Reise durch die Stadt der Engel - Torsten Meyer - E-Book

Reise durch die Stadt der Engel E-Book

Torsten Meyer

4,9

Beschreibung

Ein Buch für jeden, der schon einmal in Los Angeles war, sich mit dem Gedanken trägt, dorthin zu reisen, oder sich einfach nur für die kalifornische Metropole und ihre Geschichte interessiert. Man kann etwas über die 1781 erfolgte Gründung des Pueblo de la Reina de los Ángeles im Auftrag des spanischen Königs lesen, über die mexikanische Zeit der noch recht provinziellen Kleinstadt und die erzwungene Abtretung an die USA im Jahr 1848. Die amerikanische Ära bescherte Los Angeles ausufernde Kriminalität und Rassismus. Später wandelte sich die Region von einem landwirtschaftlich geprägten Gebiet in einen völlig zersiedelten Ballungsraum. Die Versorgung der rapide wachsenden Bevölkerung führte zu den „Wasserkriegen“ und der Verwüstung einer vormals idyllischen Bergregion. Das Buch informiert über die Anfänge von Santa Monica und Venice, über die Zeit der berühmten Vergnügungsparks und den Beginn der entspannten Strandkultur. Der Autor bietet einen Einblick in die Sportstadt Los Angeles, die zweimal Olympische Spiele ausrichtete und großartige Teams der amerikanischen Profiligen anzog, wie die Dodgers (Baseball) aus New York oder die Lakers (Basketball) aus Minneapolis. Natürlich kommt auch das Hauptthema dieser Stadt nicht zu kurz: Hollywood. Es wird beschrieben, warum die Filmindustrie von der Ostküste nach Kalifornien umzog und wie der deutsche Auswanderer Carl Laemmle das Filmgeschäft revolutionierte. Die historischen Darstellungen wechseln mit unterhaltsamen Reiseberichten. Der Leser wird mitgenommen auf eine Wanderung zum Hollywood Sign, einen Besuch der Universal Studios, eine Fahrradtour entlang der breiten Sandstrände, einen Spaziergang durch Downtown oder eine Autofahrt über den legendären Sunset Boulevard. Die Reise durch die Stadt der Engel bietet Anregungen zu Stippvisiten in den Exposition Park mit dem dort ausgestellten Space Shuttle, in die traumhaft schöne Getty Villa mit ihren antiken Kunstschätzen oder die Walt Disney Concert Hall mit futuristischer Außenfassade und verstecktem Dachgarten. Der Leser erfährt etwas über den großen Architekten Frank O. Gehry, diverse Schauspieler und Musiker, eine Sklavin, die zur Millionärin wurde, die mörderische Familie von Charles Manson, die „Gangsta Rapper“ und den „Gangsta Gardener“ von South L.A., eine Russin, die den Garden of Allah schuf, und die tragische Geschichte der talentierten Bühnendarstellerin Peg Entwistle, die 1932 vom Hollywood Sign sprang.

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Inhaltsverzeichnis

Das spanische Dorf

Unterwegs [im Pueblo]

Richter & Sklavin

Unterwegs [in Downtown]

Das Massaker

Unterwegs [auf dem Bunker Hill]

Mulholland und der Kampf ums Wasser

Unterwegs [in moderne Zeiten]

Strandleben

Unterwegs [entlang der Küste]

Lämmle auf der Hühnerfarm

Unterwegs [in Sachen Hollywood]

The Sign

Unterwegs [nochmal Hollywood]

Japaner im Apfelgarten

Unterwegs [auf der First Street]

Sport-Geschäfte

Unterwegs [im Exposition Park]

Helter Skelter

Unterwegs [auf den Spuren von Charles Manson]

Gangsta Rapper und Gangsta Gardener

Unterwegs [Sunset]

Zahlen und Fakten

1. DAS SPANISCHE DORF

Im Jahr 1860 verstarb Maria Guadalupe Gertrudis Perez in ihrer Heimatstadt Los Angeles. Ihr Name wird heute kaum jemanden etwas sagen. Sie war eine einfache Frau, die weder besondere Ämter bekleidet hatte noch durch außerordentliche Taten aufgefallen war. Außergewöhnlich ist zwar, dass sie fast 100 Jahre alt wurde, doch ist das nicht der Grund, warum sie am Anfang dieser geschichtlichen Reise durch die Stadt der Engel steht. Was sie erwähnenswert macht, ist vielmehr der Umstand, dass sie die letzte Überlebende aus der kleinen Gruppe von Siedlern war, die fast achtzig Jahre zuvor Los Angeles gegründet hatte. Maria Guadalupe Gertrudis Perez war somit von Anfang an dabei gewesen und hatte die ersten acht Jahrzehnte der Stadtgeschichte miterlebt. Eine Epoche, die alles andere als spektakulär gewesen war, denn Los Angeles hatte viele Jahrzehnte ein unscheinbares Dasein weit ab vom Weltgeschehen gefristet. Zum Zeitpunkt ihres Todes zählte die Stadt gerade einmal viereinhalbtausend Einwohner und niemand konnte voraussehen, dass sich der unbedeutende Ort einmal zu einer der größten Metropolregionen der Welt entwickeln sollte.

Maria Guadalupe Gertrudis Perez dürfte 1761 oder 1762 geboren worden sein. Das genaue Datum ist nicht bekannt, aber in der Liste der Gründungssiedler von Los Angeles, der Pobladores, wird sie im Jahr 1781 als neunzehnjährige Mulattin geführt. Ihr Ehemann, José Cesario Moreno, geboren am 27. August 1757, war ebenfalls Mulatte, also Abkömmling eines europäischen und eines afrikanischen Elternteils. Beide hatten am 18. September 1780 im mexikanischen Rosario in der Provinz Sinaloa die Ehe geschlossen. Eine Heirat war Voraussetzung gewesen, um die Reise in das unwirtliche und gefährliche Kalifornien mitmachen zu dürfen. Die spanische Krone hatte Siedler gesucht, die sesshaft werden wollten, keine Abenteurer oder Glücksritter.

Der damals auf dem Thron in Madrid residierende spanische König Karl III. (1716 – 1788) herrschte über ein Weltreich mit Kolonialbesitz rund um den Globus. Das Vizekönigreich Neuspanien – eines von mehreren Vizekönigreichen des spanischen Imperiums – umfasste Ende des 18. Jahrhunderts neben den Philippinen und einigen pazifischen Inseln ganz Mittelamerika, den größten Teil der Karibik, Mexiko und den Westen und Südwesten der heutigen USA. Die gegenwärtigen amerikanischen Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, New Mexico, Texas, Nevada, Colorado und Utah sowie Teile vom heutigen Wyoming und Louisiana gehörten offiziell zu Spanien. Diese nordamerikanischen Gebiete waren größtenteils jedoch nur auf der Landkarte spanisch. Die tatsächliche Kolonisierung hatte sich vorwiegend auf Süd- und Mittelamerika konzentriert.

