Rechtspopulisten im Parlament - Christoph Butterwegge - E-Book

Rechtspopulisten im Parlament E-Book

Christoph Butterwegge

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Beschreibung

Seit die AfD in das Europaparlament, mehrere Landtage und den Bundestag eingezogen ist, wird darüber diskutiert, ob die Rechtspopulisten aufgrund gezielten Provokationen und "Politikunfähigkeit" bald wieder aus den Parlamenten verschwinden oder sich dort für längere Zeit etablieren können. Die Rechtspopulisten nur als "Rattenfänger" oder "braune Demagogen" abzutun, führt jedenfalls zur Unterschätzung der mit ihren Wahlerfolgen dieser Parteiformation einhergehenden Gefahren. Butterwegge, Hentges und Wiegel analysieren klar: Nur ein konsequenter Kampf gegen die äußerste Rechte, der zivilgesellschaftliche Aktivitäten und außerparlamentarische Initiativen einschließt, kann eine Normalisierung der parlamentarischen AfD-Repräsentanz verhindern.

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Ebook Edition

Christoph ButterweggeGudrun HentgesGerd Wiegel

Rechtspopulisten im Parlament

Polemik, Agitation und Propaganda der AfD

Unter Mitarbeit von Georg Gläser

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www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-714-6

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Einleitung
1 Rechtspopulismus in Deutschland: Erscheinungsformen, Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen
Definitionen und Diskussionen über den Populismusbegriff
Grundrichtungen des Rechtspopulismus
Die ökonomischen, sozialen und politisch-kulturellen Ursachen des Rechtspopulismus
Rechtspopulismus als Erscheinungsform, Folge und Krisensymptom des Finanzmarktkapitalismus
Der soziale Kältestrom einer verunsicherten Wohlstandsgesellschaft – die wichtigste Triebkraft des Rechtspopulismus
Die moralische Erosion der Demokratie und die Transformation der politischen Kultur: Auf dem Weg in eine andere Republik?
2 Entstehung und Entwicklung der AfD bis zur Gegenwart
Rechtspopulistische Vorbilder und Vorläufer
Die Geschichte der AfD
Parteiführung, Ausrichtung und Themensetzung der AfD
Flügelkämpfe, Rechtsentwicklung und Führungswechsel der AfD
3 Wahlerfolge und parlamentarisches Wirken der AfD
Wahlkämpfe und Wahlergebnisse
Gründe für die Wahlerfolge der AfD
Auswirkungen der Wahlerfolge: Rechtspopulismus als parlamentarische Kraft und politischer Machtfaktor
Inhaltliche Orientierung und Verhalten der AfD-Parlamentsfraktionen
4 Das parlamentarische Wirken der AfD nach politischen Sachgebieten und Themen
(Flucht-)Migration als Schlüsselthema der AfD
Anträge und Reden
Anfragen
Zwischenfazit
Innenpolitik: Bedrohungsszenarien aller Art
Das Bedrohungsszenario des (islamistischen) Terrorismus
Das Bedrohungsszenario der (Ausländer-)Kriminalität
Feindmarkierungen
Rassismus und Antisemitismus in der parlamentarischen Praxis der AfD
Rassismus im Grundsatzprogramm der AfD
Biologistischer Rassismus
Rassistische Anträge und Anfragen der AfD
Antisemitismus
Antisemitismus in Anfragen der AfD
Streiflichter einer Bundestagsdebatte und Beispiele für Antisemitismus in den Reihen der AfD
Die AfD umwirbt Jüdinnen und Juden
Zwischenfazit
Erinnerungs- und Geschichtspolitik
Verbale Duftmarken: Wehrmacht und Holocaust
Parlamentarische Vorstöße zur Geschichtspolitik
Reaktionen der Betroffenen
Problemverdrängung und Sozialpopulismus: Wie die AfD mit der wachsenden Armut umgeht
Die Parteiflügel der AfD und ihre Stellung zum Sozialstaat
Steuerpolitik für die Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen
Armut in einem reichen Land aus Sicht der AfD
Altersarmut und Rentenpolitik – die AfD vor einer Zerreißprobe?
Demografie als rechtspopulistische Demagogie: Familienfundamentalismus und Bevölkerungspolitik
Die Schlüsselrolle des Pronatalismus für den Rechtspopulismus: Rückkehr zur Bevölkerungspolitik?
Familien- und bevölkerungspolitische Initiativen der AfD
»Zwangsheiraten«, Inzest und Behinderungen – Ansatzpunkte für einen Übergang zum Antinatalismus?
Antifeminismus und Polemik gegen Gender Mainstreaming
Wähler/innen, Mitglieder, Funktionäre und Parlamentarier/innen der AfD
Kritik am Gender Mainstreaming
Instrumentalisierung der Sexismus-Debatte und Bekämpfung der Sexualpädagogik an Schulen
Für die heteronormative Familie als Ideal, gegen Schwangerschaftsabbrüche und die »Ehe für alle«
Kampfansagen gegenüber den Gender Studies an Hochschulen und gegenüber Frauenhäusern
Die Außen- und Europapolitik der AfD: Deutschland auf dem Weg zur »selbstbewussten Nation«?
Ideologische Grundlagen und programmatische Leitlinien
Umsetzungsbemühungen in Bund und Ländern
Ein deutsches Europa – das Ziel der AfD
5 Verbindungen der AfD zur extremen Rechten
Einbindung der AfD in rechte Netzwerke
Ein ganzes System von Einzelfällen
Einflussnahme auf die Politik der AfD
6 AfD und Social Media
Konstitution und virtuelle Raumnahme der AfD: Filterblase, Echokammer und Bots
Kommunikationsstrategien der AfD
7 Fazit und Ausblick
Literaturauswahl
Populismusforschung und Rechtspopulismus
Nationalkonservative (Krisen-)Diskurse und die Sarrazin-Debatte: Geburtshelfer der AfD
(Vorfeld-)Organisationen, Rechtsparteien und »Bürgerbewegungen« als Wegbereiter/Begleiter der AfD
Politik, Programmatik und Parlamentsarbeit der AfD
Rechtsextremismus bzw. -populismus im europäischen und im globalen Rahmen
Gegenmaßnahmen – Möglichkeiten der Prävention und Intervention
Anmerkungen

Einleitung

»Jetzt sehen Sie, wie Jagd geht. Wir sind beim Jagen.« Mit diesen Worten kommentierte Alice Weidel, Vorsitzende der AfD-Bundestagsfraktion, am 2. Juli 2018 die wochenlangen Auseinandersetzungen zwischen CDU und CSU, personifiziert durch Kanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer, über den asyl- und flüchtlingspolitischen Kurs der Union. Das öffentliche Schauspiel einer Selbstdemontage der Union gehörte zu den größten Triumphen der noch kurzen Partei- und Parlamentsgeschichte der »Alternative für Deutschland«. Für einen Moment sah es gar so aus, als könnte die AfD schon neun Monate nach dem Einzug in den Bundestag das im Wahlkampf verkündete Etappenziel »Merkel muss weg!« erreichen.

Weidel knüpfte mit ihrer Aussage an die Drohung ihres Ko-Vorsitzenden Alexander Gauland vom Wahlabend an: »Wir werden sie jagen«, so hatte Gauland am 24. September 2017 die Aufgabe der AfD im Bundestag zur Freude seiner Parteifreunde beschrieben. Die von der CSU im Sommer 2018 betriebene Demontage der Kanzlerschaft Merkels lieferte eine Bestätigung der Jagdmetapher, wenngleich die AfD kaum erwartet haben dürfte, dass ihre unmittelbare Nachbarin im rechten Parteienspektrum mit ihr gemeinsam auf Treibjagd gehen würde. Aber ebenso wie in anderen europäischen Ländern hat der Aufstieg einer rechtspopulistischen Partei zu einer massiven Verunsicherung ihrer Konkurrentinnen um die Wählergunst und zu einer Rechtsverschiebung des gesamten politischen Diskurses geführt.

Dass die AfD im Bundestag vertreten ist, bedeutet einen Umbruch des Parteiensystems. Seit den 1950er-Jahren ist noch keiner Partei der Parlamentseinzug gelungen, die – je nach Perspektive – als rechtspopulistisch oder rechtsextrem etikettiert wird, weil sie einen rückwärtsgewandten Nationalismus vertritt sowie Protagonisten eines biologistischen Rassismus und eines offenen Antisemitismus als Mitglieder, Funktionäre und Mandatsträger duldet. Kritische Beobachter/innen fragen deshalb besorgt, wohin sich die Bundesrepublik entwickelt bzw. was und wer sie immer mehr dorthin treibt.

