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Ende der 1920er Jahre setzt Brecht den Bewahrern des kulturellen Erbes die These vom "Materialwert" der Kunst entgegen. Er verabschiedet die Vorstellung einer überzeitlichen Dauer der Werke und rät, deren einzelne Teile bedenkenlos "herauszuhacken" für ihre Wiederverwendung in der Gegenwart. Sein Vorschlag betont den Zeitkern von Kunst und zielt auf eine weitreichende Praxis der Wiederholung, Aneignung und Transformation historischer Artefakte und künstlerischer Praktiken. Diese bisher kaum reflektierte Theorie und Praxis Brechts wird hier rekonstruiert und auf ihn selbst angewendet. Die Beiträge dieses Bandes, Ergebnis einer internationalen Forschungskooperation, gehen der Frage nach dem Materialwert Brechts in seinen eigenen Arbeiten und in seinem Nachleben in Theater und Film unserer Zeit nach. Sie fokussieren Verfahren Brechts, die für die Gegenwart nicht nur von künstlerischer, sondern auch von politischer Bedeutung sind, darunter Praktiken der Historisierung, der transmedialen "Trennung der Elemente", der opernhaften Intensivierung von "Zuständen" und des szenischen Reenactments klassischer Werke.
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Seitenzahl: 363
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Recycling Brecht
Materialwert, Nachleben, Überleben
Herausgegeben von Günther Heeg
Recherchen 136
© 2018 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Erik Zielke
Gestaltung: Sibyll Wahrig
Coverabbildung: Bertolt Brecht.
© bpk / Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie / Konrad Reßler
Printed in the EU
ISBN 978-3-95749-120-6
eISBN 978-3-95749-128-2
Materialwert, Nachleben, Überleben
Herausgegeben von Günther Heeg
unter Mitarbeit von Caroline Krämer und Helena Wölfl
Recherchen 136
Vorwort
Günther Heeg
Recycling Brecht
Theater exponierter Affekte als Medium einer transkulturellen Gemeinschaft
WIEDERHOLUNGEN
Mülltrennung
Jeanne Bindernagel und Michael von zur Mühlen im Gespräch über eine deutsche Obsession
Michael Wehren
Willkommen im Pädagogium – P/Re-enacting the Lehrstück
Zu friendly fires Arbeit an der Geschichte des Theaters der Zukunft
Francesco Fiorentino
Auftritt der vier Agitatoren
Freud, Marx, Lenin und Brecht
Andrea Hensel
Die Praxis der Historisierung zwischen Fakt und Fiktion
Jonathan Littells Die Wohlgesinnten
TRENNUNGEN/ÜBERTRAGUNGEN
Mai Miyake
Trennung und Zusammenstoß der Rhythmen
Dynamische Zustände in der Fatzer-Inszenierung von Chiten
Carolin Sibilak
Film als Theater nach Brecht
Der Verfremdungseffekt in einer Inszenierung von Mozarts Zauberflöte
Hyun Soon Cheon
Vom epischen Theater zum Science-Fiction-Film
Alexander Kluges Auseinandersetzung mit Brecht in Der große Verhau
Veronika Darian und Jana Seehusen
Vorsätzliche Personenstandsänderung
Unwürdiges Alter, glaubwürdiges Geschlecht? Erzählt nach Brecht
RESONANZEN
Chikako Kitagawa
Die Ästhetik der Lücke
Resonanzen des Nô-Theaters im Musiktheater Toshio Hosokawas
Eiichiro Hirata
Schattendramaturgie
Ein Phänomen bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater
Eun-Soo Jang
Upcycling Brecht
Roland Schimmelpfennigs Der goldene Drache
Suk-Kyung Lee
Zwischen Text und Tanz
Körper und Raum in Falk Richters Inszenierung von TRUST
Patrick Primavesi
Recycling Mick Levčik
René Polleschs Bearbeitung der Antigone mit Brecht
Thomas Lehmen
Die Straße
Autorinnen und Autoren
Frech und treuherzig blickt der junge Brecht im Ledermantel in die Kamera des Augsburger Fotografen Konrad Reßler1, die Zigarre wie vergessen in der rechten Hand, die Linke betont lässig von der Stuhllehne hängen lassend. Die Ausstaffierung mit dem viel zu großen Ledermantel, der wie zur Abwehr eines Schlags eingezogene Kopf, die Steifheit des linken Arms und der gekrümmten Hand halten den Augenblick fest, in dem die lebendige Bewegung des Körpers überzugehen droht in die Pose. Noch aber ist sie nicht vollzogen. Darauf weist die komische Inkongruenz von gespielter Größe und Coolness einerseits und andererseits dem Unwohlsein und der Unbehaglichkeit desjenigen, dem Haltung wie Kleidung zu groß sind. Zwischen der intendierten Pose und ihrer komischen Verfehlung blitzt die Geste der schamhaften Bedeckung auf. In ihr artikuliert sich der Körper Brechts, frei von der Erstarrung, die sein Bild in der Gegenwart vielerorts ausmacht.
Der Erstarrung des Autors und Theatermachers Brecht zum Bild und Denkmal seiner selbst entgegenzuwirken, ist das Ziel dieses Bandes. Den im Mausoleum des Epischen Theaters begrabenen Brecht setzt das Buch einer Praxis des Recyclings aus, die ihn auf seinen „Materialwert“2 für die Gegenwart hin befragt. Die Autorinnen und Autoren folgen damit einem Verfahren, das Brecht selbst angewandt hat.
Ende der 1920er Jahre setzt Brecht den Bewahrern des kulturellen Erbes die These vom Materialwert der Kunst entgegen. Er verabschiedet die Vorstellung einer überzeitlichen Dauer der Werke und rät, deren einzelne Teile bedenkenlos „herauszuhacken“3 für ihre Wiederverwendung in der Gegenwart. Sein Vorschlag betont den Zeitkern von Kunst und zielt auf eine weitreichende Praxis der Wiederholung, Aneignung und Transformation historischer Artefakte und künstlerischer Praktiken. Diese bisher kaum reflektierte Theorie und Praxis Brechts wird hier rekonstruiert und auf ihn selbst angewendet. Die Beiträge dieses Bandes, Ergebnis einer internationalen Forschungskooperation zwischen Deutschland, Japan, Korea und Italien, gehen der Frage nach dem Materialwert Brechts in seinen eigenen Arbeiten und in seinem Nachleben in Theater und Film unserer Zeit nach. Sie fokussieren Verfahren Brechts, die für die Gegenwart nicht nur von künstlerischer, sondern auch von politischer Bedeutung sind, darunter Praktiken der Historisierung, der transmedialen „Trennung der Elemente“4, der opernhaften Intensivierung von „Zuständen“5 und des szenischen Reenactments klassischer Werke.
In der Einleitung erläutert der Herausgeber Günther Heeg (Leipzig) die Grundzüge der Praxis des Recyclings im Kontext der „Materialwerttheorie“ Brechts und des Konzepts des Nachlebens. Von hier aus wirft er einen Blick auf zukünftige Perspektiven des Überlebens von und mit Brecht.
