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»Richte dem Schamanen meinen Dank aus, Talaan: Ich habe durch ihn eine mächtige Waffe erhalten.« - Marten Die Schlacht von Tullma ist siegreich geschlagen und die Magie im Volk der MaKri erwacht. Dennoch liegt ein Triumph über das Königreich Mohabs in weiter Ferne. Als Kirra beim Erlernen der Kampfzauber versagt, stellt sie alles in Frage. Wie viele MaKri besitzen überhaupt ein Talent dafür? Die Zeit spielt gegen sie, denn das Heer des Westens wird nach der nahenden Regenzeit ausrücken. Derweilen bemächtigt sich eine finstere Wesenheit der Träume Talaans. Sogar Schamane Tonri weiß keinen Rat. Bald wird offenbar, dass es Marten ist, der in die Traumpfade eindringt. Sein Angriff zielt auf den Hoffnungsträger der MaKri ab: Talaan. Ein Katz- und Mausspiel beginnt, denn die wahre Macht der Träume entscheidet über den Verlauf des Krieges.
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Seitenzahl: 439
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Christopher Abendroth ist seit drei Jahrzehnten passionierter Autor von Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten. Sein Debüt, die dystopische Science-Fiction-Novelle »Der salzige Geschmack unserer Freiheit«, gewann den renommierten deutschsprachigen Literaturpreis für Phantastik »SERAPH« 2023 in der Kategorie »Bester Independent-Titel«. Nun erscheint mit »Reise durch Nacht und Regenblau« der dritte Teil seiner Fantasy-Tetralogie »Die Macht der Weltenwandler«.
Privat ist er Familienvater mit Leib und Seele. Wenn ihm das Schreiben Zeit dazu lässt, durchstreift er als Khajiit die Reiche Tamriels oder verbringt verträumte Tage in der freien Natur. Im Urlaub bereist er gerne ferne Kulturen und Naturwunder.
In der Tradition der ersten beiden Bände gibt es auch in »Reise durch Nacht und Regenblau« ein Glossar. Da Talaan es nach den Ereignissen in diesem Buch verfasst hat und diverse MaKri Ergänzungen hinterlassen haben, wird das ein oder andere kleine Detail der Handlung gestreift. In seinem ersten Leben hätte mein Weltenwandler gesagt: »Achtung, enthält milde Spoiler«.
Du bist herzlich eingeladen, das Buch mit dem Glossar ausklingen zu lassen, oder während des Lesens auf eigene Gefahr das ein oder andere nachzuschlagen. Das Personenverzeichnis ist wieder knappgehalten und verrät nichts.
TALAAN
KIRRA
VERFOLGTE
VORBOTEN DES WANDELS
HEIMKEHR
DER RAT DER RÄTE
DIE AUSWAHL DER HUNDERT
ZWISCHEN TRAUM UND WIRKLICHKEIT
DIE WAHRE MACHT DER TRÄUME
SCHMERZHAFTE LEKTIONEN
BLICK IN DEN ABGRUND
DIE SPINNE IM NETZ
PILGERSCHAFT
STIMMEN IM REGEN
PILGERHEIM
AM TEICH DES LICHTS
MIT HELLER FLAMME
DIE ZEIT LÄUFT AB
DIE HALLE DES LICHTS
SCHATTENFALL
GLOSSAR
PERSONENVERZEICHNIS
NACHWORT
Talaan ist ein drei Leben junger Weltenwandler. Er weiß zwar immer noch nicht recht, was es damit auf sich hat, aber die Verhandlungen in Tullma haben ihm klargemacht, welche Verantwortung auf seinen Schultern liegt: Marten – ein dunkler Weltenwandler und sein eingeschworener Feind – wird alles daransetzen, das Östliche Orakel an sich zu reißen und die MaKri zu vernichten. Talaan ist entschlossen, sich ihm mit aller Kraft entgegenzustellen.
Dabei hilft es, dass die MaKri ihn als Maigan verehren. Seit er – geführt vom Orakel – entdeckt hat, dass die Magie der Geistessymbole allen MaKri offensteht, hat sein Wort Gewicht beim Waldvolk. Dass er sich damit noch mehr Verantwortung stellen muss, lastet wie Blei auf ihm.
Zu Talaans Naturell gehört es, sich in Grübelei zu verlieren. Seine Entscheidungen und seine schwer greifbare Macht als Weltenwandler stellt er immer wieder in Frage. Zu seinem großen Glück ist er mit Kirra verheiratet, die ganz das Gegenteil ist. Sie ist Talaans Stütze, sein Anker im Sturm. Wenn alles nichts hilft, vertreibt sie mit ihrem Schabernack selbst die letzte seiner Sorgenfalten. Auch hofft er darauf, dass seine Achtung vor dem Leben und die glühende Liebe für die Freiheit ihn zu einem besseren Weltenwandler machen wird, als es Marten ist.
Kirra behauptet gerne, dass sie nur eine einfache Jägerin ist. Tatsächlich erfüllt es sie mit Stolz, dass die Friedensdelegation ohne sie in den Graslanden vollkommen aufgeschmissen gewesen wäre. Sonst fühlt sie sich unter Gelehrten, Maigan und Schamanen immer ein wenig unwohl und »klein«.
Dagegen hilft zum Glück ihr durchweg sonniges Gemüt. Der Schalk sitzt ihr im Nacken, beinahe wie festgewachsen. Es bereitet ihr ein diebisches Vergnügen, ihren Mann Talaan mit ihrem Schabernack immer wieder in die Ecke zu treiben.
Kirras unbändiger Neugier ist es zu verdanken, dass sie das Geistessymbol des Lichts erlernte und die MaKri nun wissen, dass jeder vom Waldvolk über diese Art der Magie verfügt. Auch wenn sie Talaan und das Abenteuer an seiner Seite liebt, sehnt sie sich nach ihrem alten Leben zurück. Vor allem ihre Familie fehlt ihr schrecklich.
Seit zwei Tagen waren sie auf der Flucht und seit zwei Tagen mied Talaan Mani, so gut es in einem solchen Flüchtlingszug eben ging. Selbstverständlich dauerte es nicht lange, bis Kirra Wind davon bekam. Dabei hätte er schwören können, dass nicht eines der Dinge, die ihn von morgens bis abends auf Trab hielten, als Ausflucht diente. Aber seine Frau kannte ihn einfach zu gut.
Am zweiten Tag kehrte er zum frühen Nachmittag von einem Erkundungsflug zurück. Das Hochgefühl, sich durch die Lüfte zu bewegen, strömte noch durch seine Adern, als er bei den anderen MaKri landete, welche wie immer die Spitze der Kolonne bildeten. »Im Umkreis von vielen Meilen ist kein einziger Soldat des Königs zu sehen«, verkündete er. »Eine Gruppe, die uns gefährlich werden könnte, würde man von dort oben aus noch weiterer Entfernung erspähen.«
»Das sind gute Neuigkeiten«, brummte Tonri. Nur klang es bei ihm eher, als hätte er vom nahenden Tod höchstselbst erfahren. »Der Kampf um das Südtor steckt den befreiten Sklaven tiefer in den Knochen, als sie zugeben wollen. Im Gegensatz zu Manis Deserteuren sind selbst die ehemaligen Soldaten unter den Befreiten zermürbt von den vielen Opfern. Zu viele Befreite sind an der Mauer gefallen.«
»Das ist gut zu wissen«, gab Talaan nachdenklich zurück. »Danke, dass du dich um sie kümmerst.«
Ein stummes Nicken des Schamanen blieb die einzige Antwort, bevor er sich zu Rerrena und Reshero begab.
»Es ist bestimmt herrlich da oben«, meinte Kirra und hängte sich gut gelaunt bei Talaan ein. »Du müsstest dich sehen, wenn du von deinen Erkundungen zurückkehrst. Dermaßen glücklich hast du nicht einmal bei unserer Hochzeit ausgesehen.«
Eine heiße Welle der Scham schwappte über ihn, nur um von einer kalten Welle des Erschreckens fortgespült zu werden. Dann erst bemerkte er ihr Grinsen. Ihm lag eine schlagfertige Antwort auf der Zunge. Etwas vom Format, dass die Lüfte aber nicht so gut im Bett wären wie sie, doch dann konnte er nicht anders, als sie einfach nur lang und zärtlich zu küssen. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Er lächelte wie ein verliebter Narr.
»Spielverderber«, murrte sie, schmunzelte aber nicht minder liebevoll.
