Rechte Zeitverhältnisse - Philipp Rhein - E-Book

Rechte Zeitverhältnisse E-Book

Philipp Rhein

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Beschreibung

Die antidemokratischen Bedrohungen der Gegenwart und ihr sichtbarster Ausdruck, der erstarkte Rechtspopulismus, sind Verarbeitungsformen einer Krise gesellschaftlicher Zeitverhältnisse. Anhand ausführlicher Interviews mit AfD-Wähler:innen zeigt Philipp Rhein, inwiefern im Rechtspopulismus eine kollektive »Verlustwut« der Spätmoderne verarbeitet wird, in der »Normalität« abhandengekommen, Krise zum Dauerzustand und Zukunft zum Bedrohungsszenario geworden ist. AfD-Wähler*innen reagieren nicht mit nostalgischer Vergangenheitsorientierung, sondern mit Endzeitdystopien und Kairos. Das macht den Rechtspopulismus zu einer Bedrohung für die Demokratie: Weil er Symptom einer Zeitkrise unserer Gegenwartsgesellschaft ist, gelingt es ihm trotz oder gerade wegen seiner destruktiven, postfaktischen und konzeptarmen Aufstellung erfolgreich zu sein.

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Philipp Rhein

Rechte Zeitverhältnisse

Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Die antidemokratischen Bedrohungen der Gegenwart und ihr sichtbarster Ausdruck, der erstarkte Rechtspopulismus, sind Verarbeitungsformen einer Krise gesellschaftlicher Zeitverhältnisse. Anhand ausführlicher Interviews mit AfD-Wähler:innen zeigt Philipp Rhein, inwiefern im Rechtspopulismus eine kollektive »Verlustwut« der Spätmoderne verarbeitet wird, in der »Normalität« abhandengekommen, Krise zum Dauerzustand und Zukunft zum Bedrohungsszenario geworden ist. AfD-Wähler*innen reagieren nicht mit nostalgischer Vergangenheitsorientierung, sondern mit Endzeitdystopien und Kairos. Das macht den Rechtspopulismus zu einer Bedrohung für die Demokratie: Weil er Symptom einer Zeitkrise unserer Gegenwartsgesellschaft ist, gelingt es ihm trotz oder gerade wegen seiner destruktiven, postfaktischen und konzeptarmen Aufstellung erfolgreich zu sein.

Vita

Dr. Philipp Rhein ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe für Politikwissenschaft der Universität Kassel und Mitglied des Promotionskollegs »Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität« an der Universität Tübingen.

Perhaps we are also witnessing how nihilism goes when futurity itself is in doubt. Perhaps there is a form of nihilism shaped by the waning of a type of social dominance or the waning social dominance of a historical type. As this type finds itself in a world emptied not only of meaning, but of its own place, far from going gently into the night, it turns towards apocalypse. Wendy Brown, In the Ruins of Neoliberalism

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

1.

Krisenzeit oder Zeitkrise? Rechtspopulismus in ›entsicherten‹ Zeiten

1.1.

Verlier*innen der Modernisierung

1.2.

Krisenpanorama, Kontrollverluste und autoritäre Versuchungen

1.3.

Die Angst der AfD-Wähler*innen

1.4.

Fazit: Zeitkrise statt Krisenzeit. Warum Angst- und Deprivationsdiagnosen zu unterkomplex sind

2.

Verlustwut im Erfahrungsraum der Spätmoderne. ›Zeit‹-Diagnosen des Rechtspopulismus

2.1.

Die Temporalität gesellschaftlicher Strukturen der Moderne

2.1.1.

Vormoderne Temporalität

2.1.2.

Fortschritt und Geschichte: Zur Temporalität der Moderne

2.1.3.

Zeit im Kapitalismus

2.1.4.

Temporalisierung von Komplexität

2.2.

Zwischenfazit

2.3.

Die Verdrängung der Moderne: Der Erfahrungsraum der Spätmoderne

2.3.1.

Ende der sozialen Moderne und der Verlust von Zukunft

2.3.2.

Die breite Gegenwart der spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten

2.3.2.1.

Sozialstruktur und Deklassierung

2.3.2.2.

Breite Gegenwart der Spätmoderne

2.4.

Fazit: Rechtspopulismus im Kontext des Erfahrungsraums der Spätmoderne

3.

Zur Analyse des utopischen rechtspopulistischen Bewusstseins und seiner Erfahrungsräume

3.1.

Wissenssoziologie der Zeit

3.1.1.

Soziale Lagerung und konjunktive Erfahrung

3.1.2.

Zeiterleben und utopisches Bewusstsein

3.1.3.

Praxeologische Rekonstruktion konjunktiver Erfahrungsräume

3.1.4.

Dokumentarischer Sinngehalt und Einklammerung des Geltungscharakters

3.2.

Datengenese

3.2.1.

Material

3.2.2.

Interviewgestaltung

3.2.3.

Sampling und Materialgewinnung

3.2.4.

Reflexion und Forschungsethik

3.3.

Vorgehensbeschreibung

3.3.1.

Textsortentrennung

3.3.2.

Komparative Sequenzanalyse

3.3.3.

Formulierende und Reflektierende Interpretation

3.4.

Analyseziel

4.

Zwischen Selbstviktimisierung und Selbstelitisierung. Rechtspopulistische Sinntypen

4.1.

Die ›Durchschauenden‹

4.1.1.

Selbstbild: »Unkonventionell« und »durchschauend«

4.1.1.1.

»…nicht nur konventionell irgendwas…« – Die Anderen denken zu wenig

4.1.1.2.

»…versteh ich auch nicht, dass manche Gärtner das nicht blicken…« – Unkonventionalität als Selbstbild

4.1.1.3.

Gegenhorizonte: »Kopierte Meinung…« und »Nachplappern«

4.1.2.

Hinterbühnen-Wissen

4.1.2.1.

»…was die nobelen Fraun im Kübelchen da unten neben der Spülmaschine drin haben« – Erfahrenheit

4.1.2.2.

»…dann hat das eine andere Qualität in der Aussage…« – Exklusives Hinterbühnen-Wissen

4.1.2.3.

»Nö, […] dass es ne Partei ist, die ganz normale Ansichten vertritt« – Normalität statt Biografie

4.1.3.

Normalität

4.1.3.1.

»Lauter solche Dinge, die ganz NORMAL sind…« – »Normaler« Umweltschutz versus »wahnhafter« Klimaschutz

4.1.3.2.

Normalität als das »Menschenmögliche«

4.1.4.

Manipulierte versus Durchschauende

4.1.5.

Zusammenfassung

4.2.

Die ›Opfer‹

4.2.1.

Verhärtete Fronten – ausgegrenzte Minderheit

4.2.1.1.

»…ich kann meine Meinung nicht mehr laut sagen…« – Selbstbild Opfer von Ausgrenzung

4.2.1.2.

»…die moralisch in der viel stärkeren Position« – Selbstbild als Minderheit

4.2.2.

Opfer frustrierter Solidaritätserwartungen

4.2.2.1.

»Geklüngel« und »Seilschaft der Höherwertigen« – Opfer-Selbstbild und verweigerte Hilfe

4.2.2.2.

»…die blöden Debatten da, mit oder ohne Kopftuch…« – Die Solidarität der Anderen

4.2.2.3.

Exkurs: Entsolidarisierung versus anti-islamische Einstellungen

4.2.2.4.

»…ich hab noch nie so-oo gesellschaftlich abgehängt gefühlt…« – Isolation und biografischer Tiefpunkt

4.2.2.5.

»Die Deutsche sind nicht gekommen, nur die Männer von Anatolien…« – Kulturelle und institutionalisierte Entsolidarisierung

4.2.3.

Zwischenfazit

4.2.4.

Spaltung als Chance

4.2.5.

Zusammenfassung

4.3.

Fazit: Selbstviktimisierungen und Selbstelitisierungen

5.

Elitäre Apokalyptik und apokalyptische Selbstviktimisierung. Die Zeitorientierungen der AfD-Wähler*innen und ihre Erfahrungsräume

5.1.

Die Jungen Angestellten- und die Selbständigen-Typik im Vergleich

5.1.1.

Selbständigkeit

5.1.2.

Junge Angestellte

5.1.3.

Kontrastierende Analyse

5.1.3.1.

Vulgäre Selbstviktimisierung: Angst vor Arbeitsplatzverlust

5.1.3.2.

Elitäre Apokalyptik: Endzeit statt Arbeitsplatzverlust

5.1.3.3.

»…aber man kann durchaus seinen Job verlieren…«

5.1.3.4.

»Klimapolitik« im Lichte der elitären Apokalyptik der Selbständigen

5.1.3.4.1.

Unmündiger Dogmatismus (Bernd)

5.1.3.4.2.

Klimapolitik und apokalyptische Selbstviktimisierung: »Moralkeule« und Stigmatisierung (Immanuel)

5.1.3.5.

Selbstbild: Nonkonformität

5.1.3.5.1.

Der nonkonforme »Hydrauliker« Ludwig

5.1.3.5.2.

»…bloß weil man ideologischen Träumereien nachhängt« – Erfahrenheit und Separatismus (Friedrich)

5.1.3.6.

Zwischenfazit

5.2.

Destruktion und Untergang: Die Zeitorientierung der ›Prekären‹

5.2.1.

Untergangsphantasien

5.2.2.

Destruktion und Neuordnung

5.2.3.

Vergangenheit als vergangene Zeit

5.2.4.

Fazit

6.

Rechtspopulistische Chiliast*innen

6.1.

Chiliasmus

6.1.1.

Ein soziologisches Stereotyp?

6.1.2.

Theodizee des Leidens der negativ Privilegierten

6.1.3.

Württembergisch-pietistischer Chiliasmus

6.2.

Chiliastische Utopie und meta-historische Zukunft

6.3.

Die württembergisch-pietistische Basistypik

6.3.1.

Rechtspopulistischer Chiliasmus

6.3.1.1.

Harren des Durchbruchs ewiger Normalität

6.3.1.2.

»Wir haben eine Zukunft, deshalb verändern wir uns nicht«

6.3.1.3.

Untergangserwartung

6.3.1.4.

Geschichte als Wiederkehr von Katastrophen

6.3.1.5.

Endzeitliche Orientierung und Wachrufen

6.3.1.6.

Zwischenfazit: Chiliastisches Zeiterleben der württembergisch-pietistischen Basistypik

6.3.2.

Dekadenz

6.3.2.1.

Erziehung als Mühe und Entbehrung

6.3.2.2.

Dekadenz als Verarbeitung eines viktimisierten Nonkonformismus

6.3.2.3.

Verwerflicher Wohlstand

6.3.2.4.

»Knick in der Gesellschaft«, Dekadenz und Verfall

6.3.2.5.

»Après moi la déluge«

6.3.3.

Zusammenfassung

6.4.

Chiliastische Utopie jenseits der Basistypik

6.4.1.

Destruktiver Chiliasmus (Gertrud)

6.4.2.

Kein Licht am Ende des Tunnels (Boris)

6.4.3.

Erschöpfter Fortschritt (Immanuel)

6.4.4.

»…mich provoziert des Hier und Jetzt eigentlich mehr als die Zukunft« – Auserwählten-Selbstviktimisierung ohne Zukunft (Laura)

6.5.

Fazit

7.

Fazit: Rechtspopulistische Demokratiebedrohung in der Spätmoderne

7.1.

Ergebnisse

7.2.

Negativ Privilegiert in der Endzeit: Rechtspopulistischer Chiliasmus

7.3.