Die folgenden Beiträge sind in drei Sektionen eingeteilt, die spezifische Felder und Praktiken des Recyclings beschreiben. Die mit „Wiederholungen“ überschriebene Sektion greift Theoreme und Stücke von Brecht und Zeitgenossen auf, um sie auf ihren Gebrauchswert für die Gegenwart hin zu befragen. Die Dramaturgin Jeanne Bindernagel und der Regisseur Michael von zur Mühlen (Halle) setzen sich in einem Gespräch über ihre Inszenierung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny mit Brechts Forderung der „Trennung der Elemente“ auseinander. Michael Wehren (Leipzig) unterzieht Brechts Theorie der Pädagogien einer Revision aus der Sicht gegenwärtiger Theaterarbeit. Francesco Fiorentino (Rom) folgt in seiner Analyse der dramaturgischen Struktur der Maßnahme Freuds Diktum „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Andrea Hensel (Leipzig) erläutert und überprüft Brechts Praxis des Historisierens am Beispiel des Romans Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell.
Die unter der Überschrift „Trennungen/Übertragungen“ versammelten Beiträge untersuchen Anwendungen, Weiterschreibungen und Überschreitungen Brechts in der künstlerischen Praxis der Gegenwart. Mai Miyake (Tokio) analysiert die aus der „Trennung der Elemente“ hervorgehende Rhythmisierung an einer japanischen Aufführung von Fatzer durch die Gruppe Chiten aus Kyoto. Carolin Sibilak (Berlin) beschreibt eine aktuelle Erscheinung des Verfremdungseffekts in der Berliner Inszenierung der Zauberflöte durch die britische Theatergruppe 1927 und Barrie Kosky. Hyun Soon Cheon (Jinju) folgt den Spuren der Wiederkehr des Epischen Theaters in einem Science-Fiction-Film von Alexander Kluge. Veronika Darian (Leipzig) und Jana Seehusen (Berlin) schreiben Brechts Erzählung Der Arbeitsplatz oder Im Schweiße deines Angesichts sollst du kein Brot essen auf eine die Grenzen von Kunst und Wissenschaft, Vergangenheit und Gegenwart überschreitende Weise sprachbildnerisch fort.
„Resonanzen“, die dritte Abteilung des Bandes, nimmt transkulturelle Affinitäten zwischen Konzepten und Praktiken unterschiedlicher kultureller Herkunft in den Blick. Chikako Kitagawa (Tokio) untersucht Ähnlichkeit und Differenz von Brechts Gestus des Raum-Lassens und der Ästhetik der Lücke im Nô und dem Musiktheater Toshio Hosokawas. Eiichiro Hirata (Tokio) geht dem Phänomen der offizielle Lesarten konterkarierenden „Schattendramaturgien“ bei Brecht und im traditionellen japanischen Theater nach. Eun-Soo Jang (Seoul) widmet sich dem zeitgenössischen Theater nach Brecht im Doppelsinn des Wortes. Suk-Kyung Lee (Seoul) sucht Resonanzen Brechts in der Theaterarbeit von Falk Richter auf. Patrick Primavesi (Leipzig) beschreibt das wechselseitige Recycling von Brecht und René Pollesch in dessen Aneignung des Antigone-Modells.
Den Abschluss des Bands bildet der Highway-Essay „Die Straße“ von Thomas Lehmen (Berlin). Er öffnet noch einmal einen Raum des Transits, in dem die Wiederkehr Brechts in der Gegenwart geschieht.
Der Herausgeber dankt allen Beiträgerinnen und Beiträgern für ihre intensive Mitarbeit an der Idee des Recycling Brecht. Ein ganz besonderer, herzlicher Dank geht an Caroline Krämer und Helena Wölfl, die die Entstehung des Buchs von Beginn an redaktionell begleitet und engagiert vorangetrieben haben. Erik Zielke vom Verlag Theater der Zeit hat auch diesem Buch hilfreich zur Seite gestanden und es in gewohnter Weise souverän lektoriert. Dafür gebührt ihm großer Dank.
Leipzig, im Mai 2018
Günther Heeg
1Koetzle, Michael (Hg.): Bertolt Brecht beim Photographen. Porträtstudien von Konrad Reßler, Berlin 1989. Siehe auch die Umschlagabbildung des vorliegenden Buches.
2Brecht, Bertolt: [Gespräch über Klassiker], in: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (im folgenden GBA), Bd 21, S. 309–315, hier S. 311; siehe dazu auch die Texte „Materialwert“. in GBA Bd. 21, S. 285f. und „Der Materialwert“ in GBA Bd. 21, S. 288f.
3In einem „Materialwert“ überschriebenen Text spricht Brecht vom „Heraushacken von organischen Teilen aus Dichtungen“, GBA Bd. 21., S. 285.
4Brecht: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“, in: GBA Bd. 24, S. 79.
5Absicht des Epischen Theaters ist nach Walter Benjamin die „Entdeckung der Zustände“, vgl. Benjamin: [Was ist das epische Theater? (1)], in: Gesammelte Schriften Bd. II.2, S. 519–531, hier S. 522.
Günther Heeg
Brecht ist tot. Nicht nur der physische Körper, der am 14. August 1956 gestorben ist, sondern auch die „Idee Brecht“, sein geistig-praktisches Wirken unter wechselnden historischen Umständen. Ihr wird man nur gerecht, wenn man ihr keine überzeitliche Dauer zuspricht, sondern sie als historische begreift: dem Wechsel der Zeitläufe, dem sie entsprungen ist, zugleich ausgeliefert und darin wiederkehrend in veränderter Gestalt. Die Gestalt, in der die „Idee Brecht“ nach Brechts Tod auf uns zukommt, ist die des Nachlebens. Dessen Aggregatzustand ist der des Gespenstes. Das muss uns nicht betrüben. Denn gerade die gespenstische Existenz von Brechts Nach-Leben, als solche erkannt und bewusst ausgestellt, ist in der Lage, die Gegenwart in ein unvertrautes, nicht geheueres Licht zu stellen. Das gespenstische Nachleben Brechts infiziert die Gegenwart mit seiner Zwitterexistenz zwischen Leben und Tod und lässt diese selbst als gespenstisch erfahrbar werden. Ist damit aber das feststehend Wirkliche als ein Bezweifelbares und Unwirkliches in Frage gestellt, schärft sich der Sinn für die Dimension des Möglichen. Darin liegt das Potential an Zukunft, das das Brecht-Gespenst mit sich bringt.