»Aber sag einmal …«, begann sie derart beiläufig, dass er nach ihrer vorherigen Finte sogleich in Habachtstellung ging. »Dass wir keinen Angriff zu befürchten haben, wäre sicherlich auch für Mani und ihre Soldaten interessant, oder nicht? Schließlich bilden sie die Nachhut und sind die ganze Zeit kampfbereit.«
»Sie weiß schon, dass es nichts Verdächtiges gibt, wenn ich mich nicht bei ihr melde«, wiegelte Talaan ab. Diese Worte klangen bereits in dem Moment schwach, als sie ihm über die Lippen kamen.
Sie quittierte das mit einer gehobenen Augenbraue. »Was ist das zwischen dir und ihr?«, fragte sie gefährlich lauernd.
»Zwischen mir und Mani?« Da war sie wieder, die Welle der Scham. Wobei es sich diesmal eher anfühlte, als hätte Kirra ihn in eine heiße Quelle gestoßen. »Was soll da sein?«
Nun folgte ihre zweite Augenbraue der ersten. »Sag du es mir! Ich verstehe es kein bisschen.«
»Ich weiß es ehrlich gesagt selber nicht.« Hilflos rieb sich Talaan den Nacken. »Aber es fühlt sich richtig an, mich von ihr fernzuhalten.«
»So ein Unsinn«, widersprach sie und pochte ihm mit einer Kralle gegen die Stirn. »Du denkst mal wieder zu viel. Sie hat gerade ihren König verraten und ihr altes Leben mitsamt ihrer Familie hinter sich gelassen. Mehr als alles andere braucht sie jetzt einen Freund. Einen, der nicht unter ihrem Kommando stand. Einen, der sie versteht. Dafür ist niemand besser geeignet als du.«
Kirra hatte ihren Finger mitten in die Wunde gelegt. Mani brauchte ihn – nur leider etwas zu sehr. Oft hatte er erleben müssen, dass es zu unschönen Verstrickungen führte, solche Vorzeichen zu ignorieren. Er seufzte aus tiefstem Herzensgrunde. »Du hast natürlich recht.« Das würde er ihr zuliebe aushalten müssen. Sich vor der ehemaligen Effenda zu verstecken, hatte sie jedenfalls nicht verdient.
Nun musste Kirra nur noch den Kopf fragend zur Seite neigen, um seinen Widerstand zu knacken. Und, was tust du noch hier?, fragte dieser Blick.
»Man könnte meinen, du willst mich loswerden«, grummelte er protestierend. Ihr fröhliches Grinsen genügte, um auch das auszumerzen. »Oder mich mit ihr verkuppeln«, neckte er sie.
»Sie ist nett«, meinte sie schulterzuckend, ohne ein Schnurrhaar zu bewegen. »Eine Felllose in der Familie wäre sicherlich interessant.«
Jetzt wurde ihm wieder heiß und kalt. »Du bist in diesem Spiel eindeutig zu gut«, gab er klein bei. Sie schaffte es immer wieder, ihn in Verlegenheit zu bringen.
»Habe ich mir als Belohnung einen Kuss verdient?«, fragte sie zufrieden lächelnd.
»Ich wüsste nicht, warum ich das belohnen sollte«, hielt er dagegen und küsste sie lang und voller Liebe. Diese vertraute Zärtlichkeit fühlte sich durch und durch richtig an, nicht wie dieser seltsame Akt verzweifelter Gnade mit Mani. So kam es von ganzem Herzen, als er sagte: »Aber es tut einfach unverschämt gut, dich zu küssen.« Kurz sann er nach, ob er Kirra einweihen sollte, entschied sich aber dagegen. Irgendwie würde er das mit der ehemaligen Effenda schon in den Griff bekommen.
Damit löste er sich von seiner Liebsten und lief in die entgegengesetzte Richtung. Auch wenn ihm nun alle Flüchtenden entgegenströmten, dauerte es erstaunlich lange, zu der Soldatin vorzudringen. Besonders die befreiten Sklaven begegneten jedem einzelnen MaKri mit grenzenloser Dankbarkeit und drückten diese meist mit äußerster Ehrerbietung aus. Talaan nahm sich die Zeit, sie zu grüßen und ihnen angemessen Beachtung zu schenken. Das war eine Lektion, die er als Maigan gelernt hatte.
Selbst die Soldaten brachten ihnen eine Art staunende Achtsamkeit entgegen, an der man nicht einfach vorübereilen konnte. Beinahe schien ihm, sie wollten vor ihm salutieren, obwohl er nicht ganz begriff, weshalb.
Endlich fand er Mani, die sich am hinteren Ende der Kolonne mit einer anderen Desertierten unterhielt. Als diese seiner gewahr wurde, neigte sie ehrerbietend das Haupt vor ihm und eilte davon.
»Was ist mit deinen Soldaten los?«, fragte er und blickte der Frau kopfschüttelnd hinterher.
»Das fragst du?« Sie lachte ungläubig. »Du und ich sind in ihren Augen Bezwinger des Schicksals. Wir haben erreicht, was unmöglich schien: den König herauszufordern und siegreich aus dieser Konfrontation hervorzugehen. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für einen Menschen bedeutet, der seit Jahren unter der Macht eines Despoten stand, der die Zukunft beherrschte.«
»Talaan, Bezwinger des Schicksals.« Anerkennend nickte er. »Das klingt nicht schlecht.«
Das vertrieb den nachdenklichen Ausdruck aus ihrem Gesicht und machte Platz für ein zaghaftes Lächeln. »Es tut gut, dich zu sehen.«
Warum schaute sie ihn auf diese Weise an? War das der schüchterne Blick einer Verliebten oder der einer Freundin, die er verletzt hatte? Ganz pragmatisch entschied er sich für Zweiteres. Alles andere würde er ohnehin ignorieren. »Ich musste mich erst einmal sortieren, Mani«, entgegnete er und fügte leise hinzu: »Bitte entschuldige. Es ist so wahnsinnig viel geschehen in den letzten Tagen.« Wenn er recht darüber nachdachte, sollte ein Kuss im Dunkeln die geringste Sorge darstellen.
Sie winkte ab. »Schon vergeben und vergessen. Jetzt bist du ja hier.« Doch ein wenig Schmerz blieb, das erkannte er.
»Du hattest bestimmt auch viel, worüber du dir den Kopf zerbrochen hast«, sprach Talaan das Offensichtliche aus. »Wie geht es dir?«
»Ich bin ein pragmatischer Mensch.« Er dachte an die verträumte Frau, die er bei ihrem ersten Gespräch kennengelernt hatte, und wusste augenblicklich, dass gerade die Soldatin sprach, nicht jene Träumerin. »Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig war. Das macht vieles leichter. Denk allein daran, wie sehr mein Verrat bei Mohab für Verunsicherung sorgen muss. Du hast ihm ins Gesicht geschleudert, dass jeder Mensch in seinem Umfeld einer von euch sein könnte. Er muss unweigerlich glauben, dass ich ein MaKri bin. Ich, die zum innersten Zirkel gehörte.«
Dieser Gedanke war Talaan auch schon gekommen. »Ich hoffe ja, dass ihn das für eine ganze Weile lähmen wird. Möge es uns die Zeit erkaufen, die wir brauchen.«
»Es wird ihn rasend machen.« Mani nickte sichtlich zufrieden bei diesem Gedanken. »Selbstverständlich wird er das Südliche Orakel befragen, vielleicht sogar höchstselbst. Aber es wird eine kleine Ewigkeit kosten, allein seine engsten Vertrauten bis in die Kindheit zurück zu beobachten. Nur auf diese Weise kann er ausschließen, dass sie eingeschleuste Späher sind.« Ihr Schwelgen in dieser Vorstellung bröckelte plötzlich und sie musterte ihn besorgt. »Habt ihr denn Späher bei Hofe?«
Unweigerlich zuckte die Angst vor Verrat durch seine Gedanken. Dann rief er sich in Erinnerung, was ihn dazu gebracht hatte, ihr zu vertrauen. Er musste nur in ihre Obsidianaugen schauen, um zu wissen, dass sich daran nichts geändert hatte. Irgendwo da drin war die Träumerin. »Nein, das war schlichtweg gelogen. Ich bin der Einzige, der menschliche Gestalt annehmen kann.«
»Wie kommt das?«, fragte sie mit einer Neugier, die geradezu kindlich schien. Die Frau hinter der Soldatin blitzte durch.
