Umverteilung des Reichtums - Christoph Butterwegge - E-Book

Umverteilung des Reichtums E-Book

Christoph Butterwegge

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Beschreibung

Warum nimmt die soziale Ungleichheit seit Jahren zu? Welche Rolle spielen dabei Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen? Mit welchen Narrativen werden die beträchtlichen Einkommens- und Vermögensunterschiede gerechtfertigt? Christoph Butterwegge beleuchtet die Politik unterschiedlicher Bundesregierungen und fragt, weshalb sich die Kluft zwischen Arm und Reich nach der "Zeitenwende" und zusätzlichen Rüstungsanstrengungen weiter vertieft. Er nimmt den Niedriglohnsektor, den »Um-« bzw. Abbau des Sozialstaates sowie die Steuerentlastungen für Wohlhabende in den Blick. Wie lässt sich die Entwicklung aufhalten und verhindern, dass die Reichen noch reicher und die Armen noch zahlreicher werden? Angesichts der Umverteilung von Unten nach Oben setzt das Buch eine Rückverteilung des Reichtums auf die Agenda. Abschließend wird diskutiert, ob neben einer stärkeren Tarifbindung, einem Verbot prekärer Beschäftigung sowie höheren Besitz-, Kapital- oder Gewinnsteuern die Umgestaltung des bestehenden Wirtschaftssystems nötig ist.

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Neue

Kleine Bibliothek 340

Christoph Butterwegge

Umverteilung des Reichtums

PapyRossa Verlag

Für Miko und Sina

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-89438-831-7 (Print)

ISBN 978-3-89438-900-0 (Epub)

© 2024 by PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln

Luxemburger Str. 202, 50937 Köln

E-Mail: [email protected]

Internet: www.papyrossa.de

Alle Rechte vorbehalten – ohne ausdrückliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk weder komplett noch teilweise vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

Umschlag: Verlag, unter Verwendung einer Abbildung © by Olivier Le Moal | Adobe Stock (#486019753)

Datenkonvertierung E-Book: Bookwire - Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH

Inhalt

Einleitung

1. Warum sozioökonomische Ungleichheit existiert

1.1 Gesellschaftliche Entstehungsursachen der Ungleichheit

1.2 Privateigentum, Profitstreben und Ausbeutung in der bürgerlichen Gesellschaft

1.3 Hyperreichtum von Unternehmerdynastien als Folge politischer Einflussnahme

1.4 Scheinlegitimation der Ungleichheit in Westdeutschland durch Währungsreform, »Soziale Marktwirtschaft« und »Wirtschaftswunder«

2. Weshalb die soziale Ungleichheit wächst

2.1 Wie der Neoliberalismus für mehr Ungleichheit sorgt

2.2 Regierungspolitik als Verstärker der sozialen Polarisierung: Gerhard Schröders »Agenda 2010«

2.3 Polarisierungseffekte der Covid-19-Pandemie, der Energiepreisexplosion und der Inflation

2.4 Die unsozialen Auswirkungen des Ukrainekrieges und der »Zeitenwende« in Deutschland

3. Wo anzusetzen ist und was keinen Erfolg verspricht

3.1 Keine glückliche, gesunde und gerechte Zukunft ohne Egalität

3.2 Für die Rückverteilung des Reichtums sprechen viele Gründe

3.3 Bekämpfung der Armut durch bürgerschaftliches, zivilgesellschaftliches und karitatives Engagement?

3.4 Bildung und Beschäftigung – keine Wunderwaffen im Kampf gegen die soziale Ungleichheit

3.5 Verringerung oder Verschärfung der Ungleichheit durch ein bedingungsloses Grundeinkommen?

3.6 Reregulierung des Arbeitsmarktes: Lebenslohn, Festigung der Tarifbindung und Verbot prekärer Beschäftigungsverhältnisse

3.7 Renovierung des Sozialstaates: Auf- und Ausbau einer solidarischen Bürgerversicherung

3.8 Rekonstruktion des Steuersystems: Rückverteilung des Reichtums mittels (höherer) Besitz-, Kapital- und Gewinnsteuern

3.9 Von der Umverteilung des Reichtums durch Steuern zur Umgestaltung des Wirtschaftssystems?

Literaturauswahl

Einleitung

»Es gäbe genug Geld, genug Arbeit, genug zu essen, wenn wir die Reichtümer der Welt richtig verteilen würden, statt uns zu Sklaven starrer Wirtschaftsdoktrinen und -tradition zu machen. Vor allem aber dürfen wir nicht zulassen, dass unsere Gedanken und Bemühungen von konstruktiver Arbeit abgehalten und für die Vorbereitung eines neuen Krieges missbraucht werden.«

(Albert Einstein)

Armut dringt seit geraumer Zeit bis in die Mitte unserer Gesellschaft vor, während sich der Reichtum immer stärker bei wenigen (Unternehmer-)Familien konzentriert. Weshalb geschieht das, und wie lässt es sich ändern? Aufgrund der bestehenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Tagtäglich findet Umverteilung statt – allerdings nicht von Oben (den viel Besitzenden) nach Unten (den hart Arbeitenden), sondern von Unten nach Oben: Unternehmensprofite, Veräußerungs- und Kursgewinne der Aktionäre, Dividenden, Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse von Immobilienkonzernen fließen überwiegend in die Taschen materiell Bessergestellter, sind aber normalerweise von Menschen erarbeitet worden, die erheblich weniger Geld haben, oft nicht einmal genug, um in Würde leben zu können. Deshalb muss Umverteilung künftig in die entgegengesetzte Richtung stattfinden – als Rückverteilung des Reichtums von Oben nach Unten, also zu denjenigen Menschen, die ihn geschaffen und nicht geerbt haben.

In diesem Buch geht es weniger um das erreichte Ausmaß, die konkreten Erscheinungsformen oder die negativen Folgewirkungen der sozialen Ungleichheit, sondern mehr darum, weshalb sie wächst und wie ihr zu begegnen ist. Dabei handelt es sich um eine spezifische Form der Ungleichheit, die weder naturgegeben noch gottgewollt, vielmehr strukturell bedingt ist. Sie wurzelt im bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, was aber ihr enormes Wachstum nicht erklärt.

