, als habe sie ihn bei etwas Verbotenem erwischt.

Die Nacht scheint aus der Zeit gefallen zu sein. So ist es samstagsnachts hin und wieder. Männer zahlen, weil andere Männer zahlen, dann, weil sie selbst schon mal bezahlt haben, dann wollen sie das, was sie tun, dadurch kaschieren, dass sie es noch einmal tun. Der Club hat keine Fenster, es gibt keine Uhren. Man gewöhnt sich daran, nie zu wissen, wie spät es ist. Sie tanzt für einen netten Mann mit vier Kindern. Er zeigt ihr die Fotos aus seiner Brieftasche und ist ehrlich erfreut, als sie ihn zu seinem Familienporträt beglückwünscht, den Kindern mit den weichen Haaren und der Frau mit dem einstudierten Lächeln.

Dann kauft Ron, der Mann mit der hängenden Schulter, der auf dem Bau gearbeitet und sich dort den Rücken ruiniert hat, eine Flasche Champagner, und die Kellnerin notiert, wann seine Zeit in diesem Raum abgelaufen ist. Obwohl er Samantha auf der Stelle mit zwei frischen Hundertern bezahlt, dazu extra für jeden Tanz, und obwohl es keine Rolle spielt, dass sie nur so tut, als würde sie trinken, fühlt sie sich in seiner Gesellschaft alles andere als entspannt. Er bezweifelt laut, dass das Nichtberühren eine Regel ist, die von den Rausschmeißern tatsächlich durchgesetzt wird, dann heuchelt er Zustimmung. Seine Enttäuschung kompensiert er durch Dirty Talk. Ob sie wisse, was er gern tun würde? Er wisse doch, dass sie das hören will.

Es ist abstoßend und gleichzeitig langweilig. An dem, was Männer mit Frauen tun wollen, ist nichts Originelles. Je länger sie Ron zuhört, desto mehr schätzt sie Nick. Er ist ein guter Mann. Er ist die Art Mann, der andere Männer in die Schranken weist.

Als die Stunde vorbei ist, kommt die Kellnerin und nimmt die tropfende Flasche aus dem Kübel mit dem inzwischen halbgeschmolzenen Eis. Sie erklärt Ron, dass er noch einmal bezahlen müsse, wenn er den Raum behalten wolle. Er greift nach seiner Brieftasche. Samantha ist erleichtert, als Gigi auftaucht und ins Zimmer tritt, obwohl sie das eigentlich nicht darf. »Dein Ziehkind hat ein Problem«, sagt sie zu Samantha.

»Was für ein Problem?«, fragt Samantha.

»Eins, wegen dem du gefeuert werden kannst.«

Ron lächelt nicht. Er tippt auf seine Armbanduhr. Samantha ignoriert ihn und folgt Gigi hinter die Bühne. Sie spürt kalte Angst. Wen hat sie mit »du« gemeint? Jolene? Oder sie, Samantha?

Dann sieht sie Jolene schlaff auf Bellas Make-up-Stuhl sitzen. Aus ihren geschlossenen Augen laufen Tränen. Sofort vergisst sie ihre eigenen Sorgen. »Hey«, sagt Samantha. »Ich bin’s, Schätzchen. Was ist passiert? Komm schon, wein nicht.«

Das Mädchen öffnet die Augen. Sie sind tiefblau, die Art Blau, nach dem Malstifte benannt werden. »Ich bin so glücklich.«

Gigi atmet tief aus. »Bonbons.«

»Als ich es gemerkt hab, hab ich sie gleich nach hier hinten gebracht. Sie ist total zugedröhnt.«

»Dale wird ausrasten. Er wird sie mit einem Arschtritt vor die Tür setzen.«

Samantha schüttelt sie. »Was hast du genommen?«

»Muss wohl X gewesen sein«, sagt Gigi. »Sie sagt allen, dass sie sie liebt.«

»Das tue ich auch.« Jolene zittert. »Ich liebe dich.«

Gigi verdreht die Augen. Auf einer Seite hängen die falschen Wimpern schief. »Wir können sie hier nicht ewig verstecken. Gleich geht’s mit dem Special los. Es fällt auf, wenn sie nicht dabei ist.«

»Wir sagen, sie ist krank«, schlägt Samantha vor.