»Das Östliche Orakel hat den MaKri vor Urzeiten einen Zauber hinterlassen, den ich enträtseln konnte.«
»Marten hat einst davon gesprochen – die Eine Schrift?«
Wie verlockend es war, es bei einem Nicken zu belassen. Aber Kirra hatte recht: Mani brauchte einen Freund und kein Gespräch von Befehlshaberin zu Maigan. »Das – und weil ich in meinem letzten Leben ein Mensch war«, bot er ihr ein Geschenk des Vertrauens an.
Beinahe wäre sie beim Laufen gestolpert. »Du warst …«
Rasch legte Talaan einen Finger auf seine Lippen, weil ihr überraschter Ausruf die Aufmerksamkeit anderer Soldaten auf sie lenkte. »Selbst mein Volk weiß nicht, weshalb ich die Eine Schrift deuten konnte.«
Sie brach ab, holte Luft, stieß sie mit einem hilflosen Laut wieder aus und nahm einen neuen Anlauf. Indessen kam kein Wort aus ihrem geöffneten Mund. Dann erst erhellte Begreifen ihre Miene, gefolgt von einem ebenso zaghaften wie gerührten Lächeln.
»Die Wahrheit ist: Es nützt mir einen feuchten Kehricht, um die Richtigkeit meiner Entscheidung zu wissen.« Sie sah sich prüfend um, ob sich auch wirklich niemand in Hörweite befand. »Aber ich bin diejenige, die diesen Haufen von Kronenflüchtigen zusammenhält. Auch wenn die Insignien auf meinem Panzer jetzt bestenfalls ihr Metall wert sind, sehen sie in mir immer noch ihre Anführerin. Ich darf nicht zweifeln.«
»Ich bin keiner deiner Männer«, entgegnete Talaan und wackelte mit den Ohren. »Und in jeder Hinsicht ein guter Zuhörer.«
Dankbar legte ihm Mani eine Hand auf den Oberarm, blickte versonnen drein und zog sie dann zögerlich zurück. »Es sind nicht die Toten, die wir zurücklassen. Ich wäre eine schlechte Befehlshaberin, wenn ich nicht verkraften würde, dass es keine Schlacht ohne Opfer gibt. Es sind die Toten, die noch kommen werden. Ihre Namen verfolgen mich mit einer garstigen Mischung aus Ungewissheit und Zweifel. Wie viele Frauen und Männer habe ich als nicht vertrauenswürdig genug verworfen, obwohl sie mir treu gegen Mohab gefolgt wären? Wie viele von ihnen werden jetzt wohl Opfer einer Säuberung?« Grimmig fuhr sie fort: »Plötzlich verfolgt mich die Umsicht, mit der ich meine Wahl getroffen habe. Es könnten so viele mehr sein, die jetzt hier an unserer Seite laufen.«
Sie zog ein bronzenes Amulett, eher ein graviertes Tellerchen, aus einem Lederbeutel an ihrem Gürtel und betrachtete es nachdenklich. »Noch viel mehr setzen mir jene zu, die zu meinen engsten Vertrauten gehörten und die ich einfach zurücklassen musste, weil sie nicht in Tullma weilten. Ihr Tod ist gewiss. Von dem Einzigen, der Aussicht auf Entrinnen hat, habe ich seit zwei Tagen nichts gehört.«
»Wer ist er?«
»Kaya war mein persönlicher Kontakt beim Nördlichen Orakel und mein verlässlichster Verbündeter. Nach meinem Verrat ist es für jeden offensichtlich, dass er Mohab ebenso hintergangen haben muss. Ich hoffe sehr, er hat die restliche Zeit, die ihm in der Halle der Morgenröte blieb, weise genutzt. Eine Flucht vor dem König ist nahezu aussichtslos, aber mit dem Rat eines Orakels möglich.« Sie fuhr gedankenverloren mit den Fingerkuppen über das Medaillon. »Warum meldet er sich nicht?«
Die Machart des Amuletts erinnerte Talaan an die Sphäre der Sprachen. »Stammt dieses Artefakt aus der Arkanen Manufaktur Martens?«, fragte er Mani.
»Wie vieles andere Magische am Hofe des Königs, ja. Dies hier ist ein echtes Meisterstück. Sie werden immer in Paaren gefertigt und nur beide sind untereinander in der Lage, Sprache über beliebig weite Entfernungen zu übermitteln. Sie sind absolut zuverlässig.«
Daran hegte er allerdings Zweifel. »Wenn ich Kaya wäre und mein Leben davon abhinge – ich würde nicht darauf vertrauen, dass Marten nicht doch heimlich einen dritten Zwilling erschaffen hat. Er mag dem König treu dienen, aber weder sollte man ihm vertrauen noch dürfte er jemandem außer sich selbst trauen. Ganz besonders dir nicht – du warst eine direkte Rivalin seines Einflusses auf Mohab.«
Als hätte sie sich verbrannt zog sie ihre Finger vom Medaillon zurück, sodass es in den Beutel zurückglitt. »Dass ich ausgerechnet ihn in diesem Belang nicht hinterfragt habe. Seitdem die Arkane Manufaktur zur Sicherheit aller ins neue Gebäude zog, war niemand jemals bei der Erschaffung eines Artefakts anwesend. Mein Amulett stammt aus jener Zeit.«
Zähne blitzten auf, als sie den Lederbeutel sorgfältig wieder verschloss. »Ich danke dir, Talaan.«
»Wie geht es eigentlich deinen Frauen und Männern?«, fragte er und nickte in Richtung ein paar wandernder Soldaten. »Wie kommen sie mit ihrem neuen Leben klar?«
»Sie sind Soldaten. Das Marschieren sind sie gewohnt«, gab Mani zur Antwort. »Die meisten von ihnen haben es sich abgewöhnt, währenddessen allzu viel über die Zukunft nachzudenken. Das hat sich vor einer Schlacht nicht sonderlich gut bewährt.«
»Indessen scheint mir, du kannst tiefer blicken«, hakte er beiläufig nach. »Ich sehe, dass du dich um sie sorgst.«
»Du bist tatsächlich ein guter Zuhörer«, stellte sie anerkennend fest. Für eine Weile betrachtete sie ihre ehemaligen Untergebenen nachdenklich. »Wie wird man uns bei euch aufnehmen?«
»Es wird in mancherlei Hinsicht nicht leicht für euch.« Talaan sann gründlich über seine weitere Antwort nach. »Gerade in der Großen Stadt wird es nicht lange dauern, bis ihr jemandem begegnet, der Freund oder Verwandten an die Späher des Königs verloren hat. Aber es ist nicht die Art der MaKri, Vorurteile lange zu pflegen. Ihre Kultur jedoch ist für einen Menschen manchmal befremdlich und sie sind friedliebender, als du es dir vorstellen kannst. Die Schatten, die ihr in eurem Herzen tragt, sind vermutlich eure größte Herausforderung.«
»Ich bin für sie verantwortlich, mögen sie nun Freie sein oder nicht«, sagte Mani mit entschlossenem Tonfall. »Ich werde dafür sorgen, dass sie euer Vertrauen nicht enttäuschen. Wie ist es dir gelungen, dich bei ihnen einzuleben?«
»Kirra«, entgegnete Talaan und spürte die Wärme ihres Namens im Herzen. »Sie war mein Anker. Sonst wäre ich vermutlich davongelaufen.«
»Ein Anker …« Sie blickte ihn seltsam scheu an. »Es wäre schön, wenn ich ebenfalls einen hätte. Du kannst bestimmt besser als jeder andere verstehen, wie unterschiedlich Mensch und MaKri sind.«
Da war es wieder, dieses Unwohlsein. Ihre dunklen Augen schienen direkt in ihn hineinzublicken, nein ihn vereinnahmen zu wollen. Aber selbstverständlich hatte sie recht. Sie brauchte jemanden, so wie er Kirra gebraucht hatte. Einen Wegweiser. War nicht auch sie ein Freund gewesen, bevor ihre Herzen sich berührt hatten? »Wenn du es zulässt, werde ich dein Freund und dein Fels sein«, entgegnete er. »Meine Geliebte ganz sicher auch. Sie hat ein gutes Herz.« Er hoffte, dass sie diese Botschaft in jeder Facette verstand.
Ihr sonniges Lächeln und erst recht ihre Antwort wollten rein gar nicht zu seinen Befürchtungen passen: »Das würde mich sehr froh machen.«
Ein Teil ihrer Unbeschwertheit übertrug sich unweigerlich auf ihn. Für den restlichen Tag vergaß er die Sorge, Mani könnte weiterhin mehr als Freundschaft von ihm erhoffen. Stattdessen genoss er ihre Gesellschaft und gab seinem Herzen die Gelegenheit, sie unvoreingenommen mögen zu dürfen.