Wie muss man sich das Brecht-Gespenst vorstellen? Substanzlos, gestaltlos, organlos vor allem. Da ist nichts, was sich organisch zur Gestalt eines Zusammenhangs fügte. Der übergeordneten Idee des Epischen Theaters etwa, in die sich alle einzelnen Theoreme und Szenen angeblich einfügen ließen und der das, was nicht passt, herausgeschnitten wird und unter den Tisch fällt. Beginnend mit Ernst Schumachers Drei-Phasen-Theorie der Entwicklung Brechts1 vom anarchischen Nihilisten über den mechanischen Materialisten und Behavioristen hin zum sozialistischen Humanisten hat es immer wieder Anstrengungen gegeben, einen substantiellen Brecht von seinem Beiwerk zu trennen. Dem wirkt das Brecht-Gespenst entgegen. Kernlos, wie es ist, führt es den ganzen Reichtum seiner poetischen Texte und alle Prunkstücke der brechtschen Theorie als einen unsortierten Theaterfundus an Kostümen, Gesten und Masken vor. Es bringt damit eine Uneigentlichkeit und mangelnde Ernsthaftigkeit (buchstäblich) ins Spiel, die Brecht selbst als geheimen Antrieb seines Schaffens geahnt hat. In diesem Sinn äußert er sich 1934 in einem Gespräch mit Walter Benjamin, von dem dieser berichtet:
Ich denke oft an ein Tribunal, vor dem ich vernommen werden würde. „Wie ist das? Ist es ihnen eigentlich ernst?“ Ich müßte dann anerkennen: ganz ernst ist es mir nicht. Ich denke ja auch zu viel an Artistisches, an das, was dem Theater zugute kommt, als daß es mir ganz ernst sein könnte. Aber wenn ich diese wichtige Frage verneint habe, so werde ich eine noch wichtigere Behauptung anschließen: daß mein Verhalten nämlich erlaubt ist.2
Brecht hält hier für erlaubt, was dem Brecht-Gespenst in unseren Tagen gefällt: Es offenbart seine ganz und gar uneigentliche, nicht substantielle3 Existenz als eine Erscheinung des Theaters. Die Theatererscheinung des Brecht-Gespensts aber ist ein zeitgemäßes Gegengift zum Dogmatismus fundamentalistischer Weltanschauungen wie zu den Doxa der gesellschaftlichen Verhältnisse, der stillschweigenden Hinnahme des Gegebenen als unveränderlich und unverrückbar. Das Theater-Gespenst des toten Brecht lädt die Gegenwart nicht vor ein Tribunal, sondern dazu ein, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Es ist gerade das SpielerischArtistische, das Unverantwortliche seiner Textmasken, die keine Botschaft und kein Heil verkünden, die Bedeutungslosigkeit seiner Gesten4 und seine ostentativ vorgestellten szenischen Maskeraden, die alles vermeintlich Eigentliche und Eigene – feste Überzeugungen, sichere Identitäten, konsistente Lebensgeschichten – als uneigentlich und fremd erscheinen lassen. Mit dem Abstand zur Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit dieser Welt des Eigentlichen und Eigenen wächst das Verlangen, sich dem Fremden zu nähern, die Angst vor dem Fremden aufs Spiel zu setzen und das vemeintlich Eigentliche und Eigene ins Spiel zu bringen. Das Theater-Spiel, zu dem das Brecht-Gespenst einlädt, ist ein privilegiertes Medium des transkulturellen Umgangs unter Fremden. Damit ist das Brecht-Gespenst auf der Höhe unserer Zeit.
Der Mangel an Ernst, der dem brechtschen Nachleben anhaftet, ruft den Unwillen all derer hervor, die mit dem Dichter Staat, Bildung und Moral machen wollen. Ihnen ist es ernst mit Brecht oder besser: Sie wollen Brecht dem Ernst einer guten und dauerhaften Sache dienstbar machen. Das erfordert, die gespenstische Existenz seines Nach-Lebens und damit seinen Tod zu leugnen und sein ungebrochenes Fortleben in der Gegenwart zu behaupten. Die Vorstellung, die das bewirken soll, ist die des Erbes. Gleich einem Besitz soll Brechts Werk von einer Generation weitergegeben und bewahrt werden – eine ununterbrochene Kette, die sein dauerhaftes Fortleben garantiert. Die Anforderung, die damit an die Träger dieser Kette, die Erben, ergeht, ist der Totenkult.
Der Totenkult (um) Brecht(s) tut dem toten Dichter keinen Gefallen. Er führt zur Versteinerung Brechts als Denkmal seiner selbst. Beispielhaft dafür ist das Brecht-Denkmal von Fritz Cremer vor dem Berliner Ensemble.5 Die getreulich von einem Meisterschüler auf den nächsten, von einer Schauspielergeneration auf die folgende weitergereichten Prinzipien seines Theaters haben ein Mausoleum geschaffen, in dem die Texte Brechts eingeschlossen und vor Gebrauch geschützt sind.
Die Wächter vor den Toren des Mausoleums sind all jene, die Brecht immer noch reduzieren auf das ABC des Epischen Theaters: auf die sogenannten großen Stücke des Exils, Mutter Courage, Leben des Galilei, Der gute Mensch von Sezuan, Der kaukasische Kreidekreis, auf den Vorrang der Fabel und ihre dialektische Bedeutungsstiftung6, auf den sozialen Gestus, auf das sprechende Bild der Szene, auf den demonstrierenden Schauspieler7 und generell auf den Primat der Vernunft gegenüber dem Gefühl, auf die soziale Verantwortung und die politische Intention dieses Theaters.
Um nicht missverstanden zu werden: All das ist auch Brecht, all diese Theoreme und Praktiken können seinen Texten entnommen werden. Aber die Entnahme und anschließende Kanonisierung der herausgenommenen Stellen übersieht das Viele, das Andere, zum Teil innerhalb des Kanonisierten selbst, das dem entschieden widerspricht, das abweicht und nicht aufgeht im Kanon oder ABC des Epischen Theaters. Dazu gehören zum Beispiel die frühen Stücke, Baal, Trommeln in der Nacht, Im Dickicht der Städte u. a., dazu gehören die Lehrstücke und das Fatzer-Fragment, die Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny und nicht zuletzt die Schattendramaturgien8, die in Stücken wie Herr Puntila und sein Knecht Matti und Leben des Galilei die eindeutige Aussage des Epischen Theaters konterkarieren.
Früh schon hat Brecht mit der Vorstellung gebrochen, man könne künstlerische Hervorbringungen einer bestimmten Zeit als kulturelles Erbe dauerhaft in Besitz nehmen. Ende der 1920er Jahre setzt er den Erbebewahrern die These vom „Materialwert“ der Werke entgegen. In einem Rundfunkgespräch mit Herbert Ihering, dem großen Theaterkritiker der Weimarer Republik, das von dessen Buch Reinhardt, Jessner, Piscator, oder Klassikertod?9 ausgeht, stellt Brecht fest:
Der Besitzfimmel hinderte den Vorstoß zum Materialwert der Klassiker, der doch dazu hätte dienen können, die Klassiker noch einmal nutzbar zu machen, der aber immer verhindert wurde, weil man fürchtete, daß durch ihn die Klassiker vernichtet werden sollten10.
Auf dem „Materialwert“ von Kunst zu insistieren, heißt sich verabschieden von der Idee der Geschlossenheit und Ganzheit der Werke. Zu fragen ist stattdessen nach der Brauchbarkeit einzelner künstlerischer Praktiken. Brecht rät, einzelne Teile eines Werks bedenkenlos „herauszuhacken“ aus dem Ganzen.
Das Stück ‚Wallenstein‘ zum Beispiel enthält neben seiner Brauchbarkeit für Museumszwecke auch noch einen gar nicht geringen Materialwert; die historische Handlung ist nicht übel eingeteilt, der Text auf ganze Strecken hinaus, richtig zusammengestrichen und mit anderem Sinn versehen, schließlich verwendbar.11
Was Brecht hier in schnoddrigem Ton vorschlägt, ist eine theoretisch weitreichende Praxis des Recyclings historischer Artefakte und Kulturobjekte. Sie trägt dem prinzipiellen Bruch Rechnung, der uns von jeder Vergangenheit trennt, und pointiert die Verfallszeit der Werke. Denn damit der Materialwert eines Werks sich zeigen kann, muss alles, was man geistige Durchdringung und Beseelung nennt, zuvor abgestorben sein. Wie kaum ein anderer ist Brecht ein Autor, der die Vergänglichkeit als Ingredienz menschlicher Existenz und des eigenen Schaffens bedenkt. „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie / Hindurchging, der Wind! / […] Wir wissen, daß wir Vorläufige sind / Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes“ heißt es im Gedicht Vom armen B. B.12 Und in der Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, dem Katechismus des endlichen Lebens für Städtebewohner, singt der Chor der Männer:
Unter unseren Städten sind Gossen
In ihnen ist nichts, und über ihnen ist Rauch.
Wir sind noch drin. Wir haben nichts genossen.
Wir vergehen rasch. Und langsam vergehen sie auch.13
Selbst in das Konzept der Verfremdung, Herzstück von Brechts Theatertheorie und -praxis, geht das Vergehen ein. „Verfremden“, so Brecht, „heißt also Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darzustellen“ (Hervorhebung – GH).14 In Brechts Idee des Historisierens ist die Vorstellung von historischer Zeit als einer Zeit der Vergängnis eingelassen.
Ist die Vergänglichkeit und das Vergangensein der Werke die Voraussetzung des Recyclings, folgt daraus: Nur als Bruchstücke und Überreste gehen die Werke von einst in den Akt ihrer Wiederholung und Aneignung in der Gegenwart ein. Recycelt werden nicht Werke, die ihre ununterbrochene Präsenz behaupten, sondern Zitate und Gesten15 (auch wenn sie das Ausmaß von ganzen Stücken annehmen). Beide sind herausgebrochen aus dem Zusammenhang, in dem sie einst standen, beide sind Agenten des Nachlebens. Als Zitate und Gesten aber verweisen sie auf den Sinnzusammenhang, in dem sie einst standen: die Fabel. Die Fabel ist für den späten Brecht die Garantin einer widerspruchsreichen, gleichwohl sinngebenden historischen Erzählung als Instrument in der kulturellen und politischen Auseinandersetzung der Zeit. So heißt es im Prolog zu Brechts Bearbeitung von Lenz’ Der Hofmeister, die Fabel zusammenfassend: „Will’s euch verraten, was ich lehre: / Das ABC der Teutschen Misere!“16 Brechts spätes, dem Lagerdenken zwischen Ost und West geschuldetes Insistieren auf der Fabel17 übersieht, dass die einzelnen Teile, Szenen, Kommentare, Songs und Gedichte in seinen Stücken stets einen Eigensinn entfalten, der sich der Synthese einer konsistenten Erzählung verweigert und über sie hinausgeht. Die Vergänglichkeit der Werke, die sich in ihrem Nachleben zeigt, befreit die Einzelteile von den theologischen Schlacken, die dem „fabelhaften“18 Epischen Theater anhängen und bewahrt zugleich den Anspruch des Vormaligen, ein sinnvolles Ganzes zu sein. So sind die Zitate und Gesten, die aus der Vergangenheit auf uns zukommen, gezeichnet von den Spuren historischer wie künftiger Zeit.
Befreit vom Systemzwang und dem Anspruch auf dauerhafte Sinnstiftung, können sich die gestischen Zitate frei bewegen und begegnen. Gestische Zitate, die in Konstellationen treten und Verbindungen eingehen, sind der Zweck des Recyclings. Die Bruchstücke und Überreste des Brecht-Gespensts können so Koalitionen bilden auf Zeit, sie verlassen und an anderen Orten wieder auftauchen. Baal trifft den jungen Genossen aus der Maßnahme, Mahagonny meets Mutter Courage, Galilei liest die Hauspostille, Tragödie trifft auf Lehrstück, der gute Mensch von Sezuan hat einen Vetter: Mann ist Mann usw. Was hier an den Arbeiten Brechts vorgeführt wurde, gilt natürlich auch für die intertextuellen Verbindungen mit anderen Autoren, den berühmt-berüchtigten „Fremdtexten“, die, in Inszenierungen von Brechts Stücken eingefügt, gegenwärtig noch zum Verbot von Aufführungen führen können. Der Rekurs auf den Materialwert Brechts und das Verfahren des Recyclings zielen auf eine andere Vorstellung vom Nachleben Brechts. Er hat den Vorteil, dass sie sich auf Brechts eigene Praxis berufen kann. Sie zu verbreiten, tut Not, auch und gerade vor dem 1. Januar 2027, dem Tag, an dem Brechts Arbeiten „frei“ sein werden.
Eine anschauliche Vorstellung vom Nachleben Brechts gibt die japanische Theatergruppe Chiten, die von dem Regisseur Motoi Miura geleitet wird. In ihrer Produktion Brechtseller, die im September 2016 am Theater Underthrow in Kyoto Premiere hatte, zeigen sie einen exemplarischen Umgang mit dem Materialwert Brechts. Sechs Stühle stehen auf der Bühne, die Sitzfläche fehlt. Im Hintergrund die Rückseite eines Klaviers, es könnte auch eine Anrichte oder ein Altar sein. Ein breites viereckiges Tuch – es mutet wie eine Vereinsfahne aus dem 19. Jahrhundert an – wird wie ein Stück Vorhang von links nach rechts über die Bühne getragen: Die Brechtgardine, an die der Vorgang erinnert, hat Patina angesetzt. Die Akteure nehmen auf den Stühlen Platz und fallen durch. Schreck lass nach! Die erste mimische Geste eines jeden ist ein buchstäbliches Zeichen des Ent-setztseins. Es ist der Grundakkord des Abends: der Schrecken, der nach Brecht zum Erkennen nötig ist, der oft übersehene Nullpunkt des gestischen Theaters.
Dann werden Brecht-Zitate aus einzelnen Stücken vorgetragen. Es beginnt mit den humanistischen Phrasen der Götter aus Der gute Mensch von Sezuan und dem Eiapopeia der Schwarzen Strohhüte, der Heilsarmee der Heiligen Johanna der Schlachthöfe: „Ei wie süß ist Gottes Wort“. Allmählich gleiten die Texte über zu Mahagonny und Baal, zur nackten Realität des Überlebenskampfs, zum Lob der materiellen Genüsse und weiteren Themen, Motiven und Stücken Brechts. Dabei zeigt sich der Doppelsinn des Titels „Brechtseller“: Was oberflächlich nach einem „Best of Brecht“ klingt, offenbart beim genauen Zuhören die ganze Vielfalt der Diskurse bei Brecht jenseits ihrer Einhegung durch Rolle und Fabel. In einer vollkommen a-ideologischen Sprache entfaltet sich ein Spiel gestischer Sprachmasken, hinter denen sich kein eigentliches Gesicht des Autors Brecht verbirgt.
Eine weitere Bedeutung des Titels „Brechtseller“ drängt sich auf: Quer durch die Diskurse zieht sich die Existenzweise des Kaufens und Sichverkaufens (Sichverkaufenmüssens). Unhintergehbar ist die Unbeständigkeit der Zirkulationssphäre, der die haltlosen Existenzen ausgesetzt sind. Aus der Existenzerfahrung kommt das gestische Spiel der Akteure. Die da spielen, haben keine Zeit für Handlung, Rolle und den Zusammenhang einer Fabel. Sie stoßen die Texte unmittelbar aus, schreien sie heraus, sodass die Körper, entblößt vom Schutz der Rolle, mitgehen und sich zeigen. Es sind zweifache Körper, die sich auf diese Weise ausstellen: die Körper der Akteure und die Sprachkörper. Beide sind von der Unterbrechung der Handlung, der Aussetzung der synthetisierenden Bedeutung geformt: korporale Sprachgesten. Die korporalen Sprachgesten der Akteure von Chiten zeigen nicht auf etwas, um uns zu belehren, sie zeigen zuvörderst sich: Sie setzen sich aus. Aussetzung ist der Zustand, in dem die Werke Brechts um ihr und unser Überleben in der Gegenwart ringen. Gleich denen, die nach dem Untergang von Schiff und Heimat auf einem Floß oder Boot ausgesetzt sind, kämpfen die Bruchstücke und Überreste von Brechts Œuvre ums Überleben. Es gelingt nur in der Form der Aussetzung des Ganzen, in der gespenstischen Gestalt der literarischen und korporalen Sprachgesten. In ihnen ist die Möglichkeit des Überlebens von und mit Brecht angelegt.
Chiten: Brechtseller in der Inszenierung von Motoi Miura, Theater Underthrow in Kyoto, 2016. Foto: Hisaki Matsumodo
Chiten: Brechtseller in der Inszenierung von Motoi Miura, Theater Underthrow in Kyoto, 2016. Foto: Hisaki Matsumodo
Das Überleben Brechts, das Zukunft enthält, ist ein Überleben im Werden. Es ist im Werden durch das Recycling der Bruchstücke seiner Werke. Die literarischen und korporalen Gesten erzeugen einen gespenstischen Raum, in dem sich die Geister aller Materialien und Überreste Brechts treffen, die nicht zur Ruhe kommen. So entsteht eine virtuelle Raum-Zeit mit einer Fülle von Konstellationen zwischen einst und jetzt. Eine dynamisch-bewegte Sphäre zwischen Zeiten und Räumen, die keine kulturellen Grenzen kennt. Ein offener transkultureller Raum der Begeisterung und der Inspiration.
Die Formen und Möglichkeiten des Überlebens von und mit Brecht – Unernst, Gespensterhaftigkeit, Aussetzung und „Begnügung mit der Geste“19 – öffnen den Blick auf gegenwärtige politische und ästhetische Herausforderungen, für die eine erneute Befassung mit Brecht zukunftsverheißend ist. Dazu gehört zum einen Brechts lebenslange Thematisierung des Fremden und eine daraus sich entwickelnde Arbeit an der Idee eines Transkulturellen Theaters. Und zum anderen gehört dazu Brechts Auseinandersetzung mit der Oper und die Vorstellung eines Theaters der exponierten Affekte als Medium einer zukünftigen transkulturellen Gemeinschaft. Die beiden Perspektiven ergänzen einander.
Viele stellen sich gegenwärtig die Frage, wie wir in einem Zeitalter der Globalisierung zusammenleben können, ohne aus dem Projekt der Moderne auszusteigen und unser Heil in Wunsch- und Trugbildern vormaliger Ordnungen zu suchen. Ordnungen, die vermeintlich ethnisch „rein“ und kulturell homogen sind. Ordnungen, die klar als die eigenen zu erkennen sind, die deshalb scharf geschnittene Identitäten ermöglichen, Identitäten, die auf der Abgrenzung gegenüber dem Fremden und auf seinem Ausschluss beruhen. Solche Ordnungen hat es nie gegeben, sie entfalten aber als Phantasmen eine gewaltige, gewalttätige Wirkung. Der Rekurs auf das christliche Abendland ist solch ein Phantasma, aber auch das wiedererstarkte Beharren auf der Nationalkultur, verstanden als Leitkultur. Dass solche Phantasmen fundamentaler, fundamentalistischer Ordnungen in der Gegenwart wieder wirkmächtig werden, hat nichts mit einem Rückfall in frühere, vermeintlich bessere Zeiten zu tun, sondern hat seinen Grund in den Auswirkungen der Globalisierung selbst. Kulturelle Hybridisierung und soziale und ökonomische Prekarisierung sind vielerorts Folgen der Globalisierung. Sie führen zu Unsicherheit, Desorientierung und dem Gefühl vollkommener Haltlosigkeit. Aus ihnen nährt sich der Wunsch nach einem Zurück in die Geborgenheit fundamentalistischer Gemeinschaften. Fundamentalistische Bewegungen sind Reaktionsbildungen auf die Prozesse der Globalisierung.
Brecht hat die Dynamik von ungebremster sozialer Entfesselung und der Sehnsucht nach festem Halt und Ordnung gesehen. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs legt er die Positionen in Leben des Galilei dar und auseinander. Lange Zeit wurden die unterschiedlichen Standpunkte von Vertretern der Kirche und von Galilei und seinen Getreuen vorschnell ideologisch bewertet. Erstere waren die Reaktionäre und deren Äußerungen daher zu verurteilen, mit Galilei und den Seinen dagegen zog die neue Zeit ein. Diese oberflächliche Konstruktion der Fabel, die durch eine virulente Schattendramaturgie der Tragödie konterkariert wird, hat der Regisseur Michael von zur Mühlen in seiner Inszenierung von Leben des Galilei am Theater Göttingen 201420 aufgegeben. Seine Inszenierung kennt keine Rollen mehr, sondern teilt die Texte unter einer Gruppe von Spielern rollenunspezifisch auf. Der Effekt ist überwältigend. Befreit von der Rolle und ihrer Bewertung hört man die Texte wie zum ersten Mal. Vor allem aber: Man hat Mühe, sie einzelnen politischen Positionen zuzuordnen. So erhalten alle gleiche Aufmerksamkeit und gleiches Gewicht. Das gilt vor allem für drei Schlüsseltexte aus Leben des Galilei: Galileis Erklärung des kopernikanischen Weltbilds für Andrea, die Rede des sehr alten Kardinals und die Rede des kleinen Mönchs. Alle drei umreißen genau die Herausforderung einer neuen Zeit, die wir als Globalisierung bezeichnen können.
Die große Auftrittsarie des Galilei, in der er Andrea die Auswirkungen des neuen kopernikanischen Weltbilds auf die Verkehrsformen der Menschen und die soziale Ordnung erklärt, gipfelt in dem Satz:
Es hat immer geheißen, die Gestirne sind an einem kristallenen Gewölbe angeheftet, daß sie nicht herunterfallen können. Jetzt haben wir Mut gefasst und lassen sie im Freien schweben, ohne Halt, und sie sind in großer Fahrt, gleich uns, ohne Halt und in großer Fahrt.21
Die Haltlosigkeit, von der hier die Rede ist, betrachtet Galilei als Befreiung aus der hierarchisch-autoritären Ordnung des ptolemäischen Weltbilds und seines sozialen Pendants. Anders sieht es der kleine Mönch, dessen Position Brecht gleichfalls Raum gibt:
Ich bin als Sohn von Bauern in der Campagna aufgewachsen. Es sind einfache Leute. Sie wissen alles über den Ölbaum, aber sonst recht wenig. […] Es geht ihnen nicht gut, aber selbst in ihrem Unglück liegt eine gewisse Ordnung verborgen. […] Es ist ihnen versichert worden, daß das Auge der Gottheit auf ihnen liegt, forschend, ja beinahe angstvoll, daß das ganze Welttheater um sie aufgebaut ist, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können. Was würden sie sagen, wenn sie von mir erführen, daß sie sich auf einem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhörlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestirn bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender.22
Brecht kennt den Sog zurück in die Geborgenheit des ptolemäischen Weltbilds. Dessen Glücksversprechen formuliert in Leben des Galilei der sehr alte Kardinal:
Ich bin nicht irgendein Wesen auf irgendeinem Gestirnchen, das für kurze Zeit hierhin und dahin rollt. Ich gehe auf der Erde, und die Erde ist fest unter meinen Füßen, und die Erde bewegt sich nicht, und die Erde ist der Mittelpunkt des Alls, und ich bin der Mittelpunkt der Erde, und das Auge des Schöpfers ruht auf mir. Um mich kreisen, fixiert an acht kristallenen Schalen, das kleinere Licht der Sterne und das große Licht der Sonne, geschaffen mich zu beleuchten, damit Gott mich sieht – den Menschen, die größte Anstrengung Gottes, das Geschöpf im Zentrum, geschaffen nach seinem Bilde, unvergänglich23.
Brecht kombiniert das ptolemäische Weltbild mit der Metapher des Theatrum mundi zum ptolemäischen Welttheater. Das ptolemäische Welttheater bedient perfekt die alte Theatersehnsucht: Im Mittelpunkt stehen und die Hauptrolle spielen! Das ist weiß Gott verlockend, verlockender jedenfalls als die Zufälligkeit und Überflüssigkeit eines Daseins im leeren Raum umherkreiselnder Steinklumpen. Die Vorstellung ist schwer auszuhalten. Brecht weiß aber, dass ein Dasein Like a Rolling Stone24, wie es bei Bob Dylan heißt, nicht rückgängig zu machen ist. Er geht von der Erfahrung aus, dass kein Ursprüngliches existiert, das Halt geben könnte, und dass die Kette der kulturellen Traditionen, die eine Gemeinschaft der Lebenden und Toten zusammenhält, gerissen ist und deren einzelne Bestandteile ohne den phantasmatischen Rahmen einer bestimmten Kultur frei fließen.
Brecht hat die Vorstellung geschlossener, gegeneinander abgrenzbarer Kulturen, wie sie noch die Vorstellung des Interkulturalismus ausmacht, aufgegeben. Für ihn sind Kulturen im „Unterwegs“, gelöst von Ursprung und Tradition. Entfernt von ihrem Ursprungsort, freiwillig oder ins Exil getrieben wie Laotse und Brecht, existieren sie nur noch in Teilen: als Gedanken und Überlegungen, Gedichtzeilen, Bilder und Melodien, einzelne rituelle Verrichtungen und Haltungen. Verloren ist der Zusammenhang, das symbolische Universum der einen Kultur, in dem sie, außer im Phantasma geschlossener Kulturen, nie gestanden haben.
„Ohne Halt und in großer Fahrt“ zu sein, ist eine Grunderfahrung Brechts – nicht nur gezwungenermaßen in der 15 Jahre dauernden Zeit des Exils, „öfter als die Schuhe die Länder wechselnd“, wie es im Gedicht An die Nachgeborenen25 heißt, sondern vor allem freiwillig in seiner gesamten lebenspraktischen, philosophischen und künstlerischen Auseinandersetzung mit kultureller Fremdheit. Immer geht es Brecht darum, die eigenen Sitten und Gepflogenheiten in fremdem Licht erscheinen zu lassen. Fremdes sucht Brecht dabei nicht in fernen Ländern und exotischen Kulturen, sondern im Inneren der vermeintlich eigenen Kultur. Das alltäglich Vertraute und Haltgebende aus der Perspektive des Fremden zu betrachten, sind Ziel und Haltung des V-Effekts. Es handelt sich dabei nicht um eine bloße Theatertechnik. Es geht vielmehr um eine Praxis des In-der-Welt-Seins. Deren Motto könnte lauten: Ohne Halt leben. Ohne Halt zusammenleben als Fremde unter Fremden. Das ist in nuce das Programm eines Transkulturellen Theaters.
Wie kaum ein anderer vor ihm – Diderot vielleicht ausgenommen – hat Brecht über Theater überhaupt und sein Theater in der Rede eines Fremden gesprochen. Die Künste der Malerei, des Romans, der Fotografie und des Films werden ihm zu Medien, mittels derer er sich über die eigene Kunst des Theaters verständigt. Wodurch ist dem jungen Brecht die Idee des V-Effekts aufgegangen? Brecht hat ihn in einem Jahrmarktsgemälde gefunden, zu dem uns nur noch dessen Vorlage, das Historienbild Karls des Kühnen Flucht nach der Schlacht bei Murten überliefert ist. Woher nimmt Brecht die Technik der Montage? Bekanntermaßen vom Film, präziser: von Eisenstein. Und den Grundgestus? Vom malerischen Konzept des Tableaus bei Diderot. Und so fort. Was ist der Grund dieser Beziehung zum fremden Medium? Es ist, denke ich, ein doppelter: Zum einen lösen die Verfahren der anderen Künste offensichtlich eine Resonanz im Eigenen bei dem Stückeschreiber aus, die ihn anregt, die Grenzen des eigenen Mediums zu überschreiten. Brecht, so meine These, arbeitet grundsätzlich transmedial. Für ihn sind die Malerei, der Film, die Oper nicht fremde Künste, die außerhalb des Mediums Theater stehen, sondern sie markieren das Fremde im vermeintlich Eigenen selbst. Zum anderen aber bleibt das andere Medium doch unerreichbar fremd. Was Brecht zum Beispiel an Breughel oder Eisenstein beschreibt, lässt sich nicht eins zu eins im Theater umsetzen. Wäre dem nicht so, könnte Brecht Verfremdung, Montage und Grundgestus strikt in Termini des Theaters abhandeln. Das tut er gelegentlich. Dann aber fehlt der Abstand des unerreichbaren, grundsätzlich Fremden, der uns ein mögliches Anderes erfahren lässt jenseits dessen, was ist, weil man es offensichtlich hört und sieht. Brechts Theaterarbeit braucht den „Stachel des Fremden“26, von dem Bernhard Waldenfels spricht. Sein zukunftsweisendes Verfahren ist es, sich in seiner eigenen Theaterarbeit im Fremden zu bewegen und sich dessen Herausforderungen zu stellen. Zukunftsweisend ist es damit nicht nur als künstlerisches Vorgehen. An ihm zeigt sich ein grundsätzlicher Umgang mit dem Fremden, den Adorno, in Beziehung auf Joseph von Eichendorffs gleichnamiges Gedicht, mit der Vorstellung einer „Schöne(n) Fremde“ verbunden hat. Die Konstellation von Eigenem und Fremden einer solchen „Schöne(n) Fremde“ hat Adorno als „versöhnten (gesellschaftlichen) Zustand“ verstanden. Ein solcher Zustand, so Adorno, „annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen“. Die von Adorno beschriebene Überkreuzung von Nähe und Ferne, Resonanz und Stachel, Eigenem und Fremden zeichnet Brechts transmediale Praxis aus.
Brechts Äußerungen zur Oper sind vernichtend. In einer Notiz kurz vor der Aufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, bekanntermaßen eine Oper, hält er fest, dass es sich nicht lohne, gegen die Oper als Kunstgattung und „die Klasse, die hier genießt“, überhaupt noch „einen Schlag zu führen“. Was dieses (falsche) Genießen – Brecht ist nicht gegen das Genießen generell, im Gegenteil – in der Oper ausmacht, darüber gibt eine kleine Szene Auskunft, die sich in dem späten Stück Die Tage der Commune findet: „Frankfurt. Oper, während einer Aufführung von ‚Norma‘. Aus einer Logentür treten Bismarck in Kürassieruniform und Jules Favre in Zivil.“27 Im Folgenden entwickelt sich ein Kuhhandel zwischen Bismarck, dessen Truppen Frankreich gerade niedergeworfen und besiegt haben, und dem französischen Ministerpräsidenten, der den Sieger servil um unauffällige Unterstützung im Kampf gegen die aufständische Commune bittet. Bismarck, der ihm die Bedingungen dafür diktiert, kann dabei seine Ohren nicht abwenden vom Gesang der sterbenden Norma, der Hohepriesterin des von den Römern unterworfenen Galliens.
Bismarck: Horcht auf Musik, die herausdringt, weil er die Logentür aufgelassen hat. Kolossal, die Altmann! Auch als Frauenzimmer, stramme Person. Na […] ihr seid mir ja komische Käuze. Waffenhilfe schlagt ihr schamhaft ab, aber eure Gefangenen sollen wir freigeben, hintenrum. Weiß ja, weiß ja, es soll nicht mit Hilfe einer fremden Regierung geschehen sein. Nach der Melodie „Ach Theodor, du alter Bock, greif mir nicht vor den Leuten untern Rock“, wie? Horcht wieder auf die Musik. Jetzt stirbt se, epochal.28
Die Figur Bismarck führt exemplarisch vor, was für Brecht das falsche Genießen in der Oper ausmacht. Der Tod der Norma, der die Unterwerfung Frankreichs und den Tod der Commune symbolisch doppelt, bereitet dem preußischen Ministerpräsidenten höchste Lust: „Jetzt stirbt se, epochal.“ Die äußerst affektive Grenzsituation verhilft dem Opernbesucher in Kürassieruniform zu machtvoller Leidenschaft, ohne dass sie Leiden schafft.
Die Institution Oper, das „Kraftwerk der Gefühle“29, wie Alexander Kluge es genannt hat, versorgt im bürgerlichen Zeitalter dessen Protagonisten mit den Leidenschaften, die ihnen im bürgerlichen Alltag abhandengekommen sind. In der Rechenhaftigkeit des bürgerlichen Geschäftslebens stellen Aida, Madama Butterfly, Norma, Senta und ihre Leidensgenossinnen die emotionale Grundversorgung sicher, ohne die der Antrieb fehlt, die Geschäfte tagaus, tagein zu führen. Die Oper, das geht aus ihrem Widerspruch zum bürgerlichen Alltag hervor, ist hoffnungslos anachronistisch. Ihre Heldinnen mit ihren Leidenschaften finden darin keinen Platz mehr. Sie sind nur mehr Gespenster. Ihnen begegnet der bürgerliche Opernbesucher seinerseits in der Gestalt eines Untoten, eines Vampirs: Er saugt ihnen die Leidenschaften aus, um selbst wenigstens für einen Moment das Untote des bürgerlichen Alltags abzustreifen und leidenschaftliche Gestalt anzunehmen. Dieses Verhältnis zur Oper nennt Brecht kulinarisch. Der kulinarische Opernbesucher schert sich nicht um Libretto und Dramaturgie der Oper. Ihm sind die detaillierten und widerspruchsvollen Geschichten der Handelnden gleichgültig. Er nährt sich allein von der Leidenschaft eines Goldkehlchens, das für ihn leidet und stirbt. „Jetzt stirbt se, epochal.“
Brechts Kritik der kulinarischen Oper ist aktueller denn je in einer Zeit, die zunehmend von der kommerziellen Eventisierung des Musiktheaters geprägt ist. Für Brecht aber, den Kritiker der kulinarischen Oper, ist die Oper zugleich ein Faszinosum, das er der Kulinarik des falschen Genießens entreißen will. An der Oper erprobt Brecht das Modell eines Theaters der exponierten Affekte. Ausgestellt sind darin die Gefühle, die sich der Unterbrechung und Aussetzung verdanken. Gefühle, die nicht die der Akteure und der Zuschauer sind, sondern die sich, als Ausgesetzte, zwischen Subjekten und Gegenständen frei bewegen, aber die Zuschauer wie Akteure angehen, sie heimsuchen und ihr Leben beeinflussen und bestimmen. Die Ausstellung dieser lebensbestimmenden Affekte in einem anderen „Kraftwerk der Gefühle“ ist der Impetus von Brechts Befassung mit der Oper. Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Die Dreigroschenoper, Das Verhör des Lukullus und eine Reihe von Opernprojekten sind das Resultat dieser intensiven Befassung, die bei Brechts Arbeiten zum Musiktheater nicht Halt machen. Man kann einen Schritt weitergehen und sagen: Die Oper ist das Modell für Brechts Theater. Denn von der Oper, der barocken Opera seria, hat Brecht das Prinzip der Unterbrechung der Handlung durch die Arie übernommen. Wie in der Barockarie die Handlung sich in der Auslegung eines dem Geschehen zu Grunde liegenden Gefühlszustands verdichtet und vertieft, so arbeitet Brecht an einem Theater der Zustände, die die vermeintliche Notwendigkeit und Atemlosigkeit einer fortlaufenden Handlung unterbrechen. „Denn wie man sich bettet, so liegt man“30 – das ist der Lauf der Welt und die dabei auf der Strecke bleiben, sieht man nicht. Im Zustand, der Aussetzung der Handlung, die Brechts Theater anstrebt, sehen wir dagegen den Lauf der Welt mit fremden Augen. Fremde Augen, die uns anblicken und die uns, so erblickt, selbst in die Lage von Fremden versetzen. In den Arien, den Songs, den Liedern und Gedichten, die die Handlung bei Brecht unterbrechen, trifft uns die Erfahrung, dass das, was geschieht, nicht natürlich und selbstverständlich ist, sondern zutiefst fremd, mit emotionaler Wucht. „Nur die Nacht / Darf nicht aufhören / Nur der Tag / Darf nicht sein“, der Schrei des Jim Mahoney vor seiner Hinrichtung in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny31 lässt uns mit einem Mal erfahren, dass eine Welt, in der einem vor dem Morgen graut und die Gefühlswerte von Tag und Nacht sich in ihr Gegenteil verkehrt haben, falsch eingerichtet ist und der Änderung bedarf. Das Fremdwerden dessen, was täglich geschieht, das Fremdwerden unserer Hinnahme dieses Geschehens und die Erfahrung der Änderungsbedürftigkeit des Weltzustands durch die ebenso reflektierte wie affektiv aufgeladene Komposition und Ausstellung von szenischen Zuständen – das ist in nuce Brechts Programm eines Theaters als ein anderes „Kraftwerk der Gefühle“, einer Alternative zur kulinarischen Oper.
Die Musiktheaterarbeit des Regisseurs Peter Konwitschny steht ganz im Horizont von Brechts Idee eines Theaters der exponierten affektiven Zustände. Eine Szene aus Konwitschnys Inszenierung der Oper Medea von Luigi Cherubini mag das verdeutlichen.32 Zu Beginn des dritten Akts sitzt Medea vor dem geschlossenen Vorhang, einer sehnsuchtbesetzten Meerlandschaft, auf der Spitze eines felsigen Dreiecks, das ins Proszenium ragt. Sie sitzt und kaut einen Apfel. Nichts weiter. Nur das Vorspiel zum dritten Akt, ein gewaltiges musikalisches Gewitter, entlädt sich über der Szene. Und Medea kaut den Apfel. Die Diskrepanz zwischen ihrer äußeren Ruhe und dem Sturm des Orchesters, der mit dem in ihrem Inneren korrespondiert, ohne ihn zu illustrieren, ist kaum auszuhalten. Denn sie konfrontiert uns mit einer Fülle von Überlegungen und widerstreitenden Gefühlen zu dem, was kommt, dem Kindermord. Sie sind nicht auf eine Linie, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wer erwartet hat, dass er nun erfährt, was er zu denken und zu fühlen hat, dem wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Das ist der Sinn des musiktheatralen Zustands: Er setzt uns der Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Fremdheit der äußeren und unserer inneren Welt aus und fordert uns auf, sie anzunehmen und mit ihnen zu leben. In einer Zeit, in der allerorten einfache Lösungen für komplexe Zusammenhänge angeboten werden, die den Status quo festschreiben oder dahinter zurückfallen wollen – Fremde raus! –, ist das Lebenlernen, das Lebenkönnen mit Vieldeutigkeit, Differenz und Fremdheit ein erstes Ändern dessen, was ist.
Wenn sich der Vorhang im dritten Akt von Cherubinis Medea nach dem Gewittersturm hebt, zeigt sich das Felsstück, auf dem Medea gesessen hat, als Teil einer Insel in einem Meer von Plastikmüll, der unsere Ozeane verstopft. Wenn der Vorhang am Ende fällt, liegen die Leichen von Medea und den Kindern am Strand, die Leichen jener Geflüchteten, die keine Aufnahme in Korinth gefunden haben – oder (heutzutage) in Lesbos oder an einem anderen Strand. Unaufdringlich, aber treffend verbindet Peter Konwitschny so die alte Geschichte mit unserer Zeit, ohne einfach gleichzusetzen. Vielmehr schafft er einen musiktheatralen Zustand der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Zeiten, einen leidenschaftlich bewegten Zustand, in dem sich Fragen stellen, die auf eine zukünftige Antwort warten und der deshalb offen für Zukunft ist. In der Herstellung solcher Zustände setzt sich Brechts Idee eines Theaters der exponierten Affekte, eines anderen „Kraftwerks der Gefühle“ fort.
Baal, eines der frühesten Stücke Brechts, ist keines fürs Theater. Jedenfalls nicht für die an Drama, Figur und Rolle orientierten deutschen Stadttheater. Denn in Baal gibt es keine konsistente Handlung und Figuren, sondern nur die Exposition von Zuständen. Die Ausstellung von Zuständen ist nach Walter Benjamins Wort das Ziel des Epischen Theaters. In Baal, besonders in der ersten Fassung von 1919, sind die Szenen weit eher Zustandsbeschreibungen als durch die Handlung strukturiert. Es sind poetische Texte, voll von Lyrik und Lyrismen. Vieles trifft darin aufeinander: François Villon, Arthur Rimbaud und die Naturhymnik Walt Whitmans. Aber auch das Antipathos im Unterschied zu dem Stück Der Einsame von Hanns Johst, dem späteren Nationalsozialisten und Präsidenten der Reichsschrifttumskammer,33 das der Auslöser für den Baal gewesen sein soll. Es sind intensive, buchstäblich verdichtete poetische Zustände, die in Baal vorgestellt werden. In Parenthese gesagt: Das gilt für Brechts Stücke insgesamt. Viel zu wenig beachtet ist vielerorts, dass es sich bei Brechts Stücken in erster Linie um poetische Texte handelt, die stärker, widersprüchlicher und unauslotbarer sind, als es die Konstruktion von Fabel und Parabel zulässt. Baal steht hier paradigmatisch für das umfassend Poetische der Texte Brechts, weil das Stück frei ist von den späteren Maßgaben des Epischen Theaters, besonders denen von Primat der Fabel und sozialem Gestus. Um die poetischen Zustände in Baal erfahrbar zu machen in ihrer Vielschichtigkeit, Rhythmik und Schönheit bedarf es Schauspieler, die diese Texte sprechen können. Die sich verlassen auf die Texte und ihnen einen Raum geben. Die sich freimachen von der Rolle und die Maske der Scham ablegen, die die Rolle ist. Die sich zeigen, anstatt nur auf etwas zu zeigen. Kurz: Es braucht Schauspielerinnen und Schauspieler, die bereit sind, etwas zu wagen, wenn Baal aufgeführt werden soll.
Frank Castorf arbeitet mit solchen Schauspielerinnen und Schauspieler. Umso skandalöser und bedauerlicher ist es, dass diese Arbeit, die beispielhaft ist für ein zeitgemäßes Recycling Brechts, nach wenigen Aufführungen durch die Brechterben und ihre Sachwalter im Suhrkamp Verlag wegen der „Kontamination“ des Werks mit dem Fremden in Gestalt von sogenannten Fremdtexten verboten worden ist. Das ist eine Aktion, die Brecht zum zweiten Mal tötet und einsperrt ins Mausoleum.
Es ist eine Aktion, die Brechts eigenen Intentionen und seiner Praxis vollkommen zuwiderläuft. Denn Castorf macht nichts anderes, als dass er die Materialwerttheorie Brechts auf Brecht selbst anwendet. Das heißt zunächst einmal, dass er die Texte von Baal in ihrer poetischen Materialität ernst nimmt, dass er und die Schauspieler Haltungen, Gefühle, Stimmungen und Mentalitäten aus dem Duktus und der Körperlichkeit von Brechts Sprache zu erspüren versuchen, indem sie den Texten nachlauschen, die sie gesprächsweise vortragen. Die Psychologie der Figuren und deren Beziehungen untereinander treten demgegenüber zurück. Man kann sagen, die Figuren des Stücks werden geöffnet durch den Materialwert der Texte, der Texte von Brecht und der der anderen Autoren – u. a. Rimbaud, Frantz Fanon und Heiner Müller. Der Rhythmus und Duktus, der Klang der Texte im Sprechen der Akteure entfalten einen Drive und Drang, der das Sprechen immer weiter treibt durch die Figuren hindurch und über sie hinaus.
Baal mit Hong Mei in der Inszenierung von Frank Castorf, Residenztheater München, 2015. Foto: Thomas Aurin
Verfremdung ist die zweite Brecht-Operation, die Castorf an Baal wahrnimmt. „Verfremden“ aber „heißt historisieren“34. Castorf verfremdet, d. h., er historisiert den Baal, indem er ihn in die Zeit des Indochina- und Vietnamkriegs der 1950er und -60er Jahre versetzt. Das läuft nicht auf eine modische Aktualisierung hinaus, nach dem Motto: Baal bedeutet Krieg. Es handelt sich vielmehr um ein sehr genaues und sorgfältiges Ausloten der Affinitäten und Korrespondenzen, die durch die Versetzung erkennbar werden. Die Versetzung ist eine wechselseitige. Nicht nur finden sich die Baal