»Aber erwähn nicht, dass du sie bei mir gefunden hast«, sagt Bella.

»Das funktioniert nicht«, sagt Gigi. »Sie sieht nicht krank aus. Sie sieht so aus, als würde sie jeden Moment den Stuhl vögeln.«

»Da ist sie ja. Ich dachte, ich sag dir lieber Bescheid.«

Es ist Violet, mit Dale im Schlepptau. Sie hält Samanthas giftigem Blick stand. Ihre Miene lässt Samantha sich unwillkürlich fragen, was in ihrem eigenen Gesicht zu lesen ist. Dass sie sich verraten fühlt? Woher kommt dieser Beschützerinstinkt für ein Mädchen, das sie eigentlich nicht mal mag?

Dales schicke Schuhe klappern laut auf dem Betonboden, als er sich dem Stuhl nähert, der gebeugten Gestalt des Mädchens mit dem sich heftig hebenden und senkenden Brustkorb, dem offenstehenden Mund, den aufgerissenen Augen und den feuchten Wangen.

»Sie hat keine Drogen genommen«, sagt Samantha.

Gigi wirft ihr einen zynischen Blick zu.

»Ich meine, es ist nicht ihre Schuld«, fährt Samantha fort. »Jemand muss ihr etwas in den Drink gekippt haben.«

Dale wendet den Blick nicht vom Stuhl ab.

»Sie ist neu«, sagt Samantha.

»So neu nun auch nicht«, sagt Violet.

»Und naiv«, sagt Samantha.

Für einen Moment kehrt Stille ein. Gigi hat sich ihrem Spiegel zugewandt. Sie versucht, die lose Augenbraue wieder an Ort und Stelle zu kleben. Dann merkt sie, dass Dale sie beobachtet. »Lady Jade hat Stroh im Kopf«, stellt sie fest.

Samantha spürt, wie sich eine heiße Hand in ihre schiebt. »Ich will nach Hause«, sagt Lady Jade.

»Ich fahre sie nach Hause«, erklärt Samantha, obwohl sie nicht weiß, wo Lady Jade wohnt.

»Komm mal mit, Ruby«, sagt Dale.

In seinem Büro, ganz oben im dritten Stock, von dem aus er durch ein Innenfenster den Club im Auge hat, zieht er einen braunen Umschlag aus einem hölzernen Aktenschrank, setzt sich an den Schreibtisch, auf dem sich eine Kladde und eine altmodische Bibliothekslampe befinden. Im Schein der Lampe wirken seine Hände zu groß für den Rest seines Körpers. Die Musik aus dem Club klingt nur gedämpft herauf. Hinter ihm blubbert ein Aquarium. Er schaut in einen Ordner, schreibt ein paar Zeilen auf einen Block und reißt das Papier ab. »Ihre Adresse.«

Samantha nimmt den Zettel. Sie weiß grob, wie sie dorthin kommt. »Wirst du sie rauswerfen?«

»Keine Drogen in meinem Club.«

»Sie wollte sie nicht nehmen.«

»Vielleicht nicht, vielleicht doch.«

»Bitte.«

Dale lächelt. »Lady Jade kann von Glück sagen, eine Freundin wie dich zu haben.« Es ist eine höfliche Art, ihr zu sagen, sie solle es nicht auf die Spitze treiben. Er nimmt den Telefonhörer von der Gabel und reicht ihn ihr.

Sie ruft Nick an. Sie stellt sich vor, wie er sich im Bett umdreht, sein Gesicht im Kissen vergräbt, während Rosie, die wie eine Tote schläft, nichts mitbekommt. Sie hört ihre eigene Stimme auf dem Anrufbeantworter und erklärt die Situation, mehr oder weniger (»eine andere Tänzerin hat sich den Magen verdorben, die Arme«). Dale setzt ein amüsiertes, verschwörerisches Lächeln auf.

Ein Rausschmeißer wird angewiesen, Lady Jade nach draußen zu tragen. Samantha geht in die Garderobe und zieht sich vor ihrem Spind um. Als jemand »Ruby« ruft, dreht sie sich um. Violet hat eine Quittung von der Bar in der Hand. »Der Mann im Champagnerraum hat dich gesucht.«