Rechtspopulismus in der Spätmoderne: Eine Bedrohung der Demokratie

Dank

Literatur

Abbildungen

Tabellen

Einleitung

»Normal. Was ist das eigentlich heute? Früher hieß es ja immer, normal wär irgendwie langweilig. Stinknormal und irgendwie spießig. Aber heute? Ist nicht heute normal auf einmal das, was uns fehlt? Das, was wir eigentlich wollen? Denn die Welt um uns herum, die ist irgendwie so verrückt geworden. Und wir merken auf einmal, dass normal doch eigentlich etwas ganz Besonderes ist. Denn normal ist, seinen Nächsten ganz nah zu sein. Normal ist aufzustehen und seinen Job zu machen. Normal ist eine Heimat; sind sichere Grenzen, sind sichere Straßen. Oder: Freie Fahrt für freie Bürger. Und, ja, normal ist auch Deutschland. Normal ist einfach schön. Normal ist das, was wir alle wieder brauchen. Eine normale Zukunft. Klingt gut, oder? Deutschland. Aber normal.«

(AfD TV 2021)

Im Begleittext des zentralen Kampagnen-Videos der AfD im Bundestagswahlkampf 2021 wird nicht nur Normalität versprochen. Wer genau hinsieht, oder besser: hinhört, und wer sich nicht von den verwackelten, sepiafarbenen Videoeinspielern zu Beginn – Bildschnipsel bundesdeutschen Familienlebens der 1970er Jahre – verleiten lässt, hier eine Nostalgieproduktion zu sehen, der erkennt, dass die politische Botschaft einen anderen Ton anschlägt: In der Vergangenheit, so wird betont, sei die Rede von Normalität spießig gewesen. »Aber heute?« Es wird behauptet, dass die Welt heute eine ganz andere sei – eine in der nahezu unvermittelt (»auf einmal«) »Verrücktheit« hereingebrochen sei. Zum Ausdruck gebracht wird eine kollektive Verlusterfahrung von Normalität und artikuliert wird zugleich eine kollektive Erfahrung mit der Zeit der Gegenwart selbst – einer Zeit, in der das Normale eben »nicht mehr normal« (Lessenich 2022) sei, in der wesentliche gesellschaftliche Parameter eines Normalitätserlebens weggebrochen seien: heterosexuelle Familienhegemonie, »Normalarbeitsverhältnis« und Erwerbsgesellschaft, ethnisch möglichst homogen, nationalbewusst und sicher durch geschlossene Grenzen (und den Ausschluss alles Nicht-Normalen im Inneren). Die von der AfD in Aussicht gestellte Wiederherstellung von Normalität als Antwort in und auf eine »verrückt gewordene« Welt hat dabei eine andere Schlagrichtung als mit »rückwärtsgewandt« oder »nostalgisch« wirklich charakterisiert wäre. Schließlich ist die hier herbeigesehnte Normalität ganz anderer Qualität als die spießige Normalität des Gestern. Die AfD-Normalität betont geradezu, nicht (mehr) die Regel noch die empirische soziale Regelmäßigkeit zu sein. Ihr Akzent liegt auf einer »heterodoxen« (Bourdieu 1976, S. 318–334) Normalität der Zukunft und nicht etwa einer konformistischen Normalität (Whyte 2002 [1956]) einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft (Schelsky 1954) der Vergangenheit. »Eine normale Zukunft« (AfD TV 2021; Hervorheb. PR), kein status quo ante. Die Betonung liegt auf »Zukunft«.

Was dokumentiert sich in dieser eigentümlichen Zukunfts-Normalität, die so gar nicht ins Bild passt einer spießig-nostalgischer Ewiggestrigkeit, das häufig vom Rechtspopulismus gezeichnet wird? Immerhin herrscht eine Vorstellung vor, nach der der Rechtspopulismus mit seinen scheinbar gestrigen Normalitätsbehauptungen ein rückwärtsgewandtes Phänomen sei, weil er einen nostalgischen »Wärmestrom« (Bloch 1985 [1935]) der Geschichte in Aussicht stelle.

Als solchen bezeichnete Ernst Bloch in den 1930er Jahren die Wirkung der faschistischen Ideologie der Nationalsozialisten. Ein »Wärmestrom« verspricht anomische Erfahrungen von »Ungleichzeitigkeit« (Bloch 1985 [1935], S. 45–204) zu beseitigen, denn »[d]as subjektiv Ungleichzeitige, nachdem es lange bloß verbittert war, erscheint heute als gestaute Wut« (Bloch 1985 [1935], S. 116; Hervorheb. i. Orig.). Damals wie heute gebe es Gruppen, die mit der Modernität der Moderne, mit ihrer Komplexität, Liberalität und Geschwindigkeit nicht zurecht kämen und für ihre soziale Identität »zeitinadäquaten Ideologien« (Geiger 1930) verfielen und sich in einen retro-utopischen Wärmestrom der faschistischen, bzw. rechtspopulistischen Ideologie stellten: Ihre »anfällige Lage« lebe von dem Empfinden »nicht bloß der Zurückgebliebenheit, sondern zuweilen einer echten ›Ungleichzeitigkeit‹ […], nämlich eines Restseins aus früheren Zeiten« (Bloch 1985 [1935], S. 16).

So stellt man sich auch heute den Rechtspopulismus vor. Nicht nur Volksaufstand (Möller 2020), sondern auch eine rückwärtsgewandte Utopie einer romantisierten, idealen Welt des »heartland« seien seine Markenzeichen (Taggart 2000). Viele Autor*innen sind sich sicher: Keinesfalls verfolge der Rechtspopulismus »eine zukunftsgerichtete Utopie noch systemimmanente Modernisierungsziele, sondern die konservative Verteidigung eines status quo ante« (Priester 2011, S. 190). Insgesamt ziele der Rechtspopulismus »auf die Wiederherstellung eines vermeintlich goldenen Zeitalters der Vergangenheit [ab]. Seine Parole lautet: ›zurück zu sicheren Verhältnissen‹« (Selk 2019, S. 110). Rechtspopulist*innen werden für regressiv und restaurativ gehalten (Koppetsch 2018a, S. 385).1 Es gibt dieser Sichtweise nach keine Zweifel: »Rechte Weltbilder sind auf die Vergangenheit gerichtet, sie prämieren das ›Alte‹, die vermeintliche Tradition, durch Bezugnahme auf historische Erzählungen und traditionelle Moralkodizes.« (Koppetsch 2017, S. 215) Sie verfolgten eine »rückwärtsgewandte Utopie« (Priester 2012, S. 5–6) und produzierten dazu pessimistische Gesellschafts- und Zukunftsbilder (Koppetsch 2017, S. 216). Nostalgie spiele vor allem bei den antidemokratischen »Verlockung[en] des Autoritären« (Applebaum 2021) der letzten Jahre eine zentrale Rolle (vgl. auch Becker und Stach 2021, S. 7–8; Fn. 4).

Woher kommen diese Diagnosen, zumal sie häufig ohne empirische Validität auskommen? Zwar finden sich daneben auch zahlreiche Forschungen über Wähler*innen rechtspopulistischer- und Rechtsaußen-Parteien, die ihnen Nostalgie (Betz und Johnson 2004; Lantermann 2016; Vries und Hoffmann 2018; Gest et al. 2018), Pessimismus (Steenvoorden und Harteveld 2017; Vries und Hoffmann 2020) und Angst (Pokorny 2018; Wirz 2018; Pickel 2017; Wodak 2015) attestieren. Aber beide – die zeitdiagnostischen Überlegungen und die empirischen Forschungen – suggerieren letztlich, dass rechtspopulistische Parteien und Bewegungen Vergangenheitssehnsüchte und Zukunftsängste bedienten. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass dies nicht nur nicht den Zeitvorstellungen und den Geschichtsbildern jener Menschen entspricht, die die gegenwärtig relevante rechtspopulistische Partei in Deutschland, die AfD, wählen. Mehr noch: Im Kern verhindert eine solche Vorstellung ein besseres Verständnis der sozialen Ursachen, die den Vormarsch des Rechtspopulismus erklären – und sie unterschätzt die Demokratiebedrohung, die von ihm ausgeht. Indem die vorliegende Arbeit eigene Empirie erzeugt, um die Handlungsmotive und -orientierungen von AfD-Wähler*innen genauer zu erklären, wird gezeigt, welche gesellschaftlichen Ursachen dem Rechtspopulismus zugrunde liegen. Sie werden auf der Ebene sozialer Zeitverhältnisse gefunden. Wenn die Arbeit also mit Einspruch gegen die hier vertretene These einer prinzipiellen Zukunftsgerichtetheit im Rechtspopulismus rechnet, dann kann dieser Einspruch selbst als Symptom verstanden werden. Denn wenn sich empirisch doch Anhaltspunkte für eine grundsätzliche Zukunftsbefasstheit des Rechtspopulismus finden, dann muss erstens unser Bild von ihm ergänzt werden; und zweitens lässt sich etwas über unsere gesellschaftlichen Zeit- und Zukunftsbilder insgesamt herausfinden, sofern wir uns die antidemokratischen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts partout nur als vergangenheitsversessen vorstellen können oder wollen.

In diesem Sinne wird der Rechtspopulismus auch als extreme Erscheinungsform einer regressiven Abwehr einer »Verlustwut« (Reckwitz 2021; Reckwitz 2022) aufgefasst. Eine solche kollektive Verlusterfahrung bezieht sich auf ein wahrgenommenes Abhandenkommen sozialer Stabilität, verlässlicher Wachstums- und Fortschrittsversprechen (deren Kehrseite die Angst vor sozialen Abstiegen ist), aber auch sozialer – männlich-patriarchaler und heterosexuell-weißer – »Normalitäts-«, ja Hegemonieselbstverständlichkeiten. Auf dieser Linie analysiert Wendy Brown (2019) den Rechtspopulismus als Reaktion auf kollektive Entthronungserfahrungen und Dominanzverlust, die nihilistisch empfunden und gedeutet werden. Allerdings erkennt Brown auch, dass kollektive Verlusterfahrungen den Aufstieg rechter Bedrohungen noch nicht hinreichend erklären. Sie sieht die antidemokratischen Positionen des neoliberalen Erbes der vergangenen Jahrzehnte am Werk

»The combination of neoliberalism’s debrecation of the political and the social and a desublimated, wounded white masculinity together generate a disinhibited freedom, one symptomizing ethical destitution even as it often dresses in religious righteousness or conservative melancholy for a phantasmatic past.« (Brown 2019, S. 171)

Brown erkennt die im Rechtspopulismus vorzufindenden Vergangenheitsbezüge – neben den dort häufig auch anzutreffenden religiösen Semantiken und/oder aggressiven Freiheitsdiskursen (vgl. hierzu insbesondere Amlinger und Nachtwey 2022) – als Verkleidung und losen Bezugspunkt. Im Kern sei das, was sich im Rechtspopulismus ausdrückt, nihilistische Verlustwut ohne Zukunftsaussicht im Schatten neoliberaler Kultur: »It has only revenge, no way out, no futurity« (Brown 2019, S. 178).

Ähnlich sieht das auch Reckwitz (2022), der die kollektiven sozialen Verlusterfahrungen als sozialen Zukunftsverlust begreift:

»Verluste lassen sich eher verschmerzen, wenn man davon ausgehen kann, dass es sich lediglich um eine vorübergehende Krise handelt, die zugunsten des weiterlaufenden Fortschrittsmotors wieder überwunden wird. Gegenwärtig verliert jedoch das Fortschrittsversprechen in seiner bisherigen Form grundsätzlich an Glaubwürdigkeit.« (Reckwitz 2022, S. 80)

Statt zu fragen, worin ein solches Verlusterleben letztlich besteht, das den Rechtspopulismus zu erklären vermag, und statt darauf hinzuweisen, dass etwa verloren geglaubte Normalitäten so normal nie waren (Lessenich 2022), soll in dieser Arbeit eher die Frage gestellt werden, warum Verlusterleben oder Verlusterzählungen heute politisch so relevant geworden sind. Weshalb werden derartige Verluste als so evident empfunden, dass darüber antidemokratisch, antiliberal und anti-politisch (Hochuli et al. 2022; Glaser 2018) aufbegehrt wird. Welches »doing loss« (Reckwitz 2021) wird im Rechtspopulismus also betrieben?