Talaan hatte das Paradies gefunden. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Im Osten bildeten vereinzelte Bäume die Vorläufer des Dschungels, während im Westen die Savanne endlos und Ehrfurcht erregend zum Horizont strebte. Dort, wo er stand, mischten sich die beiden Welten und das Leben gedieh in mannigfaltiger Pracht. Saftiges, hüfthohes Gras wogte einem grünen Meer gleich im über die Ebene heranschwebenden Wind. Grillen zirpten, Vögel haschten sich zwitschernd in der Luft. Unweit von ihm machte es sich ein Gepard auf einem kleinen Felsen nahe einem Wasserloch gemütlich, aus dem gerade zwei Zebras tranken.
Wie ein wärmender Mantel lag eine umfassende Eintracht über diesem Ort. Eine unerklärliche Gelassenheit und Unbeschwertheit schien von ihm auszugehen und durchdrang alles und jeden hier. Er konnte die Harmonien des Friedens im Herzen hören.
Kirra stand bei ihm und streckte ihr Gesicht mit geschlossenen Augen dem Wind und der wärmenden Sonne entgegen. Auch sie konnte es hören, fühlen, darin baden. »Was ist das für ein Ort?«, fragte sie entrückt.
So recht vermochte es Talaan nicht zu sagen. Nie zuvor war er hier gewesen, noch hatte er geahnt, dass es ihn geben könnte. Gleichwohl schien er seltsam vertraut. Erneut schaute er sich um. Im Westen konnte er in weiter Ferne eine kleine Gruppe Büffel ausmachen, die gemütlich vor sich hin trabte. Sie kannten keine Eile. Diese stand jenseits des Friedens. »Es ist vollkommen unmöglich, aber ich könnte schwören, dass dies Eranas Frieden ist.«
»Wer ist Erana?«, fragte Kirra und schaute sich ebenfalls mit liebevollem Blick um.
Nachsichtig lächelnd schüttelte er das Haupt. »Eine Legende, oder eher eine Sage … Laut dieser hat sie überall auf der Welt Orte wie diesen erschaffen: Orte des Friedens.« Immer noch voller Staunen schlenderte er zum Wasserloch hinüber und kniete nieder, um Wasser mit der holen Hand zu schöpfen. Es schmeckte köstlich und löschte mehr als einen Durst. »Aber das war nur ein Märchen in einer anderen Welt.«
»Dann ist dies ein Traum«, sprach Kirra zögerlich aus und ihre Augen leuchteten begeistert auf. »Es ist dein Traum und gleichzeitig unserer.«
»Aber ich kenne diesen Ort irgendwoher«, grübelte Talaan. Ausnahmsweise verband sich mit diesem Gedanken keine düstere Vorahnung, sondern vielmehr die Ahnung einer vergessenen, wohligen Erinnerung.
Sichtlich gut gelaunt ließ sich seine Geliebte neben ihm nieder und hielt mit einem vergnügten Glucksen ihre Füße ins kühle Nass. Der Gepard hob neugierig den Kopf, wackelte mit den Ohren und sank dann zurück in ein friedliches Dösen. »Lass einfach das Grübeln und genieße es«, bat sie ihn, während sie spielerisch Wasser trat.
»Dein Wunsch sei mir Befehl«, gab er nur allzu gern ihrem Ersuchen statt. Nach all den Scharaden und Kämpfen in Tullma war dieser Ort ein wahres Labsal für sein Herz.
Aber ich habe das hier schon mal gesehen, wiederholte er in Gedanken. Dann begriff er den Irrtum. Es war nicht die Oase, die er wiedererkannte. Auch war dies nicht Eranas Frieden, von dem er vor zwei Leben in längst verschütteten Erinnerungen gehört hatte. Vielmehr war ihm das Gefühl vertraut, das diesem Ort in seiner Grundharmonie innewohnte. Also schloss Talaan die Augen und lauschte.
Ja, diese Harmonie war ihm wohlbekannt. Derart hatte er sich das letzte Mal vor Ginuthals Tod gefühlt. Damals, im … »… Jungen Wald«, brachte er staunend hervor und schlug die Augen wieder auf.
»So also ist es dort?«, fragte Kirra bewundernd, rückte näher und legte einen Arm um ihn. Während sie den Kopf an ihn schmiegte, wisperte sie: »Dass du diesen Ort in dir trägst, ist durch und durch wundervoll. Umso mehr, da du ihn mit mir teilst.«
Über ihre Worte musste Talaan schmunzeln. »Ginuthal hat einmal gesagt, Frieden sei ein Baum, der nur wachsen könne, wenn man den Samen dafür in sich trägt. Ich habe das nie verstanden. Ich dachte, der Frieden wäre im Jungen Wald.«
Zärtlich legte sie ihm eine Hand auf die Brust. »Dieser Ort, dieser Frieden ist in dir, Geliebter. Nur hast du seit Ginuthals Tod nicht mehr den Weg hierher gefunden. Hast du nicht selbst gesagt, der Junge Wald hätte seinen Zauber für dich verloren, als sie starb?«
»Frieden …« Er kostete den Klang dieses Wortes aus, während er es bedachtsam über die Lippen kommen ließ. Es schmeckte ganz genau wie das Wasser, von dem er getrunken hatte.
Ein Blitz zerschnitt den dunkel umwölkten Himmel im Westen in zwei Teile. Ein in der Weite majestätischer Anblick. »Sieht es hier so aus, wenn die Regenzeit naht?«, fragte er Kirra lächelnd.
»Diese Wolken waren eben noch nicht da«, stellte sie fest und klang dabei irritiert. Dann fegte der Donner über sie hinweg. Die Zebras stießen ein raues Blöken aus und stoben davon.
Ein ungutes Gefühl mischte sich zwischen die Klänge der Harmonie. »Etwas stimmt nicht«, bemerkte Talaan.
»Scht«, flüsterte sie und legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Sprich nicht darüber.«
Er erkannte die Risse, die sich durch den Frieden zu ziehen begannen. Sie waren ihm nur allzu vertraut, gleichwohl wollte er die Dissonanz nicht hören, wollte den Frieden festhalten wie einen besonders wertvollen Schatz. Die Versuchung lockte ihn mit einlullender Stimme. Die Versuchung sich dem Vergessen hinzugeben, aber ebenso kraftvoll drängte eine Erkenntnis in sein Bewusstsein, wie ein zweiter Donner, der dem Blitz folgte. Getrieben von einer unbekannten Energie bemächtigte sie sich seiner. Dies war ein Traum und der Blitz im Westen, von dessen Einschlagsort nun Rauch aufstieg, nur ein Sinnbild. »Es wird keinen Frieden geben«, seufzte er resigniert. »Der Krieg steht vor der Schwelle unserer Heimat.«
Kirra wurde unsagbar traurig und ihr Gesicht verzog sich ungläubig. »Warum hast du das getan?«, wisperte sie fassungslos und löste sich von ihm. Die Grillen gaben einen grässlich verstimmten Ton von sich und verstummten mit einem Schlag. »Warum?«
Was geht hier vor sich? Der Wind verblasste zu einem Hauch und verschwand dann im Nichts.
Nun war seine Liebste nicht mehr nur traurig. Sie sah verängstigt aus. Schrecklich verängstigt. Furchtsam starrte sie nach Westen. »Sie kommen«, flüsterte sie tonlos. »Wieso hast du ihnen Zutritt gewährt?« Tränen rannen ungehemmt ihre Schnauze hinab und bildeten eine feuchte Spur in ihrem Fell.
Talaan spähte in die Ferne. Ein Flächenbrand fräste sich durch die Weite der Graslande auf sie zu. »Kirra, was …« Jedoch gab es sie nicht mehr. Dort, wo sie gesessen hatte, befand sich jetzt nur noch welkes Gras. Auch die Tiere fehlten und der Dschungel schien in weite Ferne gerückt.
Von Tullma her brandete noch mehr heran als gefräßige Flammen. Denn auch sie waren nur ein Sinnbild. Es nahte ein namenloser Schrecken, ein Vorbote von etwas Furchtbarem. Und er war fast hier.
Entsetzt riss Talaan die Augen auf und stürzte kaltem Wasser gleich in die Realität. Dort blickte er direkt in die zwei aufgewühlten Seen in Kirras endlos wehmütigen Augen. Tränen rannen ungehemmt durch das Fell ihres Gesichts. Hatte sie denselben Traum durchlebt wie er?