Die etablierten Parteien reagierten bislang nicht mit einer grundlegenden Kurskorrektur, vielmehr mit Anpassung und Abgrenzungsrhetorik auf die Herausforderungen. Zugleich revidierten sie ihre Programmatik, indem sie rückwärtsgewandte Forderungen wie die nach Abschottung und Abschiebung (statt Solidarität), nach beschleunigten Entscheidungsverfahren (statt mehr Demokratie) sowie nach einer polizeilich, wenn nicht militärisch flankierten Inneren Sicherheit (statt sozialer Sicherheit) übernahmen.

Ungefähr ein Jahr nach dem Einzug der AfD in den Bundestag soll eine Zwischenbilanz ihrer parlamentarischen Arbeit gezogen werden. Trotz mancher Anlaufschwierigkeiten, Widersprüche und Brüche im Parteialltag deutet vieles darauf hin, dass sich die AfD im politischen und Parteiensystem der Bundesrepublik fest etabliert. Wie lange mag es dauern, bis sie selbst zu den »Altparteien« gehört, als die sie CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnisgrüne und LINKE gern bezeichnet? Oder ist trotz der normalerweise eher disziplinierenden und mäßigenden Wirkung des Parlamentarismus auf seine Akteure eine weitere Radikalisierung der AfD zu erwarten? Auch dafür gibt es Anzeichen im bisherigen Verlauf der Parteigeschichte, die von mehreren Zäsuren, harten Flügelkämpfen und einschneidenden Personalwechseln an der Spitze gekennzeichnet ist.

Dass die AfD nicht zum Jagen getragen werden muss, zeigt das provokative, zum Teil konfrontativ-aggressive Verhalten ihrer Abgeordneten im Bund und in den Ländern, deren Anfragen, Anträge, Gesetzentwürfe und Reden wir auf den Prüfstand gestellt haben. Dass ihr wie bisher noch keiner Rechtsaußenpartei in der Bundesrepublik mit den Parlamenten eine zentrale Bühne für die politische Willensbildung, die mediale Vermittlung und die Beeinflussung des öffentlichen Diskurses zur Verfügung steht, nutzt die AfD für eine gezielte Verschiebung der politischen Achse des Landes nach rechts.

Berlin/Köln, im Sommer 2018

Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges und Gerd Wiegel

1Rechtspopulismus in Deutschland: Erscheinungsformen, Entstehungsursachen und Entwicklungstendenzen

Der moderne Rechtspopulismus ist kein auf die Bundesrepublik Deutschland beschränktes, sondern ein globales Phänomen, das vor allem aus dem politischen Leben vieler europäischer Staaten sowie ihrem Regierungs- und Parteiensystem kaum mehr wegzudenken ist. Hierzulande konnte der Rechtspopulismus jahrzehntelang allerdings nur auf regionaler oder lokaler Ebene nennenswerte (Wahl-)Erfolge feiern, was mit den in aller Regel stümperhaften Versuchen einer Parteigründung und dem zwielichtigen Führungspersonal ebenso zu tun gehabt haben dürfte wie mit der deutschen NS-Vergangenheit. Diese hat es ihm hierzulande generell schwerer als irgendwo sonst gemacht, sich in der Öffentlichkeit als seriöse demokratische Kraft darzustellen. Immer lautete die politische Gretchenfrage, mit der Vertreter rechter Gruppierungen, Organisationen und Netzwerke konfrontiert wurden: »Wie hältst du’s mit dem Hitlerfaschismus?« Erst spät gelang es dem Rechtsextremismus durch einen umfassenden Modernisierungsprozess, darauf eine viele Menschen befriedigende oder beruhigende Antwort zu finden und sich auch im Land der Täter vom »Geruch der Gaskammern« zu befreien. Noch länger dauerte es, bis mit der AfD eine rechtspopulistische Partei nicht bloß auf regionaler, sondern auch auf Bundesebene reüssierte und sich dort als parlamentarische Kraft etablierte.

Definitionen und Diskussionen über den Populismusbegriff

»Rechtspopulismus« dient als Gattungsbegriff zur Kennzeichnung einer Partei wie der Alternative für Deutschland und/oder ihrer Grundposition(en). Der vornehmlich in vielen Massenmedien zuletzt beinahe inflationär verwendete Populismusbegriff ist aus zwei Gründen schillernd und unscharf. Einerseits fallen darunter häufig link(sradikal)e genauso wie recht(sextrem)e und basis- bzw. radikaldemokratische genauso wie antidemokratische Strömungen, was seine Offenheit für unterschiedliche Strategien und Taktiken signalisiert, aber auch inhaltliche Mehrdeutigkeit, Verschwommenheit und Konturlosigkeit bedingt. Andererseits wird häufig so getan, als sei »Rechtspopulismus« das demokratisch geläuterte, moderate Pendant zum Rechtsextremismus, nicht etwa nur eine Spezialform desselben. Dies bringt jedoch weitere Abgrenzungsprobleme mit sich, ohne gleichzeitig mehr terminologische Klarheit zu schaffen. Missverständlich ist der Populismusbegriff insofern, als ihn zwei Denkrichtungen verwenden.

Das erste Deutungsmuster begreift Populismus als Politik­(vermittlungs)form und Regierungsstil,1 welcher von Personen, Parteien oder Koalitionen ganz unterschiedlicher Couleur praktiziert werden kann, wobei zwischen Links- und Rechtspopulismus differenziert wird. Nach dieser Lesart charakterisiert der Populismus gar nicht die Politik einer Partei, sondern nur die Art, wie sie gemacht und/oder »an den Mann gebracht« wird: »›Populistisch‹ genannte Bewegungen und Strömungen appellieren an das ›Volk‹ im Gegensatz zu den Eliten, insbesondere an die ›einfachen Leute‹, und nicht an bestimmte Schichten, Klassen, Berufsgruppen oder Interessen.«2

Dagmar Schaefer, Jürgen Mansel und Wilhelm Heitmeyer verstehen unter dem Rechtspopulismus eine Mobilisierungsstrategie, die darauf abzielt, Stimmungen gegenüber Schwächeren zu erzeugen und die Gesellschaft nach entsprechenden Wahlerfolgen autoritär umzugestalten.3 Die zitierten Autor(inn)en interessieren sich weniger für die »Angebotsseite«, d.h. rechtspopulistische Parteien bzw. deren Funktionäre, als für die »Nachfrageseite«, d.h. das von ihnen nicht ohne Ironie als »saubere Mitte« bezeichnete rechtspopulistische (Wähler-)Potenzial.4

Auch für Karin Priester ist der Populismus mehr als eine Frage des Politikstils, der »Anrufung« und des Auftritts gegenüber einer bestimmten Zielgruppe. Die Münsteraner Sozialwissenschaftlerin merkt an, dass der Populismus zumindest in seiner nordamerikanischen und europäischen Ausprägung »erstens eine recht genau lokalisierbare soziale Basis, zweitens eine zwar wenig elaborierte, dennoch konkrete Gesellschaftsvorstellung und drittens ein spezifisches Verständnis vom Staat und (von) seinen Funktionen hat«.5 Wie ein roter Faden ziehe sich durch alle Bewegungen, die im Ruch des Populismus gestanden hätten oder stünden, ein bestimmtes Freiheitsverständnis, das Unabhängigkeit vor allem gegenüber dem modernen Interventionsstaat, Experten und Technokraten verlange – was auch ihre antiintellektualistischen Züge erkläre.

Ein gewisses rhetorisches Talent und die argumentative Demagogie seiner führenden Repräsentanten sind auffällige Merkmale des Populismus, aber nicht für ihn konstitutiv. Nach größerer Popularität zu streben, »dem Volk aufs Maul zu schauen« und komplexe Zusammenhänge leicht verständlich darzustellen, ist höchstens dann (rechts)populistisch, wenn damit die Manipulation von Menschen zugunsten einer privilegierten Minderheit bzw. im Sinne des völkischen Nationalismus verbunden ist. Ohne jegliche inhaltliche Festlegung bleibt eine Formaldefinition für Populismus letztlich unbefriedigend.

Das zweite Deutungsmuster versteht unter Populismus denn auch eine stärker inhaltlich bestimmte Konzeption. Aufgrund ihrer Konstruktion eines (ethnisch) homogenen Volkes, das sie den »korrupten Eliten« gegenüberstellt, ist diese Konzeption unvereinbar mit einer linken Weltanschauung bzw. deren Hauptströmungen – Sozialismus, Reformismus und Kommunismus –, die Klassen und Schichten zu Basiskategorien ihrer Topografie der Gesellschaft machen. Sie harmoniert aber mit den bürgerlichen Grundrichtungen – Liberalismus und Konservatismus –, die zwischen den genannten Großgruppen keine Interessengegensätze zu erkennen vermögen. Alle linken Sozialstrukturanalysen, die von Marx beeinflusst sind, basieren hingegen auf der Grundüberzeugung, dass sich im Kapitalismus mit der Bourgeoisie und dem Proletariat zwei Gesellschaftsklassen gegenüberstehen, also kein einheitliches, homogenes Volk existiert, das von einer Elite verraten werden könnte.

Die in der politischen und Fachpublizistik wahrscheinlich einflussreichste Definition stammt von Jan-Werner Müller, der in Princeton lehrt und Populismus als eine Politikvorstellung begreift, wonach sich das »reine, homogene Volk« gegen »unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten« auflehnen muss, die überhaupt nicht zu ihm gehören.6 Da der Populist für sich in Anspruch nimmt, als einziger das »wahre Volk« zu vertreten, ist seine Ideologie laut Müller antielitär, antipluralistisch und antidemokratisch. Der Marburger Soziologe Dieter Boris warf dem in den USA lehrenden Politikwissenschaftler jedoch vor, die (gesellschaftlichen) Entstehungsgründe des Populismus auszublenden, seine im neoliberal verfassten Finanzkapitalismus der Gegenwart liegenden Wurzeln zu übersehen und die damit einhergehende Krise der politischen Repräsentation aufgrund eines »reduktionistischen« Demokratieverständnisses zu leugnen.7 Tatsächlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Hegemonie, also der öffentlichen Meinungsführerschaft des Neoliberalismus, und dem Aufschwung des Rechtspopulismus im Zeichen der Globalisierung, wie die Beiträge eines von Wilhelm Heitmeyer und Dietmar Loch herausgegebenen Sammelbandes belegen.8

Nicht alle Rechtsextremisten sind Populisten, aber sämtliche Populisten tendieren in letzter Konsequenz nach rechts: Entweder ignorieren sie die durch sozioökonomische Herrschaftsverhältnisse und politische Machtungleichgewichte im Rahmen der Globalisierung bzw. der neoliberalen Modernisierung verursachte Zerklüftung unserer Gesellschaft, oder sie reduzieren deren Widersprüche bzw. Klassengegensätze auf die verkürzte Frontstellung zwischen dem »Volk« (lat. »populus«) und einer »korrupten Elite«. Populistisch ist jene Teilgruppe innerhalb des Rechtsextremismus oder des Brückenspektrums zwischen diesem und dem Konservatismus zu nennen, die besonders das verunsicherte Kleinbürgertum anspricht, dabei häufig wirtschaftsliberale Positionen vertritt, Stammtischparolen aufgreift, den Stolz auf das eigene Kollektiv, die Nation bzw. deren Erfolge auf dem Weltmarkt (Standortnationalismus) mit rassistischer Stimmungsmache oder sozialer Demagogie verbindet und die verständliche Enttäuschung vieler Menschen über das Parteien- bzw. Regierungsestablishment für eine Pauschalkritik an der repräsentativen Demokratie nutzt. Als rechtspopulistisch sollten jedoch nur jene (Partei-)Organisationen, Personen, Programme, Strömungen und Bestrebungen bezeichnet werden, die weder militante Züge aufweisen noch Massen gegen die Demokratie mobilisieren.

Mittlerweile auch in Deutschland parlamentarisch einflussreich, gerieren sich die Vertreter und wenigen Vertreterinnen des Rechtspopulismus als (partei)politisches Sprachrohr des Volkes und grenzen sich in der sozialen Hierarchie einerseits nach oben und andererseits nach unten ab. Nach oben findet die Abgrenzung gegenüber der »politischen Klasse«, den Eliten und den Etablierten statt, nach unten gegenüber den (ethnischen) Minderheiten und den sozial Benachteiligten, heute vor allem gegenüber Flüchtlingen und Migrant(inn)en muslimischen Glaubens, die vermeintlich gezielt in die Sozialsysteme des reichen Aufnahmelandes einwandern und damit »uns« als Deutsche, die anständig, fleißig und tüchtig sind, schamlos ausnutzen. Betroffen von Stigmatisierung, Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung sind aber auch viele andere Minderheiten, darunter die Erwerbslosen, die Obdachlosen, die Menschen mit Behinderungen, die Homosexuellen und die Drogenabhängigen.9

Grundrichtungen des Rechtspopulismus

»Populismus« ist also ein höchst vager und politisch undifferenzierter Begriff, der weder ohne politische Richtungsbezeichnung verwendet werden noch einer pauschalen Gleichsetzung von Links- und Rechtspopulismus dienen sollte. Versuche, die Bezeichnung von Personen, Organisationen und Programmen als »populistisch« inhaltlich zu konkretisieren, auszudifferenzieren und verschiedene Varianten des Populismus zu klassifizieren, stecken jedoch noch in den Kinderschuhen.

Der Bonner Politikwissenschaftler Frank Decker spricht von »ökonomischem Populismus«, wenn die Kritik an einem angeblich überbordenden, die Wirtschaft lähmenden und den Standort gefährdenden Wohlfahrtsstaat im Mittelpunkt der Wahlkampfpropaganda einer Rechtspartei steht.10 Den ökonomischen Populismus grenzt er gegenüber einer »politischen« (bzw. »institutionellen«) sowie einer »kulturellen« Variante desselben Phänomens innerhalb westlicher Demokratien ab. Karin Priester, früher Professorin an der Universität Münster, unterscheidet dagegen zwischen einem »Protestpopulismus«, der Interessenpolitik für bestimmte Gruppen des Mittelstandes betreibe, und einem »Identitätspopulismus«, der über gruppenspezifischen oder monothematischen Protest hinausgehende Bedrohungsängste aufgreife und in Zeiten globaler Umbrüche erstarke.11

Uns interessieren hier vor allem die Termini »Wettbewerbs-«, »Besitzstands-« und »Wirtschaftspopulismus«, weil sie auf die inhaltliche Affinität des Rechtspopulismus zum Neoliberalismus anspielen. Um seine Hypothese zu verifizieren, dass die deutschen Volksparteien in Bundestagswahlkämpfen »wirtschaftspopulistisch« agieren, überdehnt der Politikwissenschaftler Andreas Bachmeier den zuletzt genannten, von ihm geprägten Begriff hingegen als »Bezeichnung einer wirtschaftspolitischen Richtung und Argumentationsweise, die Wirtschaftswachstum und Einkommensverteilung betont, jedoch die damit verbundenen Risiken vernachlässigt«.12 David Bebnowski (Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam) wiederum geht von der Standortlogik aus, grenzt Neoliberalismus und Wettbewerbspopulismus allerdings unzureichend voneinander ab, wenn er konstatiert: »In wettbewerbspopulistischen Argumentationen wird die Überlegenheit ökonomisch erfolgreicherer Gruppen – im Falle der AfD: Nationalstaaten – auf Grundlage ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit konstruiert und gleichzeitig mit kulturellen Stereotypen kurzgeschlossen.«13 Unter einem »Besitzstandspopulismus« versteht der Aachener Politikwissenschaftler Alban Werner eine ideologische Ansprache, die den Adressat(inn)en die Verteidigung sowohl ihrer materiellen Besitzstände, also ihres bisherigen Lebensstandards, wie auch ihrer kulturellen Lebensweise gegen scheinbare oder wirkliche Bedrohungen verspricht.14 Man würde in diesem Fall jedoch wahrscheinlich besser von Abwehrnationalismus oder Wohlstandschauvinismus sprechen.

Hinsichtlich seiner Dimensionen, Erscheinungsformen und Wirkungsebenen lassen sich vier Spielarten des Rechtspopulismus unterscheiden, die sich auch in den programmatischen Dokumenten, parlamentarischen Initiativen und Reden der AfD bzw. ihrer Abgeordneten finden und zu deren (Wahl-)Erfolgen nicht unwesentlich beigetragen haben dürften:

Da ist erstens der Sozialpopulismus. Während sich dessen Repräsen­tant(inn)en als Verteidiger/innen des Wohlfahrtsstaates darstellen, beziehen sie Stellung gegen »Drückeberger«, »Faulenzer« und »Sozialschmarotzer«, die gar nicht »wirklich« arm seien, sondern die Gesellschaft rücksichtslos ausnutzten. Hartz-IV-Empfänger/innen klagen demnach »auf hohem Niveau«, obwohl sie das Steuergeld »hart arbeitender Bürger« verprassen. Rechtspopulisten nutzen den unterschwellig vorhandenen, oft in der politischen und medialen Öffentlichkeit geschürten Sozialneid gegenüber noch Ärmeren – in diesem Fall: den »arbeitsscheuen« Erwerbslosen, Sozialhilfeempfänger(inne)n und Asylbewerber(inne)n –, um von den eigentlichen Verursachern der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich abzulenken.