Dabei stößt die empirische Analyse dieser Arbeit auf die Bedeutung kollektiver Erfahrung nicht nur in der Zeit, sondern auf Erfahrungen des Verlustes von Zeit selbst. Für Brown und Reckwitz kennzeichnet eine Zukunfts-, bzw. Fortschrittslosigkeit diesen Erfahrungshaushalt in der Gegenwartskultur, der auch den Nährboden für die Verbreitung eines antidemokratischen Rechtspopulismus bereitet. In der vorliegenden Arbeit wird in dieser Hinsicht die Verarbeitung von Erfahrungen und Umgangsweisen mit dem Erleben von Zeit selbst im Rechtspopulismus untersucht. Dabei wird die These entwickelt, dass im Rechtspopulismus die Wut über den Verlust einer temporalen Ordnung der Gesellschaft zum Ausdruck kommt und dabei um diese Ordnung gerungen wird. Gesellschaftliche Zeitordnungen sind der Entfaltungsraum für gesellschaftliche Ordnungs- und Normalitätsvorstellungen, sie sind Begrenzungsraum für Visionen und Utopien; sie stecken Erwartungshorizonte in der Zukunft und die Geltungsbereiche von Erfahrungsräumen in der Vergangenheit ab; sie wirken als sozial strukturierende Wissens- und Kommunikationsstruktur. Gesellschaftliche Zeitverhältnisse lassen sich in sozialer Hinsicht als kulturelle Vorannahmen und Bedeutungskomplexe begreifen, die »menschliches Wollen, Handeln, Fühlen und Deuten steuer[n], ohne dass diese Grundlagen vom Individuum selbst bewusst reflektiert werden« (Assmann 2013, S. 19). Aufgrund ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Prägung wird Zeit in Form unterschiedlicher kollektiver Erfahrungen von den Gesellschaftsmitgliedern erlebt und gedeutet und sie prägt auf diese Weise die je gegenwärtigen Bilder Einzelner auf Vergangenheit und Zukunft. Auf diese Weise spielen gesellschaftliche Zeitverhältnisse nicht nur in den expliziten Erwartungen und Handlungsentwürfen, sondern in den impliziten Handlungsorientierungen von Akteuren eine Rolle und sie werden auf diese Weise auch politisch. Damit sind sie Gegenstand politischer und sozialer Auseinandersetzungen und sie kommen als programmatische Geschichtsbilder und implizite Zukunftsentwürfe insbesondere in politischer Kommunikation und politischen Programmen von Parteien und Bewegungen vor (vgl. insbesondere Seefried 2022).

Zeit und gesellschaftliche Zeitordnungen haben aber auch eine immanente Bedeutung für soziales Handeln und sie spielen eine wichtige Rolle für alltägliches Handlungswissen sowie den impliziten Handlungsorientierungen bzw. handlungsleitenden Weltanschauungen. In soziologischer Hinsicht ist daher nicht nur von Bedeutung, dass Zeit im Bewusstsein entsteht (Husserl 2013 [1928]), sondern auch, dass Zeit eine intersubjektive Dimension hat. Zeit ist eine Sinndimension menschlicher Deutungsvorgänge (Elias 2014) und durch ihre zeitliche Strukturiertheit erhält die Alltagswelt für Menschen den Charakter von Wirklichkeit (Berger und Luckmann 2021 [1966], S. 29–31). Zeitliche Sinnbildungen beziehen sich demnach nicht nur auf die Kohärenzerfordernis zur Herstellung von Ich-Identitäten, sondern Zeitsinn steht Menschen in Gesellschaft auch als soziale Verständigungsstruktur zur Verfügung (Rüsen 2003). Zeit wird entsprechend sogar als Resultat des spezifischen Charakters sozialen Handelns selbst entdeckt (Bergmann 1981; Luhmann 1984, 377–487). Darüber hinaus spielen zeitliche Sinnbildungen auf der Ebene handlungsleitender Orientierungen als Geschichtsbilder oder »Weltanschauungen« (Mannheim 2004) eine wichtige Rolle. In dieser Hinsicht werden in der vorliegenden Arbeit vor allem die temporalen Komponenten der Handlungsorientierungen von Wähler*innen der AfD genauer untersucht. Schließlich liegen ihren Weltwahrnehmungen und ihrem (regressiven) Aufbegehren, ihrer Verlustwut und ihrem Krisenerleben eine spezifische Konfiguration von Zeit- und Selbstbildern zugrunde.

Qualitativ-empirische Analysen, die das Phänomen des Rechtspopulismus auf der Ebene der habituellen und erfahrungsbasierten Handlungsorientierungen oder Weltanschauungen erforschen, liegen weiterhin nicht viele vor. Sofern in dem Feld qualitativ-empirisch gearbeitet wird, werden häufig Ideologien, Welt- oder Gesellschaftsbilder, also mehr oder weniger explizite Handlungsentwürfe und -begründungen der Akteure in den Blick genommen (Mullis und Miggelbrink 2022; Amlinger und Nachtwey 2022; Nachtwey und Heumann 2019; Altreiter et al. 2019; Menz und Nies 2019; Sauer et al. 2018; Dörre et al. 2018; Bose et al. 2018; Hochschild 2016; Cramer 2016; Loos 1998). Eine exemplarische Ausnahme stellt die Arbeit von Kumkar (2018) dar, der die Dokumentarische Methode zur Habitusrekonstruktion von Anhänger*innen der Tea-Party Bewegung in den USA einsetzt. Auf dieser analytischen Ebene bewegt sich auch die vorliegende Arbeit. Empirische Grundlage sind ausführliche, narrative Interviews mit AfD-Wähler*innen, die mit der Dokumentarischen Methode insbesondere nach Bohnsack (2003) und Nohl (2017) ausgewertet wurden. Die wesentliche Stärke dieser Methode für die Erforschung rechtspopulistischer Handlungsorientierungen liegt in ihrer praxeologischen Erkenntnisweise, die zwischen einem handlungsleitenden implizit-habitualisierten Wissen und den Theorien und rationalisierenden Modellen unterscheidet, die die Akteure selbst über ihre Praxis entwickeln (Bohnsack 2012, S. 121). Sie stellt damit gerade für eine qualitativ-interpretative Forschung über Rechtspopulismus ein geeignetes Analyseinstrument zur Verfügung, mit dem die in diesem Feld empirisch unvermeidlichen, häufig moralischen Argumentationen und Rechtfertigungen ihrer AfD-Wahl gut zu handhaben sind. Gesucht wird mit der Dokumentarischen Methode daneben nämlich auch nach impliziten Handlungsorientierungen, habituellen Selbstbildern oder Zeitvorstellungen, die mit den Motiv-Berichten der Interviewten in Verbindung stehen. Indem gezielt das Verhältnis von moralischen oder rationalisierenden Handlungsbegründungen und zugrundeliegenden, vordiskursiven Orientierungen abgeklopft wird, ist am Ende nicht nur die Reproduktion der Selbstbeschreibung der Befragten zu erwarten, sondern auch eine praxeologische Analyse, die über die impliziten Handlungsorientierungen Auskunft geben soll. Auf diesem Wege entwickelte sich die leitende Idee dieser Arbeit sukzessive im zyklisch-iterativ angelegten Forschungsprozess: Er startete mit der Erwartung, dass die Diagnosen über scheinbar pessimistische Rückwärts- und Vergangenheitsorientierungen im Rechtspopulismus etwas über ihr Deprivations- (Gidron und Hall 2017; Rooduijn und Burgoon 2018; Sthamer 2018) und Desintegrationserleben (Anhut und Heitmeyer 2005; Heitmeyer 2018) aussagen und dass sich darüber das Phänomen Rechtspopulismus besser verstehen lassen müsste. Allerdings trat bei dem im Kern auf theoretischem Sampling und qualitativ-induktiver Analyseorientierung (Strübing 2021, S. 31–34; Strübing 2018b) aufbauenden Vorgehen empirisch etwas anderes immer klarer in den Vordergrund: Die Analyse der narrativen Interviews mit Wähler*innen der AfD, die die empirische Basis dieser Studie bilden, machte sukzessive deutlich, dass sich an ihren rechtspopulistischen Gesellschaftsbildern eine Art »Verlustwut« als Reaktion auf die gesellschaftlichen Zeitverhältnisse der Gegenwartsgesellschaft ablesen lässt. Von durchschlagender Bedeutung erwiesen sich nämlich zusehends die temporalen Sinnstiftungen der untersuchten Fälle.

Jaster (2020) zeigt in einer phänomenologisch angelegten, zeitsoziologischen Untersuchung, wie populistische Bewegungen von der Fluidität von Erfahrungen profitieren: Neues wird im Erfahrungsschatz des Bewusstseins nicht nur auf Grundlage des Alten integriert, sondern auch das Alte und vergangene Erfahrungen werden so uminterpretiert, dass dem Neuen Sinn verliehen werden kann. In dem Sinne sind nicht nur materielle Bedingungen entscheidend für den Blick auf Vergangenheit und Zukunft – veränderte, neuerdings mitunter bedrohliche Zukunftsvorstellungen prägen umgekehrt auch den Blick auf die Vergangenheit. Entsprechend beuten populistische Bewegungen »the radical contingency of the present as an amalgamation of the past and desired future« (Jaster 2020, S. 759) aus, indem sie ein spezifisches Sinnangebot in der Vermittlung der entstehenden Beziehung von Vergangenheit und Zukunft darbieten. In dem Sinne findet auch die vorliegende Arbeit, dass nicht nur das Gesellschafts- sondern vor allem auch das Geschichtsbild der untersuchten AfD-Wähler*innen eine entscheidende Rolle spielt. Nicht die materiell unterlegten Deprivationserfahrungen oder kollektive Erfahrungen wirtschaftlicher und sozialer Ungewissheiten sind entscheidend, sondern wie sich daraus eine Krise im kollektiven Erleben von Zeit selbst entwickelt. Sie treten bei den hier untersuchten AfD-Wähler*innen als ausgeprägte Endzeitvorstellungen in Erscheinung.