»Warum hast du zugelassen, dass etwas diesen Ort zerstört hat?«, fragte sie wie zur Bestätigung. Sie flüsterte ihre Worte niedergeschlagen, ohne Vorwurf. Aus ihr sprach jetzt eine irdische Traurigkeit, nicht verzerrt durch das Fieber eines Albtraums. »Ich habe noch nie solche Schönheit gesehen.«
Auch in ihm drängten die Tränen dermaßen brennend empor wie lange nicht mehr. Wie hatte er diesen Ort nur vergessen können? Jahre hatte er ohne ihn im Herzen gelebt. Nun, da er ihn für einen Wimpernschlag wieder gefunden hatte, schmerzte jedes einzelne davon.
»Ich konnte es nicht aufhalten«, war das Einzige, was er hervorbrachte. Hatte er jemals eine derart abrupt eindringende Düsternis in einem Traum erlebt? Trostsuchend schlang er einen Arm um sie und vergrub das Gesicht an ihrem Hals. »Es fühlte sich an, als hätte es sich in meinen Traum hineingedrängt, um meinen Frieden zu zerstören.«
Für eine Weile hielten sie sich fest, eng umschlungen, und fanden Linderung in der Nähe des anderen. Dies hier war die Realität, auf die es ankam. Sie hatten einander. Das war nicht Eranas Frieden, aber ohne den anderen würde es ihn auch niemals geben.
»Ich glaube nicht, dass ich heute noch einmal einschlafen möchte«, flüsterte seine Liebste irgendwann in seine Halsbeuge hinein.
»Wenn du mich fragst, ist ein Spaziergang im Sternenlicht viel verlockender«, erwiderte Talaan erleichtert. »Wollen wir?«
Also schlichen sie sich hinaus in die nachtweiten Graslande.
»Die Sterne sind tatsächlich etwas, das ich im Dschungel vermissen werde.« Kirra blickte nachdenklich in den Nachthimmel empor, der sich wie eine gewaltige Kuppel über ihnen wölbte. Der Mond war bereits irgendwo hinter dem Horizont abgestiegen und überließ den Sternen die Herrschaft über das Firmament.
Talaan, der gemütlich neben ihr einherschritt, streichelte mit den Fingerkuppen die Innenseite ihrer Hand. Auch er versuchte, in der Pracht der Gestirne Zuflucht zu finden. Doch ähnlich wie in seinem Traum wurde dieser brüchige Frieden bedrängt. Dieses Mal jedoch trieb ihn keine ominöse, fiebrig verzerrte Macht aus dem Westen, sondern vielmehr die zärtliche Sorge um das Wohlergehen seiner Frau. Selbst damals, als er ihrer Liebeserklärung nur mit dem Angebot der Freundschaft begegnen konnte, hatte er nicht diesen Kummer in ihr gelesen.
»Du hast einen Baumflüchtigen geheiratet, meine Geliebte«, erwiderte er sanft. »Wir können so viele Nächte unter dem Sternenzelt verbringen, wie dein Herz es begehrt.«
»Das würde mir gefallen.« Ein Seufzer aus ihrem tiefsten Innern stieg in den Himmel hinauf.
»Eine Sache verstehe ich nicht«, tastete er sich auf Umwegen vor.
»Nur eine?« Kirra lachte, jedoch mit einem Schatten ihrer üblichen Fröhlichkeit. »Ich habe wohl einen äußerst weisen Mann geheiratet.«
»Zweifle nicht an meiner Weisheit, schließlich habe ich mich für dich entschieden«, neckte er sie zurück und erntete die Andeutung eines Lächelns. »Was mir zur Erleuchtung fehlt, ist die Erkenntnis, wie wir beide den gleichen Traum haben konnten.«
»Nicht den gleichen«, widersprach sie. »Denselben. Wie das genau vonstattengeht, musst du Tonri fragen. Das Reich der Träume erforschen die Schamanen derart selbstverständlich, wie andere auf die Jagd gehen.« Eine Begeisterung leuchtete in ihren Augen auf, die für einen Moment nahezu ungetrübt blieb. »Es heißt aber, dass Liebende, deren Herzen einander sehr nahe sind, hin und wieder Träume teilen können. Ich kannte bisher niemanden, der das selbst erlebt hat.«
Behutsam hielt Talaan sie zurück, bis sie in ihren Schritten innehielt. »Ich liebe dich, Kirra«, raunte er, schloss die Arme zärtlich um sie und zog sie in einen langen, innigen Kuss. Die Sterne verschwanden, die Sorgen verschwanden und für einen wunderbaren Augenblick gab es da nur diesen Fluss der Liebe, in dem er trieb.
Auch wenn es ihn verlockte, es bei diesem zugleich einfachen wie tiefen Trost zu belassen, ahnte er das Ausmaß ihrer Wunden, die es zu heilen galt. »Wenn unser gemeinsamer Traum ein Zeichen der Verbundenheit war, weshalb warst du darüber nicht glücklich? Ich habe dich nie zuvor auf diese Weise weinen sehen.«
Erneut stieg ein abgrundtiefer Seufzer Kirras in die Nacht. Sie löste sich von ihm und zog ihn mit sich. Sie wollte laufen, das verstand er. »Ich schlafe seit den Kämpfen in Tullma nicht sehr gut«, sagte sie viele, viele Schritte später. »Meine Träume … nein, dieser eine ist schrecklich. Ich hatte gehofft, es würde mit wachsender Entfernung zu der furchtbaren Stadt besser, aber …« Sie ließ das Ende ihres Satzes offen.
»… es verfolgt dich«, ergänzte Talaan. Wie es scheint, sind wir alle Verfolgte.
»Dieses Idyll in jenem Traum, den wir heute hatten …« Ihre Finger schlossen sich fester um die seinen. »Er war in allem das Gegenteil von dem, den ich immer wieder habe – voller Frieden und Leben.«
»Du hast das bisher vor mir verborgen«, stellte er mit milder Stimme fest. »Du weißt hoffentlich, wie sehr ich für dich da sein möchte.«
»Ja, das weiß ich.« Ihr Daumen fuhr zärtlich über seinen Handrücken. Sie sog die würzige Nachtluft der Savanne tief in sich ein und ließ ihren Atem dann langsam wieder entweichen. »Ich wollte es nicht dir verschweigen, sondern den anderen. Du weißt, dass ich mir zwischen euch Maigan und Gelehrten irgendwie klein vorkomme.«
»Ich verstehe es nicht«, gestand Talaan ein, »aber ja, ich weiß um diese Gefühle.«
Eines der Dinge, die er an Kirra so sehr liebte, war, dass sie ihm alle Zeit der Welt gab, Gedanken zu passenden Worten zu ordnen. Allzu gerne erwiderte er nun diesen Gefallen, denn er sah ihr an, wie sehr es in ihrem Innersten rumorte. Derweil war das, was auch immer da sein Unwesen trieb, ein scheues Tier und zögerte hervorzukommen.
Also spazierten sie eine Weile durch das gräserne Meer und lauschten dem Wind, der es wiegte. Als sie endlich gefunden hatte, was sie suchte, fuhr seine Liebste fort: »Wir alle haben in Tullma gekämpft. Wir alle haben getötet. Ich weiß, dass es notwendig, dass es zum Wohl unseres Volkes und für die Erlösung der Unfreien war. Warum bin ich dann die Einzige, der es derart zusetzt, was wir getan haben?«
»Woher willst du denn wissen, wie es in den anderen aussieht?«, fuhr er fort. »Sie sind Würdenträger oder bestenfalls lose Freunde für dich. Du und ich – wir sind uns in Herzen und Seelen nahe, dennoch habe ich nicht bemerkt, was dich umtreibt.«
Mehr als nur zweifelnd sah sie ihn an. Beinahe vorwurfsvoll, zumindest aber verweigernd. »Der Einzige, bei dem mir etwas aufgefallen wäre, ist Sorral. Und das lediglich bei Tage. Am Lagerfeuer ist er ganz er selbst.«
Dem konnte Talaan nur zustimmen. »Er wusste, dass er einzig und allein für den Kampf nach Tullma gehen würde. Das hat ihm schon damals nicht geschmeckt. Er ist ein Krieger und hat bereits zuvor Leben genommen. Aber jetzt, da er die Fülle seiner Magie verwendet hat, um uns alle zu beschützen, ist ihm erst bewusst geworden, welchen Preis er als Maigan zahlen muss. Er hat recht, weißt du: Töten darf nicht leicht sein. Wie ich ihn kenne, erinnert ihn die Zeit am Lagerfeuer daran, wofür er diesen Preis zahlt.«
»Was ist mit den anderen?«, hakte sie nach.