Auch die Provinz Alta California – der jetzige amerikanische Bundesstaat Kalifornien – war von den Spaniern lange vernachlässigt worden. Das Land wurde zwar seit der „Inbesitznahme“ durch den spanischen Kapitän Juan Rodriguez Cabrillo, der im Jahr 1542 in der Bucht von San Diego an Land gegangen war, vom Vizekönigreich beansprucht. Faktisch lebte hier jedoch kein einziger Spanier. Die völlig unerforschte Region wurde ausschließlich von den dort schon seit Jahrhunderten ansässigen Indianervölkern bewohnt. Der Jesuitenorden, der im Auftrag Madrids die Christianisierung und Kolonialisierung der amerikanischen Ureinwohner vorantreiben sollte, hatte sich zunächst auf die zu Mexiko gehörende Halbinsel Baja California beschränkt. Hier wurde 1697 die noch heute gut erhaltene Mission in Loreto gegründet und anschließend eine Reihe weiterer Ordensniederlassungen erbaut. In die nördlich gelegene Alta California waren die Jesuiten jedoch nie vorgedrungen. Hierzu sollten sie auch keine Gelegenheit mehr bekommen, denn Mitte des 18. Jahrhunderts geriet die Aktivität der Gesellschaft Jesu in Lateinamerika zunehmend in die Kritik. Der Orden sah sich vor allem dem Vorwurf der unbotmäßigen Bereicherung in den Kolonien ausgesetzt. Die riesigen Haziendas, Zuckerrohrplantagen und Fabriken, die im Besitz der Jesuiten waren, riefen sowohl Gegner in den Reihen des Klerus auf den Plan als auch weltliche Konkurrenten, die sich aufgrund der Befreiung des Ordens von Steuern durch die spanische Krone benachteiligt fühlten. Zudem zählten die Jesuiten zu den größten Sklavenhaltern Südamerikas. Schließlich wurde der Orden 1759 in Portugal, einige Jahre später in Frankreich und 1767 von Karl III. schließlich auch in Spanien verboten. Damit war das Ende der jesuitischen Missionstätigkeit in Mexiko besiegelt. Die bereits bestehenden Missionen auf der Baja California übernahmen die Dominikaner, und mit der Kolonialisierung des Gebietes, das dem heutigen Kalifornien entspricht, wurde der Franziskanerorden beauftragt.

1769 startete der spanische Gouverneur Gaspar de Portolá die erste systematische Erkundung der unberührten Alta California. Zwei Schiffe, die im Januar und Februar des Jahres ausliefen, und zwei Landexpeditionen, die im März und Mai aufbrachen, sollten sich in der Bucht von San Diego treffen. Die San Carlos und die San Antonio verpassten zunächst ihr Ziel, gerieten viel zu weit nach Norden und mussten von dort zum vereinbarten Treffpunkt zurücksegeln. Viele der Seeleute starben unterwegs an Skorbut. Im Mai und Juni erreichten die beiden Fußtruppen die Bucht, und der zum Gefolge von Portolá gehörende Franziskanermönch Junípero Serra1 gründete im Juli 1769 die Missionsstation San Diego, die erste spanische Ansiedlung in Alta California.

1770 folgte eine zweite Mission in der weit im Norden liegenden Bucht von Monterey. Zu jeder kirchlichen Niederlassung gehörten große Ländereien und Viehherden, mit deren Betreuung und Versorgung vor allem die christianisierten Einheimischen beauftragt wurden. Neben den kirchlichen Ansiedlungen existierten vereinzelte militärische Befestigungen, besonders im Norden zum Schutz gegen ein erwartetes russisches Vordringen. Alaska gehörte noch zum Zarenreich, und russische Pelzjäger zogen an der pazifischen Küste bis weit in den Süden, weshalb die spanische Krone eine Besitznahme des kalifornischen Nordens durch Moskau befürchtete. Tatsächlich stieß Russland einige Jahrzehnte später mit Errichtung des befestigten Forts Ross im Bereich der Bodega Bay nördlich von San Francisco tief nach Kalifornien vor, allerdings ohne dass es zu militärischen Auseinandersetzungen mit den Spaniern kam. Heute kündet von diesem Engagement des Zarenreichs nur noch der Russian River, der bei Mendocino entspringt und die Highway 101 nach Süden begleitet, bevor er Richtung Pazifik abbiegt. Damals war die Aussicht, Kalifornien an die mächtigen Konkurrenten Russland oder England verlieren zu können, für Karl III. jedoch ein Grund, sich nunmehr ernsthaft dieser vernachlässigten Provinz zuzuwenden.

Die spanische Kolonialisierungspolitik fußte auf dem bewährten Zusammenspiel dreier Elemente: der kirchlichen Niederlassung (Misión), der zivilen Ansiedlung (Pueblo) und der militärischen Garnison (Presidio). Nach San Diego und Monterey wurden in schneller Folge weitere Missionsstationen angelegt, wobei das Ziel angestrebt wurde, die Ansiedlungen so zu positionieren, dass man jeweils mit einem Tagesritt von einer zur nächsten gelangen konnte. Dies entsprach in etwa der Entfernung von fünfzig Kilometern. Verbunden wurden alle spanischen Gründungen durch den fast eintausend Kilometer langen Camino Real, den Königsweg.

Wenige Jahre nach Beginn der spanischen Besiedlung Oberkaliforniens wurde 1775 Felipe de Neve zum Gouverneur von Las Californias ernannt. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt verlegte er die Hauptstadt der Provinz von Loreto auf der langgestreckten Halbinsel Baja California in das fast zweitausend Kilometer weiter nördlich an der Pazifikküste liegende Monterey. Hierdurch wurde auch politisch das Gewicht in die neu zu besiedelnden Gebiete des Nordens verlagert. 1780 begann er mit der Ausarbeitung von Plänen für ein Pueblo am Ufer des Porciúncula. Der inzwischen als Los Angeles River bekannte Fluss entspringt im San Fernando Valley und ergießt sich nach knapp 80 Kilometern beim heutigen Long Beach ins Meer. Damals war der Fluss jedoch ein ständiger Unruhestifter. Er veränderte wiederholt seinen Lauf, suchte sich ein neues Bett und seine Mündung verschob sich um mehrere Meilen. Zeitweilig floss er in der Gegend um den Ballona Creek ins Meer, also den Bereich der heutigen Marina del Rey. Der neu zu gründende Ort sollte in der Nähe der Mission San Gabriel Arcángel liegen, die von den Franziskanern am 8. September 1771, dem Festtag zur Geburt der Jungfrau Maria, gegründet worden war. Die Gebäude dieser viertältesten Mission Oberkaliforniens stehen noch heute östlich des Stadtzentrums von Los Angeles in einer ehemals fruchtbaren Ebene des Rio Hondo, eines kleinen Nebenflusses des Los Angeles River.

Die hier lebenden Indianer gehörten zum Volk der Tongva. Über diesen Indianerstamm gibt es nur wenige verlässliche Informationen, weil die Einheimischen ihre Geschichte allenfalls mündlich überlieferten. Durch Kolonisierung und Christianisierung gingen zudem viele der traditionellen Bräuche und Fertigkeiten verloren. Fest steht, dass die Tongva seit Jahrhunderten ein ausgedehntes Territorium in den Gebieten bewohnten, die heute zum Los Angeles und Orange County zählen. Die Zahl der seinerzeitigen Stammesangehörigen wird auf ungefähr fünftausend geschätzt, die sich auf zwei bis drei Dutzend Dörfer verteilten. Die Siedlungen waren vorwiegend an Flussufern errichtet worden und bestanden aus einfachen Rundhütten, gebaut aus Weidenruten und Schilf. Auch die vor der Küste liegenden Inseln Santa Catalina und San Clemente waren von den Tongva besiedelt worden. Die Indianer beherrschten den Bau seetüchtiger Kanus und betrieben von ihren Booten aus Fischfang im Meer. Jedes Dorf hatte einen eigenen Anführer, und da sich die Führungspositionen aus den jeweiligen Blutlinien der Herrscher ableiteten, konnten beim Fehlen eines Sohnes auch Frauen zum Oberhaupt einer Dorfgemeinschaft werden. Die Tongva lebten wie alle nordamerikanischen Indianer naturverbunden von der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von Früchten. Ihre Religion trug gewisse Züge eines Monotheismus, was möglicherweise ihre Christianisierung erleichtert hat.