Will man ermitteln, was der sozioökonomischen Ungleichheit entgegenwirkt, muss analysiert werden, worin ihre starke Zunahme in jüngster Zeit begründet liegt und wer ihre Hauptnutznießer sind. Die gesellschaftlichen Ursachen und die – nur aus ihnen stringent abzuleitenden – Maßnahmen zur Eindämmung der sozialen Polarisierung stehen daher im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Wer die Entstehungsgründe eines gesellschaftlichen Strukturproblems wie der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich nicht kennt, kann es nämlich weder an den Wurzeln packen noch auf andere Weise lösen.

Behandelt werden drei Ursachenbündel im Zusammenhang mit ausschlaggebenden (Fehl-)Entscheidungen von Parlament und Regierung: die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Demontage des Sozialstaates und die Deformation des Steuersystems. Als weitere Verstärker der Ungleichheit wirkten zuletzt die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion aufgrund des Ukrainekrieges und die durch beide Krisenphänomene ausgelöste Inflation.

Außerdem spielen die soziokulturellen, intellektuellen und politisch-ideologischen Rahmenbedingungen für den gesellschaftlichen Polarisierungsprozess eine Schlüsselrolle. Dazu gehört etwa die Art und Weise, wie die wachsende Ungleichheit unter dem Einfluss des Neoliberalismus im öffentlichen, politischen und Mediendiskurs, aber auch gegenüber den von Armut betroffenen oder bedrohten Personengruppen legitimiert wird.

Im ersten Kapitel wird die Frage beantwortet, warum es im bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem überhaupt sozioökonomische Ungleichheit gibt; das zweite Kapitel befasst sich damit, weshalb sich die Kluft zwischen Arm und Reich zuletzt vertieft hat; im dritten Kapitel geht es darum, was getan werden muss, um mehr Gleichheit und soziale Gerechtigkeit zu schaffen.

1.

Warum sozioökonomische Ungleichheit existiert

In der breiten Öffentlichkeit findet bisher zu wenig Beachtung, dass die sozioökonomische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der ganzen Menschheit ist, beschwört sie doch ökonomische Krisen und ökologische Katastrophen, aber auch inner- wie zwischenstaatliche Konflikte, Kriege und Bürgerkriege herauf, die wiederum große Flüchtlingsströme nach sich ziehen. Sofern die Kluft zwischen Arm und Reich – sichtbarster Ausdruck einer systemisch bedingten Ungleichheit – von der Ökonomie und der Soziologie als den beiden für das besagte Phänomen in erster Linie »zuständigen« Wissenschaften überhaupt erkannt und für problematisch erachtet wird, gelangen deren Vertreter/innen zu ganz unterschiedlichen Erklärungsansätzen, von denen die meisten unzutreffend, irreführend und eher apologetischer Natur sind.

Weil die sozioökonomische Ungleichheit in Deutschland nicht monokausal zu begreifen ist, sollte man zwischen dem gesellschaftlichen Entstehungshintergrund, welcher die seit Langem existierenden Wirtschaftsstrukturen, Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen umfasst, einerseits sowie aktuellen, die bestehenden Polarisierungstendenzen noch verstärkenden, aber leichter beeinflussbaren Faktoren andererseits unterscheiden. Zunächst geht es deshalb um die strukturellen Grundlagen der Ungleichheit, bevor wir uns jenen Krisenentwicklungen und politischen (Fehl-)Entscheidungen zuwenden, die sie in jüngster Zeit weiter verschärft haben und wohl auch künftig verschärfen, sofern keine starke Gegenbewegung entsteht.

1.1Gesellschaftliche Entstehungsursachen der Ungleichheit

Differenzieren lässt sich zwischen primären und sekundären Ursachen der sozialen Ungleichheit. Während die primären Ursachen in den Wirtschaftsstrukturen, Produktions- bzw. Eigentumsverhältnissen und Verteilungsmechanismen einer Gesellschaft wurzeln, sind die sekundären Ursachen in den politisch-ideologischen bzw. soziokulturellen Rahmenbedingungen und den jeweiligen Machtkonstellationen zu suchen. »So ist die gegenwärtige Privatisierung bestimmter öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen keineswegs irgendwelchen technologisch-ökonomischen Erfordernissen geschuldet, sondern folgt politisch artikulierten und durchgesetzten Interessen der Privatwirtschaft, die sich ideologisch indoktrinierte Politiker zu Eigen machen.«1

Um das Ausmaß der sozioökonomischen Ungleichheit einschätzen sowie ihre negativen Folgen für das Gesellschaftssystem der Bundesrepublik verstehen zu können, muss man sowohl die spezifischen Wesenszüge des Gegenwartskapitalismus wie auch die Wirkung von parlamentarischen und Regierungsentscheidungen auf die gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse berücksichtigen. Denn für die Primärverteilung der Einkommen sind im Wesentlichen die Produktions- bzw. Eigentumsverhältnisse, die Marktkräfte und die Verteilungsmechanismen der Gesellschaft, für die Sekundärverteilung in erster Linie der Sozial- und der Steuerstaat verantwortlich, die Einkommensüberschüsse durch Erhebung von Abgaben, Beiträgen, Gebühren und Steuern abschöpfen, geringe Einkommen hingegen mittels bedarfsorientierter Transferleistungen aufstocken können.