Die Ergebnisse dieser Arbeit sind das Resultat einer interpretativ-verstehenden Analyse, die dieses kollektive Zeiterleben über die Erfahrungen der interviewten AfD-Wähler*innen rekonstruiert und seine Bedeutung in der politischen Weltanschauung der untersuchten AfD-Wähler*innen herausarbeitet. Sie sind auch das Resultat einer Methode, die in erster Linie auf die verstehende Durchdringung von kollektiven Erfahrungen abzielt: Der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 2003). Mit ihr wird ein methodischer Fokus explizit auf implizite, vorreflexive Handlungsorientierungen gelegt und auf die Frage, mit welchen »konjunktiven Erfahrungsräumen« (Mannheim 1980, S. 214; Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 288–289) sie zusammenhängen. Solche Erfahrungsräume sind theoretische Konstrukte, die die empirischen Einzeläußerungen der Befragten und ihre idiosynkratischen Erlebnisse auf einen Begriff bringen, mit dem sich deren Gesellschaftlichkeit verstehen lässt. Das methodische Typenbildungsverfahren der Dokumentarischen Methode versucht diese sozialen Erfahrungshintergründe im Hinblick auf charakteristische Handlungsorientierungen systematisch abzubilden. Entsprechend werden in Kapitel 4 zunächst die handlungsleitenden Sinnstiftungen der befragten AfD-Wähler*innen vergleichend analysiert und typisiert. Schon hier allerdings werden die Unterschiede in den Erfahrungswelten der Befragten deutlich, sodass die Verbindungen der Handlungsorientierungen und Selbstbilder mit den unterschiedlichen Erfahrungswelten der Befragten anschließend in Kapitel 5 spezifiziert werden können. Dabei werden die mit den typischen Selbstbildern in Verbindung stehenden Zeitorientierungen der untersuchten AfD-Wähler*innen präzisiert. Das zentrale Ergebnis, das auf diesem Wege zutage gefördert wird, lautet: Endzeit- und Opfer-Selbstbilder sind für alle untersuchten Fälle, unabhängig ihrer unterschiedlichen materiellen Lebenslagen und Identitäten, »kompatibel« – und diese Sinnkonfiguration, die in der abschließenden Analyse (Kapitel 6) als chiliastische Utopie auf den Begriff gebracht wird (siehe weiter unten), scheint ihre AfD-Mobilisierung zu erklären. Sie wird darüber hinaus als Resultat eines Zusammenspiels spezifischer biografischer Erfahrungen und eines gesellschaftlichen Erfahrungsraums der Spätmoderne interpretiert. In ihm scheint die Zeit wieder so aus dem Tritt, dass sich eine »rebellisch schiefe […] gestaute[] Wut« einer »anachronistischen« (faschistischen) »Verwilderung[]« (Bloch 1985 [1935], S. 117) im Rechtspopulismus formiert. Nur heute, so wird gelegentlich behauptet, ist nicht zu viel Ungleichzeitigkeit das Problem, sondern zu viel Gleichzeitigkeit erzeuge einen problematischen »Zeitrausch« (Nowotny 1989, S. 28). Die vielen Gleichzeitigkeiten werden als »Beschleunigung« (Rosa 2005) besprochen und für liberale Demokratien mache sie sich als Problem der »Desynchronisation« (Rosa 2012, S. 357–373; Reckwitz und Rosa 2021, S. 201–223; Bohmann et al. 2018) bemerkbar. Schließlich beruhen demokratische Gesellschaften auf »nichtartikulierten Vorstellungen vom zeitlichen Verhältnis zwischen den politischen, ökonomischen, wissenschaftlichen und kulturellen Teilsystemen der Gesellschaft« (Rosa 2012, S. 361). In weiterer Abstraktion dieser Ordnungsproblematik lässt sich dann sagen, dass wir es mit einer »Gesellschaft der Gegenwarten« (Nassehi 2011) zu tun haben. Demnach staue sich bei anfälligen sozialen Schichten weniger eine Wut über das Ungleichzeitig-Sein bzw. das »Restsein« (Bloch 1985 [1935], S. 16) darin auf, sondern eine Wut über die schwer zu begreifende Komplexität der Gegenwart und die noch schwerer zu ertragende Kontingenz der Zukunft. Jedenfalls wird vermutet, dass es immer weniger zu gelingen scheint, im Gesellschaftsgeschehen eine sinn- und bedeutungsvolle »Geschichte« auszumachen. Überhaupt verliere sie »den Charakter gerichteter, planbarer Zeitverläufe« (Rosa 2005, S. 449; Hervorheb. i. Orig.). Damit ist folgenreich die moderne Verwebung von linearer Zeitkultur, Fortschrittssemantik und politischen Gestaltungsansprüchen gegenüber einer entwicklungsoffen vorgestellten Zukunft erschüttert. Diese kulturelle Erschütterung wächst sich zur kollektiven Erfahrung des Verlustes eines politischen Richtungsindexes (ebd., S. 220) aus: Politische Ereignisse werden zu situativen Episoden, die sich nicht länger in eine genuine geschichtliche Erfahrung transformieren lassen. Es ist die Rede von einem kulturellen Erleben der Richtungslosigkeit oder gar vom »Ende der Geschichte« (Steenblock 1994; Jung 1989; Ther 2019; Fukuyama 1989). All das münde also, so der naheliegende Schluss, in einen regressiven Reflex, in eine große Regression (Geiselberger 2017), in ein »Retrotopia« (Bauman 2017) und die rechtspopulistischen Formationen sind ihre bedrohliche und demokratiegefährdende Seite.

Die Rede von (Un-)Gleichzeitigkeit, Beschleunigung und Desynchronisation, von komplexen Gegenwarten und vom politisch folgenreichen Verlust eines geschichtlichen Richtungsindexes zur Charakterisierung der spätmodernen Zeitkultur reflektiert, dass die kollektive Erfahrung von und mit Zeit problematisch geworden ist. Auf solche Erfahrungen stößt auch die vorliegende Analyse mittels der Dokumentarischen Methode. Mit Spätmoderne (Giddens 1992) wird in dieser Arbeit also in erster Linie ein gesellschaftlicher Erfahrungsraum bezeichnet, der sich in Bezug auf kollektive Zeiterfahrungen und kulturelle Orientierungen im Hinblick auf Zeit und Geschichte charakterisieren lässt. In ihm wird auf breiter Basis kollektiver Erfahrbarkeit ein einst hegemonial-fragloses Fortschritts- und Wachstumsversprechen überlagert von der bedrohlichen Ahnung, dass Zukunft nicht länger der Horizont normativer Verbesserung der eigenen Lebenslage oder der der Nachkommen, und nicht mal mehr die Fortsetzung der eigenen »normalen« Lebensführung, bzw. der weißen, männlichen, heterosexuellen etc. Kleinfamilienprivilegien sein könnte. Zukunft avanciert zum Risiko (Beck 1986) und zum kollektiven Katastrophenszenario (Horn 2020). Und weil die gesellschaftlich-kulturelle Erfahrungswelt der Vor-Spätmoderne, d. h. der (Nachkriegs-)Moderne, nicht gänzlich verschwunden oder verdrängt, allenfalls überlagert und den Selbstverständlichkeiten ihren temporalen Koordinaten beraubt ist, kennzeichnet den spätmodernen Erfahrungsraum eine eigentümlich »paradoxe Zeitlichkeit« (Reckwitz und Rosa 2021, S. 91–98), in dem ein Regime des Neuen und Besonderen (Reckwitz 2017) beständig mit seiner Negativität, einem Verlustbewusstsein und einer bedrohlichen Zukunft, konfrontiert ist. Im Rechtspopulismus steigern sich diese paradoxen Erfahrungswelten zu einer regelrechten »Verlustwut«.

Der Erfahrungsraum der Spätmoderne beginnt seit etwa den 1970er Jahren (Reckwitz 2019, S. 17–24) strukturprägend zu werden und die Erfahrungswelten der Nachkriegsmodernen zu überlagern. Doering-Manteuffel und andere sprechen von der »Epoche nach dem Boom« (Doering-Manteuffel und Raphael 2012; Doering-Manteuffel et al. 2016): Sie ist gekennzeichnet durch ein »Ende der Illusionen« (Reckwitz 2019) über die Fortschrittsversprechen, Wachstumsselbstverständlichkeiten und positiven Zukunftserwartungen ganzer Generationen, wie sie in der Nachkriegsmoderne – in der Zeit des »Booms« – eingeprägt und fraglos wurden. Dahinter steht eine breitangelegte Reorganisation des Kapitalismus und seiner fiskal- bzw. finanzpolitischen Regulationsstruktur sowie der nationalen Wohlfahrtsstaaten und ihrer Erwerbsgesellschaften. Hinzu tritt ein ökologisches Krisen- und Risikobewusstsein:

»Bereits seit den 1970er Jahren, symbolisiert durch die Veröffentlichung Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome, allerspätestens aber mit dem [sic] Epochenjahren 1989/90 dürfte einsichtig geworden sein, dass unsere Welt nicht mehr die ist, die man sich lange vorgestellt hat. Gerade in dem Moment, in dem der westliche, auf Fortschritt, Demokratie und Moderne getrimmte Kapitalismus seinen vermeintlich größten Triumph erlebte, wurden ihm in aller Deutlichkeit seine Grenzen aufgezeigt. Wenn es schon nicht die Rückkehr von Nationalismen und religiösen Fundamentalismen (und zwar nicht nur in ihrer islamischen Variante) deutlich gemacht haben sollten, dann lässt spätestens der Klimawandel kaum noch einen Zweifel darüber zu, dass wir uns von lange gepflegten Selbstverständlichkeiten verabschieden müssen – die Frage ist nur noch, wie ein solcher neuer Wirklichkeitsentwurf aussehen wird.« (Landwehr 2014, S. 13)

Der Erfahrungsraum der Spätmoderne verändert nicht nur den Charakter, wie Zeit kollektiv erlebt wird. In ihm spitzen sich soziale Konflikte entlang dieses kulturellen Zeiterlebens immer mehr zu. In den letzten Jahrzehnten lässt sich insbesondere im Hinblick auf den Klimawandel und die sozialen Konflikte um Klimagerechtigkeit immer deutlicher beobachten, wie Auseinandersetzungen umso heftiger geführt werden, je mehr sich das Zeitfenster zur Bearbeitung der Klimakrise schließt. Sie sind Indiz für ein spätmodernes gesellschaftliches Spannungsverhältnis zwischen einer aus dem Erfahrungsraum der Nachkriegsmoderne geerbten und noch immer wirkmächtigen aber trägen Routine der Fortschritts- und Wachstumsorientierung einerseits, und einer zunehmend düster und bedrohlich wirkenden Zukunft andererseits. Und auch im Rechtspopulismus scheint sich Analoges abzuspielen, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Er beutet womöglich eine Wuterfahrung über abhandengekommene Normalität, Lebensweise und männlich-weiße Hegemonie aus, die von einem Erwartungshorizont genährt ist, in dem entsprechende Identitäten scheinbar keine Zukunft haben.

Die vorliegende Arbeit glaubt also, dass der Rechtspopulismus ein neuer »Wirklichkeitsentwurf« (Landwehr 2014, S. 13) im Erfahrungsraum der spätmodernen Zeitverhältnisse ist. Der zeitgenössische Rechtspopulismus, so die zentrale These dieser Arbeit, beutet bestimmte konjunktive Erfahrungen mit den gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen der Spätmoderne aus. Allerdings ist dies weniger im Sinne einer Wut über den Verlust von Vergangenheit zu begreifen. Womöglich verhält es sich im Rechtspopulismus gerade andersherum: Der gegenwärtigen Blick der AfD-wählenden spätmodernen Erfahrungsträger*innen auf eine für sie bedrohliche Zukunft prägt auch ihren Blick auf Vergangenheit und modifiziert ihn – wobei die sinnstiftende Verbindung zwischen diesen Zeitebenen als »Verlustwut« erfahren und vom Rechtspopulismus entsprechend symbolisch aufgewertet, programmatisch artikuliert und befeuert wird. Dabei profitiert er von pessimistischen oder dystopischen, vor allem aber apokalyptischen Gesellschafts- und Zukunftsbildern seiner Wähler*innen, gerade weil von seinen partei- oder bewegungsförmigen Organisationen keine Beseitigung materieller und sozialer Unsicherheit, von Desintegration oder gar Deprivation erwartet wird. Vielmehr, so zeigt es die Analyse, findet in ihm eine Sammlung selbsterklärter Auserwählter und Renegat*innen mit ausgeprägten Endzeitvorstellungen statt.