Der Franziskanermönch Juan Crespí vermerkte in seiner Reisechronik, dass sich die Indianer beim Zusammentreffen mit der ersten spanischen Expedition 1769 den Europäern gegenüber unbewaffnet, friedlich und gastfreundlich gezeigt hätten. Nach Gründung der Mission San Gabriel kam es zwar vereinzelt zu Zwischenfällen, die aber nicht als allgemeiner Widerstand gegen die Kolonialherren charakterisiert werden können. So ist ein erster Angriff von Tongva-Kriegern auf spanische Soldaten in den Aufzeichnungen der Mönche zwar bereits für den Oktober 1771 dokumentiert. Dem war jedoch vorausgegangen, dass ein Soldat die Frau des Häuptlings „beleidigt“ hatte, womit vermutlich ein sexueller Übergriff gemeint war. Der Spanier erschoss den angreifenden Tongva und sicherheitshalber wurde die Zahl der Militärangehörigen, die die Mission San Gabriel schützen sollten, auf sechzehn erhöht. Der Mann, der den Zwischenfall provoziert hatte, wurde zwar nicht zur Rechenschaft gezogen, aber zur Beruhigung der Situation in eine andere Mission versetzt. In der Folgezeit gab es immer wieder ähnliche Übergriffe spanischer Soldaten auf indianische Frauen und wiederholt wurden Tongva erschossen, die ihre Frauen verteidigen wollten. Überwiegend lebten Missionare und Indianer jedoch einvernehmlich miteinander und eine Reihe Einheimischer ließ sich von den Franziskanern taufen. Die christianisierten Tongva übernahmen Arbeiten für die Mönche, und aufgrund der Anbindung an die San-Gabriel-Mission bezeichneten die Spanier sie als Gabrieleños. Dies bürgerte sich in den folgenden Jahrzehnten so sehr als Stammesbegriff ein, dass die ursprüngliche Volksbezeichnung für lange Zeit in Vergessenheit geriet.

Knapp zehn Jahre nach Errichtung der kirchlichen Mission San Gabriel sollte in deren Nähe nun auch ein zivile Stadt (Pueblo) entstehen. Die Anwerbung von Siedlern für die Neugründung verlief allerdings nur schleppend und die vorgesehene Zahl von Kolonisten musste immer weiter reduziert werden. Schließlich fanden sich 14 Männer, die mit ihren Familien das Wagnis eingehen wollten, in dem unerschlossenen Gebiet neu anzufangen. Zwei Siedler änderten noch kurz vor dem Aufbruch ihre Meinung, und so setzte im Frühjahr 1781 eine Gruppe von zwölf Familien vom mexikanischen Festland aus mit dem Schiff über den Golf von Kalifornien nach Loreto über. Aufgrund einer Pockenerkrankung mussten Antonio Miranda Rodriguez und seine elfjährige Tochter auf der Baja California bleiben, und im Sommer 1781 erreichten die Übrigen die Mission San Gabriel Arcángel.

Von hier aus brach Gouverneur Felipe de Neve in Begleitung zweier Priester der Mission, mehrerer dort ansässiger Tongva, von vier Soldaten mit ihren Angehörigen und der elf Gründerfamilien auf, um neun Meilen westlich den geplanten Ort zu errichten. Maria Guadalupe Gertrudis Perez und ihr Ehemann, José Cesario Moreno, gehörten zu den jüngsten Erwachsenen der bunten Mischung von Menschen, die am 4. September 1781 bei der Gründung von El Pueblo de la Reina de los Angeles dabei waren, der Stadt der Königin der Engel.2 Die Aussicht auf eigenes Land, zur Verfügung gestelltes Vieh und Geld hatte die Siedler bewogen, die mehr oder weniger zivilisierte Welt Mexikos hinter sich zu lassen und in den unkultivierten Breiten des Nordens ein neues Leben zu beginnen. Die Kolonisten sollten das von Spanien beanspruchte, aber nur ansatzweise erschlossene Land nun endlich für das Vizekönigreich in Besitz nehmen, bevor andere europäische Mächte entsprechende Begehrlichkeiten entwickeln würden. Im Osten des Kontinents waren gravierende Umbrüche im Gang, die die spanische Krone beunruhigten. 1776 hatten sich dreizehn britischen Kolonien vom Mutterland losgesagt und der daraus entstandene amerikanische Unabhängigkeitskrieg lag zum Zeitpunkt der Stadtgründung von Los Angeles in den letzten Zügen. Die sich abzeichnende Niederlage Englands ließ bedeutende Verschiebungen in den Machtverhältnissen befürchten, und für Spanien war es deshalb vordringlich, nun endlich seinen Besitz in Kalifornien durch Ansiedlung von eigenen Untertanen zu festigen.

Da es sich um eine von den Behörden des Vizekönigreichs gut vorbereitete Stadtgründung handelte, sind uns heute die Namen aller Pobladores bekannt. Die Gruppe umfasste elf Frauen, von denen fünf Mulattinnen, fünf mexikanische Indias und eine Mestizin waren. Neben Gertrudis Perez gab es mit Maria Tomasa Garcia und Juana Maria Rodriguez zwei weitere junge Frauen, die kinderlos waren und erst kurz vor Aufbruch in die neu zu erschließende Welt geheiratet hatten, um die Bedingungen für die Ansiedlung zu erfüllen. Die übrigen acht Familien brachten insgesamt zweiundzwanzig Kinder mit, wobei der bereits siebenundsechzigjährige Indio José Antonio Basilio Rosas und seine dreiundvierzigjährige Ehefrau, Maria Manuela Calixtra Hernandez, mit sechs Kindern die größte bildeten. Von den elf Männern waren vier Indios, zwei Schwarze, zwei Mulatten, ein Mestize und zwei Spanier, von denen aber nur einer in Spanien geboren worden war, der andere in Chihuahua. Die Neusiedler stellten damit ein Spiegelbild der Bevölkerung in den spanischen Kolonien dar. Aufgrund des Umstandes, dass kaum spanische Frauen die beschwerliche Schiffsreise von der Iberischen Halbinsel über den Atlantik nach Süd- und Mittelamerika unternahmen, heirateten spanische Männer fast ausschließlich indianische oder schwarze Frauen. Bereits die nächste Generation bestand deshalb überwiegend aus Mestizen und Mulatten, und der spanische Anteil nahm mit jeder Geburtenfolge ab.

Der achtundzwanzigjährige Indio José Maria Vanegas wurde zum ersten Bürgermeister der Siedlung bestimmt, die zunächst nur die 44 Mitglieder der elf Gründerfamilien umfasste. Er blieb zwanzig Jahre in El Pueblo de la Reina de los Angeles und erst nach dem Tod seiner Frau zog er 1801 nach San Diego.