»Hast du Rerrena auf dem Marktplatz oder an der Stadtmauer jemals mit ihrem Messer in der Hand gesehen?«
Kirra blieb nur, den Kopf zu schütteln.
»Ich glaube, sie wäre lieber selbst gestorben, als zu töten. Reshero hingegen hat gekämpft und ich sah Blut an seinem Messer. Aber hat er seit Tullma einmal etwas in sein Buch geschrieben?«
Erneut konnte sie nur verneinen.
»Du weißt, wie wenig das zu ihm passt.
Bliebe noch Tonri – er sucht sein Heil bei den Menschen. Er kümmert sich so verbissen um ihre seelischen Wunden, dass ich mich des Gefühls nicht erwehren kann, er wäre vor den eigenen auf der Flucht.«
Zunächst wurden Kirras Schritte immer langsamer, bis sie ganz stehen blieb. »Wie mir das alles entgehen konnte …«
»Was mich selbst angeht …«, sprach Talaan aus, bevor das Schweigen zu verlockend wurde. »Ich habe eine rege Phantasie und ein gnadenlos gutes Gedächtnis. Immer wieder tauchen sterbende Gesichter vor meinem inneren Auge auf. Dann geht mein Verstand auf die Reise, gibt dem Namenlosen einen Namen und macht aus dem Soldaten einen Menschen. Ob ich es will oder nicht, werden Freunde und Familie des Toten in meinem Geist lebendig. Wer ihn wohl vermisst? Wessen Herz wohl gebrochen ist? Wird jemand über seinen Tod Erleichterung verspüren?«
»Das klingt furchtbar«, stöhnte sie. »Warum tust du dir das an? Du weißt, dass diese Geschichten nicht wahr sind.«
»Es macht keinen Unterschied, ob sie es sind oder nicht«, widersprach Talaan und ergriff sie behutsam bei den Schultern. »Denn jeder, der zwischen Königspalast und den Toren fiel, hatte eine solche Geschichte und hinterlässt reale Menschen, die sein Tod in tiefen Kummer stürzen wird.«
»Solltest du nicht versuchen, mich aufzumuntern?« Kirra schniefte und versuchte vergeblich, ihre Tränen wegzublinzeln. »Was du da sagst, macht es nur schlimmer.« Trotzdem drängte sie sich eng an ihn, umschloss ihn geradezu verzweifelt mit den Armen und teilte ihre Trauer mit ihm.
»Es gibt Dinge, die lassen sich nicht weglachen«, sprach er leise. »Jemanden zu töten, darf man nicht mit Scherzen übertünchen. Das klappt ohnehin nicht.
Wir müssen uns dem vollen Maß des Leides stellen, das ein ausgelöschtes Leben mit sich bringt. Nur dann werden wir auch in Zukunft alles dafür tun, Leben zu erhalten, statt es für akzeptabel zu halten, auch nur eines zu nehmen.«
»Ich finde es immer noch furchtbar«, maulte sie und stöhnte. »Aber ich glaube, du hast recht. Wenn ich mich dem nicht stelle, wird stets eine tote Fratze über meine Schulter schauen, wann immer ich in den Spiegel blicke. Ich will mich dem stellen. Das bin ich ihm schuldig.«
»Ihm?« Talaan horchte auf, doch noch während die eigene Frage in seinen Ohren nachhallte, wurde ihm bewusst, dass es immer einen ›ihm‹ oder eine ›sie‹ gab. Einen Tod, der einem besonders naheging, der einen verfolgte. »Wer ist es, der dich in deinen Träumen heimsucht?«
Seine Geliebte holte zitternd Luft, schluckte und löste sich von ihm. »Können wir uns setzen?«
Sie machten es sich gegenüber im Schneidersitz gemütlich, wo sie stehengeblieben waren. Das hohe Gras umgab sie nun wie ein schützender Wall. Kirra ergriff seine Hände, blickte hilfesuchend zu den Sternen empor und senkte das Haupt wieder kopfschüttelnd. »Ich wusste, dass es schlimm werden würde.« Ihre Stimme glich einem traurig wispernden Wind.
»Ich hatte schon beim Hort des Geistes gekämpft und auch auf dem Markt. Aber das war überschaubar gewesen. Ich habe immer nur versucht, die wenigen Soldaten kampfunfähig zu machen, denen ich gegenüberstand. Zweimal musste ich töten.« Sie stockte und er gab ihr Zeit. »Beide Male hätte es sonst einen Sklaven erwischt. Es fühlte sich irgendwie gerecht an, was ein Trost war, aber als wir die Stadtmauer erreichten und ich all diese Wachen sah …« Ihr Kiefer mahlte. »Ich wusste, dass ich beim Kampf um das Tor keine Rücksicht nehmen durfte, wenn wir überleben wollten. Also habe ich entschieden, diese Schlacht ohne Zurückhaltung zu schlagen. Mein Speer ist noch nie so schwer gewesen, wie in diesem Augenblick. Ich wollte mich schützen, wollte es nicht zu nah an mich heranlassen. Ich kämpfte verbissen und tötete mit knirschenden Zähnen. Dann jedoch…«
Kirras Stimme verkam zu einem Krächzen und sie räusperte sich. Erneut schlichen sich Tränen in ihre Augen, dennoch fuhr sie entschlossen fort: »Da war ein junger Mann. Rotes Haar quoll unter seinem Helm hervor. Ich habe die Angst in seinen grauen Augen gesehen, als ich plötzlich vor ihm stand. Rüstzeug hin oder her, er war kein Soldat. Er war einfach ein furchtsamer Mensch, der sein Leben verteidigte – dafür hat er sich tapfer geschlagen.« Derart leise, dass es nahezu im Rascheln des Grases unterging, fügte sie hinzu: »Er hat verloren. Das Schlimmste von allem war jedoch dieser Ausdruck in seiner Miene, als mein Speer ihn am Hals traf.« Sie schluchzte derart elendig, dass Talaan ebenfalls Tränen hochkommen spürte.
»Alle Furcht wich aus seinem Blick. Zurück blieb nur diese Verzweiflung. Er wusste, dass er starb. Ich habe noch nie in derart hoffnungslose, abgrundtief traurige Augen geschaut. Sie sind es, die mich verfolgen.«
Ihn schauderte. Kein Wunder, dass sie Albträume hatte. Er nahm ihre Hände, legte sie zusammen und umschloss sie mit den Fingern. »Wie hieß er?«
»Woher soll ich …« Sie stockte und nickte schließlich. »Ich nenne ihn Tarik.«
»Was glaubst du?«, führte er sie behutsam weiter auf den Weg. »Wie war er so? Wer war er?«
Während ihr die Tränen rechts und links die Schnauze hinabliefen, dachte Kirra eine Weile nach. »Er war sanftmütig, da bin ich mir sicher. Nicht zum Soldaten geboren. Wohl hatte er gehofft, dass der Dienst an der Waffe ihn zum Mann machen würde, dass er dabei Mut lernen und Selbstbewusstsein finden würde. Nun ist er fern der Heimat gestorben.«
»Du machst das gut.« Talaan nickte ihr bestärkend zu. Dabei staunte er insgeheim, wie sehr sie ihm vertraute, dass sie seinen Weg der Trauer dermaßen offen annahm. »Welche Menschen lässt er zurück?«
Dieses Mal brauchte sie nicht lange, um weiterzukommen. Tarik wurde in ihrem Kopf lebendig, das konnte er sehen. »Er war der jüngste von drei Brüdern. Den ältesten hat er bewundert und dieser hat ihn gehänselt. Seinetwegen ist er zum Heer gegangen. Er wird sich deshalb ein Leben lang grämen.« Seine Geliebte sann kurz nach. »Tariks Mutter hat ihren Lieblingssohn verloren, während sein Vater sich nur bestätigt sieht, dass er zu weich für das harte Leben war. Eine Frau wird nicht auf Tarik warten. Er war zu jung und zu unsicher, um die Liebe gefunden zu haben.« Sie seufzte ein letztes Mal von ganzem Herzen und verfiel ins Schweigen.
Andächtig saßen sie beide auf diese Weise da – unter einem Nachthimmel, der weiter nicht sein könnte, inmitten der Graslande fernab der Heimat und in Liebe und Kummer vereint.
»Ich verstehe, dass es wichtig ist«, sagte sie irgendwann unendlich erschöpft. »Aber gibt es gar keinen Trost darin?«
»Doch, den gibt es.« Talaan lächelte traurig. »So wichtig es auch ist, Tarik auf diese Weise eine Geschichte mit Bedeutung zu geben, gibt es noch eine andere Geschichte. Eine Jägerin namens Kirra wird eines Tages in ihr Heimatdorf zurückkehren. Ihr Vater Nashem, ihre Mutter Chandrika und ihre Beimutter Eliha werden Tränen des Glücks vergießen, weil sie ihre Tochter wieder in die Arme schließen können. Ihre aufmüpfige Schwester Loma wird nur schimpfen, dass sie viel zu lang fort war, sie dann aber irgendwann fest in den Arm nehmen und für eine ganze Weile nicht mehr loslassen. Alle MaKri in ihrer Heimat werden von Herzen froh sein, dass die Tochter des Dorfes wohlauf zurückgekehrt ist. Ihr Mann wird jeden Morgen an sie gekuschelt aufwachen und tiefes Glück darüber empfinden. Irgendwann werden zwei topasblaue Augen staunend zu ihr aufschauen und ›Mama‹ zu ihr sagen.«
Kirra blinzelte. Sie schniefte. Endlich traute sich ein Lächeln auf ihre Lippen, zaghaft aber letztlich unaufhaltsam. Es war ein tränennasses, ein trauriges aber auch ein hoffnungsvolles Lächeln. Stumm zog sie ihn in die Arme und versuchte, sich in ihm zu verkriechen.
Das Schwarz der Nacht bekam bereits einen klaren Blauschimmer, als sie ihr einvernehmliches, tröstliches Schweigen schließlich brach. »Nur damit du es weißt: Ich bestehe auf rote Augen für unser erstes Kind.«
Sie lachten beide ein wundervoll befreiendes, durch und durch lebensbejahendes Lachen. Eine Herde Springböcke, die unbemerkt in ihre Nähe geraten war, ergriff aufgeschreckt die Flucht. Lange Zeit blickten die beiden ihnen nach, auch dann noch, als es schon gar nichts mehr zu sehen gab.
»Wollen wir zurück ins Lager?«, fragte Talaan schließlich. »Bevor die anderen uns vermissen und Fragen stellen, die wir nicht hören wollen?«
Statt einer Antwort nahm Kirra ihn an der Hand. Der Dämmerung in den Graslanden lauschend kehrten sie zurück.
Kirra schwamm im »Gräsernen Meer«, wie ihr Gatte die Graslande hin und wieder nannte. In diesem perfekten Moment passte der Name besser als jeder andere. Beinahe schien ihr, sie wäre ein Krokodil in den Flüssen ihrer Heimat. Lediglich ihre Augen und Ohren schauten aus der goldgelben Oberfläche, durch das der Wind Wellen um Wellen trieb. Wie ein Krokodil lauerte sie reglos auf ihre Beute.
Früher hatte sie das Warten während der Jagd verabscheut. Sie liebte den Reiz viel zu sehr, ihrer Beute nachzustellen, sie aufzuspüren und mit einem präzisen, schnellen Angriff zur Strecke zu bringen. Jetzt jedoch gab es nichts, was sie gerade lieber täte, als zu lauern. Sich auf der Jagd zu befinden, bedeutete für sie, endlich wieder das zu tun, worauf sie sich am besten verstand.
Wenn sie genauer darüber nachdachte – und dazu fand sie gerade viel Gelegenheit – kratzte diese Feststellung nur an der Oberfläche: Keine toten Menschen, keine herablassenden Könige oder hinterhältige Weltenwandler. In der angespannten Konzentration gab es keinen Platz für Gedanken an den Krieg oder an die Orakel. Obgleich die Graslande endlos weit wirkten und der Himmel über ihnen schier gewaltig war, fühlte sie sich hier und jetzt weniger klein als am Lagerfeuer neben den Großen ihres Volkes – im Gegenteil. Sie leitete diese Jagd. Kirra machte eine geeignete Herde ausfindig, besprach die Einzelheiten mit den Menschen, die als Treiber dienen sollten, und führte die jagenden MaKri um die Tiere herum zu einem geeigneten Punkt. Für das Füllen so vieler hungriger Mägen verantwortlich zu sein, machte sie froh und stolz.
Sie war es gewesen, die diese Art der Jagd erdacht hatte. Geparden mochten mit ihrer aberwitzigen Schnelligkeit ihre Beute zur Strecke bringen, aber Löwen waren vor allem im Rudel erfolgreich. Irgendwo links von Kirra lag ihr Liebster ebenso reglos auf der Lauer und dahinter verbarg sich Reshero im hohen Gras. Rechts versteckten sich Sorral, Rerrena und Tonri.
Argwöhnisch prüfte sie, was die Witterung ihr verriet. Der Wind trieb den Geruch jener schlanken Tiere in ihre Richtung, die Talaan Oryxantilopen nannte. Noch konnte sie keine Angst riechen. Sie pflegte einen ordentlichen Respekt vor den lanzengleichen Hörnern dieser eleganten Geschöpfe und wollte nicht auf dem falschen Fuß erwischt werden. Der richtige Zeitpunkt war entscheidend für Gelingen und Sicherheit.
Lärm wehte über die Ebene. Erst die fernen Schreie und das metallische Klappern der Menschen, dann gesellten sich mehrstimmig die rau blökenden Warnlaute der Antilopen dazu. Kirra packte ihren Speer fester, der neben ihr auf dem Boden lag. Es war fast so weit. Ihr Herz machte einen freudigen Sprung und setzte zum Galopp an, auch wenn nicht einmal ihre Schnurrhaare bebten. Der Reiz der Jagd, dachte sie und ein Grinsen entblößte ihre Fangzähne.
Ein zweiter Herzschlag kam zum ersten hinzu, ein rhythmisches Pochen, das sie zuerst irritierte und bald beunruhigte. Der Boden bebte.
So sollte es sich nicht anfühlen, erkannte sie. Hatte sie die Größe der Herde etwa unterschätzt?
Die ersten Köpfe stießen aus den wogenden Graslanden empor. Immer und immer wieder und immer und immer mehr. Die Herde floh, aber bei Weitem nicht in Panik. Wenn Oryxantilopen auf diese Weise rannten, hatten sie es nur eilig, einen sicheren Abstand zu gewinnen. Zugleich aber wurde der zweite Herzschlag kräftiger, nahm an Bedrohlichkeit zu. Dann erspähte sie zwischen dem Auf und Ab der Antilopen einen gedrungenen, breiten Schädel mit ausladenden, sichelförmigen Hörnern.
Wasserbüffel!, wollte sie eine Warnung schreien, beherrschte sich aber im letzten Augenblick. Die anderen würden es früh genug sehen. Ihr Versteck jetzt preiszugeben, würde wirklich Panik in der fliehenden Herde auslösen. Die Folgen einer kopflosen Flucht derart vieler Tiere wollte Kirra nicht erleben.
Wasserbüffel, dachte sie erneut, allerdings trieb es ihr dieses Mal ein Grinsen ins Gesicht, das keinen Zahn versteckt ließ. Wenn sie die Wahl hatte zwischen einer Antilope und dem massigen Geschöpf, wusste sie, wie sie sich entscheiden würde.
Alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich jetzt. Ihr Herz schlug wie wild und weigerte sich, im Getöse der schweren Tritte unterzugehen. Zu früh und ein huftrampelndes Chaos würde ausbrechen, zu spät und sie riskierte, einfach niedergerannt zu werden.
Alles bewusste Denken trat zurück und ihre Instinkte, so lebendig und kraftvoll, übernahmen die Kontrolle. Die Zeit verlor an Bedeutung. Was zählte, waren Entfernung und das Muster aller Bewegungen in der Flutwelle der heranstürmenden Tiere.
Da! Mit fließender Geschmeidigkeit schnellte sie aus der Deckung hervor. Ein Oryx, der direkt auf sie zugehalten hatte, korrigierte leicht seinen Lauf, als wäre sie nichts weiter als ein Fels. Als er das wahre Ausmaß der Gefahr erkannte, versuchte er mit einem hellen Blöken einen Haken zu schlagen, doch weitere Oryxantilopen blockierten den Weg. Kirra hob den Speer und zögerte. Umweht vom Geruch der Todesangst preschte das Tier keine Armeslänge an ihr vorbei und sie ließ es geschehen. Denn in der Lücke, zu der sich der Strom der fliehenden Antilopen jetzt teilte, erspähte sie einen Büffel.
Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte sie Angst während einer Jagd in sich aufsteigen. Diese bebende, stampfende Masse aus Muskeln und Hörnern glich nichts, was sie jemals zur Strecke gebracht hatte. Sie hielt mit gesenktem Kopf direkt auf Kirra zu. Rigoros trieb sie dieses lähmende Gefühl zurück und machte sich bereit. Dass der Wasserbüffel sie auf die Hörner nehmen wollte, machte die Sache berechenbar. Lediglich die Antilopen rechts und links des Kolosses bereiteten ihr Sorgen. Zu dicht, erkannte sie. Kein Platz zum Ausweichen!
Mit dem Brüllen einer Löwin wirbelte sie nach links. Restlos verängstigt wichen die Oryxe noch weiter aus, schoben ihre Kameraden einfach beiseite. Der Büffel wollte nachziehen, aber sein eigener Schwung trieb ihn an Kirra vorbei. Ihr Speer schnellte vor und traf mit der Präzision tausendfacher Übung. Trotzdem rannte der Koloss einfach weiter und riss ihr den Schaft aus der Hand.
Wie kann er das überleben?, dachte sie erstaunt durch den aufflammenden Schmerz ihrer Schulter hindurch. Ich habe die Venen am Hals getroffen! Dann stolperte das gewaltige Tier und brach zusammen.
Sie spürte das Gewicht des mächtigen Körpers unentwegt in ihrem Verstand. Dieses seltsame Gefühl ähnelte dem untrüglichen, angestarrt zu werden, bevor man die Blicke selbst bemerkte. Talaan hatte ihr erläutert, dass die Macht der Telekinese nicht ›auf der Ebene körperlicher Dinge wie der Masse‹ wirkte. Gleichzeitig würde aber das eigene Wissen um das Gewicht eines Körpers dieser Schwerelosigkeit im Weg stehen.
Nach ihrer eindrücklichen Begegnung mit dem kraftstrotzenden, bebenden Berg aus Muskeln und Hufen zweifelte Kirra nicht mehr an der Wahrheit dieser Behauptung. Das Geistessymbol der Telekinese glomm mit voller Kraft in ihrem Verstand und erschien ihr makellos. Indes stand es jedes Mal kurz vor dem Versagen, wenn sie zu viel über die Erschütterung der Erde oder das wuchtige, dumpfe Geräusch nachdachte, mit dem der Wasserbüffel zu Boden gegangen war.
»Das ist eine beeindruckende Beute, mit der du da ins Lager zurückkehren wirst«, bemerkte Tonri anerkennend. Bisher hatte er sich grüblerisch schweigend an ihrer Seite gehalten, blickte aber nun erst den Büffel und dann sie mit staunender Aufmerksamkeit an. »Du kannst stolz auf dich sein, Tochter der Jagd.«
Unweigerlich schoss ihr das Blut in die Ohren. »Tochter der Jagd« war eine Ehrenbezeichnung, die man nur selten zu hören bekam. Ganz gewiss hatte noch nie jemand sie so angesprochen. »Das ist sehr freundlich«, murmelte sie verlegen.
»Unsinn«, grummelte der Schamane und klang wieder eher wie er selbst. »Das hat mit Freundlichkeit nichts zu tun. Willst du behaupten, schon einmal solch eine gefährliche Beute erlegt gesehen zu haben?«
Unweigerlich musste Kirra grinsen. Die Freude über das Lob teilte ihre Lippen, derweil ließ etwas anderes ihre Zähne vollends erstrahlen: Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Tonri sich hinter seiner Zurechtweisung nur versteckte. »Die Jagd auf meinen Mann war herausfordernder«, gab sie gut gelaunt zurück.
»Lass Talaan nicht hören, dass du ihn als ›erlegt‹ betrachtest«, entgegnete der Schamane und verbiss sich mit wenig Erfolg ein eigenes Lächeln.
Sie schaute über die Schulter. Weiter hinten lief ihr Liebster und unterhielt sich mit Rerrena. Ihre Beute schwebte getragen von den kaum sichtbaren Fäden der Telekinese neben ihnen her. »Nein, er wirkt noch recht lebendig«, sagte sie voller zärtlicher Gefühle.
»Das ist mir heute Nacht auch aufgefallen«, stellte Tonri fest. Ernst hatte die Fröhlichkeit in seiner Stimme wieder vertrieben. »Wie kommt es, dass ihr deutlich vor der Dämmerung in die Graslande gezogen seid?«
Warum beschlich Kirra das Gefühl, dass er sich wie ein erfahrener Jäger an sie herangepirscht hatte, während sie nicht auf der Hut gewesen war? »Wie kommt es, dass du das bemerkt hast?«, wich sie aus wie ein scheues Okapi.
»Der Schlaf ist für Schamanen etwas anderes als für einen gewöhnlichen MaKri. Um ein Gleichnis zu nehmen: Träume sind wie ein weiträumiges Netz, gewoben von den Träumenden selbst. Wir Schamanen ähneln Spinnen, die die leisesten Erschütterungen der verwobenen Fäden spüren können. Heute Nacht war es, als hätte jemand einen großen Stein in das Netz geworfen. Einige dieser Fäden sind jäh gerissen.«
»Dabei ist die Spinne vom Netz gefallen?«, fragte sie verschmitzt.
Tonri indessen blieb ernst. »Ja, ich bin davon aufgewacht. Seit ich gelernt habe, auf den Traumpfaden zu wandeln, habe ich so etwas noch nicht erlebt.«
»Schaust du deswegen den ganzen Tag grüblerisch drein?«
»Wart ihr deshalb wach?«, stellte er ungerührt eine Gegenfrage. Gleichwohl war ihr die Dringlichkeit in seiner Stimme Antwort genug.
»Ich glaube schon«, erwiderte sie nachdenklich. Die Worte des Schamanen passten zu dieser verstörenden Wende ihrer nächtlichen Erlebnisse. »Ich verstehe nichts von derlei Dingen, aber was Talaan und ich gesehen haben …«
»Ihr habt im Schlaf dasselbe erlebt?«, unterbrach er sie scharf.
»Bis eben dachte ich noch, das wäre etwas Schönes«, maulte Kirra. Der Tonfall des Schamanen machte deutlich, dass irgendetwas ganz und gar nicht damit stimmte. »Sagt man nicht, dass eng Verbundene Träume teilen würden?«
Als er ihrer Enttäuschung gewahr wurde, glätteten sich seine ernsten Züge zu einem deutlich milderen Ausdruck. »Nach allem, was ich über die Traumpfade weiß, kann das geschehen, ja.« Er gönnte ihr einen Moment, bevor er fortfuhr: »Aber in einer Nacht wie dieser? Um bei meinem Sinnbild zu bleiben: Wenn man einen schweren Stein in ein Netz wirft, reißen manche Fäden und andere verkleben. Pfade werden ineinander gepresst.« Tonri zögerte, rang sichtlich mit sich und sprach schließlich aus, was ihn umtrieb: »Ich bin nicht der Schamane deines Dorfes und wir kennen uns bei Weitem nicht gut genug, aber darf ich dich bitten, mir eure Erlebnisse anzuvertrauen? Ich halte es für äußerst wichtig, davon zu erfahren.«
Warum ist nichts mehr leicht und unbeschwert in meinem Leben?, dachte sie betrübt. Selbst was ich im Schlaf sehe, bekommt ein Gewicht, für das sich Älteste interessieren.
Mit der hartnäckigen Geduld eines Steines sah er sie an: wenig aufdringlich, aber schwer zu ignorieren. Um etwas Zeit zu gewinnen, prüfte Kirra ihr Geistessymbol auf Zeichen von Nachlässigkeit. Sie fand keine und somit auch keinen Grund, weiter der Antwort auszuweichen. »Selbstverständlich vertraue ich dir unser Erlebnis an. Ich kenne dich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass Talaan recht hat: Du hast ein großes Herz.«
Also berichtete sie dem Schamanen alles, woran sie sich erinnern konnte. Tonri lauschte hochkonzentriert und unterbrach sie kein einziges Mal. Gegen Ende, als sie zu dem Blitz und dem Flächenbrand kam, wurde er jedoch spürbar unruhig und angespannt.
»Dein Mann sagte also, etwas hätte diese Veränderung bewirkt, dass er nicht aufhalten konnte?«
Das erschien ihr das Verstörendste an der ganzen Begebenheit. »Ich hatte auch das Gefühl, dass etwas versucht hat, in unseren Traum zu drängen. Das war gewiss nichts Freundliches.«