Methodisch gelangt die Arbeit zu diesem Ergebnis über die Frage nach dem konjunktiven Zeitbewusstsein oder der Zeitorientierung der hier untersuchten AfD-Wähler*innen. Im Prozess der empirischen Forschung trat diese Sinn- und Handlungsdimension immer mehr in den Vordergrund. Aus einer wissenssoziologischen Perspektive auf Zeiterfahrungen gewinnt die Vergangenheit ihre Qualität einer sinn- und bedeutungsvollen Geschichte (Rüsen 1994, S. 5) v. a. durch die Verarbeitung von Erfahrungen mit der Art und Weise wie Zukunft vom je gegenwärtigen Standpunkt aus gesehen wird. Diese Standpunkte variieren aufgrund unterschiedlicher kollektiver Erfahrungsräume innerhalb des Erfahrungsraums der Spätmoderne. Vergangenheitsbilder ändern sich dabei unter dem Eindruck gesellschaftlich geprägter aber je spezifischer Erfahrungen mit Zukunftserwartungen – und die Verbindung, die von diesen Bildern aus zur Gegenwart und erhofften oder befürchteten Zukunft hergestellt wird, gerinnt mitunter als Weltanschauung zu einem umfassenderen Denksystem. Mannheims (2015 [1929]) Begriff der Utopie liefert die wissenssoziologisch-theoretische Grundlage zu einem solchen Verständnis (Kapitel 3). Mit seinem Begriff lassen sich indessen nicht nur Weltanschauungen empirisch rekonstruieren und unkritisch beschreiben. Im Lichte der Kritik v.a. Horkheimers (1987) an Mannheim wird in Kapitel 3 seine Wissenssoziologie als Instrument diskutiert, mit dem insbesondere ein Beitrag zu einer kritischen Theorie der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft geleistet werden kann. Schließlich erlaubt es gerade Mannheims geschichtsphilosophische Sparsamkeit eine kollektive Erfahrung bei AfD-Wähler*innen empirisch zu entdecken, die zu der Anschauung führt, dass Geschichte ihren Charakter eines teleologischen Fortschrittsprozesses eingebüßt und die eigene Identität darin nicht länger eine privilegierte Stellung habe. Die Empirie, die diese Arbeit also generiert, untersucht durch die Formen des utopischen Bewusstseins hindurch, das die AfD mobilisiert, auf welchen impliziten, d. h. vor-diskursiven und vor-programmatischen Vorstellungen, Erfahrungen und Erwartungen der Rechtspopulismus aufruht und inwiefern es ihm gelingt, spezifische Erfahrungen in und mit dem Erfahrungsraum der Spätmoderne auszubeuten. AfD-Wähler*innen, so zeigt die Analyse, verarbeiten diese Erfahrungen in einer »kupierte[n] Apokalyptik« (Vondung 1988), die außer den utopisch blassen, elitären Selbstaufwertungen und Auserwählten-Selbsterzählungen ohne echte Erlösungsaussicht auskommt. Darin aber ist der Rechtspopulismus eine elementare Bedrohung für die Demokratie, sofern mit diesem Zeitbewusstsein demokratische Mechanismen des sozialen Ausgleichs und Konsenses als nicht mehr zukunftsfähig angesehen und per se abgelehnt werden.

In diesem Sinne ist in dieser Arbeit auch von »Rechtspopulismus« die Rede: Er hat gegenüber dem Begriff »Rechtsextremismus« noch immer den Vorteil, dass damit weniger die Assoziation eines extremen »Randphänomens« im politischen und gesellschaftlichen Spektrum hervorgerufen wird, und eine Untersuchung von als »rechtspopulistisch« klassifizierten empirischen Phänomenen, wie im Falle der vorliegenden Arbeit, Weltanschauungen thematisiert, die einer Mitte der Gesellschaft nicht nur nicht fremd, sondern vielmehr dort mitunter sogar ursprünglich und ansässig sind (Lipset 1962; exemplarisch Decker et al. 2015).2 In dieser Arbeit wird Rechtspopulismus zuvorderst (aber nicht ausschließlich) zur Charakterisierung der AfD ebenso wie der Weltanschauung ihrer Wähler*innen verwendet – allerdings nicht in der Absicht damit der programmatischen oder personellen Aufstellung der Partei oder ihrer politikwissenschaftlichen Klassifizierbarkeit gerecht zu werden (vgl. Rhein 2022b).3 Mit dem Begriff soll in dieser Arbeit vielmehr eine zeitgenössische politische Formation gekennzeichnet werden, die Ausdruck einer Zeitkultur und Gesellschaft insgesamt ist, die exemplarisch durch die Weltanschauungen und Zeitorientierungen der Wähler*innen der AfD hindurch untersucht wird. Mit Rechtspopulismus wird hier also ein politisch relevantes, soziales Phänomen bezeichnet, das charakteristisch ist für die spätmoderne Gegenwartsgesellschaft.4 Die vorliegende Arbeit erklärt den Rechtspopulismus in dieser Hinsicht als Ausdruck ihrer spezifischen Zeitkultur, denn es wird in der eigens generierten Empirie unter AfD-Wähler*innen eine kollektive Zeitorientierung entdeckt, die seinen Erfolg erklärt.

Damit werden die im ersten Kapitel besprochenen, vielfältigen anderen Erklärungen des Rechtspopulismus, die insbesondere die Rolle von Angst und sozialer und materieller Unsicherheit herausstellen, nicht für falsch gehalten. Zu Beginn meiner eigenen empirischen Forschungsarbeit wurde auch erwartet, dass Deklassierungserleben, Deprivation und Angst in den Erzählungen der Interviewpartner*innen zum Vorschein kommen würden. Da der Forschungsprozess an der Strategie des theoretischen Samplings orientiert war und sich in einem zyklisch-iterativen Vorgehen schrittweise den empirisch relevanten Aspekten in den Handlungsorientierungen der Fälle annäherte, konnte aber zunehmend festgestellt werden, dass sich solche Erklärungsansätze im Hinblick auf mein eigenes empirisches Material für zu unterkomplex erwiesen. Vor allem mit dem häufig herangezogenen Konzept oder Erklärungsmodell der Modernisierungs- oder Globalisierungsverlier*innen steht nicht nur die neue Forschung zur rechtspopulistischen Wähler*innenschaft nicht mehr in Einklang – mit Deprivation und Angst ließ sich auch das narrative Interviewmaterial dieser Arbeit, mit dem die Funktionsweise des Rechtspopulismus aus einer interpretativ-verstehenden Perspektive rekonstruiert wird, analytisch nicht zum Sprechen bringen. Von der seit mehreren Jahrzehnten wirkmächtigen Globalisierung- und Modernisierungsverlierer*innen-Theorie hat die Forschung eine weitverbreitete Vorstellung geerbt, die die kollektiven Erfahrungen in der Spätmoderne zumindest bei Rechtspopulist*innen zu materialisieren versucht und dabei den Kern ihrer kollektiven Erfahrungen übersieht. Denn häufig werden die Dispositionen der Nachfrage nach rechtspopulistischem Politikangeboten als Reaktion auf eine Betroffenheit in Zeiten multipler Krisen (Demirović 2013) verstanden. Ausgehend von den empirischen Ergebnissen dieser Arbeit jedoch lassen sich solche Krisenzeit-Diagnosen auch als Verarbeitungen einer Zeitkrise lesen.

Diese Lesart wird sodann im zweiten Kapitel theoretisch vertieft. Dort wird die zentrale These dieser Arbeit, dass nämlich der Rechtspopulismus eine spezifische Verarbeitungsform eines gesellschaftlichen Erfahrungsraums der Spätmoderne sei, und dass sich dies an den zeitbezogenen Weltanschauungen, d. h. den Utopien seiner Wähler*innen ablesen lässt, gesellschaftstheoretisch fundiert. Es werden die gesellschaftsstrukturellen Faktoren hinter und die historische Besonderheit der modernen Zukunfts- und Fortschrittskultur besprochen sowie die Ursachen für die Erosion einer solchen Zeitkultur in der »Epoche nach dem Boom«. Es wird ausführlich dargestellt, wie ein Erfahrungsraum der Spätmoderne gesellschaftlich prägend wurde und eine Fortschrittskultur zu überlagern und mit ihrer Negativität sowie ihrem Verlust zu konfrontieren begann. In historischer Hinsicht waren und sind die Vorstellungen von Geschichte und Fortschritt die prägenden Temporalitätssemantiken der Moderne und darin für politische Programme und Zukunftsversprechen von zentraler Bedeutung. Das »Zeit«- (Assmann 2013) oder »Historizitätsregime« (Hartog 2015) der Moderne betreibt eine historisch beispiellose Aufwertung der Zukunft (Hölscher 2020) als Horizont und Fluchtpunkt einer sozialen Praxis und kollektiver Erfahrungen, die, trotz immer wiederkehrender Kritik, ungebrochen vom Modell der normativen Verbesserung geprägt war (Reckwitz 2021). Die programmatische Gestaltung von Zukunft und die Kommunikation verzeitlichter Utopien ist in auf diese Weise charakterisierbaren modernen Gesellschaften zum Kerngeschäft des Politischen geworden. Obgleich diese beispiellose Zukunftskultur nie ungebrochen und nie unangefochten bestand, schwingt sich in den Nachkriegsjahrzehnten der westlichen Industrienationen ein modernes und modernisierungstheoretisch fundiertes Fortschritts-, Wachstums- und Prosperitätsdenken zur gesellschaftlich prägenden Zeitkultur empor. Nicht nur die Erwartung sozialen Aufstiegs, gesellschaftlicher Teilhabe und immerwährenden Wachstums prägen den Erfahrungsraum der Erwerbsgesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte, sondern damit verbunden auch eine zur »Normalität« erklärte, v.a. auf männlich-patriarchalen, ethnisch-weißen Privilegien und auf der heterosexuellen Kleinfamilie aufbauende Lebensführung. Ihre erklärte »Normalität« (vgl. Lessenich 2022) ist auch Festschreibung der Imagination, eine privilegierten Stellung im teleologischen Geschichtsprozess der Moderne innezuhaben. Den Erfahrungsraum der Spätmoderne zeichnet aus, dass diese Imaginationen und ihre temporalen Koordinaten ins Wanken geraten. Es scheinen nunmehr Praktiken und ein Zeiterleben zu dominieren begonnen zu haben, in denen die normative Zukunftsausrichtung ihre Strahlkraft und ihre integrierende Wirkung verloren hat. Die spätmoderne Gegenwart hat sich immer mehr gegenüber einer zunehmend sich verdunkelnden Zukunft, von der man sich immer weniger zu erwarten getraut, zu bewähren. Vor diesem Hintergrund lässt sich die zentrale These der Arbeit entwickeln, mit der die Empirie schließlich auch zum Sprechen gebracht wird: Dass nämlich in der Nachfrage, in den Handlungsorientierungen und Weltanschauungen der AfD-Wähler*innen vor allem eine spezifische kollektive Erfahrung dieser spätmodernen Temporalität verarbeitet wird, die sich mit Reckwitz (2022; 2021) und Brown (2019) als nihilistische »Verlustwut« auf den Begriff bringen ließe und die in dieser Arbeit als chiliastische Utopie empirisch rekonstruiert wird (Kapitel 6).