Die nächste genaue Erfassung der Bevölkerung erfolgte bereits 1790. Die Siedlung war neun Jahre nach ihrer Gründung auf 139 Einwohner angewachsen. Das Pueblo bestand nun aus knapp 30 kleinen, aus ungebrannten Ziegeln (Adobes) errichteten Häusern und einigen einfachen Getreidespeichern. Von den meisten der Gründerfamilien hatte sich Gertrudis Perez wieder verabschieden müssen. Der von den harten Lebensbedingungen in der Alta California enttäuschte Schwarze Antonio Mesa hatte bereits 1782 die Erlaubnis erhalten, ins mexikanische Sonora zurückzukehren. Der einzige gebürtige Spanier, José Fernando de Velasco y Lara, und der zweite an der Stadtgründung beteiligte Schwarze, Luís Manuel Quintero, reisten im gleichen Jahr nach Ventura weiter, um dort an der Gründung der Mission San Buenaventura teilzunehmen. Der junge Alejandro Rosas und seine Frau, Juana Rodriguez, starben kurz hintereinander im Dezember 1788 und Januar 1789. Bei der Zählung von 1790 lebten schließlich neben der Familie von José Cesario Moreno und seiner Frau, Maria Gertrudis Perez, die inzwischen vier Kinder zur Welt gebracht hatte, nur noch zwei der ursprünglich elf Gründerfamilien in Los Angeles. Insgesamt wurden 31 Familien registriert, davon vier mit verwitweten Frauen als Haushaltsvorstand. Die Männer waren vor allem Farmer und Viehzüchter, aber es gab auch einen Schmied, einen Weber, einen Schneider und einen Schuster. Vier Männer waren alleinstehend, der Rest hatte Frau und Kinder. Bereits frühzeitig kam es zu ersten Eheschließungen zwischen Siedlern und einheimischen Frauen aus dem Tongva-Volk, so dass die Bevölkerung noch gemischter wurde als sie bei Gründung der Stadt ohnehin schon gewesen war. Über eine eigene Kirche verfügte der kleine Ort noch nicht; die Franziskaner hatten 1784 lediglich eine Asistencia ihrer Mission errichtet, die aber bald verfiel.

Der Porciúncula schien sich mit den neuen Siedlern an seinem Ufer jedoch nicht anfreunden zu wollen. Er wechselte wiederholt sein Flussbett und nach einem verheerenden Hochwasser wurde die ganze Siedlung 1792 abgetragen und entstand etwas nach Westen versetzt an höher gelegener Stelle neu. Im August desselben Jahres kam in der Mission San Gabriel ein fünftes Kind von Maria Perez zur Welt und wurde hier vier Tage später auf den Namen Maria Antonia de las Nieves Moreno getauft. Noch weitere 14 Jahre lebten die Eheleute Moreno/Perez zusammen, bevor José Cesario Moreno am 10. Mai 1806 starb und in der San-Gabriel-Mission beerdigt wurde. Maria Gertrudis Perez heiratete ein zweites Mal und ihre Heimatstadt Los Angeles glitt weiter gemächlich durch die Zeit, ohne sich groß zu entwickeln.

1815 ließ sich erstmals ein Ausländer im Pueblo nieder, der Portugiese José Antonio Rocha, und 1818 folgte mit Joseph Chapman der erste englisch sprechende Amerikaner. Zu dieser Zeit war es noch keinem Weißen gelungen, aus den damals noch wesentlich kleineren Vereinigten Staaten westwärts über den ganzen Kontinent bis nach Kalifornien vorzudringen. Kontakte zwischen Amerikanern und Kaliforniern fanden deshalb nur über den Seeweg statt. Der Neubürger Chapman war zunächst als Pirat inhaftiert worden und fand später in El Pueblo seine neue Heimat. Er blieb bis zu seinem Tod 31 Jahre in Los Angeles, wurde zu einem geachteten Bürger und war am Bau der ersten Kirche sowie einer ganzen Reihe von Häusern beteiligt.

Die wohlhabenderen Viehzüchter errichteten sich in der Stadt größere Häuser aus Adobes. Diese Anwesen wurden an den Wochenenden und Feiertagen genutzt, während man die übrigen Tage mit Arbeit auf den ausgedehnten Farmen verbrachte. Rund um die zentrale Plaza des Pueblos entstanden nach und nach die Stadthäuser der Rancher Francisco Sepúlveda, Ygnacio del Valle, Ygnacio Coronel, seines Sohnes Antonio und von Pio Pico. Pico gehörten gleich mehrere Haziendas, eine davon zusammen mit seinem neun Jahre jüngeren Bruder Andrés. Beide Brüder Pico machten später als Politiker, Offiziere und Geschäftsleute von sich reden. In den 1850er Jahren lebte Andrés Pico lange Zeit mit Catalina Moreno zusammen, einer Enkeltochter von Maria Guadalupe Gertrudis Perez.

Eines der größten Häuser errichtete 1818 der vermögende Rancher Francisco Avila, der von 1810 bis 1811 auch als Bürgermeister die Geschicke der Stadt bestimmt hatte. Er konnte es sich leisten, Türen und Fenster in Boston zu bestellen und die Waren per Schiff über tausende von Seemeilen um Kap Hoorn herum liefern zu lassen. Das Avila Adobe steht heute als ältestes erhaltenes Haus von Los Angeles in der Olvera Street. Bereits vier Jahre früher war der Grundstein für eine eigene katholische Kirche an der Plaza gelegt worden, die aber erst 1822 vollendet wurde.

Ein Jahr zuvor war Mexiko unabhängig geworden. Die Stadt war seit 1821 nicht mehr spanisch, sondern gehörte zum mexikanischen Kaiserreich, das 1823 nach dem Sturz des Kaisers zur Republik wurde. Für Los Angeles änderte sich hierdurch jedoch nichts. Der Ort spielte weiterhin weder politisch noch wirtschaftlich eine große Rolle. Die kleine Stadt war von Feldern und Obstplantagen umgeben und verharrte in ihrer beschaulichen Provinzialität.

1826 erreichte schließlich Jebediah Smith als erster Weißer über den Landweg El Pueblo und begründete damit die Landverbindung von den westlichen Gebieten zum pazifischen Osten des Kontinents. In seinem Reisebericht beschrieb er den Ort als ein eher armseliges Dorf mit 70 bis 80 Häusern aus Lehm oder ungebrannten Ziegeln. Er bevorzugte dementsprechend den Aufenthalt in der komfortableren San-Gabriel-Mission, deren Gastfreundschaft er für einige Zeit in Anspruch nahm. Seine Schilderung vermittelt einen guten Eindruck von der damaligen Landwirtschaft in diesem Teil Kaliforniens. Die zur Mission gehörenden Farmen verfügten über 40.000 Stück Vieh, 2.000 Pferde, 300 bis 400 Schafe und eine große Menge Schweine. Die Siedlung war von Weinbergen und Obstgärten umgeben, in denen Apfel-, Birnen-, Pfirsich- und Orangenbäume standen, es wuchsen aber auch Oliven und Feigen. Beim Mittagessen war die Tafel überladen mit Hammel- und Rindfleisch, Hähnchen, unterschiedlich zubereiteten Kartoffeln, Bohnen und Erbsen. Dazu gab es Brot und Käse, Gin und Wein. Kein Wunder, dass Smith auf Einladung von Francisco Avila nur einen kurzen Abstecher in das Dorf der Engel unternahm, deren Einwohner er als überwiegend arm bezeichnete.

Der in San Diego residierende mexikanische Gouverneur forderte Smith und seine Truppe schließlich auf, Kalifornien zu verlassen, weil er die Amerikaner der Spionage verdächtigte. Doch in der Folgezeit zogen weitere amerikanische Bürger nach Kalifornien, so auch Jonathan Temple, der 1828 den ersten General Store in der Stadt eröffnete. Nach ihm ist noch heute die Temple Street im Zentrum von Los Angeles benannt. El Pueblo blieb allerdings ein spanisch sprechendes Städtchen und die mexikanischen Großgrundbesitzer stellten weiter die Elite. 1831 kam es anlässlich der von der mexikanischen Regierung geplanten Säkularisierung des Kirchenbesitzes zu Unruhen. Alta California spaltete sich vorübergehend in einen nördlichen und einen südlichen Teil, und Pio Pico, damals Gouverneur des Südens, machte El Pueblo de los Angeles zu seinem Regierungssitz. 1835 bestätigte der mexikanische Kongress Monterey als kalifornische Hauptstadt, verlieh jedoch auch dem späteren Los Angeles das Stadtrecht.