Den zweiten Typus kann man als Kriminalpopulismus bezeichnen. Dieser richtet sich gegen Straf(an)fällige, plädiert energisch für »mehr Härte« der Gesellschaft im Umgang mit ihnen und nimmt besonders Drogenabhängige, Bettler/innen und Sexualstraftäter ins Visier. Er mobilisiert die »anständigen Bürger« gegen den »gesellschaftlichen Abschaum« und inszeniert seine Kampagnen auf dem Rücken von sozial benachteiligten Minderheiten. Häufig genug spielt die Boulevardpresse dabei eine unrühmliche Rolle als Sprachrohr einer intoleranten und illiberalen Mehrheitsgesellschaft.

Drittens ist es Nationalpopulismus zu nennen, wenn die kulturelle Identität oder der christliche Glaube als entscheidendes Merkmal hingestellt wird, das es Deutschen erlaubt, auf »die Anderen« herabzublicken, sie abzuwehren und Politik gegen sie zu machen. Hier steht der staatliche Innen-außen-Gegensatz bzw. die angebliche Privilegierung von Zuwanderern gegenüber den Einheimischen oder die »kulturelle Überfremdung« im Mittelpunkt. Die zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten – übrigens vor allem ethnischer Minderheiten – wird nicht etwa als Konsequenz ihrer Diskriminierung (z.B. im Bildungsbereich sowie auf dem Arbeitsmarkt) und einer ungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen, vielmehr als Resultat der zu großen Durchlässigkeit bzw. Aufhebung der Grenzen für Migrant(inn)en thematisiert und die Angst vor einer »Überflutung« bzw. »Überfremdung« durch diese regelrecht kultiviert. Man bemüht rassistische Ressentiments gegenüber Asylsuchenden, anerkannten Flüchtlingen und »Illegalen«, d.h. illegalisierten Migrant(inn)en, während die heimischen Profiteure des sich vertiefenden Wohlstandsgefälles von Kritik weitgehend verschont bleiben.

Die vierte Form des Rechtspopulismus kann man Radikalpopulismus nennen, weil er mit den »Altparteien« das politische System für alle Übel der Gesellschaft verantwortlich macht. Sofern eine Rechtspartei die »Systemfrage« in den Mittelpunkt rückt und sich vor allem die verbreitete Enttäuschung über ihre etablierten Konkurrentinnen auf dem »Wählermarkt« und die Entfremdung vieler Bürger/innen gegenüber dem bestehenden Regierungs- bzw. Parteiensystem zunutze macht, also das, was fälschlicherweise »Politikverdrossenheit« und »Wahlmüdigkeit« genannt wird, erreicht die populistische Zuspitzung eine andere Qualität. Je mehr sich die politische Klasse gegenüber der übrigen Gesellschaft abzuschotten und die Interessen sozial benachteiligter und von Deklassierung betroffener bzw. von sozialer Marginalisierung bedrohter Schichten mit Füßen zu treten scheint, umso leichter fällt es rechten Demagogen, die wachsende Wut über »die da oben« auszunutzen, die Enttäuschung über gebrochene Wahlversprechen zu kanalisieren und (Klein-)Bürger/innen mit Angst vor dem sozialen Abstieg für ihre Weltdeutung zu gewinnen. Bei dieser Variante des Rechtspopulismus legen seine Re­prä­sen­tant(inn)en den Maßstab für ihr eigenes Verhalten sehr hoch. Umso leichter können sie selbst daran gemessen und am Ende womöglich der politischen Unfähigkeit, Inkompetenz und Korruptionsanfälligkeit überführt werden. Allerdings handelt es sich um ein Kernproblem der Demokratie, wenn sich Millionen von Bürger(inne)n politisch nicht mehr vertreten fühlen. Der Radikalpopulismus versucht, diese Unzufriedenheit aufzugreifen und für sich auszunutzen.

Die ökonomischen, sozialen und politisch-kulturellen Ursachen des Rechtspopulismus

Um die Ursachen des Rechtspopulismus und seiner (Wahl-)Erfolge zu erfassen, muss die Analyse auf drei Ebenen ansetzen: Die ökonomische Grundstruktur bzw. die konjunkturelle Situation eines Landes, das dort nicht allein wegen der Wirtschaftsentwicklung, sondern aufgrund der Orientierung seiner Eliten herrschende soziale Klima und seine politische Kultur bilden ein analytisches Gerüst. Wenn man die Wechselwirkungen der drei Ebenen aufeinander berücksichtigt, werden Erscheinungsformen, Einflussmöglichkeiten und Erfolgsaussichten des Rechtspopulismus verständlich.

Rechtspopulismus als Erscheinungsform, Folge und Krisensymptom des Finanzmarktkapitalismus

Der moderne Rechtsextremismus/-populismus lässt sich nur im Kontext einer gewachsenen Weltmarktdynamik verstehen. Er ist »Ausdruck der Krise des gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaftsmodells« und als solcher Folge ökonomischer Entwicklungsprozesse, sozialer Defizite und politischer Versäumnisse.15 Sein jüngster Aufstieg vollzog sich im Spannungsfeld von neoliberaler Modernisierung und antiglobalistischer Gegenmobilisierung.16

Während der 1980er-Jahre lehnte sich die »Neue Rechte« fast überall in Europa an den Neoliberalismus an, der als Türöffner für den Standortnationalismus fungierte. Damit gemeint ist der Glaube, als Volk oder Nation auf den internationalen Märkten einer »Welt von Feinden« gegenüberzustehen und durch Erfindungsgeist, besondere Tüchtigkeit, größeren Fleiß und/oder mehr Opferbereitschaft die Überlegenheit des »eigenen« Wirtschaftsstandortes unter Beweis stellen zu müssen.17 Das Konkurrenzdenken des Rechtspopulismus war auf die heimische Volkswirtschaft fixiert, forderte von der Bevölkerungsmehrheit einen Verzicht auf Wohlstandszuwächse und favorisierte eine primär die internationale Wettbewerbsfähigkeit steigernde (Regierungs-)Politik.

Die neoliberale Modernisierung bot dem Rechtspopulismus gute Entfaltungsmöglichkeiten, weil sie nicht bloß die Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Wirtschaftsstandorten und -subjekten verschärfte, sondern auch zu einer sozialen Polarisierung, einer Prekarisierung der Arbeit (Zunahme von geringfügiger Beschäftigung, von Teilzeit-, Leih- und Zeitarbeit sowie von Mini-, Midi- und Ein-Euro-Jobs) sowie einer Pauperisierung großer Teile der Bevölkerung führte – und das bei gleichzeitiger Explosion von Unternehmensgewinnen und Aktienkursen, d.h. einer weiteren Konzentration von Kapital und Vermögen bei den Wohlhabendsten und Reichsten.

Wo die permanente Umverteilung von unten nach oben mit dem Hinweis auf Globalisierungsprozesse – als für den »eigenen Wirtschaftsstandort« nützlich, ja unbedingt erforderlich – legitimiert wird, entsteht ein gesellschaftliches Klima, das Diskriminierung begünstigt. Je mehr die ökonomische Konkurrenz nach neoliberalen Konzepten im Rahmen der »Standortsicherung« verschärft wird, umso leichter lässt sich die kulturelle Differenz zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft politisch aufladen und als Ab- bzw. Ausgrenzungskriterium gegenüber Mitbewerber(inne)n um Arbeitsplätze sowie wohlfahrtsstaatliche Transferleistungen instrumentalisieren. Verteilungskämpfe werden zu Abwehrgefechten der Einheimischen gegen »Fremde« bzw. zu interkulturellen Konflikten hochstilisiert, sofern im Zeichen der Globalisierung ausgrenzend-aggressive Töne in der politischen Kultur eines Aufnahmelandes die Oberhand gewinnen.

Ungefähr seit der Jahrtausendwende äußerten die europäischen Rechtsparteien deutlicher Vorbehalte gegenüber einer Form der Globalisierung, die Massenarbeitslosigkeit produzierte und gleichzeitig die Zuwanderung von Hochqualifizierten forcierte, um den jeweiligen Industriestandort noch leistungsfähiger zu machen. Rechtspopulisten profilierten sich nunmehr als scheinbare Interessenvertreter der Arbeitnehmer/innen und Erwerbslosen, die von den sozialdemokratischen (Regierungs-)Parteien durch deren Hinwendung zum Neoliberalismus verraten worden seien. Selbst rechtsextreme Politikprojekte, die mit dem Neoliberalismus weiter im Bunde waren, übten taktisch bedingt Kritik an den von ihm verschuldeten Gesellschaftsveränderungen.18

Der Hamburger Ökonom Ralf Ptak benennt drei wesentliche Merkmale des neoliberalen Alltagsbewusstseins, die nach rechts anschlussfähig sind: einen marktwirtschaftlich-kapitalistischen Determinismus, welcher Alternativen grundsätzlich als sinnlos oder unmöglich erscheinen lässt, die Verinnerlichung des Wettbewerbsparadigmas als universell gestaltendes Lebensprinzip und ein alle Lebensbereiche durchdringendes utilitaristisches Denken, das mit Ideologien der abwertenden Ungleichheit korreliert. Rechtspopulisten müssten den neoliberalen Wettbewerbswahn demnach bloß ethnisch bzw. nationalistisch aufladen, konstatiert Ptak.19 Bei der AfD sei folglich eine »Mischung aus ökonomischem Nationalismus und autoritärem Neoliberalismus« programmatisch dominant: »Die AfD vertritt in neoliberaler Manier das Konzept eines (sozial) schlanken, aber (sicherheitspolitisch) starken Staates, setzt sich bedingungslos für Marktwirtschaft und Wettbewerb als ausschließlichen Koordinierungsmechanismus der Ökonomie ein und verteidigt offensiv das Konzept der deutschen Exportüberschüsse.«20

Die zunehmende Attraktivität des Rechtspopulismus liegt nicht zuletzt in der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich begründet. Seit geraumer Zeit ist die soziale Polarisierung hierzulande auch im internationalen Vergleich extrem stark ausgeprägt: »In Deutschland sind Reichtum und Wohlstand nicht nur auf eine kleinere Bevölkerungsgruppe begrenzt als in anderen Ländern, sondern diese kleine Gruppe der Reichen hält auch einen deutlich größeren Anteil des Gesamtvermögens im Land.«21

Wie es scheint, werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher.22 Die zunehmende soziale Ungleichheit wird als wachsende Ungerechtigkeit erlebt, was den gesellschaftlichen Zusammenhalt ebenso untergräbt wie das Vertrauen der »Abgehängten« in das politische und Parteiensystem. Wenn man so will, ist der Rechtspopulismus eine Folge und gleichzeitig ein Krisensymptom des Finanzmarktkapitalismus, weil Letzterer nicht mehr auf der politisch-ideologischen Grundlage des Neoliberalismus allein funktioniert, sondern wachsende Bevölkerungsteile damit kaum noch an sich binden kann. Offenbar bedarf das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einer zusätzlichen Legitimationsbasis, welche der Rechtspopulismus im Rahmen seines kleinbürgerlich-rebellischen Konformismus liefert. Indem rechtspopulistische Parteien wie die AfD den Wettbewerbsfetisch im Finanzmarktkapitalismus ethnisch-nationalistisch, rassistisch und sozialdarwinistisch aufladen,23 erweitern sie dessen Handlungsspielraum im Sinne eines aggressiven Wohlstandschauvinismus.

Da der Rechtspopulismus als typische Mittelschichtsideologie einen Gegensatz zwischen »korrupten Eliten« und »faulen Unterschichten« konstruiert und ihn dem Publikum als Hauptwiderspruch der Gesellschaftsentwicklung präsentiert, wohnt dem Rechtspopulismus ein gewisses Maß an Plausibilität inne. Denn scheinbar bestimmt heute nicht mehr der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit den Fortgang der Geschichte, sondern die Symbiose zwischen einer politischen Klasse, deren Handeln sich nur an ihrem eigenen Nutzen orientiert, und einer mächtigen Finanzoligarchie, die nötigenfalls zum Hilfsmittel des Lobbyismus greift, um sich den Staat untertan zu machen. Schließlich wird der für moderne Indus­triegesellschaften typische Klassenantagonismus zwischen Bürgertum und Proletariat im heutigen Finanzmarktkapitalismus vom Gegensatz zwischen Arm und Reich überlagert.24

Der soziale Kältestrom einer verunsicherten Wohlstandsgesellschaft – die wichtigste Triebkraft des Rechtspopulismus

Grundvoraussetzung für (Wahl-)Erfolge rechtspopulistischer Parteien ist die tiefe Verunsicherung eines größeren Teils der Bevölkerung. Der soziale Klimawandel, für den »Hartz IV« als Höhepunkt der rot-grünen Reformpolitik steht, hat die Wirkungsmöglichkeiten für Rechtsextremisten und -populisten seit dem 1. Januar 2005 spürbar verbessert. Was als Gesetz der Angst gilt, weil damit ein Druckmittel der Kapitalseite und ein Disziplinierungsinstrument für Erwerbslose wie Beschäftigte geschaffen wurde, hat aus der Bundesrepublik Deutschland eine Gesellschaft der Angst gemacht: Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften sahen sich unter dem Damoklesschwert von Hartz IV genötigt, schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren.25

Wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu bereits in seinem für die weitere Debatte grundlegenden Text unter dem Titel »Prekarität ist überall« festgestellt hat, führt dieser Prozess im Gegenwartskapitalismus nicht bloß zur Perspektivlosigkeit und zum sozialen Kontrollverlust der unmittelbar davon Betroffenen, sondern auch zu einer tiefen Verunsicherung der Gesellschaft insgesamt.26 Je weiter die Prekarisierung ins Zentrum der Gesellschaft vordringt,27 umso mehr leidet naturgemäß die Mittelschicht, deren soziale Fallhöhe sehr viel größer ist als jene der ohnehin Deklassierten und der Unterschichtangehörigen.

Die soziale Unsicherheit begünstigt rechte Einstellungen, wie seit Langem bekannt ist. Auch empirisch wurde in mehreren Untersuchungen nachgewiesen, dass zwischen der Tendenz zur Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbedingungen einerseits sowie der Ausbreitung rechtsextremer bzw. -populistischer Einstellungsmuster andererseits ein Kausalzusammenhang besteht.28 Verschärfend wirkt sich aus, dass die wirtschaftlichen, politischen, medialen und wissenschaftlichen Eliten hierzulande wenig Sensibilität für das Kardinalproblem der wachsenden sozialen Ungleichheit erkennen lassen.29

Man kann von einer allgemeinen Sinnkrise des Sozialen sprechen, zumal seine Ökonomisierung, Kulturalisierung, Ethnisierung und Biologisierung den Aufstieg des Rechtspopulismus enorm gefördert haben.30 Je stärker die Bürger/innen, vor allem die Verlierer/innen der neoliberalen Modernisierung, unter der sozialen Kälte einer Markt-, Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft leiden, umso mehr sehnen sich manche von ihnen nach emotionaler Nestwärme, die Rechtspopulististen im Schoß der Traditionsfamilie, in einer verschworenen Gruppe von Gleichgesinnten mit Hilfe der geliebten Heimat, der starken Nation bzw. der »deutschen Volksgemeinschaft« (wieder)herstellen zu können versprechen. Angehörige der (unteren) Mittelschicht, die Angst vor dem sozialen Absturz haben und sich von den Regierenden ebenso wenig verstanden fühlen wie von den Parlamentarier(inne)n der etablierten Parteien, sind tendenziell anfällig für rechtspopulistische Agitation und Propaganda. Dies gilt besonders dann, wenn sie in einer Region leben, die – wie große Teile der ostdeutschen Provinz oder das Ruhrgebiet – strukturschwach bzw. »abgehängt« ist, also über keine ausreichende öffentliche, Bildungs- und Verkehrsinfrastruktur (mehr) verfügt.31

Wenn die Politik der sozialen Spaltung von ihren Trägern dann auch noch für »alternativlos« erklärt wird, ohne dass eine starke Linke dem Sachzwangargument der Regierenden konsequent entgegentritt, kann sich eine rechtspopulistische Partei leicht als einzige Alternative inszenieren. Der von den Rechtspopulisten gewählte Parteiname »Alternative für Deutschland« war in dieser Beziehung optimal, wenn nicht genial. Das beweisen die jüngsten Wahlerfolge der AfD, deren Ursache gewiss nicht im überzeugenden Auftreten ihrer Kandidaten für Parlamentssitze zu suchen ist. »In einem Kontext, in dem der herrschende Diskurs verkündet, es gebe keine Alternative zur heutigen neoliberalen Form der Globalisierung, weshalb wir ihre Diktate akzeptieren sollten, überrascht es nicht, wenn eine wachsende Zahl von Menschen jenen Gehör schenkt, die eben doch Alternativen ankündigen und den Menschen vorgaukeln, ihnen Entscheidungsmacht zurückzuerstatten.«32

Ralf Ptak sieht einen wichtigen Grund für rechtspopulistische Wahlerfolge in dem Versprechen solcher Parteien, die Entmachtung der Politik durch ökonomische Prozesse und die damit verbundene Handlungsohnmacht gegenüber den Wirtschaftseliten zu überwinden.33 Da sich die etablierten Kräfte, darunter auch beträchtliche Teile der Linken, der neoliberalen Standort- bzw. Sachzwanglogik ergeben hätten, könne sich der Rechtspopulismus als Macht inszenieren, die den Primat der Politik wiederherstelle, so Ptak.

Hier liegt auch das besondere Versagen der Großen Koalition und von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die es laut Stephan Hebel seit ihrem Amtsantritt im November 2005 versäumt hat, an der Beseitigung jener sozialen Brüche und Widersprüche zu arbeiten, die aufgrund einer kapitalfreundlichen Regierungspraxis entstanden waren: »Die AfD ernährt sich vom gescheiterten Kalkül der Kanzlerin, all das ignorieren zu können, was für Wut auf ›die Politik‹ und Entfremdung von ›den Eliten‹ gesorgt hat: wachsende Ungleichheit, ungerechte Verteilung des Reichtums und der Lebenschancen, Entsolidarisierung der Sozialsysteme von Gesundheit bis Rente, Arbeitsverdichtung und Flexibilisierungsdruck, Unsicherheit der Altersvorsorge und Versagen vor der Notwendigkeit einer Integrationspolitik, die den inneren Frieden in einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft fördert.«34 Wenn man die Kanzlerin, wie es Hebel tut, als »Geburtshelferin der AfD« bezeichnen kann, dann gerade nicht wegen ihrer Verweigerung der Grenzschließung im September 2015, die mit dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz und zwei »Asylpaketen« eine sehr restriktive und teilweise auch repressive Migrations- bzw. Integrationspolitik der Bundesregierung nach sich zog, sondern wegen ihrer unsozialen, die Gesellschaft spaltenden und Ängste in der Mittelschicht verstärkenden Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.

Nach der globalen Finanzkrise 2007/08 sowie der sich ihr anschließenden europäischen Währungs- bzw. Weltwirtschaftskrise 2008/09 profilierte sich der Rechtspopulismus verstärkt als Schutzmacht der »kleinen Leute«, als Sprachrohr der sozial Benachteiligten und als Retter des Wohlfahrtsstaates. Geschickt verbanden Rechtspopulisten unter Hinweis auf Folgen der Globalisierung die soziale mit der »Ausländerfrage«, wodurch sie an das deutsche Wohlfahrtsstaatsbewusstsein anknüpfen und gleichzeitig rassistische Ressentiments bedienen konnten.35 Durch protektionistische Maßnahmen sollten die einheimischen Arbeitnehmer/innen und der Mittelstand vor den negativen Begleiterscheinungen der Globalisierung bewahrt werden.

Man kann beim Rechtspopulismus allerdings keinen durchgängigen »Schwenk weg vom Neoliberalismus« erkennen.36 Neben einem Schwanken im Hinblick darauf, wie bestimmte Wählerschichten am besten zu erreichen sind, gab es infolge der Globalisierung und aufgrund der Umstrukturierung des Sozialstaates vielmehr eine inhaltliche Ausdifferenzierung und eine stärkere Flügelbildung des Rechtspopulismus: Einerseits musste der Rechtspopulismus aus wahltaktischen Gründen programmatische Konzessionen an breitere Schichten (Arbeitermilieu, sozial Marginalisierte und »Modernisierungsverlierer/innen«) machen, was nicht unbedingt zum Bruch mit dem Marktradikalismus führte. Andererseits wuchsen die prinzipiellen Vorbehalte gegenüber dem Neoliberalismus, Ökonomismus und Konsumismus im Finanzmarktkapitalismus, ganz besonders unter den Rechtsextremisten bzw. -populisten, die zum völkisch-nationalistischen Flügel dieser Richtungsgruppierung gehören. Während sich die neoliberal orientierten Kräfte im rechten Lager teilweise noch marktradikaler gebärdeten und weiter Sozialstaatskritik übten, verschrieben sich andere der völkischen Kapitalismuskritik und schwangen sich zu Verteidigern des Wohlfahrtsstaates auf. Die beiden Strömungen gibt es gegenwärtig auch innerhalb der AfD, wo ihre Repräsentant(inn)en manchmal in heftigen Streit geraten, teilweise aber auch kooperieren, was fast zwangsläufig zu politisch-programmatischen Widersprüchen und Brüchen führt.

Die moralische Erosion der Demokratie und die Transformation der politischen Kultur: Auf dem Weg in eine andere Republik?

Damit der Rechtspopulismus in einer repräsentativen Demokratie größeren Widerhall findet, müssen neben ökonomischen Krisenerscheinungen und sozialen Verwerfungen auch geeignete Anknüpfungspunkte in der politischen Kultur existieren. Dazu gehört die Übernahme weltanschaulicher Schlüsselelemente des Rechtspopulismus wie (Kultur-)Rassismus, Nationalismus und Sozialdarwinismus durch die (klein)bürgerliche Mitte sowie führende Repräsentanten, Amtsträger und Institutionen des Staates.

»1968« ist bis heute die bekannteste Chiffre für den Bruch mit dem nationalen Grundkonsens in Westdeutschland. Mit der Schüler- und Studierendenbewegung stellte die intellektuelle Avantgarde einer Generation zum ersten Mal das bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftssystem ebenso wie die verkrusteten Strukturen des politischen Systems in Frage, woraus die Forderung nach der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln und nach einer Demokratisierung des Staates resultierte. Trotzdem blieb der Glaube, dass »wir Deutsche« ein besonders fleißiges, tüchtiges und begnadetes Volk seien, tief im Alltagsbewusstsein verankert. Eine Renaissance des Nationalismus setzte nicht erst mit der DDR-»Wende« im Herbst 1989 und der Vereinigung beider deutscher Staaten am 3. Oktober 1990 ein, sondern bereits nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982, als Bundeskanzler Helmut Kohl eine »geistig-moralische Wende« ankündigte, sich die CDU/CSU/FDP-Koalition der sog. Deutschen Frage zuwandte und diese in »Berichten zur Lage der Nation« wieder für offen erklärte. Wenig später hielt das »Deutschlandlied« (manchmal mit allen drei Strophen) Einzug in Schulbücher, Klassenräume, Fußballstadien sowie Sendeanstalten.

Forderungen nach einer Neukonturierung der »nationalen Identität« fungierten als Brücke zwischen der »liberalkonservativen Mitte« und der extremen Rechten. Als Helmut Kohl am 8. Mai 1985 gemeinsam mit US-Präsident Ronald Reagan den Soldatenfriedhof in Bitburg besuchte, wo sich auch zahlreiche Gräber von Angehörigen der Waffen-SS befanden, wurden die NS-Täter durch einen symbolischen Akt rehabilitiert. Micha Brumlik sah in diesem »obszönen Ritual« ein klares Signal zur »Rechtsverschiebung des bürgerlichen Lagers« durch die CDU/CSU: »Im Jahre 1985, vierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus, leitete die große konservative Volkspartei den ideologischen Rechtsruck ein.«37

1986/87 wurde im sog. Historikerstreit versucht, die Liberalisierung der politischen Kultur durch eine Relativierung der Shoah und Rehabilitierung der NS-Täter rückgängig zu machen.38 Allmählich verschob sich das politische Koordinatensystem der Bundesrepublik nach rechts. Später knüpften Debatten über Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche gehaltene Friedenspreis-Rede, die Wehrmachtsausstellung, das Holocaust-Mahnmal in Berlin, das »Schwarzbuch des Kommunismus« und Norman G. Finkelsteins Polemik zur »Holocaust-Industrie« daran mittelbar an.39

Die deutsche Vereinigung hat den Nationalismus 1989/90 endgültig wieder zu einer politisch relevanten Größe gemacht. Zwar gab es nach der Vereinigung von DDR und Bundesrepublik weder hüben noch drüben einen »Nationalrausch« (Wolfgang Herles), aber eine schleichende Renationalisierung der Politik und der politischen Kultur war unübersehbar.40 Die am 20. Juni 1991 getroffene Entscheidung des Bundestages, vom »Wasserwerk« am Rhein in das Reichstagsgebäude nach Berlin überzusiedeln, wirkte unterschwellig als Distanzierung von der »Bonner Republik« und wurde zumindest in Teilen der Öffentlichkeit als definitive Abkehr von der West­orientierung bzw. als »Rückbesinnung auf die Nation« interpretiert.

Die 1991/92 extrem zugespitzte Asyldebatte hat dann nicht nur dem Grundrecht selbst geschadet, das im Mai 1993 mit Zustimmung der SPD als führender Oppositionspartei faktisch außer Kraft gesetzt wurde, sondern auch die Verfassung und die demokratische Kultur der Bundesrepublik lädiert.41 Günter Grass sprach mit Blick auf die Asylhysterie vom »Niedergang der politischen Kultur im geeinten Deutschland«, gar von einem »Rechtsrutsch«, welcher als »bundesweite Verlagerung der politischen Mitte« begriffen werden müsse.42

Von der Asyldiskussion führte ein direkter Weg zur Standortdebatte, die Mitte der 1990er-Jahre das Einfallstor für eine neue Spielart des Nationalismus bildete. War zuerst die Furcht verstärkt worden, Ausländer nähmen »den Deutschen die Arbeitsplätze« weg, so entstand nun der Eindruck, das deutsche Kapital wandere ins Ausland ab. Obwohl die Bundesrepublik jahrelang »Exportweltmeister« war, wurde in der Politik sowie der Wirtschaftspublizistik so getan, als könne sie im Standortwettbewerb nicht länger bestehen.43

Selbst aufgeklärt-liberale Unionspolitiker wie der damalige CDU-Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger erkannten seinerzeit die Gefahr einer Verrohung der politischen Kultur und einer gesellschaftlichen Rechtsdrift. Pflüger beunruhigte, dass sich die politische Kultur nach der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland tiefgreifend wandelte und das Nationale dem Sozialen, das die Staatsräson der »alten« Bundesrepublik mit bestimmt hatte, den Rang ablief: »Völkisches Denken ist auf dem Vormarsch.«44 Trotz seines Weckrufs reagierten die etablierten Parteien und die verantwortlichen Politiker darauf jedoch nicht mit entschlossenem Widerstand.

Typisch dafür war die im Sommer 1998 vom damaligen Berliner Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) als Gegenmodell zum Multikulturalismus verstandene, gut zwei Jahre später von Friedrich Merz, damals Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, aufgegriffene Forderung, Zuwanderer müssten sich der »deutschen Leitkultur« unterwerfen. Bei der anschließenden Kontroverse ging es um die »nationale Identität« und die Salonfähigkeit einer Spielart des Kulturrassismus. In diesem Zusammenhang fungierten Vertreter demokratischer Parteien wiederholt als Stichwortgeber rechtsextremer/-populistischer Publikationsorgane, die sich auf Stellungnahmen und Positionen bürgerlicher Kreise beriefen, um ihre Reputation zu erhöhen.45

»Leitkultur« fungierte als neokonservativer, gegen die ethnischen Minderheiten in Deutschland gerichteter Kampfbegriff, der sie zur Akzeptanz der normativen, sprachlichen und religiösen Hegemonie der Mehrheitsgesellschaft zwang. Von der »Leitkultur«-Diskussion führte die Entwicklung zur »Nationalstolz«-Debatte.46 Auf dem Höhepunkt teilweise pogromartiger, rassistisch motivierter Übergriffe wie in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen wurde die Parole »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein« meist rechten Skins zugeordnet. Der damalige CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer bekannte einige Jahre später im Focus (v. 30.10.2000) allerdings, auch er sei stolz, ein Deutscher zu sein.

Dass die wichtigsten Themen der Rechten – Zuwanderung, demografischer Wandel und Nationalbewusstsein – um die Jahrtausendwende zu den Kernthemen der Mitte avancierten,47 die in den Massenmedien breit erörtert wurden, hat den Aufschwung des Rechtspopulismus beschleunigt, wenn nicht überhaupt ermöglicht. Nunmehr galt jemand nicht mehr als hinterwäldlerisch, rückwärtsgewandt oder ultrarechts, der »Multikulti« für gescheitert erklärte wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, vor einer »kulturellen Überfremdung« des Landes warnte, seinen Stolz auf Deutschland hervorhob oder im Demografie-Diskurs das »Aussterben« des eigenen Volkes beschwor.

Für den an Einfluss gewinnenden Neokonservatismus stehen Autorennamen wie Udo Di Fabio, Paul Kirchhof, Meinhard Miegel, Paul Nolte und Frank Schirrmacher.48 Wenn die AfD einen geistigen Vater hatte, dann war es allerdings Thilo Sarrazin. Ausgerechnet ein sozialdemokratischer Politiker, der als Finanzsenator in Berlin und später als Direktoriumsmitglied der Bundesbank hohe Einkünfte hatte, äußerte sich abfällig über Hartz-IV-Empfänger/innen sowie über Migrant(inn)en muslimischen Glaubens, die zu den einkommensschwächsten Bevölkerungsgruppen gehören. Am 6. September 2010 erschien mit »Deutschland schafft sich ab« das meistverkaufte Sachbuch seit 1945, nachdem der Spiegel und die Bild-Zeitung durch Vorabdrucke bereits einen Medienhype geschaffen hatten.49

Sarrazin entfaltete darin quasi das gesamte Gedankengebilde, das heute das Gesicht der AfD prägt. Er hat allerdings – teilweise sogar wörtlich – nur das übernommen und manchmal noch zugespitzt, was andere Politiker/innen, Publizist(inn)en und Pseudowissenschaftler/innen im Hinblick auf den demografischen Wandel, den überbordenden Wohlfahrtsstaat, die Masseneinwanderung aus »fremden Kulturkreisen«, die wachsende (Ausländer-)Kriminalität und den »islamischen Terrorismus« vor ihm gesagt oder geschrieben hatten. In diesem Zusammenhang seien exemplarisch genannt: Seyran Ate, Arnulf Baring, Herwig Birg, Karl-Heinz Bohrer, Norbert Bolz, Henryk M. Broder, Heinz Buschkowsky, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Peter Hahne, Gunnar Heinsohn, Kirsten Heisig, Hans-Olaf Henkel, Eva Herman, Roman Herzog, Necla Kelek, Matthias Matussek, Martin Mosebach, Bernd Raffelhüschen, Heidi Schüller, Peter Sloterdijk, Botho Strauß, Bassam Tibi, Udo Ulfkotte, Martin Walser, Volkmar Weiss und Walter Wüllenweber. Die genannten Personen kann man keineswegs als völkisch-nationalistische oder rassistische Hetzer bezeichnen, sie haben jedoch durch ihre Art, wie sie Teil­aspekte der gesellschaftlichen Realität ideologisch verbrämten, maßgeblich zur Verschiebung des öffentlichen Diskurses nach rechts beigetragen, wovon keine Partei mehr profitiert hat als die AfD.

2Entstehung und Entwicklung der AfDbis zur Gegenwart

Der ebenso rasche wie für viele Beobachter/innen überraschende Aufstieg, den die AfD seit ihrer Gründung im April 2013 nahm und der sie nicht einmal fünf Jahre später zur stärksten Oppositionspartei im Deutschen Bundestag werden ließ, gilt als beispielloser Erfolg in der bundesdeutschen Parteiengeschichte. Dieser fiel jedoch keineswegs vom Himmel, sondern baut auf den bereits genannten sowie weiteren politischen und ideologischen Voraussetzungen auf, um die es im Folgenden geht. Zuerst wird aber ein kurzer Blick auf die Vorläufer und Vorbilder der AfD geworfen, die für ihre Ausrichtung wie für ihre Einbindung in den europäischen Rechtspopulismus von Bedeutung sind.

Rechtspopulistische Vorbilder und Vorläufer

Da der Rechtspopulismus eine internationale Erscheinung ist, orientieren sich deutsche Parteien dieser Richtung an besonders erfolgreichen Vorbildern in anderen Ländern. Zu nennen sind hier teilweise bereits seit Jahrzehnten erfolgreiche Parteien, etwa die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), deren beide letzten Vorsitzenden Jörg Haider (im Oktober 2008 tödlich verunglückt) und Heinz-Christian Strache sie zur zweitstärksten politischen Kraft der Alpenrepublik und im Februar 2000 bzw. im Dezember 2017 zum Juniorpartner in einer Regierungskoalition mit der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) machten.1 Zu den erfolgreichsten Parteiformationen des Rechtspopulismus in Europa gehört auch der Front National (FN) unter Führung von Marine Le Pen, Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen. Auf ihr Betreiben und gegen seinen erbitterten Widerstand wurde die Partei im Juni 2018 in »Rassemblement National« (Nationale Sammlungsbewegung) umbenannt. Damit soll die Erinnerung an die früher sehr viel radikalere Ausrichtung der französischen Rechtspartei getilgt werden. Erwähnt seien weiter die Schweizerische Volkspartei (SVP), die lange von dem Milliardär Christoph Blocher geführt wurde und die größte Fraktion im Nationalrat der Eidgenossen stellt, die italienische Lega (Nord), deren Wahlerfolg am 4. März 2018 sie erneut zur Regierungspartei aufsteigen ließ, sowie die Partij voor de Vrijheid (PVV) in den Niederlanden, deren einziges Mitglied und Vorsitzender Geert Wilders ist.

Bei diesen Parteien fand sich alles, was es an Kernideologemen, politischen Diskursstrategien und taktisch bedingten Kursänderungen seitens der AfD gibt, teilweise schon lange, bevor diese gegründet wurde.2 Das betrifft Themenschwerpunkte wie die Ablehnung supranationaler Institutionen, einer multikulturellen Gesellschaft und der Gender-Forschung, das Verbot von Moscheebauten, Minaretten und Kopftüchern, die Agitation für Zuwanderungsbegrenzung, massive Polemik gegen die »Altparteien«, die EU-Bürokratie und korrupte Eliten, die Betonung der »nationalen Identität«, die Verschärfung des Asylrechts und die Erschwerung der Einbürgerung ebenso wie den Geschichtsrevisionismus.

Hinsichtlich Organisation, Funktionärskörper, Programmatik und Anhängerschaft wiesen fünf Parteien, die man als Vorläufer der AfD bezeichnen kann, größere Ähnlichkeiten mit dieser auf: die REPublikaner, der Bund Freier Bürger – Die Freiheitlichen (BFB), die PRO-Bewegung, die Partei Rechtsstaatlicher Offensive (PRO) und die Bürgerrechtspartei für mehr Freiheit und Demokratie (DIE FREIHEIT). Da man ihre Geschichte als Blaupause für die Entstehung und Entwicklung der AfD verstehen kann, lohnt ein Blick darauf, um diese exakter im rechten Parteienspektrum verorten zu können.

Die deutschen REPublikaner entstanden im November 1983 auf Initiative Franz Schönhubers und zweier abtrünniger CSU-Bundestagsabgeordneter.3 Schönhuber, als Redakteur des Bayerischen Rundfunks durch ein Buch über seine Erlebnisse bei der Waffen-SS untragbar geworden, ging zwei Jahre später aus Machtkämpfen und Personalquerelen als unangefochtener Parteivorsitzender hervor. Nach einigen Misserfolgen übersprangen die REPublikaner im Januar 1989 bei der Wahl zum (West-)Berliner Abgeordnetenhaus erstmals die 5-Prozent-Hürde. Durch einen Werbespot, der mit dem Titelsong des Films »Spiel mir das Lied vom Tod« unterlegte Bilder türkischer Kinder zeigte, provozierten sie die demokratische Öffentlichkeit, erregten durch empörten Widerspruch mediales Aufsehen und konnten anschließend 7,5 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Noch im selben Jahr erreichten sie bei der Europawahl mit 7,1 Prozent der Stimmen ein weiteres Sensationsergebnis, während die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) und die später mit ihr zur NPD – Die Volksunion fusionierte Deutsche Volkspartei (DVU) weit abgeschlagen wurden.

»Moderner« als Letztere erschienen die REPublikaner, weil sie den wirtschaftspolitischen Protektionismus und den sozialen Paternalismus der NS-Ideologie hinter sich gelassen hatten. Die REPublikaner bemühten sich von Beginn an um ein Parteiprogramm, das gegenüber Neoliberalismus und Nationalkonservatismus anschlussfähig war.4 Hauptagitationsfelder bildeten die Frontstellung gegen die angebliche »Überfremdung« und den »Ausverkauf deutscher Interessen« im Rahmen der EU-Politik. Zudem zielten die REPublikaner auf eine Revitalisierung der »nationalen Identität«, die – befreit von Schuld, Niederlage und Fremdbestimmung – zur »ethnisch homogenen Volksgemeinschaft« sowie zu einem starken, autoritär geprägten Staat führen sollte. Wer geglaubt hatte, nach der Wiedervereinigung sei rechten Parteien mit ihrem Lieblingsthema auch die Existenz- und Mobilisierungsfähigkeit abhandengekommen, sah sich getäuscht. Nach dem Anfangserfolg mit rassistischer Stimmungsmache verließ sich die Partei so lange auf das Thema »Asyl« bzw. die »Ausländerfrage« als wichtigster innenpolitischer Kontroverse, bis es nach der Grundgesetzänderung im Mai 1993 vorläufig wieder aus der (Medien-)Öffentlichkeit verschwand. Aufgrund einer relativen programmatischen Offenheit konnten die REPublikaner allerdings ihre Feindbilder variieren und sich damit veränderten Stimmungslagen in der Bevölkerung schnell anpassen. So nahmen die Themen »Islamismus«, »Terrorismus« und »Innere Sicherheit« bei ihnen nicht erst ab dem 11. September 2001 breiten Raum ein.

Dennoch ließen weitere REP-Erfolge auf sich warten. Bei der baden-württembergischen Landtagswahl im April 1992 erhielt die Partei aber gleich 10,9 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen, errang 15 Mandate und avancierte damit aufgrund der Bildung einer Großen Koalition zur stärksten Oppositionsfraktion. Fraktionsvorsitzender wurde mit Rolf Schlierer ein alerter Stuttgarter Rechtsanwalt, der nationalkonservative Positionen vertrat und im Unterschied zu Schönhuber eine Zusammenarbeit mit rechtsextremen Konkurrenzparteien wie der DVU strikt ablehnte. Nach einem Treffen mit dem DVU-Vorsitzenden Gerhard Frey im August 1994, von dem Schönhuber seine Vorstandskollegen nicht in Kenntnis gesetzt hatte, löste Schlierer diesen an der Parteispitze ab. Schönhuber verließ die REPublikaner ein Jahr später und kandidierte im Juni 1999 auf einer DVU-Liste erfolglos für das Europaparlament.

Auf dem Höhepunkt der Parteientwicklung gab es ca. 30 000 REP-Mitglieder, deren Zahl durch Austritte und Ausschlüsse jedoch bald stark sank. 1996 gelang den baden-württembergischen REPublikanern mit 9,1 Prozent der Stimmen ein Wiederholungserfolg bei der Landtagswahl – ein Novum im rechten Parteienspektrum. Obwohl es für die REPublikaner so aussah, als sei ihnen ein Schritt zur parlamentarischen Etablierung gelungen, und Schlierers erklärtes Ziel, Juniorpartner in einer »Haselnuss-Koalition« zu werden, mit der CDU realistischer denn je anmutete, setzte nun ein Niedergang ein, der im März 2001 zum Ausscheiden aus dem Landtag von Baden-Württemberg führte. In den übrigen Regionen Deutschlands war Schlierers Taktik, sich wertkonservativ und wirtschaftsliberal, aber nicht rechtsextrem, und national, aber nicht nationalistisch zu geben, noch weniger erfolgreich.

Als organisatorisches Auffangbecken für ehemalige REPublikaner diente insbesondere der auf Initiative des ehemaligen bayerischen FDP-Landesvorsitzenden und früheren Kabinettschefs der EG-Kommission (Büroleiter von Martin Bangemann) Manfred Brunner im Januar 1994 gegründete Bund Freier Bürger (BFB).5 Wegen unverhohlener Sympathien seiner Spitzenfunktionäre für Jörg Haider gab er sich ein Jahr später den Zusatz »Die Freiheitlichen« und wurde – ebenso wie zwei Jahrzehnte später die frühe AfD – als »Professorenpartei« bewundert oder verhöhnt. Der marktradikale BFB polemisierte gegen Brüssel und lehnte die Aufgabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte (z.B. den Maastrichter Vertrag sowie die europäische Wirtschafts- und Währungsunion) ab. Er vertrat mittelständische Gewinninteressen und schürte die Skepsis vieler Bundesbürger/innen gegenüber dem Euro als Gemeinschaftswährung. Geschwächt durch zahlreiche Austritte, etwa der Hochschullehrer Karl Albrecht Schachtschneider und Joachim Starbatty, die später zum Gründerkreis der AfD gehörten, waren dem BFB trotz finanzieller Unterstützung durch Baron August von Finck junior, Großgrundbesitzer, Bankier und Multimilliardär, bei Wahlen nicht einmal Achtungserfolge vergönnt. Vielmehr löste sich die bürgerliche Honoratiorenpartei nach einem Radikalisierungsprozess und ihrer Fusion mit der weiter rechts stehenden, von dem früheren hessischen FDP-Landtagsabgeordneten Heiner Kappel geführten »Offensive für Deutschland« im August 2000 auf.

Die im Juni 1996 gegründete »Bürgerbewegung pro Köln« (PRO KÖLN) ging aus der Deutschen Liga für Volk und Heimat (DLVH) hervor, die wiederum eine Zwischenstation für die abtrünnigen Mitglieder der REP-Fraktion im Kölner Stadtrat um den Rechtsanwalt Markus Beisicht und den Verleger Manfred Rouhs bildete.6