Damit wird die empirische Konfiguration aus habituellen und erfahrungsgesättigten Selbstbildern und diskursiven Gesellschafts- und Geschichts-, bzw. Endzeitbildern der untersuchten AfD-Wähler*innen auf den Begriff gebracht: Sie glauben Erfahrungen der Ausgrenzung, Bedrohung und Stigmatisierung zu machen und sie kleiden diese Erfahrung in apokalyptische Bilder und Endzeitvorstellungen. In »Reinform« ist mit Chiliasmus eine eschatologisch tradierte, revolutionäre Geschichtsutopie gemeint, die das nahe Ende erwartet bei der gleichzeitigen Hoffnung auf ein 1000-jähriges Reich unter der Herrschaft von Auserwählten. In der Tat sehen sich die untersuchten AfD-Wähler*innen selbst als soziale Nonkonformisten, als Elite und Opfer zugleich. Sie glauben beständig Ausgrenzung und Stigmatisierung zu erfahren, Opfer von Bedrohungen und Anfeindungen zu sein, zugleich aber eine elitäre Stellung für sich verbuchen zu können, weil sie hinter dieser vorgeblichen Ausgrenzung durchschauen, »was wirklich vor sich geht«. Sie betreiben damit eine negative Privilegierung: Ihr empfundenes Ausgegrenzt- und Stigmatisiertsein konstruieren sie als Bedingung der Möglichkeit für eine spätere Privilegierung. Sie temporalisieren ihre negative Privilegierung, d. h. sie erzeugen mit ihrer viktimisierenden Selbstdeutung zugleich ein exklusives Privileg, das aber auf eine bestimmte Geschichts- und Zukunftsvorstellung zugeschnitten ist – eine (mitunter revolutionäre) meta-historische Zukunftserwartung. Die Gegenwart deuten sie in apokalyptisch-endzeitlichen Begriffen und Bildern und in dekadenten Niedergangszenarien. Die Geschichte ist ihnen gewissermaßen auf die falsche Bahn geraten: Liberalisierung und Individualisierung, Globalisierung und Migration, Emanzipation und Klimabewegung sind ihnen untrügliche Anzeichen einer aus den Fugen geratenen Geschichte. In Anbetracht von vorgestellter Endzeit und unausweichlichem Untergang, in Erwartung und Vorbereitung einer Zeit nach dem Untergang ist ihnen die AfD die »letzte Chance« zur »entscheidenden Tat«: Die Krisenverdichtung der Gegenwart fassen sie als historisch günstigen Augenblick auf, in den hinein sie nunmehr ohne Rücksicht auf – im doppelten Sinne zu verstehende – Verluste [!] ihre narzisstischen Kränkungen über Privilegien- und Identitätsverluste artikulieren können. Schließlich würden sich die Krisen jetzt so verdichten, dass das Ruder herumgerissen werden müsse und keine demokratischen und pluralistischen »Befindlichkeiten« mehr berücksichtigt werden könnten.

Dabei zeigen sie im Kern eine umgekehrte Verlustwut: Sie begehren weniger gegen einen vergangenheitsorientierten Verlust auf, sondern gegen einen Zukunftsverlust. Das heißt die chiliastischen AfD-Wähler*innen sind weniger nostalgisch und rückwärtsgewandt als gemeinhin behauptet. Im Gegenteil: Die Weltsicht und Handlungsorientierung von Rechtspopulist*innen sind destruktiv, katastrophisch und von Untergangsphantasien durchsetzt. In diesem apokalyptischen Panorama kultivieren sie ein elitäres Auserwählten-Selbstverständnis: Nach dem erwarteten Untergang, dem Ende der Geschichte oder der Zerstörung dieser Gegenwart erhoffen sie ihre Zukunft. Den chiliastischen AfD-Wähler*innen ist also eine Kombination von nonkonformistischen Elite- und Opfer-Selbstbildern eigen, die sich mit (mitunter revolutionären) meta-historischen Zukunftserwartungen verbinden.

Inspiriert von Mannheims (2015 [1929], S. 184–191) wissenssoziologischem Idealtypus einer revolutionären und ahistorischen Utopie5 wurde der Utopie-Begriff des Chiliasmus in dieser Arbeit empirisch über das spezifische Sample dieser Studie gewonnen. Dieses versammelt schwerpunktmäßig Fälle aus Württemberg und spricht insofern nur über einen (regional) begrenzten Ausschnitt von AfD-Wähler*innen. Allerdings hat diese Sample-Spezifik auf einen historisch-kulturellen, konjunktiven Erfahrungszusammenhang schließen lassen, der mit der pietistischen Prägung dieser Region zusammenhängt (Kapitel 6.3). Der religionsgeschichtlich mit dem württembergischen Pietismus verbundene Chiliasmus ließ sich demnach als säkulare Utopie verstehen und damit das empirische Material dieser Studie zum Sprechen zu bringen. Damit konnte auf den Begriff gebracht werden, wie sich die Fälle dieser Studie die Gegenwart vorstellen: Sie glauben nicht an eine bruchlose Fortsetzung oder Restauration des Gestern und sie sehnen sich auch nicht nostalgisch danach. Die chiliastischen AfD-Wähler*innen sind vielmehr Aussteiger*innen aus dem spätmodernen Zeitregime und sie wählen die Partei, weil sie ihnen die Gegenwart in den Horizont endzeitlicher Dringlichkeit rückt und beständig den »Ernstfall« (Schmitt 1932) ausruft. Darin hoffen sie auf das Ende der spätmodernen Gegenwart und erleben sich schon heute als zukünftige Elite: »Deutschland. Aber normal«.

Was sagt uns schließlich der Befund dieser Arbeit? Was lässt sich damit über die Einschätzung des und den Umgang mit Rechtspopulismus und verwandter demokratiefeindlicher, antipluralistischer und -liberaler Bewegungen lernen? Die vorliegende Analyse beschreibt sie als spezifische Verarbeitungsformen von Erfahrungen mit der Gesellschaft der Spätmoderne und ihren Zeitverhältnissen. Die AfD versorgt ihre Wähler*innen mit einer gesellschaftlichen Sicht- und Hörbarkeit ihrer nihilistischen Verlustwut und sie artikuliert ihr kollektives Unbehagen über die Ungewissheit, ob in Zukunft, in einer als gänzlich anders befürchteten Zeit, sie noch in ihrer unwidersprochen hegemonialen sozialen Identität und Lebensform der Vergangenheit und Gegenwart fortzuleben vermögen. In ihren Vorstellungen hätten daher in der Vergangenheit schon destruktive, bösmeinende, dekadente Kräfte an den Verhältnissen sozialer Normalität und am historischen Chronos Hand angelegt und den normalen Gang der Geschichte auf gefährliche Abwege gelenkt. Im Rechtspopulismus bündeln sich demgegenüber apokalyptische Zeitbilder und kairologische Erwartungen für einen mitunter revolutionär vorgestellten Umschwung dieser Verhältnisse. Mit diesem Zeit- und Geschichtsdenken aber machen sie sich für ein Kernelement demokratischer Gesellschaften unansprechbar: Die gesellschaftliche Aushandlung von Zukunft gehört zum politisch-demokratischen Projekt der Moderne. Es befindet sich in einer Krise womöglich ungekannten Ausmaßes und der Rechtspopulismus betreibt auf dieser Bühne ein lustvoll-destruktives Schauspiel eines Endes der Geschichte. Er beschwört Endzeitszenarien herauf und jene, die sich bei ihm versammeln, orientieren sich an diesen, um damit einen »historisch« günstigen Augenblick zu behaupten, in den hinein sie ihre autoritären, antipluralistischen und rassistischen Affekte »begründen«. Schließlich spielt gerade die Vorstellung, dass die Krisen sich in der Gegenwart nun so verdichtet hätten und die Geschichte derart auf Abwege geraten sei, dass das Ruder herumgerissen werden müsse und keine pluralistischen und demokratischen »Befindlichkeiten« mehr berücksichtigt werden könnten, eine zentrale Rolle.

Eine Einsicht lässt sich daraus schon vorweg gewinnen: Eine Empörung über das vermeintlich nostalgisch Ewiggestrige rechtspopulistischer Weltanschauung verharmlost das Phänomen. Und in der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Rechtspopulist*innen wird es weniger darauf ankommen, ihre ideologischen Inhalte oder programmatischen Inhaltsleeren zu demaskieren; und noch weniger darauf, die vermeintlichen Ängste und Sorgen »besorgter Bürger*innen« auf demokratischen Abwegen ernst zu nehmen. Es gilt vielmehr zu verstehen, dass, mit Mannheim gesprochen, im Rechtspopulismus Utopien am Werk sind und dass das Bild, das sich AfD-Wähler*innen mitunter von sich selbst machen, nämlich als unterdrückte und ausgegrenzte Minderheit, ihr utopisches Interesse »an der Zerstörung und Umformung einer gegebenen Gesellschaft« (Mannheim 2015 [1929], S. 36) prägt. Rechtspopulist*innen sind Aussteiger*innen aus den demokratischen Spielregeln der spätmodernen Gegenwartskultur und sie verweigern daher auch jede demokratische Gestaltung einer Zukunft. Die Zeit ist ihnen »reif« und die – im doppelten Wortsinne – »rechten« Zeitverhältnisse gekommen um für eine auserwählte Elite eine Zukunft vorzubereiten.

Obwohl in dieser Studie also Menschen, die die AfD wählen oder gewählt haben, eine zentrale Rolle spielen, ist sie keine genuine Arbeit über die AfD. Vielmehr nimmt sie den Fall AfD als empirischen Gegenstand um darüber etwas über die Gesellschaft zu verstehen, die sie hervorgebracht hat. Für sie, so ist zu hoffen, kommt diese Studie gleichsam zur rechten Zeit.

1.Krisenzeit oder Zeitkrise? Rechtspopulismus in ›entsicherten‹ Zeiten

Vor nunmehr über 20 Jahren warnten Dietmar Loch und Wilhelm Heitmeyer vor einer neuen autoritären Versuchung, die das kommende 21. Jahrhundert prägen werde (Loch und Heitmeyer 2001). Mit Blick auf Ralf Dahrendorfs (1997) Diagnose, der die zu Ende gehenden 1990er Jahre an der Schwelle zu einem autoritären Jahrhundert sah, blicken Loch und Heitmeyer auf die Entwicklung der liberalen westlichen Demokratien voraus. Sie erwarten, dass die Globalisierung die sozialen und politischen Zustände – gemeint sind die wohlhabenden Nationalstaaten des globalen Nordens – auf vielfältige Weise umkrempeln werde. Erfahrungen politischer Souveränitäts- und biografischer Kontrollverluste würden autoritären, demokratie- und menschenfeindlichen Kräften zum Durchbruch verhelfen. Denn einerseits werde das spätkapitalistische Versprechen autonomer und flexibler Lebensführung zunehmend als An- und Überforderung sowie als Verlust stabiler sozialer Verortung erfahren und sich zu sozialer Polarisierung und kollektiven Orientierungslosigkeiten auswachsen (Sennett 1998). Andererseits werden auf der politischen Ebene in den zu »Postdemokratien« (Crouch 2015, 2021) erstarrten liberalen Demokratien erhebliche Legitimations- und Demokratiedefizite und eine demokratische Regression (Schäfer und Zürn 2021) prognostiziert, die sich, infolge eines zu erwartenden nationalstaatlichen Souveränitätsverlusts, zu einer generellen Unzufriedenheit mit der Leistungsfähigkeit der Demokratie und des politischen Systems auswachsen würden. Auf dieser Linie wird der Rechtspopulismus als Reaktion auf eine Hegemonie eines postdemokratischen Liberalismus gedeutet (Jörke und Selk 2018). Dem zugrunde lägen vielgestaltige Erfahrungen von Kontrollverlusten, die zur Demokratieentleerung beitrügen, mit der Konsequenz, dass sich die unheilvolle Koalition aus autoritärem Neoliberalismus,6 sozialer Desintegration7 und Demokratieentleerung verschärfen und »neue autoritäre Versuchungen durch staatliche Kontroll- und Repressionspolitik wie auch rabiater Rechtspopulismus befördert werden« (Heitmeyer 2001, S. 500).

In diesem Krisenpanorama wird der neue autoritäre Populismus als Rückkehr des Politischen (Laclau 2005; vgl. exemplarisch auch den Band von Panizza 2005) nach langen Jahren des postdemokratischen, ja post-politischen Liberalismus aufgefasst. Die »Stunde der Populisten« schlage dann, wenn es gelinge, dieses Legitimationsproblem erfolgreich zu politisieren und zu skandalisieren (Jörke und Selk 2017, S. 67). Komplexe und opake Prozesse politischer Entscheidungsfindung ließen sich immer seltener auf einen demokratischen Mehrheitswillen zurückführen, was in liberalen Demokratien zu Legitimationsproblemen und zur Konjunktur von Verschwörungstheorien und Ängsten führe, die einen »Illiberalismus der Furcht« beförderten (Selk 2019).