Die Volkszählung im nächsten Jahr ergab, dass inzwischen 2.228 Menschen in El Pueblo de los Angeles lebten, darunter 553 Indianer. Zur gleichen Zeit hatte Boston ungefähr 35.000 und New York sogar 300.000 Einwohner. Unter den Bürgern der Stadt gab es weiterhin nur wenige Ausländer, nämlich 29 Amerikaner, vier Briten, drei Portugiesen, zwei Afrikaner, und jeweils einer war Kanadier, Ire, Italiener, Schotte, Norweger, Deutscher sowie ein Einwanderer aus Curaçao. Zahlenmäßig waren die weder mexikanischen noch indigenen Bewohner zwar eine Minderheit, doch war ein erster Hauch von Internationalität zu spüren.

1845 besetzten die Vereinigten Staaten das mexikanische Texas. Auch in Kalifornien befürchtete man nun einen Angriff der nach Westen expandierenden USA. Als amerikanische Truppen an der Grenze stationiert wurden, erhoben sich 1846 die hispanischen Kalifornier in der Hauptstadt, Monterey, gegen die mexikanische Zentralregierung. Mit dem Ziel, Kalifornien zunächst aus den amerikanisch-mexikanischen Spannungen herauszuhalten und es später zur Unabhängigkeit zu führen, riefen Angehörige der einflussreichen Familien die Junta von Monterey ins Leben. Zwischen den führenden Köpfen gab es allerdings erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man ein Protektorat Frankreichs oder Großbritanniens oder gar einen Anschluss an die USA anstreben sollte. Noch während die mexikanischen Kalifornier mit ihrem Richtungsstreit beschäftigt waren, proklamierten im Juni 1846 amerikanische Siedler in der Stadt Sonoma die Republik Kalifornien und erklärten ihre Ortschaft zur neuen Hauptstadt. Die Staatsgründung durch Ausländer dürfte bei der mexikanischen Bevölkerung kaum auf Gegenliebe gestoßen sein, doch der jungen Republik war ohnehin keine lange Lebenszeit vergönnt. Das einzige, was von ihr blieb, ist die Flagge mit dem Bären, die noch heute fast unverändert die Fahne des Bundesstaates Kalifornien ist.

Im Vormonat war nämlich der mexikanisch-amerikanische Krieg ausgebrochen und im Juli 1846 griffen US-Marine-Einheiten die offizielle Hauptstadt, Monterey, an. Kalifornien wurde von den Vereinigten Staaten besetzt, und im August marschierten US-Truppen auch in El Pueblo ein. Nach Stationierung eines kleinen Kontingents zog das Gros der Soldaten weiter. Die Bürgerschaft rebellierte gegen die unbeliebten Besatzer, zwang sie zur Aufgabe und ließ die Marinesoldaten kampflos nach San Pedro abziehen. Im Folgejahr eroberten die Amerikaner das verlorene Territorium zurück, und 1848 musste sich Mexiko geschlagen geben. Kalifornien wurde an die USA abgetreten.

Maria Guadelupe Gertrudis Perez war nun in den Vereinigten Staaten angekommen, nachdem sie zuvor in Mexiko und davor in Neuspanien beheimatet gewesen war, ohne dass sie hierfür Kalifornien hatte verlassen müssen. Sie erlebte im hohen Alter, dass der 1848/49 einsetzende kalifornische Goldrausch das Land völlig veränderte. Goldsucher und Glücksritter strömten in das dünn besiedelte Gebiet, die indianische Bevölkerung wurde vertrieben oder ermordet und die öffentliche Ordnung brach fast vollständig zusammen. Zur Zeit größter Willkür und Gesetzlosigkeit wurde Kalifornien 1850 zum einunddreißigsten Bundesstaat der USA und Los Angeles erhielt das Stadtrecht der Vereinigten Staaten.

Die wechselhafte staatsrechtliche Geschichte der Stadt spiegelt sich auch in ihrem Siegel wider. Hier vereinen sich Symbole der Wappen von Spanien (Kastell und Löwe), Mexiko (Adler mit Schlange im Schnabel), Kalifornien (roter Stern und Grizzly) und der USA (Schild mit dreizehn Sternen und Streifen). Das Ganze ist umgeben von drei Zweigen mit Oliven, Orangen und dunklen Trauben. Für diese Früchte stehen auch die Farben der 1931 anlässlich des 150. Stadtjubiläums geschaffenen Flagge von Los Angeles: grün für die Olivenbäume, gold-gelb für die Orangenhaine und rot für die Weinberge.

Den Osten dominiert die UNION STATION …

1 Die Entscheidung des Papstes, Junípero Serra im September 2015 heilig zu sprechen, traf vor allem bei der indigenen Bevölkerung Kaliforniens auf Kritik.

2 Mit der „Königin der Engel“ ist die Jungfrau Maria gemeint.

2. Unterwegs [im Pueblo]

Die wenigen erhaltenen Bauten aus der spanischen Gründerzeit von EL PUEBLO DE LOS ANGELES drängen sich bescheiden auf einem kleinen Areal, das auf allen Seiten vom Verkehr der Millionenstadt umflutet wird. Den Osten dominiert die UNION STATION, der wichtigste Bahnhof der Stadt. Für den Bau waren die heruntergekommenen Häuser des ursprünglichen Chinesenviertels abgerissen worden, weshalb die neue Chinatown heute einen Steinwurf entfernt nördlich der Plaza liegt. Der 1939 eröffnete Gebäudekomplex vereint spanischen Kolonialstil mit Art-Déco-Elementen und indianischen Ausschmückungen. Die Union Station erinnert mit ihrem etwas gedrungenen Uhrenturm und der von schlanken Palmen umsäumten weißen Fassade an eine mexikanische Mission. Eine recht ansprechende Ergänzung des benachbarten Pueblo-Bezirks. Form und Funktion können durchaus harmonieren!

Die Bahn ist bekanntermaßen nicht gerade das beliebteste Verkehrsmittel der Amerikaner, und so ist der Bahnhof irgendwo in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stecken geblieben. Doch gerade das verleiht ihm seinen besonderen Charme. Ein idyllischer Innenhof mit roten Ziegelsteinwegen und akkurat geschnittenem Buchsbaum lädt dich zum Verweilen im Freien ein. Das Innere des Gebäudes protzt mit einem Wartesaal, der wuchtige ledergepolsterte Sessel bereit hält. Der farbenprächtige Steinfußboden gleißt im Sonnenlicht, das durch kirchenschiffhohe Fenster fällt. Unter der mit schweren Holzkassetten getäfelten Decke schweben riesige Leuchter. Als Reisender kannst du dir vorstellen, in der Lobby eines altehrwürdigen Hotels zu sitzen und statt auf einen schnöden Zug auf einen glamourösen Filmstar der Fünfzigerjahre zu warten.

Im Süden von El Pueblo rauschen dicht gedrängte Fahrzeugkolonnen auf dem breiten Santa Ana Freeway vorbei, einer der meist befahrenen Verkehrsadern der Stadt, und im Westen reihen sich mehrere Parkplätze aneinander. Du stellst dein Auto auf einem dieser Plätze ab, entschließt dich aber, die angrenzende Main Street nicht sofort zu überqueren. Stattdessen betrittst du den Hof der 1822 vollendeten ältesten Kirche von Los Angeles. Im Englischen wird sie meist schlicht als OLD PLAZA CHURCH bezeichnet, doch der spanische Name ist nicht nur länger, sondern auch klangvoller: LA IGLESIA DE NUESTRA SEÑORA REINA DE LOS ÁNGELES.