Die in New York lehrende Rechtswissenschaftlerin Katharina Pistor nennt zwei Gründe, die es für sie notwendig machen, analytisch bis zu den Wurzeln der sozialen Ungleichheit vorzudringen und dabei nicht an der erscheinenden Oberfläche zu verharren: »Die ersten Ursachen der Ungleichheit aufzudecken ist nicht nur deshalb von entscheidender Bedeutung, weil ihr Anstieg das soziale Gefüge unserer demokratischen Systeme bedroht, sondern auch, weil herkömmliche Formen der Umverteilung durch Steuern ihren Biss weitgehend verloren haben.«2

Philosophen, Soziologen und Ökonomen, darunter weltberühmte Geistesgrößen, denken seit Jahrhunderten darüber nach, wie und warum es bereits vor langer Zeit zu einer tiefgreifenden sozialen Spaltung von Gesellschaften gekommen ist. So beteiligte sich Jean-Jacques Rousseau an einem 1753/54 von der Académie de Dijon veranstalteten Preisausschreiben, bei dem zwei Fragen gestellt wurden. Die eine bezog sich auf den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und die andere darauf, ob diese »durch das natürliche Gesetz autorisiert« werde. Der französische Philosoph, Literat und Pädagoge gewann zwar nicht die ausgelobte Goldmedaille im Wert von 30 Pistolen, gab im Einleitungssatz des zweiten Teils seines »Diskurses über die Ungleichheit« dazu jedoch eine ohne Übertreibung als klassisch zu bezeichnende Antwort: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein, und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ›Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‹«3

Niemand hat die negativen Wirkungen des Privateigentums, ausgehend von einem (idealen oder idealisierten) Naturzustand der sozialen Gleichheit aller Menschen, jemals prägnanter charakterisiert als Rousseau, einer der geistigen Väter der Großen Französischen Revolution von 1789. Er sah in dieser ersten Landnahme der Geschichte das soziale Grundübel, aus dem alle weiteren Probleme, Restriktionen und Rückschläge in der Entwicklung des Menschengeschlechts erwuchsen. Durch das private Grundeigentum waren seiner Meinung nach fundamentale Interessengegensätze, damit aber auch innergesellschaftliche Frontstellungen und schwere Konflikte zwischen Personengruppen entstanden, die vorher ohne Streit zusammengelebt hatten. »Konkurrenz und Rivalität auf der einen Seite, Gegensatz der Interessen auf der anderen und stets das versteckte Verlangen, seinen Profit auf Kosten anderer zu machen; alle diese Übel sind die erste Wirkung des Eigentums und das untrennbare Gefolge der entstehenden Ungleichheit.«4

Um die soziale Ungleichheit zu rechtfertigen, reicht das Naturrecht laut Rousseau nicht aus. Vielmehr konstatierte er, »dass die Ungleichheit, die im Naturzustand nahezu null ist, ihre Macht und ihr Wachstum aus der Entwicklung unserer Fähigkeiten und den Fortschritten des menschlichen Geistes bezieht und durch die Etablierung des Eigentums und der Gesetze schließlich dauerhaft und legitim wird.«5 Klar war für Rousseau, was der US-amerikanische Philosoph Frederick Neuhouser so formuliert: »Das Naturgesetz liefert keine Rechtfertigung für die große Mehrheit sozialer Ungleichheiten, von denen die uns bekannten Gesellschaften gekennzeichnet sind.«6

Rousseau hielt die Einkommens- und Vermögensverteilung für das zentrale Kriterium zur Beurteilung des Ausmaßes der sozialen Inegalität bzw. Egalität und daher den Gegensatz zwischen Arm und Reich für die ausschlaggebende Scheidelinie in jeder auf privatem Eigentum basierenden Gesellschaft. Wenn man bedenkt, dass Rousseau im Ancien Régime lebte, also nicht in einer modernen Industriegesellschaft, sondern in einer feudalen Ständeordnung, war seine Konzentration auf den (Groß-)Grundbesitz als Quelle des persönlichen Reichtums und der sozioökonomischen Ungleichheit nur logisch. Damals war schließlich reich, wer möglichst viel Land besaß und es von lehnspflichtigen Vasallen bestellen lassen, verpachten oder verkaufen konnte. Dies galt hauptsächlich für Kaiser, Könige und (von ihnen ernannte) Adlige, d. h. eine in jeder Hinsicht privilegierte und sozial exklusive Personengruppe. Von dieser war die übergroße Mehrheit der Bevölkerung materiell abhängig, bis das aus Kaufleuten, Privatbankiers und Industrieunternehmern bestehende Besitzbürgertum für Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte die politökonomische Führungsrolle übernahm.

Übrigens vermutet der israelische Historiker Yuval Noah Harari, dass es Daten sind, die im 21. Jahrhundert den Grundbesitz sowie Fabriken und Maschinen als wichtigstes Vermögen ablösen werden, woraus er schlussfolgert, dass der Datenstrom politisch kontrolliert werden muss: »Wenn sich Daten in zu wenigen Händen konzentrieren, dann wird sich die Menschheit in unterschiedliche Arten aufspalten.«7 Harari befürchtet, dass durch die Verschmelzung von Menschen und Maschinen eine Machtkonzentration von apokalyptischen Ausmaßen entstehen kann, verbunden mit der Fähigkeit zur totalen Manipulation des Lebens. »Wenn wir verhindern wollen, dass eine kleine Elite solch gottgleiche Macht monopolisiert, und wenn wir verhindern wollen, dass sich die Menschheit in biologische Kasten aufspaltet, dann lautet die Schlüsselfrage: Gehören die Daten über meine DNA, mein Gehirn und mein Leben mir, der Regierung, einem Unternehmen oder dem Kollektiv Menschheit?«8

Adam Smith identifizierte das Vermögen und die soziale Herkunft in seinem 1776 veröffentlichten Hauptwerk über das Wesen und die Ursachen des Wohlstandes der Nationen als entscheidende Determinanten für die Ungleichheit: »Geburt und Vermögen sind offenbar die beiden Umstände, welche einen Menschen über den anderen am meisten erheben. Sie sind die beiden Hauptquellen des Unterschiedes zwischen den Personen und folglich die Hauptursachen, wodurch Oberherrschaft und Unterordnung unter die Menschen kommen.«9 Weil der schottische Moralphilosoph und Begründer der Nationalökonomie die Standesunterschiede an gleicher Stelle zu »Folgen der Vermögensungleichheit« erklärte, bildete das Privateigentum für Smith den Schlüsselfaktor im Prozess der Ungleichheitsentwicklung.

Bewusst war sich Smith, dass vermögende Personen zur Privilegien- und Herrschaftssicherung die Unterstützung der Ärmeren benötigen. Für ihr gemeinsames Band hielt er die bestehende Eigentumsordnung: »Die Reichen insbesondere sind sehr daran interessiert, diejenige Ordnung der Dinge zu erhalten, die ihnen allein den Besitz ihrer Vorteile sichern kann. Die Leute von geringerem Vermögen vereinigen sich, das Eigentum derer, welche größeren Reichtum besitzen, zu schützen, damit auch diese sich wieder zur Verteidigung dessen, was sie, die Ärmeren, besitzen, vereinigen mögen.«10 Garant und für den Schutz des Privateigentums zuständig ist laut Smith der Staat als jene Ordnungsmacht, die in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht bloß über das Gewaltmonopol, sondern auch über bewaffnetes Personal – Militär und Polizei – verfügt. Aus diesem Hauptzweck der Staatsgewalt machte Smith kein Hehl: »Die bürgerliche Regierung ist, insofern sie zur Sicherung des Eigentums eingeführt wurde, […] zur Verteidigung des Reichen gegen den Armen oder dessen, der ein Eigentum hat, gegen den, der keines hat, eingeführt worden.«11

Der Kölner Sozialwissenschaftler Davide Brocchi spricht in diesem Zusammenhang von einer »Selbstreproduktion« der sozialen Ungleichheit: »Die einen erben zum Beispiel riesige Vermögen, ohne dafür etwas leisten zu müssen, während die anderen Armut erben, aus der es auch mit harter Arbeit kaum einen Ausweg gibt. Soziale Ungleichheit benötigt die Komplizenschaft des Staates, um bestehen zu können – zum Beispiel einen starken Schutz des akkumulierten Privateigentums.«12

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, welcher die soziale Ungleichheit bereits für ein Kernthema der Gesellschaftstheorie hielt, behandelte Armut und Reichtum in seiner 1820 erschienenen »Rechtsphilosophie« nicht als Strukturgegensätze, sondern als zusammengehörige, die bürgerliche Gesellschaft verbindende Pole. Auch benutzte Hegel mit Blick auf die Arbeiterschaft schon damals den Klassenbegriff, der auf die Steuerklassen im Alten Rom zurückgeht, mit denen die Bürger von den Zensoren nach ihrem Einkommen veranlagt wurden. Hegel beklagte die Konzentration des Reichtums in wenigen Händen und führte sie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurück: »Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer – denn aus dieser gedoppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen – auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weiteren Freiheiten und besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt.«13

Für den großen Berliner Philosophen wurden Arme erst durch die innere Empörung gegenüber den Reichen, der Gesellschaft und der Regierung zum »Pöbel«, wie er auch ihre vermeintliche Arbeitsscheu und ihren Drang kritisierte, die Subsistenz als Recht geltend zu machen: »Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustande der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird. Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.«14 Weiter stellte Hegel an gleicher Stelle in prophetischer Weitsicht fest, »daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.«

Ina Schildbach, die über Hegel promoviert hat, bescheinigt dem Philosophen zwar, dass er die Armut als »eines der wesentlichen Probleme moderner Gesellschaften« erkannt und die Idee des Sozialstaates als Antwort darauf entwickelt habe.15 Die politische Dimension der Armut habe Hegel aber unterschätzt und vornehmlich ignoriert, »dass sich ein moderner Staat nicht darauf beschränken kann, Menschen als Eigentümer zu definieren und erst im Nachhinein bei eingetretenen Schäden durch die ökonomische Konkurrenz einzugreifen.«16

1.2Privateigentum, Profitstreben und Ausbeutung in der bürgerlichen Gesellschaft

Karl Marx und Friedrich Engels, die der sozioökonomischen Ungleichheit im 19. Jahrhundert am Beispiel des englischen Industriekapitalismus auf den Grund gingen, hielten Armut und Reichtum für Manifestationen der herrschenden Eigentumsverhältnisse, die sie als Produktionsverhältnisse aber präziser fassten als Smith.

Neben der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die Smith in den Mittelpunkt gerückt hatte, hielt Marx das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Aneignung des Mehrprodukts durch eine privilegierte Minderheit für die entscheidenden Ursachen der Ungleichheit, die sich in der Klassenspaltung niederschlägt. Er griff Hegels Überlegungen zu Armut und Reichtum auf, die er als sich ergänzende, zueinander in einem dialektischen Wechselverhältnis stehende Kontrapunkte eines Grundproblems begriff, das die bürgerliche Gesellschaft nicht zu lösen vermag. So konstatierte Marx im »Elend der Philosophie«, seiner 1847 erschienenen Replik auf das »System der ökonomischen Widersprüche oder Philosophie des Elends« von Pierre-Joseph Proudhon, »daß in denselben Verhältnissen, in denen der Reichtum produziert wird, auch das Elend produziert wird; daß in denselben Verhältnissen, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte vor sich geht, sich eine Repressionskraft entwickelt; daß diese Verhältnisse den bürgerlichen Reichtum, d. h. den Reichtum der Bourgeoisklasse, nur erzeugen unter fortgesetzter Vernichtung des Reichtums einzelner Glieder dieser Klasse und unter Schaffung eines stets wachsenden Proletariats.«17

Armut kann man im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung also nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigen, weil beide systembedingt und integrale Bestandteile des Kapitalismus sind. Bertolt Brecht hat dies 1934 in dem berühmten Vierzeiler seines Kindergedichts »Alfabet« folgendermaßen ausgedrückt: »Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Reichtum entsteht mithin nicht trotz der Existenz von Armut, sondern gerade durch deren Erzeugung. Wer über den Reichtum nicht sprechen will, was hierzulande bei unterschiedlich Wohlhabenden der Normalfall ist, sollte auch über die Armut schweigen. Denn beide sind strukturell miteinander verbunden, also zwei Seiten einer Medaille. Daraus folgt: Wer die Armut beseitigen will, muss den Reichtum antasten.

Ungleichheit in Form einer sich tendenziell vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich ist für Klassengesellschaften geradezu konstitutiv.18 Länder, deren Bewohner/innen sich wesentlich durch ihr Verhältnis zum Privateigentum an Produktionsmitteln voneinander unterscheiden, kennzeichnet die extreme Ungleichverteilung der materiellen Ressourcen. Wenn einer kleinen Minderheit der Bevölkerung – wie im kapitalistischen Wirtschaftssystem – die Unternehmen, Banken und Versicherungen gehören, wohingegen eine große Mehrheit der Bevölkerung ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft auf einem für sie zum Teil schwer zugänglichen Markt sichern muss, was vor allem bei gesundheitlichen Problemen, psychischen Beeinträchtigungen oder qualifikatorischen Defiziten häufig misslingt, kann von sozialer Gleichheit natürlich keine Rede sein. Vielmehr liegt hier die Quelle der sozioökonomischen Ungleichheit, die alle Gesellschaftsbereiche durchdringt. »Kapitalismus erzeugt funktionsnotwendig wirtschaftliche Ungleichheit, die wiederum zu politischer Ungleichheit führt.«19

Hieraus erwächst laut dem Berliner Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel ein Spannungsverhältnis zwischen bestimmten Varianten des Kapitalismus und Formen der liberalen Demokratie, weil Letztere im Gegensatz zu Ersterem auf dem Prinzip der (rechtlichen und politischen) Gleichheit aller Bürger/innen basiert, ohne dass sie diese zuverlässig gewährleistet: »Während die formale rechtliche und politische Gleichheit in rechtsstaatlichen Demokratien per definitionem gegeben ist – sonst wären sie keine rechtsstaatlichen Demokratien –, gibt es de facto schon im rechtlichen Bereich (Zugang zur Gerichtsbarkeit), aber erst recht im politischen Bereich Ungleichheiten, die durch die sozioökonomische Ungleichheit hervorgerufen werden und Grundprinzipien der Demokratie infrage stellen.«20

Die arbeitende und die (Kapitaleigentum) besitzende Klasse haben zwar ihre Gestalt ebenso wie ihre personelle Zusammensetzung im Laufe der Zeit erheblich verändert, sind also nicht mehr identisch mit dem Proletariat und der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts, existieren jedoch modifiziert fort. Auch im digitalen Finanzmarktkapitalismus dominieren zwei Klassen, deren Interessenantagonismus die Sozialstruktur in Deutschland prägt. Der spanische Soziologe César Rendueles differenziert die Sozialstruktur im Gegenwartskapitalismus mit Blick auf eine in sich heterogene Mittelschicht jedoch zu Recht stärker aus, wenn er konstatiert: »In modernen Gesellschaften speist sich materielle Gleichheit bzw. Ungleichheit aus den Machtbeziehungen zwischen einer großen Mehrheit an Lohnabhängigen, einer immer noch recht umfangreichen Minderheit von Gruppen, die Qualifikationen und als wertvoll erachtete gesellschaftliche Ressourcen horten, und einer kleinen, über Produktionsmittel und Finanzkapital verfügenden Eigentümerelite.«21

Wenn die Grundaxiome der Marx’schen Theorie stimmen, hängt die Klassenzugehörigkeit, der soziale Status bzw. die gesellschaftliche Position einer Person von deren Stellung im ökonomischen Produktions- und Reproduktionsprozess ab, d. h. nicht in erster Linie vom eigenen Geldbeutel oder von dem ihrer Eltern; dessen Bedeutung hat allerdings in jüngster Zeit deutlich zugenommen. Christian Neuhäuser, ein Dortmunder Philosoph, der Reichtum skandalisiert und als moralisches Problem identifiziert, bezieht sich auf das Geld statt auf das Kapital, über welches jemand verfügt, was er folgendermaßen begründet: »Was immer Geld sonst noch sein mag, die ungleiche Verteilung von Geld ist mit Sicherheit ein Ausdruck der ungleichen Verteilung von Kapital, Land und der ungleichen Bewertung von Arbeitskraft. Das ist vielleicht auch der Grund, warum in der Alltagssprache häufig Kapital mit Geld gleichgesetzt wird.«22

Neben den Produktionsverhältnissen, die für Architektur und Struktur der bürgerlichen Gesellschaft grundlegend bleiben, kommt den Distributionsverhältnissen im Finanzmarktkapitalismus eine wachsende Bedeutung zu: Einkommen und Vermögen bestimmen maßgeblich über das Verhältnis zwischen Klassen und Schichten, aber auch über die Lebensbedingungen innerhalb derselben sowie über die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft mit.

Klassengesellschaften bilden sich laut Marx heraus, wenn sich eine Bevölkerungsgruppe aufgrund ihrer privilegierten Stellung im Prozess der materiellen Produktion das gesellschaftliche Mehrprodukt aneignet, indem sie die Mitglieder einer anderen Bevölkerungsgruppe für sich arbeiten lässt und damit ausbeutet. Ausbeutung ist demnach keineswegs, wie die meisten Kritiker/innen des Marxismus unterstellen, nur eine besonders krasse Form der Unterbezahlung von Arbeitskräften und der Profitmaximierung, sondern eine Bezeichnung für jede Art der Mehrwertgewinnung durch die Produktionsmittelbesitzer.

Katharina Pistor drückt sich zwar unglücklich aus, wenn es im Untertitel ihres Buches »Der Code des Kapitals« heißt, das Recht schaffe Reichtum und Ungleichheit, weist aber detailliert nach, wie es in den Dienst des Kapitals gestellt wurde und warum es maßgeblich dazu beiträgt, sozioökonomische Ungleichheit einerseits zu legitimieren und andererseits zu perpetuieren. »Die Wohlhabenden führen oft besondere Fähigkeiten, die harte Arbeit und die persönlichen Opfer, die sie selbst oder ihre Eltern oder Vorfahren erbracht haben, als Rechtfertigung für das Vermögen an, das sie heute besitzen. Gewiss mögen diese Faktoren zur Entstehung ihrer Reichtümer beigetragen haben. Doch ohne rechtliche Codierung hätten die meisten davon nur kurze Zeit überdauert. Über lange Zeiträume hinweg Reichtum anzuhäufen erfordert eine zusätzliche Absicherung, die nur ein von den Zwangsbefugnissen des Staates gestützter Code bieten kann.«23

Eine »marktwirtschaftlich« organisierte, kapitalistische Gesellschaft wie die unsrige tendiert zur sozioökonomischen Polarisierung, weil den Mitgliedern einer materiell privilegierten Klasse, des Bürgertums bzw. der Bourgeoisie, die Produktionsmittel, also heutzutage die (Industrie-)Unternehmen, Dienstleistungsfirmen und digitalen Plattformen, ebenso gehören wie die finanziellen Rücklagen, mit denen sie Spekulationsgewinne auf den Finanzmärkten erzielen, während die Mitglieder einer anderen Klasse, traditionell Proletariat genannt, ihre Arbeitskraft gegen einen relativ geringen Lohn verkaufen müssen. Durch einen Strukturwandel der Arbeitsgesellschaft ist neben das Industrieproletariat als Kern der arbeitenden Klasse mittlerweile ein deutlich schlechter entlohntes Dienstleistungsprekariat getreten,24 dem Paketzusteller/innen, Getränkelieferant(inn)en und Fahrradkuriere, aber auch die sog. Click-, Crowd- oder Gigworker des digitalen Plattformkapitalismus angehören.

Anknüpfend an die Charakterisierung früherer Entwicklungsphasen der bestehenden Wirtschaftsordnung als »Handels-«, »Manufaktur-«, »Industrie-« und »Monopolkapitalismus« sprechen linke Ökonomen auch vom »Finanzmarktkapitalismus«, für den außerhalb des regulären Banksektors tätige Schattenbanken, Investment- und Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften (»Heuschrecken«) und Spekulationsblasen unterschiedlicher Art typisch sind.25

Durch die Ausweitung und Aufwertung der Finanzmärkte nahmen die sozialen Polarisierungseffekte zu. Der frühere Bundestagsabgeordnete Gerhard Schick spricht von den Finanzmärkten als einer »große(n) Umverteilungsmaschine«, die entscheidend zum »Auseinanderdriften der Gesellschaft« beitrage.26 Auf den Finanzmärkten werden in Sekundenbruchteilen unvorstellbar hohe Geldbeträge transferiert. »Finanzmärkte sind der Ort der Realisierung von ungeheurem Reichtum der finanzkapitalistischen Gewinner und der Vernichtung des Geldvermögens von Millionen Anlegern zugleich.«27 Umstritten ist, ob Finanzkonzerne à la BlackRock, State Street und Vanguard die Realökonomie dominieren und der Kapitalismus »multiple« Krisen nicht mehr zu beherrschen vermag.

Von einer »Finanzialisierung« ist die Rede, wenn es um den zunehmenden Einfluss der Kapitalmarktakteure auf fast alle Lebensbereiche geht. Beispielhaft dafür ist die Finanzialisierung des Mietwohnungsmarktes, die in der Bundesrepublik zwar nicht wie in den USA zu einer »Eigentümernation privat verschuldeter Haushalte« geführt, aber wegen des aggressiven Verhaltens solcher Großunternehmen wie Deutsche Wohnen und Vonovia das Mietpreisniveau beeinflusst hat.28

In der politischen und Medienöffentlichkeit wird die Analyse der Ungleichheit vor allem mit dem französischen Ökonomen Thomas Piketty in Verbindung gebracht, dessen Hauptwerk »Das Kapital im 21. Jahrhundert« große Resonanz weit über sein Heimatland hinaus fand. Extreme soziale Ungleichheit resultiert laut Piketty aus im historischen Maßstab überhöhten Renditen, denen eine Wachstumsschwäche entspricht: »Wenn die Kapitalrendite dauerhaft höher ist als die Wachstumsrate von Produktion und Einkommen, was bis zum 19. Jahrhundert der Fall war und im 21. Jahrhundert wieder zur Regel zu werden droht, erzeugt der Kapitalismus automatisch inakzeptable und willkürliche Ungleichheiten, die das Leistungsprinzip, auf dem unsere demokratischen Gesellschaften basieren, radikal infragestellen.«29

Gegenüber den ökonomischen Faktoren, die Piketty in mathematische Formeln presst, kommen die politischen Determinanten zur Erklärung und zur Überwindung der sozialen Ungleichheit bei ihm allerdings zu kurz. Der US-amerikanische Soziologe Michael Burawoy kritisiert Piketty daher scharf und moniert, dass dieser bei seinen Ratschlägen zur höheren Besteuerung von Reichen und Hyperreichen nicht erkläre, woher der Wille zur Kurskorrektur einer Regierung kommen solle: »Er hat keine Theorie der Politik, keine Theorie des Staates, keine Theorie sozialer Bewegungen, keine Theorie der Kultur und vor allem keine Theorie des Kapitalismus. Er hat eine Formel für die zunehmende Ungleichheit, aber die Faktoren hinter den Variablen (Kapitalrenditen und Wirtschaftswachstum) werden nicht erklärt. So schwankt er hin und her zwischen einem radikalen Indeterminismus – ›alles ist möglich‹ – und einem radikalen Empirismus, der davon ausgeht, dass die Welt einfach weiterlaufen wird, wie sie ist.«30

1.3Hyperreichtum von Unternehmerdynastien als Folge politischer Einflussnahme

Warum existiert die Not von Armen neben Megavermögen, deren Eigentümer man nicht »Super-«, sondern Hyperreiche nennen sollte, weil es oft selbst für sie persönlich nicht gut ist, dermaßen viel zu besitzen, dass sich ihre Verwandten und potenziellen Erben manchmal jahrzehntelang streiten? Familien wie die Albrechts (Eigentümer von Aldi Nord und Aldi Süd), die Dussmanns oder die Tönnies treffen sich zum Teil bloß noch in Gerichtssälen, und der Gesellschaft schadet es auf jeden Fall, wenn dem Staat die Geldmittel fehlen, um die wachsenden sozialen Probleme des Landes zu lösen – von der Verelendung im Obdachlosenmilieu über das Fehlen auch für Geringverdiener/innen bezahlbarer Mietwohnungen bis zur schlechten Ausstattung der öffentlichen Kinderbetreuungs-, Bildungs- und Pflegeeinrichtungen.

Multimillionäre und Milliardäre fallen nicht vom Himmel. Es gibt sie vielmehr nur unter bestimmten Rahmenbedingungen und historischen Konstellationen, etwa dann, wenn sich in einem Land mächtige Geburtshelfer des Reichtums finden, die Großgrundbesitzern, Firmeninhabern, Immobilienmogulen oder Finanzakrobaten und ihren Erben durch sie (steuerlich) begünstigende Regelungen staatlicherseits Rückendeckung geben. »Typische Beispiele sind die Familie Thurn und Taxis, heute der größte Waldbesitzer Deutschlands, deren Vorfahren ihr Vermögen seit dem 16. Jahrhundert als privilegierte Postunternehmer des Heiligen Römischen Reiches erwarben, und die Familie Siemens, noch heute einer der größten Aktionäre des Weltunternehmens Siemens AG, deren Vorfahr Werner von Siemens 1888 durch Kaiser Friedrich III. geadelt wurde.«31

So bekannte Unternehmerdynastien existieren teilweise schon seit vielen Generationen, manchmal sogar bereits seit Jahrhunderten. »Nur etwa ein Viertel der großen Vermögen stammt […] aus demokratischen Zeiten, meist von Vorfahren der heutigen Eigner, die das Vermögen ebenfalls lediglich geerbt haben. Der Großteil der Familien in Deutschland vererbt dagegen nichts.«32 Zumindest kein nennenswertes Vermögen, das über den normalen Hausrat, das Tafelsilber, alten Familienschmuck und einen Gebrauchtwagen hinausreicht.

Durch die Symbiose von NSDAP, skrupellosen Bankiers und Großunternehmern der Schwerindustrie im »Dritten« bzw. Großdeutschen Reich hat sich der Reichtum noch stärker als im Wilhelminischen Kaiserreich und in der Weimarer Republik bei wenigen, größtenteils fortbestehenden Unternehmerdynastien konzentriert. »An diesen Vermögen klebt bis heute das Blut der Opfer der Nazi-Diktatur; was die Öffentlichkeit weder in der jungen Bonner Republik noch in der heutigen Berliner Republik wirklich störte.«33

Der Journalist David de Jong hat in seinem Buch »Braunes Erbe« detailliert nachgezeichnet, wie Günther Quandt, Friedrich Flick, August Baron von Finck, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach oder Ferdinand Porsche aufgrund einer für sie äußerst lukrativen Kollaboration mit dem Regime vor allem im Rüstungsbereich riesige Wirtschaftsimperien begründeten. Dass die »entnazifizierten« Industriemagnaten und ihre Erben den im NS-Staat begonnenen Aufstieg im »Wirtschaftswunder« der jungen Bundesrepublik nahezu bruchlos fortsetzen konnten, ohne für die »Arisierung« jüdischen Vermögens sowie die Ausbeutung von Zwangsarbeiter(inne)n, KZ-Insass(inn)en und Kriegsgefangenen belangt zu werden, führt der Journalist auf eine »Kultur des Schweigens« zurück: »Man vergrub die Schrecken des ›Dritten Reichs‹ und die monströsen Taten, die viele Deutsche in dieser Zeit begangen hatten, so tief es nur ging. Während die westdeutschen Magnaten ihre Dutzende bis Hunderte Millionen Reichsmark in Milliarden Deutsche Mark oder Dollar verwandelten und beträchtliche Teile der deutschen und globalen Wirtschaft (wieder) unter ihre Kontrolle brachten, blickten sie selten, wenn überhaupt, zurück.«34

Für großes Aufsehen sorgten der Flick-Skandal in den 1980er-Jahren, in den zwei Wirtschaftsminister der FDP, aber auch Politiker der übrigen Bundestagsparteien, sowie die CDU-Parteispendenaffäre gegen Ende der 1990er- / Anfang der 2000er-Jahre, in die neben dem damaligen Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden Helmut Kohl auch sein Parteifreund Wolfgang Schäuble verwickelt war. In beiden Fällen hatten Unternehmer mittels hoher Geldbeträge für Parteien und Politiker auf staatliche Entscheidungen massiv eingewirkt. Friedrich Karl Flick, dessen Vater in einem der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse wegen Verbrechen gegen die Menschheit, Zwangsarbeit, Deportation zur Sklavenarbeit und Plünderung sowie der Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation zu sieben Jahren Haft verurteilt, aber schon bald wieder aus dieser entlassen worden war, hat als seinerzeit reichster Mann des Landes durch ein millionenschweres Bestechungsmanöver rund eine Milliarde D-Mark an Steuern gespart und ist später nach Österreich übergesiedelt, dessen Staatsbürgerschaft er auch annahm.35

Dies war nur ein besonders spektakuläres, von der breiten Öffentlichkeit mit Verwunderung wahrgenommenes Beispiel für die Beeinflussung politischer Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse durch Konzerne und Großunternehmer, die meistens viel subtiler erfolgt. »Der Geldadel und die Gobal Player nutzen alle Kanäle, ihren finanziellen Beitrag zu einem Gemeinwesen zu drücken, von dem sie mindestens so sehr profitieren wie die Durchschnittsbürger. Die massive finanzielle Unterstützung der Parteien, die sich für die Interessen der Einkommens- und Vermögenselite starkmachen, gehört genauso zum Repertoire wie die Beeinflussung der öffentlichen Meinung.«36

Norbert Walter-Borjans berichtet aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen als ehemaliger Finanzminister des größten Bundeslandes, der durch den Ankauf von Steuer-CDs aus der Schweiz weit über die Grenzen Nordrhein-Westfalens bekannt und am 6. Dezember 2019 nach einem Mitgliederentscheid zum SPD-Vorsitzenden gewählt wurde, über die enormen Schwierigkeiten, mit denen sogar die Strafverfolgung bei Steuerbetrug zu kämpfen hatte: »Es gibt Medien, die die Aufklärung eines jahrzehntelang unbehelligt vollzogenen Kapitaldelikts an der Allgemeinheit als fragwürdiges Unterfangen diskreditieren und Steueroasen als Beitrag zum globalen Wettbewerb preisen. Und es gibt Politiker, die es für gute Standortpolitik halten, wenn sie die Zahl der Betriebsprüfer ausdünnen oder bei Gewinnverschiebungen in Steueroasen beide Augen zudrücken.«37

Auch beim »größten Steuerraub« seit Gründung der Bundesrepublik hatten Politik und Verwaltung ihre Hände im Spiel, vollzog er sich doch »unter den Augen des Staates«, wie der Journalist Massimo Bognanni sein Buch über den Cum-Ex-Skandal genannt hat.38 Durch die kriminellen Machenschaften eines mafiösen Netzwerkes von Bankern, dubiosen Anlageberatern und reichen Bürgern, das Aktien um den Dividendenstichtag so lange hin- und herschob, bis die Finanzämter den Überblick verloren und nie gezahlte Kapitalertragsteuern zurückerstatteten, wurde der Bund um einen zweistelligen Milliardenbetrag geprellt. Gleiches wiederholte sich bei den Cum-Cum-Deals, mit denen ausländische Investoren kurzzeitig Aktien über den Dividendenstichtag an deutsche Geschäftspartner verliehen, die daraufhin Kapitalertragsteuern erstattet bekamen. Unterbinden ließe sich jedwede Manipulation dieser Art, indem eine solche Steuererstattung gänzlich ausgeschlossen würde.

Noch immer machen sich politisch Verantwortliche und Verwaltungsmitarbeiter/innen in Deutschland mit den wirtschaftlich Mächtigen gemein. Das illustrierte ein Skandal, den die ZDF-Dokumentation »Die geheime Welt der Superreichen – Das Milliardenspiel« von Jochen Breyer und Julia Friedrichs am 12. Dezember 2023 aufdeckte. Gerda Hofmann, die als Ministerialrätin eine Fachabteilung im Bundesfinanzministerium leitete, hat auf einem von der Wirtschaftssteuerkanzlei Flick Gocke Schaumburg in einem hessischen Fünfsternehotel veranstalteten Seminar referiert, wobei sie die eine Teilnahmegebühr von 1.500 Euro pro Tag entrichtenden Teilnehmer mit Tipps und Tricks zur »Steueroptimierung« versorgte. Die höchstrangige Beamtin des Bundes für Regelungen im Bereich der Erbschaft-, Grund- und Vermögensteuer informierte das erlesene Publikum über Pläne des Ministeriums, eine Steuervergünstigung bei der Grunderwerbsteuer wegfallen zu lassen, beruhigte ihre Zuhörer/innen aber mit dem Hinweis, dass es »Werkzeugkästen« gebe, um das Problem in deren Sinne zu lösen. Auch der FDP-Politiker und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki und Julia Klöckner, wirtschaftspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, hatten sich nach Recherchen von Lobby-Control im Juni 2023 auf einer von derselben Kanzlei auf Mallorca veranstalteten Konferenz mit Managern von BlackRock, der Bayer AG und der Deutschen Bank getroffen.

BlackRock ist als größter Finanzkonzern der Welt seit vielen Jahren an sämtlichen Dax-Unternehmen beteiligt.39 Zwar rückt Jens Berger, Redakteur der NachDenkSeiten, mit seinen umfangreichen Recherchen fundiert die Macht der Finanzkonzerne ins Blickfeld: »Die Konzerne bestimmen die Politik und die Finanzkonzerne bestimmen über ihre Beteiligungen die Politik der Konzerne.«40 Berger nennt allerdings mit der US-Sanktionspolitik gegenüber missliebigen Staaten selbst ein Beispiel, das zeigt, wie groß der Handlungsspielraum und die Entscheidungsautonomie der politischen Machthaber sind, wenn das »nationale Interesse« einem Profitinteresse von Konzernen entgegensteht. Er stellt nämlich etwas später fest, »dass US-Unternehmen die Wünsche aus dem Weißen Haus auch dann pflichtgetreu umsetzen, wenn ihnen daraus ein finanzieller Schaden entsteht.«41 Auch wirkt es zu defätistisch, wenn Berger aus seiner Beschäftigung mit den Finanzkonzernen folgert: »Noch nie war so viel Macht so ungleich auf so wenige Akteure verteilt. BlackRock und Co. haben kein Demokratiedefizit. Sie sind absolutistische Herrscher. L’économie c’est moi! Und der Allgemeinheit bleibt einzig und allein die Ohnmacht.«42

1.4Scheinlegitimation der Ungleichheit in Westdeutschland durch Währungsreform, »Soziale Marktwirtschaft« und »Wirtschaftswunder«

Knapp ein Jahr, bevor die Bundesrepublik Deutschland am 23. Mai 1949 entstand, wurde mit der Währungsreform ihr Gründungsmythos geschaffen. Dieser wirkt bis heute nach, indem er die Illusion einer weitgehenden Egalität auf (west)deutschem Staatsgebiet genährt hat. Denn am 20. Juni 1948 wurde sämtlichen Besitzer(inne)n einer gültigen Lebensmittelkarte für 40 Reichsmark eine gleich hohe »Kopfquote« in neuer Währung ausgehändigt, nachdem die westlichen Siegermächte die dafür benötigten Banknoten jenseits des Atlantiks gedruckt, heimlich nach Deutschland verschifft und auf ihre Besatzungszonen verteilt hatten. Der falsche Eindruck einer politisch hergestellten Eigentums-, Einkommens- und Vermögensgleichheit verstärkte sich aufgrund der Tatsache, dass die Bundesrepublik eine Währung erhielt, noch bevor sie als Staat auf die politische Weltbühne trat. »Am Abend des 20. Juni 1948 schien es, als seien mit einem Schlage alle Westdeutschen gleich arm oder gleich reich geworden, denn jeder hatte nur 40 DM gültiges Bargeld. Später wurde daraus die Legende, durch die Währungsreform habe jeder die gleiche Chance zu einem wirtschaftlichen Neubeginn erhalten.«43