In diesem Kapitel wird, mit Blick auf den Stand der Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen des Rechtspopulismus, die These herausgearbeitet, dass der Rechtspopulismus keine neuralgische Angst- und Kontrollrückgewinnungsreaktion von Globalisierungs-»Opfern« ist und in dem Sinne auch weniger als eine Rückkehr des Politischen zu verstehen ist. Immerhin versteht man ihn aus dieser Perspektive vor allem nur als Resultat einer postdemokratischen und globalisierungsbedingten wirtschaftlichen Krisenzeit. Womöglich aber ist er, mehr noch, Ausdruck einer anti-politischen Ablehnung der liberalen Demokratie in toto. So jedenfalls deuten Hochuli et al. (2022) den Rechtspopulismus und sie sehen in ihm eine kollektive Wutreaktion auf die Postdemokratie und eine Ablehnung der Konsens-Politik und der formellen Politik überhaupt. Sie zeigen, dass der Rechtspopulismus vor allem auch mit den Temporalstrukturen der Gegenwartsgesellschaft zu tun hat, mit ihrem proklamierten Geschichts-Selbstbild: deren Ende nämlich. Sie kommen zu dem überraschenden Schluss: »Der Populismus wurde durch das Ende der Geschichte geboren und hat am Ende des Endes der Geschichte die Post-Politik entthront.« (Hochuli et al. 2022, S. 49)

Damit wird der Rechtspopulismus zum Anzeiger des Endes dieses Endes der Geschichte,8 jener zentralen und wirkmächtigen Selbstbeschreibung, die die Spätmoderne über ihre historische Situation hervorgebracht hat (vgl. dazu die ausführlichere Diskussion in Kapitel 2.3) – und er ist damit nicht nur das Phänomen einer Krisenzeit. So legt es auch mein eigenes empirisches Material nahe. Wendet man nämlich darauf Kategorien, Begriffe oder Theorien von Postdemokratie, Desintegration und Krisenzeit – die Erklärungsmuster Angst, relative Deprivation und/oder Desintegration – an, dann lässt es sich nur äußerst unzureichend zum Sprechen bringen. Aus den narrativen Interviews mit den untersuchten AfD-Wähler*innen dieser Studie geht eher hervor, dass es sich beim Rechtspopulismus nicht nur um ein Phänomen einer Krisenzeit, sondern einer tieferliegenden Zeitkrise handelt.

1.1.Verlier*innen der Modernisierung

Die These, dass der Rechtspopulismus weniger eine Rückkehr des Politischen und weniger eine Angstreaktion und ein Versuch zur Rückgewinnung globalisierungsbedingter Kontrollen über Politik und kollektive und individuelle Identitäten ist, sondern eine Zeitkrise verarbeitet, lässt sich bereits aus den Diskussionen entwickeln, die ihn seit den 1990er Jahren als sogenanntes Modernisierungs- oder Globalisierungsverlier*innen-Phänomen beschreiben.9 Man sieht in rechten Bewegungen aus dieser Perspektive eine politische Artikulation von »Opfern« (Klönne 1989; Schacht 1990) oder »Verlierer*innen« gesellschaftlicher Modernisierung (Falter 1994; Hadler 2004; Spier 2010; Ulbricht 2020).10 Häufig wird die Nachfrage nach rechten Politikangeboten als direkte Ableitung von wirtschaftlichen Lebenslagen modelliert: Die sogenannten Verlier*innen oder Opfer gesellschaftlicher Modernisierung seien aufgrund eines Transformationsdrucks und daraus erwachsender beständiger Umorientierungsbedarfe – etwa durch die parallele Abwertung beruflicher Qualifikationen und damit verbundene Statusverluste (Winkler 1996) – ökonomisch und sozial betroffen und entsprechend für extrem rechte politische Angebote disponiert (Betz 1994). Die sogenannte Modernisierungsverlierer*innen-These besagt zwar, dass Menschen im Prozess des sozialen Wandels eine ständige Anpassungsleistung erbringen müssten und dass damit in immer schnelleren Abständen Statusbedrohungen einhergingen. In der Wahlforschung wurde jedoch schon früh angenommen, dass subjektive Deprivationsgefühle – mehr als die objektive soziale Lage – Politikverdrossenheit, politische Protesthaltung und »rechtsextremistische Denkmuster« beförderten (Falter 1994).

In dieser Richtung lässt sich der Rechtspopulismus als Modernisierungs- bzw. Globalisierungsverlierer*innen-Phänomen in sozialpsychologischer Hinsicht als Resultat kollektiver »relativer Deprivation« verstehen (Lipset 1955; Rippl und Baier 2005; Wolf et al. 2006; Heyder und Gaßner 2012; Gidron und Hall 2017; Tutić und Hermanni 2018; Pickel 2019; Burgoon et al. 2019). Thematisiert werden mit diesem Konzept soziale Vergleichsprozesse, die bei Menschen zu Vorurteilen und abwertenden bis rassistischen Einstellungen führen11 (Davis 1959; Runciman 1961; Runciman 1966; Vanneman und Pettigrew 1972; Walker und Pettigrew 1984; Walker und Smith 2002; Pettigrew et al. 2008) – und zwar unabhängig davon, wie sich die objektive Lage in diesem Vergleich wirklich darstellt. Entscheidend ist vielmehr, dass sich beim Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Gruppen eine subjektive Benachteiligungswahrnehmungen einstellt (Olson et al. 1986; Walker und Smith 2002). Nationalistisch-rassistische Einstellungen spielen vor allem dann eine Rolle, wenn etwa die Lage »der Deutschen« mit den in Deutschland lebenden »Ausländer*innen« verglichen wird (Wolf et al. 2006; Klein und Müller 2016). Entsprechende politische Bewegungen oder Parteien beuten demnach nicht etwa individuelles, sondern kollektives Benachteiligungsempfinden aus (Lipset 1955; Gurr 1970; Vanneman und Pettigrew 1972; Power 2018) sowie damit zusammenhängende gruppenbezogen-menschenfeindliche und rassistische (Blumer 1958; Zick 1997; Pettigrew 2002; Wolf et al. 2006; Pettigrew et al. 2008)12 bzw. als »rechtsextrem« bezeichnete Einstellungen (Decker und Brähler 2006; Decker et al. 2018; Heyder und Gaßner 2012; Stöss 2010; Rydgren 2007; Rippl und Baier 2005). Das auf relativer Deprivation aufbauende Desintegrations-Theorem erklärt mit größerer sozialtheoretischer Reichweite die Entstehung bestimmter Einstellungsmuster gruppenbezogen menschenfeindlicher Art bzw. rechte Gewaltbereitschaft (Anhut und Heitmeyer 2005; Sitzer und Heitmeyer 2007).13

Entsprechend wurde der Einfluss relativer Deprivation auch auf die Wahl radikal rechter und weniger auf die Wahlentscheidung für linke Parteien mehrfach nachgewiesen (Rooduijn und Burgoon 2018; Burgoon et al. 2019). Auch im speziellen Fall der AfD werden Effekte relativer Deprivation diskutiert (Droste 2019; Hertel und Esche 2019). AfD-Wähler*innen seien überdurchschnittlich unzufrieden mit der wirtschaftlichen Lage und zeigten ein ausgeprägtes materielles Ungerechtigkeitsempfinden (Brenke und Kritikos 2017). Subjektiv empfundene sozioökonomische Deprivation zeichnete sich demnach als starker Prädiktor für die Affinität zur AfD ab (Tutić und Hermanni 2018; Pickel 2017). Bei der AfD Wähler*innenschaft zeigt sich insgesamt, dass weniger die objektive soziale und wirtschaftliche Lage eine Rolle spielt, sondern die Einstellungen und die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Zustände. Lengfeld weist darauf hin, dass nicht die objektive Schlechterstellung an sich, sondern deren subjektive Bewertung dazu führe, sich der AfD zuzuwenden (Lengfeld 2017, S. 223; Lengfeld 2018, S. 302). Eine nähere Betrachtung der Wähler*innenschaft der AfD in Sachsen-Anhalt 2016 bringt Pickel (2017) zu dem Schluss, dass die subjektive Bewertung der sozialen Umwelt von großer Bedeutung sei. Bei der AfD Wähler*innenschaft zeige sich insbesondere, dass es bei der »Wirkung sozialer und wirtschaftlicher Lagen auf das Wahlverhalten der Bürger […] nicht auf die objektiven Tatsachen [ankommt], sondern auf die Einstellungen und Wahrnehmungen der gesellschaftlichen Zustände durch die Bürger« (Pickel 2017, S. 104). Insgesamt zeigt die Studienlage, dass eine ausgeprägte subjektiv empfundene sozioökonomische Deprivation als ein starker Prädiktor für die Affinität zur AfD gilt (Tutić und Hermanni 2018).

1.2.Krisenpanorama, Kontrollverluste und autoritäre Versuchungen

Sofern relative Deprivation der sozialpsychologische Unterbau der Modernisierungsverlier*innen-These darstellt, sollte sowohl mit dem Befund, dass rechte Mobilisierbarkeit auch unabhängig von realen, abhängig jedoch von empfundenen Deklassierungen stattfinden kann, als auch mit der These der unter die Räder der globalen Modernisierung Gekommenen differenzierter umgegangen werden. Demnach reagierten »die ›Modernisierungsverlierer‹ […] auf die Bedrohung ihres sozialen Status mit einem Gefühl der subjektiven Deprivation, welches wiederum zu einer Abwehrreaktion führt, u.a. zur Wahl von rechtspopulistischen Parteien, die eine starke (symbolische) Aufwertung ihres sozialen Status vornehmen.« (Ulbricht 2020, S. 266) Für diese gefühlten Status- und biografischen Kontrollbedrohungen und ihre autoritär-nationalistischen und populistischen Erscheinungsformen werden aus Sicht der Modernisierungsverlier*innen-These dennoch materialistische Ursachen angegeben. Obgleich der Zusammenhang zwischen den ökonomischen Krisen der entsicherten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts (Heitmeyer 2018) und den Erfolgen rechter politischer Kräfte als komplex und vielschichtig gilt (PROKLA-Redaktion 2016), werden die autoritären Verwerfungen des 21. Jahrhunderts auf krisengetriebene »Entsicherungen« unsicher gewordenen Zukunftserwartungen zurückgeführt. In dieser Situation profiliere sich gerade der Rechtspopulismus mit einer »Krisenpolitik rechtsaußen« (Virchow und Häusler 2018) als »Krisenbearbeiter« (Opratko 2017; vgl. auch Bieling 2017).