Die Kirche ist nicht unbedingt eindrucksvoll, in ihrer Schlichtheit aber authentisch. Hier beten Mexikaner, ohne sich um die vereinzelten Touristen zu kümmern, die einen Blick in das Innere des Gotteshauses werfen. Im Hof sitzen Familien mit lebhaften Kindern unter den Schatten spendenden Wedeln dreier großer Palmen und zusätzlich aufgespannter Stoffbahnen. In ein Becken aus Naturfels plätschert geräuschvoll glucksend ein dünnes Rinnsal Wasser. Davor schicken Andachtskerzen magere Rauchfädchen gen Himmel. Sie stecken in schmalen hohen Gläsern, die mit farbigen Heiligenbildchen bedruckt sind. Zwischen die Lichter sind knittrige Zettel gequetscht mit krakeligen Botschaften an Gott. Auf dem Boden drängen sich bunte Blumensträuße in Plastikeimern mit Werbeaufdrucken. Hier ist immer noch Mexiko!

Du verlässt die Kirche und stehst an der Main Street. Die ehemalige Hauptstraße ist gleichsam die Wasserscheide, die die Straßen mit dem Zusatz „West“ von den „East“-Abschnitten trennt. Im alten Zentrum verlaufen die Main und ihre parallelen Begleiter, die Spring Street, der Broadway, die Hill Street, noch diagonal zu den vier Haupthimmelsrichtungen, von Nordosten nach Südwesten. Entsprechendes gilt für die sie schneidenden Querachsen, beginnend mit der Temple Street – Jonathan mit dem Krämerladen! – über die folgenden Straßen, denen nur noch Nummern statt Namen vergönnt waren.

Erst ein ganzes Stück südwestlich – nach der 36th Street – knickt die Main direkt nach Süden, um nach vielen Meilen in den Wilmington Boulevard zu münden, der schließlich am Hafen endet.

Wenn du diese Verkehrsachse überquerst, wechselst du also von der Westzur Eastside der Stadt. Noch versperrt dir eine lange Karawane parkender Reisebusse den Blick, die einträchtig gereiht auf die Rückkehr ihrer Touristentrupps wartet. Du quetschst dich zwischen den Fahrzeugen durch und stehst im historischen Zentrum des alten Pueblo, dem PLAZA PARK. Es handelt sich um keinen richtigen Park mit Grünanlagen, sondern um eine kreisrunde gepflasterte Fläche zwischen Main Street und Los Angeles Street, deren Mitte ein achteckiger, von großen Bäumen umgebener Pavillon schmückt. Die Plaza war ursprünglich das wirtschaftliche und soziale Zentrum der Stadt. Hier erinnert eine Statue an den Stadtgründer Felipe de Neve. Den Hut unter den Arm geklemmt schaut er mit stolzem Blick in die Ferne. Neben dem spanischen Gouverneur hält eine zweite Gedenktafel die elf Gründerfamilien in Ehren. An Festtagen werden Verkaufsbuden und Essensstände aufgebaut. Dann geht es laut und ausgelassen zu, wenn die mexikanischen Angelenos zum eigenen Vergnügen und nicht zur Bespaßung von Touristen feiern und musizieren.

Die Südseite des Platzes wird vom beeindruckenden PICO HOUSE dominiert. Das dreigeschossige weiße Gebäude war 1870 im Auftrag des letzten mexikanischen Gouverneurs, Pio de Jesús Pico, als Hotel errichtet worden und zu seiner Zeit die vornehmste Herberge Südkaliforniens. Hier wurden opulente Hochzeiten gefeiert und mondäne Tanzveranstaltungen abgehalten. Alle Zimmer verfügten über Gaslichter und in den oberen Stockwerken über Badezimmer, was für das Los Angeles der damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich war. Vor der Residenz standen die Kutschen des Unternehmers Phineas Banning, die die Stadt mit dem Hafen in Wilmington verbanden. Um die Errichtung des im italienischen Stil gehaltenen Gebäudes finanzieren zu können, hatten Pio und Andrés Pico, in deren Adern neben spanischem auch indianisches und afrikanisches Blut floss, einen Großteil ihres Landes im San Fernando Valley veräußert. Als sich das Stadtzentrum später entlang der Main und Spring Street weiter in den Süden verlagerte, ging es mit dem einstigen Prachtbau langsam bergab. 1953 wurde das verkommene Gebäude vom kalifornischen Staat gekauft und renoviert. Heute erstrahlt es wieder im alten weißen Glanz.

Auf der gegenüber liegenden Seite des Plaza Park beginnt die nur knapp hundert Meter lange Olvera Street. Die ehemalige Wine Street wurde 1877 zu Ehren von Agustin Olvera umbenannt. Olvera war ein Friedensrichter gewesen, der in der mexikanischen Ära verschiedene Ämter in Los Angeles bekleidet hatte. Er war Mitunterzeichner des Waffenstillstandsabkommens von Cahuenga, der während des amerikanisch-mexikanischen Krieges die Kampfhandlungen in Kalifornien beendete. Der Mittelbereich der kleinen Straße wird von einer Budenreihe eingenommen, und du schiebst dich mit Touristen aus aller Welt auf der einen Straßenseite an den Verkaufsständen entlang und auf der anderen Seite wieder zurück. Es herrscht reichlich Gedränge in der schmalen Gasse. Rucksacktouristen haben alle Zeit der Welt und verweilen neugierig vor Verkaufsständen. Asiatische Reisegruppen schlängeln sich hingegen eilig durch die Menge. Ihre Mitglieder dürfen den Anschluss an den jeweiligen Führer nicht verlieren, der mit bunter Fahne oder aufgespanntem Regenschirm voraus schreitet. In Reiseführern werden die kleinen Lädchen für traditionelle Kleidung, Kunst, Geschenkartikel und Lederwaren angepriesen. Die feilgebotenen Artikel sind allerdings eher dem Bereich von Ramsch und Kitsch zuzuordnen: grüne und blaue Gitarren, Sombreros, die nie ein Mexikaner tragen würde, Taschen in schreienden Farben, bunte Masken, Rasseln, Schuhe und Tücher.

Beinahe verpasst du auf der rechten Straßenseite den nicht sehr auffälligen Eingang zum AVILA ADOBE. Du folgst einem schmalen rot gefliesten Spalt zwischen zwei Häusern einige Meter, und plötzlich öffnet sich linker Hand der Patio des Hauses. Eintritt wird nicht verlangt, weshalb du nirgends anstehen musst und einen Innenhof betrittst, in dem Bäume und ein Ensemble mannshoher Kakteen wachsen. Vom hinteren Teil des Hofes wirfst du über eine niedrige Mauer einen Blick zur Union Station. Dann wendest du dich dem Inneren des historischen Hauses zu. Von einem Flur aus musterst du die verschiedenen Zimmer. Du bekommst einen guten Eindruck von Lebensart und bescheidenem Wohlstand der früheren Bewohner. Natürlich können die kalifornischen Häuser jener Epoche in keiner Weise mit den herrschaftlichen Domizilen der Ostküste oder der Südstaaten konkurrieren. Du stellst dir lebhaft vor, wie Francesco Avila an der mit Tellern und Kerzenleuchtern gedeckten Tafel seine Gäste bewirtete. In diesen Räumen wurde Jebediah Smith als Besucher willkommen geheißen, und im Krieg gegen Mexiko machten sich für kurze Zeit amerikanische Soldaten als unerwünschte Besatzer breit.

Nach der mexikanischen Niederlage war Kalifornien rasend schnell amerikanisch geworden. Doch im letzten Jahrhundert hat die friedliche Reconquista begonnen. Während 1950 nicht einmal vier Millionen U.S.-Bürger aus spanisch sprechenden Ländern stammten, hat sich diese Zahl inzwischen auf über 50 Millionen erhöht. Kalifornien ist aus historischen Gründen und wegen seiner Nähe zu Mexiko der bevorzugte Einwanderungsstaat der Hispanics, von denen zwei Drittel mexikanischer Herkunft sind. In Los Angeles hat inzwischen die Hälfte der Bevölkerung lateinamerikanische Wurzeln.

3. RICHTER & SKLAVIN

Richter Benjamin Ignatius Hayes ist froh, an diesem ungemütlichen Januartag des Jahres 1856 wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Passage auf dem Küstendampfer ist alles andere als angenehm gewesen. Ein Wintersturm hat für hohen Seegang gesorgt, und die Reise von San Diego ist diesmal länger gewesen, weil das Schiff gegen den starken Nordwestwind ankämpfen musste. Und noch hat Hayes Los Angeles nicht erreicht. Die Fahrt von dem zu Los Angeles gehörenden Hafen, San Pedro, in die Stadt steht ihm und den übrigen Passagieren noch bevor.

Benjamin Hayes hatte 1850 als junger Rechtsanwalt wie tausende andere Amerikaner den strapaziösen Landweg über den Santa Fe Trail nach Kalifornien genommen. Im selben Jahr war das ehemals mexikanische Land zum einunddreißigsten Bundesstaat der Vereinigten Staaten geworden. Mit den neuen Herren waren auch neue Gesetze gekommen. Recht wurde nun von amerikanischen Institutionen und Gerichten angewandt. Die jungen Bundesstaaten im Westen boten für Juristen, die in den USA ausgebildet worden waren, vielfältige Betätigungsmöglichkeiten.

Hayes war 1851 für kurze Zeit Staatsanwalt gewesen, danach Rechtsanwalt, und 1852 ist der damals 35-Jährige in sein Amt als Richter gewählt worden. Seine Zuständigkeit erstreckt sich auf den gesamten Süden Kaliforniens, weshalb er regelmäßig unterwegs ist. Er hält nicht nur in Los Angeles Gerichtssitzungen ab, sondern auch in San Diego und San Bernardino. Die Reise von San Diego zurück nach Los Angeles lässt sich am schnellsten per Schiff bewältigen. Bereits 1850 hat der amerikanische Geschäftsmann Wright einen regelmäßigen Linienverkehr entlang der Pazifikküste zwischen San Francisco und San Diego eingerichtet. Für sein Unternehmen verkehren inzwischen mehrere Dampfschiffe, die auch in San Pedro Halt machen. Eine richtige Hafenanlage existiert hier im Jahr 1856 allerdings noch nicht. Erst 1868 wird der Fuhrunternehmer Phineas Banning die Eisenbahnverbindung von Los Angeles zum Hafen bauen lassen. Weitere drei Jahre später wird der Kanal nach Wilmington ausgebaggert werden, der es den Schiffen endlich ermöglichen wird, an einem festen Kai anzulegen.

Noch müssen alle Schiffe mit dem Ziel Los Angeles weit draußen in der Bucht von San Pedro ankern. Güter und Passagiere werden beschwerlich mit kleinen Booten an Land gerudert. Wegen der vielen Sandbänke und des teils niedrigen Wasserstandes sind die Reisenden nicht nur dem Wetter und der überbrandenden Gischt ausgesetzt, sondern nicht selten gezwungen, das letzte Stück durch hüfthohes Wasser zu waten. Die Seeleute schleppen sämtliche Güter mühselig auf dem Rücken an Land. Hier warten auf die erschöpften Matrosen lediglich einige armselige Hütten und Warenlager. Weit und breit keine Stadt. San Pedro wird von den Seefahrern der damaligen Zeit als die „Hölle Kaliforniens“ bezeichnet. Jeder ist froh, wenn er diesen unerfreulichen Ort so schnell wie möglich wieder verlassen kann.

Aber Benjamin Hayes‘ Ziel ist ja nicht dieser armselige Flecken, sondern die Stadt Los Angeles. Die etwas mehr als zwanzig Meilen lange Strecke dorthin legt Hayes mit anderen Reisenden in der Kutsche zurück. Auch hierfür darf man nicht allzu empfindlich sein. Es regnet noch immer leicht und der Weg ist aufgeweicht. Der schwere Wagen hinterlässt matschige Spuren. Doch der Kutscher treibt die sechs Pferde unerbittlich zur Eile. Der Transport von Passagieren zwischen Hafen und Stadt hat sich stark beschleunigt, seit amerikanische Fuhrunternehmer hierfür große Kutschen einsetzen. Während der Güterverkehr nach althergebrachter Art noch überwiegend mit schwerfälligen Ochsenkarren abgewickelt wird, veranstalten die konkurrierenden Kutscher wahre Wettrennen, um die Strecke als schnellste zu bewältigen. Das Fuhrwerk rumpelt in haarsträubender Art über den holprigen Weg. Die Fahrrinnen sind tief eingeschnitten, und Felsbrocken im Boden bergen die Gefahr eines schweren Unfalls durch Achsbruch. Aber Zeit ist Geld! Am Fenster ziehen grüne Wiesen vorbei, auf denen große Rinderherden weiden. Dazwischen liegen vereinzelte Felder und einige Farmhäuser. Verdreckte Hunde mit struppigem Fell begleiten die Kutsche jeweils ein Stück mit wildem Gekläffe, bevor sie zurück zum Haus ihrer Herren trotten. Abseits der menschlichen Ansiedlungen bevölkern graue Erdhörnchen in großer Zahl den Landstrich. Die geselligen Tiere haben sich offenbar an die rasenden Gefährte gewöhnt, denn sie betrachten das polternde Ungetüm nur mit mäßigem Interesse. Hayes und die übrigen Passagiere werden permanent durchgeschüttelt und ihre Körper stärker aneinandergedrückt, als es Sitte und Anstand eigentlich erlauben.

Nach zweistündiger halsbrecherischer Fahrt nähert sich der Wagen Los Angeles. Die Pferde traben nun langsamer durch die gerade einmal drei Meter breite San Pedro Street. Die Straße verläuft zwischen Weinstöcken, die von Weidenbäumen umsäumt sind. Der Regen hat inzwischen aufgehört. Das Wetter in der Stadt unterscheidet sich häufig von dem an der Küste, obwohl nur wenige Meilen dazwischen liegen. Schließlich erreicht die Kutsche ihren Zielpunkt und die Passagiere quälen sich aus dem Gefährt, erleichtert, Los Angeles ohne Unglück und Überfall erreicht zu haben.

Benjamin Hayes begibt sich zu Fuß zur Plaza und legt mit festem Schritt die wenigen Meter bis zum Eingang der katholischen Kirche zurück. Er drückt die schwere Holztür auf und betritt den Innenraum.

„Buenos dias, padre!“, grüßt er den Pfarrer mit fester Stimme.

Richter Hayes und der Vertreter der Geistlichkeit behandeln sich mit dem gebührenden Respekt für das Amt des jeweils anderen. Regelmäßig tauschen sie ihre Gedanken aus. Dass Hayes gläubiger Katholik ist und zudem spanisch spricht, macht ihm das Leben in Los Angeles und seine hiesige Amtstätigkeit leichter. Noch ist das Land mexikanisch geprägt! Der amerikanische Sieg und der zeitgleich einsetzende Goldrausch mit seinen hunderttausenden ins Land strömenden Abenteurern haben für Chaos und Gewalt gesorgt. Zwischen mexikanischen Ranchern und zuziehenden Amerikanern gibt es immer wieder blutige Auseinandersetzungen. Kein Wunder, dass das erste öffentliche Gebäude, das vom Los Angeles County 1853 gebaut worden ist, ausgerechnet ein Gefängnis ist. Die Kriminalität in Los Angeles ist derart ausgeufert, dass im Durchschnitt jeden Tag ein Mord verübt wird. Viel Arbeit für einen Richter; genauso wie für einen Seelsorger.

Hayes hat es sich zur Gewohnheit gemacht, nach Rückkehr von seinen Reisen zunächst die Kirche aufzusuchen. Erst danach wird er sich zum Gerichtsgebäude begeben, um sich über die in seiner Abwesenheit eingegangenen Fälle zu informieren. Er entzündet eine Kerze und bittet Gott im stillen Gebet um Kraft für sein Amt und um Schutz für seine Familie. Richter Hayes hat vor Kurzem seine kleine Tochter verloren und die angegriffene Gesundheit seiner Frau, Emily, bereitet ihm Sorgen. Nach der Andacht wechselt Hayes mit dem Geistlichen einige Sätze und beide Männer sind sich einig, dass die Bürger der Stadt dringend des Schutzes Gottes und des Gesetzes bedürfen, um in diesen Zeiten Halt zu finden.

„Vaya con Dios“, verabschiedet ihn der Pfarrer.

„Que Dios esté con usted también“, erwidert Hayes.

Kurze Zeit später schaut Benjamin Hayes die Papiere durch, die auf dem Arbeitstisch seines Amtszimmers für ihn bereit liegen. Eine Akte fällt ihm besonders ins Auge. Sie unterscheidet sich grundlegend von den üblichen Streit- und Mordfällen, die ihn überwiegend beschäftigen: das auf die amerikanische Verfassung gestützte Gesuch einer Sklavin auf gerichtliche Bestätigung ihrer Freiheit.

Sie ist fast im selben Alter wie Benjamin Hayes, doch ihr Leben unterscheidet sich von dem des Richters vollkommen. Als sie im Jahr 1818 in den Südstaaten der USA geboren wurde, gab man ihr den Namen Bridget. Einen Nachnamen hat sie nicht; denn schließlich ist sie kein vollwertiger Mensch mit einer eigenen Familie, sondern gehörte zunächst zum Haushalt von John Smithson in South Carolina. Sie ist eine von hunderttausenden Sklaven, die in dem von Plantagenwirtschaft geprägten Süden der USA als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. 1836 schenkte ihr Besitzer sie zusammen mit anderen Leibeigenen seinem Cousin Robert Smith zu dessen Hochzeit. Mit Smith zog sie nach Mississippi, wo ihr neuer Herr und seine Familie von Mormonen bekehrt wurden. Der Aufforderung seiner neuen Kirche, all seine Sklaven freizulassen, kam Robert Smith nicht nach. Ein solcher Schritt hätte in seinen Augen einen zu hohen wirtschaftlichen Verlust bedeutet. In anderer Hinsicht folgte Smith allerdings dem Aufruf seines Kirchenoberhaupts. Als die neue Glaubensgemeinschaft in den USA zunehmenden Repressalien ausgesetzt war, beschlossen die Mormonen, sich im abgelegenen Salt Lake Valley niederzulassen.

Wie viele seiner Glaubensbrüder machte sich Smith 1847 mit seinem fast neunzig Personen umfassenden Hausstand auf den Weg nach Utah. Dieses Gebiet war kein Bundesstaat der USA, sondern ein von verschiedenen Indianervölkern bewohntes Territorium mit extremem Steppenklima, das offiziell – noch – zu Mexiko gehörte. Hier wollten die Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage den Anfeindungen entkommen, die ihnen in den USA entgegen schlugen. Ihr Kirchengründer war einem Lynchmord zum Opfer gefallen, und das neue Oberhaupt, Brigham Young, war von der Vision getrieben, außerhalb der damaligen amerikanischen Staatsgrenzen einen eigenen Mormonenstaat zu errichten. Die Glaubensgemeinschaft versuchte, möglichst viele ihrer Anhänger am Großen Salzsee zu versammeln, und Robert Smith gehörte zu den ersten, die dem Ruf des Kirchenführers folgten. Bridget hatte als Leibeigene natürlich kein Mitspracherecht gehabt, sondern musste sich wie die übrigen Sklaven gezwungenermaßen mit auf den zweitausend Meilen langen Treck quer durch den Kontinent begeben. Während des täglichen Marsches kam ihr die Aufgabe zu, hinter dem Vieh zu laufen und Acht zu geben, dass kein Tier zurück blieb. Beim abendlichen Rasten hatte sie Holz zu sammeln und die Kochfeuer zu unterhalten. Zudem war sie als Krankenschwester und – wenn nötig – Hebamme für Mensch und Vieh tätig. Diese Fertigkeiten hatte sie von anderen afrikanischen Sklavinnen gelernt; denn eine Schul- oder sonstige Ausbildung gab es für leibeigene Schwarze natürlich nicht. Neben ihren Arbeitspflichten musste Biddy, wie sie auch genannt wurde, schließlich noch ihre drei Töchter, Ellen, Ann und Harriet, beaufsichtigen. Als Vater der Kinder wird Robert Smith vermutet, sicher weiß man dies jedoch nicht.

Obwohl die beschwerliche Reise nach Utah sieben Monate gedauert hatte, blieb Smith nur für kurze Zeit am Großen Salzsee. Bereits wenige Jahre nach Errichtung von Great Salt Lake City entsandte Brigham Young Angehörige seiner Glaubensgemeinschaft in die im amerikanisch-mexikanischen Krieg an die USA gefallenen neuen Bundesstaaten, um auch dort eigene Mormonengemeinden zu etablieren. Robert Smith erklärte sich bereit, ins kalifornische San Bernardino zu ziehen. Erneut versuchte sein Kirchenoberhaupt, ihn dazu zu bewegen, zuvor seine Sklaven in die Freiheit zu entlassen, doch Smith lehnte dieses Ansinnen kategorisch ab. So musste sich Biddy auf einen weiteren, fast tausend Kilometer langen, an Strapazen und Entbehrungen reichen Marsch durch Wüste, Prärien und Gebirge machen.

Als Bridget 1851 Kalifornien erreichte, war das Land erst seit einem Jahr ein Bundesstaat der Vereinigten Staaten. Die Sklavenfrage teilte die USA in zwei politische Lager. Die südlichen Sklavenstaaten standen den freien Staaten des Nordens gegenüber. Ein Jahrzehnt später sollte auch dieser Gegensatz zur Sezession von elf Bundesstaaten, zur Bildung der Konföderation und schließlich zum Bürgerkrieg (1861 – 1865) führen. Zuvor bemühte man sich in Washington jedoch über Jahrzehnte hinweg darum, das politische Gleichgewicht zwischen Sklaven- und freien Staaten aufrecht zu erhalten. Beide Lager waren jeweils mit gleich vielen Senatoren im US-Senat vertreten, so dass es dort keine Mehrheit für die eine oder andere Seite gab. Die Aufnahme Kaliforniens als einunddreißigsten Bundesstaates hätte das Gewicht zugunsten der freien Staaten verschoben. Als Kompromisslösung entsandte Kalifornien zunächst sowohl einen die Sklaverei befürwortenden Senator als auch einen Gegner der Leibeigenschaft nach Washington, um die Balance im US-Senat aufrecht zu erhalten. Auch wenn Kalifornien hinsichtlich der Sklavenfrage im Senat quasi mit gespaltener Zunge sprach, gehörte es zu den freien Bundesstaaten.