Wie die Diskussion um den Rechtspopulismus als »working class«-Phänomen (Rydgren 2013) zeigt, kann im Zentrum dieser Konstellation eine »Krise der Arbeit« und daraus entstehende »neue Unsicherheiten« (Castel 2011) verortet werden. Die Deregulierung von Normalarbeitsverhältnissen, die Institutionalisierung von Prekarität (Dörre 2006; Castel und Dörre 2009; Marchart 2013; Stuth et al. 2018) sowie der individualisierende und aktivierende Umbau der Sozialsysteme (Lessenich 2008; Böhle und Lessenich 2018, S. 725–733; Lessenich 2019) bilden eine bereits häufig diskutierte Hintergrundstruktur der autoritären Versuchungen der entsicherten Jahrzehnte (vgl. exemplarisch Sommer 2010).14 Nachtwey (2016, S. 119–179) zeigt, wie gerade die Erschütterung der Arbeitsverhältnisse als Hauptursache für die Formierung der »Abstiegsgesellschaft« am Werk sind. Die Erosion von Normalarbeitsverhältnissen, die Stagnation der Lohnentwicklung und rückläufige Tarifbindungen führe dazu, dass immer weniger eine durch Erwerbsarbeit sichergestellte stabile und verlässliche Integration zu erwarten hätten:

»Arbeit verändert in der regressiven Modernisierung ihren Charakter, aus der vormals Quelle des Aufstiegs entspringt nun die Gefahr sozialer Abstiege. Erwerbsarbeit gewährt zunehmend weniger Menschen Sicherheit, Status und Prestige sowie die Möglichkeit einer kontinuierlichen Lebensplanung. Die Abstiegsprozesse haben sich in immer neuen Schüben auf größer werdende Segmente der Gesellschaft ausgeweitet.« (Nachtwey 2016, S. 121)

Im Kernbereich der Erwerbsarbeit würden also Kontroll-, Anerkennungs- und Sicherheitserwartungen verletzt.15 Flankiert wird die Krise der Arbeitsgesellschaft von einem neuen Wohlfahrtsstaat, der arbeitsrechtliche Flexibilisierung und Ausweitung atypischer Beschäftigungen immer weniger durch sozialstaatliche Schutzmechanismen abfedere. Der »neue Wohlfahrtsstaat« fungiere nicht länger als statuserhaltender Angsthemmer, sondern begleite »strukturell unsicherer gewordenen Lebens- und Arbeitsverhältnisse in vielerlei Hinsicht mit weniger Absicherung sowie mit […] neuartige[n] Ungewissheiten« und es scheint darüber »die Erfahrungen von Kontrollverlusten über die Gestaltbarkeit der eigenen Lebensverhältnisse die Attraktivität rechtspopulistischer Positionen erhöht zu haben« (Betzelt und Bode 2018, S. 10). Abstiegsgesellschaft und Angst im neuen Wohlfahrtsstaat kennzeichneten demnach die Desintegrationsprozesse der entsicherten Jahrzehnte. Ängste vor sozialem Abstieg hätten sich in der Zeit auch in der Mittelschicht breit gemacht (Lengfeld und Hirschle 2009; Kraemer 2010; Schöneck et al. 2011; Koppetsch 2013; Schimank et al. 2014). Lengfeld und Hirschle (2009) zeigen, dass in den zwei Jahrzehnten seit 1990 für breite Teile der Mittelschicht in Deutschland nicht die reale Bedrohung, sondern maßgeblich die Angst vor dem Absturz zugenommen habe. Unabhängig von Berufsgruppen und dem damit jeweils verbundenen sozialen Status hätten die Sorgen um die wirtschaftliche Zukunft seit Beginn der 1990er-Jahre zugenommen. Einen überproportionalen Anstieg solcher Ängste beobachten die Autoren jedoch in der »mittleren Mittelschicht«. Solche Ängste in der entsicherten Abstiegsgesellschaft frustrierten Kontroll-, Anerkennungs- und Sicherheitserwartungen und bereiteten damit einem regressiven und autoritären Aufbegehren den Weg.16 Abstiegsangst und der wahrgenommene Zerfall des ökonomischen Gefüges im Kontext eines europäischen Krisengeschehens habe der AfD 2014 auch den Weg bereitet (Nestler und Rohgalf 2014, S. 411). Sie repräsentiere ein entsprechend reaktionäres Aufbegehren der Abstiegsgesellschaft, sofern sie »die Krise des Sozialen, die Abstiegsängste aufgegriffen […] und sie an eine eben reaktionäre Krisenverarbeitung andocken« konnte (Friedrich 2017, S. 42).

Empirische Untersuchungen der Abstiegsängste in Deutschland zeigen indessen ein differenzierteres Bild. Abstiegsängste hätten demnach nicht beständig zugenommen, sondern seien streckenweise sogar rückläufig (Lengfeld und Ordemann 2017; Lengfeld 2019). Diese Befunde bilden den Hintergrund dafür, dass die Modernisierungsverlierer*innen-These im Falle der AfD-Wähler*innenschaft auch als widerlegt angesehen wird (Lengfeld 2017; 2018; Rippl und Seipel 2018). Demnach hätten ökonomische Ängste allein, die für die Modernisierungsverlierer*innen-These sprächen, deutlich weniger Bedeutung für die Hinwendung zur AfD als kulturelle Faktoren und identitär-nationalistische Überfremdungsgefühle.17 Andere Untersuchungen kommen zu dem entgegengesetzten Schluss: »Modernisierungsverlierer*innen« wiesen tendenziell eine stärkere Neigung zur Wahl der AfD auf als Personen aus höheren Statuslagen (Lux 2018a).18 Entsprechende Kontroll-, Anerkennungs- und Sicherheitsverluste spielten demnach im Zusammenhang mit rechtspopulistischer Mobilisierung weiterhin eine zentrale Rolle. Immerhin neige genau jene Gruppe besonders stark zur AfD, die von der positiven Einkommensentwicklung der letzten 25 Jahre weitgehend abgekoppelt gewesen sei und deren Meinung im politischen Entscheidungsprozess der letzten Jahre kaum eine Rolle gespielt habe (Lux 2018b; Hertel und Esche 2019). Dennoch wird auch darauf hingewiesen, dass sich die AfD insgesamt diffuse Ängste zunutze mache und ihr Erfolg sei ein Ergebnis von nicht notwendigerweise durch objektive Lagen erklärbaren Statusängsten (Kohlrausch 2018). Und in der Tat unterscheiden sich AfD-Wähler*innen unter soziodemografischen Gesichtspunkten nicht erheblich von Wähler*innen anderer Parteien (Weßels 2019; Biskamp 2020).19 Insgesamt lässt sich also festhalten, dass die AfD-Wähler*innenschaft nicht überdurchschnittlich abgehängt oder benachteiligt ist. Ihre ausgeprägten Zukunftsängste und ihr Pessimismus hingegen sind ein Alleinstellungsmerkmal.

1.3.Die Angst der AfD-Wähler*innen

Negative Zukunftserwartungen wirkten sich dauerhaft negativ auf die Demokratieentwicklung aus und Erfahrungen, womöglich aber sogar »nur« Erwartungen individuell-biografischer Kontrollverluste, sowie Unsicherheiten und Ängste spielten demnach eine zentrale Rolle bei der rechtspopulistischen Ansprechbarkeit. Diesen Zusammenhang von gesellschaftlicher Krisenwahrnehmung, Angst- und Bedrohungsgefühlen und rechter politischer Mobilisierung haben die Studien der Reihe »Deutsche Zustände« (Heitmeyer 2002; Heitmeyer 2012) konstatiert und ausführlich beschrieben. Sie zeigen wie krisenhafte Entwicklungen im Erwerbsleben – Angst vor Arbeitsplatzverlust, Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigung – und daraus resultierende zunehmende Labilität sozialer Beziehungen sowie ein Verlust des Vertrauens in das politische System zusammenhängen. Krisenbezogene Angst- und Bedrohungsgefühle führen zu Syndromen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (Mansel et al. 2006) und subjektive Benachteiligungs- und Ausgrenzungsgefühle werden mit kollektiven Abwertungen von Menschengruppen kompensiert (Wolf et al. 2006, S. 67). Bereits die Angst vor dem Verlust des Arbeitslatzes im Deutungspanorama ökonomischer Globalisierungsprozesse kann ein Wahlmotiv für Rechtsaußen-Parteien sein (Mughan et al. 2003). Ein partei- oder bewegungsmäßig organisierter Autoritarismus wird in dieser Hinsicht als Reaktion auf individuelle oder gesellschaftliche Kontrollverslusterfahrungen interpretiert.

»Sie erzeugen eine Nachfrage nach politischen Angeboten, die darauf abzielen, die Kontrolle wiederherzustellen, und zwar durch die Ausübung von Macht und Herrschaft sowie über Ausgrenzung und Diskriminierung bzw. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit.« (Heitmeyer 2018, S. 84)

Auf dieser theoretischen Spur lässt sich der Rechtspopulismus im Hinblick auf darin enthaltene und verarbeitete Zukunftserwartungen untersuchen, um zu verstehen, »welche individuellen und kollektiven Interpretationen über die Ursachen von Zukunftsproblemen sich durchsetzen« (Heitmeyer 2001, S. 511). Für die AfD-Anhänger*innenschaft im Speziellen wird dabei erwartet, dass Ängste – vor Desintegration und Depravierung, bzw. vor ökonomischen und biografischen Kontrollverlusten – die entscheidenden Ursachen ihrer rechtspopulistischen Mobilisierbarkeit seien.

Sthamer (2018) analysiert die AfD-Wahlabsichten als Effekt relativer Deprivation im Zusammenhang mit spezifischen Zukunftserwartungen. Sie zeigt, wie einerseits Ungerechtigkeitsempfindungen und andererseits negative ökonomische Zukunftserwartungen einen positiven Einfluss auf die AfD-Wahlabsicht haben. Es wurde auch an anderer Stelle auf die Rolle konkreter Ängste vor Arbeitsplatzverlust und eines grundsätzlich pessimistischen Blicks auf die eigene wirtschaftliche Situation als AfD-Wahlmotivation hingewiesen (Hambauer und Mays 2018; Lorenzen et al. 2018). Ängste vor Statusverlust und Abstieg hängen demnach unmittelbar mit rechtspopulistischer Mobilisierbarkeit zusammen (Dietl 2018, S. 123) und charakterisierten die AfD gar als »Partei der kleinen Leute und Ängstlichen« (Hambauer und Mays 2018, S. 150).

Es geht dabei nicht nur um die konkrete Erfahrung sozialer Ausgrenzung oder sozialen Abstiegs, sondern vielmehr um die Angst davor – und diese mitunter diffusen Angstgefühle beute die AfD erfolgreich aus (Kohlrausch 2018, S. 5). Sthamers (2018) Ergebnisse kommen in der Hinsicht zu dem differenzierteren Befund, dass Prekaritätserwartungen, »etwa die Erwartung, in den nächsten fünf Jahren in eine finanziell schwierige Lage zu geraten oder arbeitslos zu sein, zwar in unteren Einkommensgruppen verbreiteter« seien, dass diese Erwartung jedoch »besonders für Personen mit mittlerem Einkommen einen Einfluss auf die AfD-Wahlabsicht« haben (Sthamer 2018, S. 586).

Es geht bei der AfD-Wahl also weniger um die Erfahrung (in) einer objektiven sozialen Lage allein, sondern um eine Erwartung sozialer Zurücksetzung – die gerade in mittleren sozialen Lagen autoritäre und regressive Ausschläge hat. Wie Hilmer et al. (2017) zeigen, spielen hier relative Deprivation und Zukunftsangst offenkundig zusammen, sofern sich AfD Wähler*innen unabhängig von ihrem realen Einkommen in der Gesellschaft niedrig einordnen und sich um die Gestaltbarkeit der eigenen Erwerbsbiografie in der Zukunft sorgten:

»Weniger reale Entbehrungen, sondern vor allem eine Kombination aus wahrgenommenem Abstieg in der Vergangenheit und Abstiegsängsten – auch in der Arbeitswelt – in Bezug auf die Zukunft, [sind es] die dazu führen, dass Menschen AfD wählen oder es grundsätzlich in Erwägung ziehen.« (Hilmer et al. 2017, S. 6)

Auch andere Studien zeigen, dass nicht nur die objektive ökonomische Lage und das Bild, das sich AfD-Wählende von ihrer Zukunft machen, auffällig auseinanderfallen (Bergmann et al. 2017; Droste 2019). Vielmehr seien AfD-Wähler*innen im Vergleich zu Wähler*innen anderer Parteien auffällig pessimistischer und zukunftsängstlicher (Pokorny 2018; Lorenzen et al. 2018). Die AfD lässt sich demnach als Partei der besonders pessimistischen Durchschnittsverdiener*innen (Bergmann et al. 2017, S. 61) charakterisieren: