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»Wir sind Weltenwandler! Wir sind Schöpfer! Das ist unsere wahre Macht.« In der Königsstadt Tullma trifft die Friedensdelegation der MaKri auf einen kalten und berechnenden Herrscher. Die wahre Gefahr ist jedoch jener Mann, der Maigan Talaan in seinem letzten Leben tötete: Marten, der nun Berater des Königs ist. Dieser hat mit der Macht des Weltenwandels längst aus einer kleinen Nation ein Großreich erschaffen. Zu seinen Plänen gehören die drei Orakel der bekannten Welt. Ein Krieg mit dem Waldvolk ist dabei ein Preis, den er gern bezahlen würde. Damit rückt die Aussicht auf Frieden in weite Ferne. Doch im Geheimen erreichen Kirra und Talaan kryptische Botschaften eines möglichen Verbündeten. Als Maigan Talaan den Versuchen Martens widersteht, ihn zu korrumpieren, geraten die Abgesandten in ein perfides Ränkespiel, das sie nicht durchschauen. Dabei steht nicht nur das Überleben des Volkes der MaKri auf Messers Schneide.
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Seitenzahl: 471
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Christopher Abendroth ist seit drei Jahrzehnten passionierter Autor von Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten. Sein Debüt, die dystopische Science-Fiction-Novelle »Der salzige Geschmack unserer Freiheit« wurde mit dem deutschen Phantastikpreis SERAPH 2023 in der Kategorie »Bester Independent-Titel« ausgezeichnet. Nach »Traum von Klauen und Dämmergrün« erscheint mit »Wille aus Stahl und Morgenröte« der zweite Band seiner Fantasy-Tetralogie.
Privat ist er Familienvater mit Leib und Seele. Wenn ihm das Schreiben Zeit lässt, durchstreift er als Khajiit die Reiche Tamriels oder verbringt verträumte Tage in der freien Natur. Im Urlaub bereist er gern ferne Kulturen und Naturwunder.
Auch im zweiten Band wartet am Ende des Buches ein Glossar auf interessierten Leser*innen. Wieder hat Talaan selbst die Feder in die Hand genommen und diverse MaKri haben Ergänzungen notiert. Auch Kirra konnte ihre Nase und ihre Meinung nicht heraushalten.
Das dort festgehaltene Wissen ist eher dazu gedacht, das Buch nach dem Lesen noch einmal ausklingen zu lassen, kann aber selbstverständlich ebenso als Nachschlagewerk verwendet werden. Allerdings gibt es milde Spoiler. Ein harter Spoiler ist mit einer dicken Warnung versehen. Das Personenverzeichnis ist wie gewohnt knapp und unverfänglich.
TALAAN
KIRRA
DIE GRASLANDE
BLICKWINKEL
DAS ANGESICHT DES FEINDES
PROVOKATIONEN
KÖDER
HINTER DEN FASSADEN
WORTE IN SAMT UND SEIDE
GEDANKENGIFT
UNSICHTBARE GRÄBEN
DIE MACHT DER ORAKEL
DAS FUNDAMENT DER ZUKUNFT
AUF MESSERS SCHNEIDE
GEHEIMNISSE IM DUNKELN
WAS IM VERBORGENEN LIEGT
DER ZORN DES KÖNIGS
ENTFESSELTE WUT
AUF SCHMALEM GRAT
GLOSSAR
PERSONENVERZEICHNIS
NACHWORT
DANKSAGUNG
Der Mann, der Talaan in seinem letzten Leben tötete, nannte ihn einen ›Weltenwandler‹. Vor einigen Monaten erwachte er in einem fremden Dschungel als MaKri wieder.
Dieser neue Körper war für Talaan Fluch und Segen zugleich. Während raubtierhafte Instinkte ihn zu überwältigen drohten, war er nun in der Lage, Magie kraft seines Verstandes als ›Geistessymbole‹ zu wirken.
Für seine Zauberkünste wird er von dem Volk der MaKri als Maigan verehrt, als vom Schicksal Erwählter. Ihm gelang es zudem, die Eine Schrift des Orakels zu enträtseln, die jedem neuen Maigan überreicht wird. Sie enthielt einen Gestaltenwandel, den nur der wirken kann, der einmal ein Mensch war. Seither betrachtet das Waldvolk Talaan auch als vom Orakel erwählt. Die geradezu kultische Verehrung, die all dies mit sich brachte, war ihm zuwider.
Inzwischen hat er die Verantwortung akzeptiert, seinem neuen Volk als Symbol der Hoffnung im drohenden Krieg zu dienen. Mit der Kultur der Menschen vertraut nahm er die Aufgabe des Verhandlungsführers an, um dem König des Westens den Frieden abzuringen. Auch hat er inzwischen gelernt, sein tierisches Erbe nutzbar zu machen, statt von ihm beherrscht zu werden.
All diese wäre ihm nicht gelungen, wenn er nicht in Kirra zunächst eine gute Freundin und später seine Frau gefunden hätte. Sie ist das Gegengewicht zu seiner menschlichen Prägung.
Kirra ist eine junge, lebenslustige und selbstbewusste Jägerin der MaKri. Bis zu ihrer Pilgerreise, um den vom Schicksal Erwählten zu sehen, war ihr Leben friedvoll und vom Alltag des Waldvolks geprägt.
Die Jagd liebt sie wegen des Zusammenspiels aus Instinkt, Erfahrung und Nervenkitzel. Das brachte ihr in ihrer Heimat rasch den Ruf einer erstklassigen Pirscherin ein, der auch ›Flauschohren‹ zur Ausbildung anvertraut werden. Familie und die Dorfgemeinschaft sind ihr wichtig.
Zunächst aus Freundschaft, dann aus Liebe hatte sie die Verantwortung dafür übernommen, Talaan einen Weg in die Kultur der MaKri zu weisen. Es spricht für ihr mitfühlendes Herz und ihre gute Seele, dass sie auch dann daran festhielt, als er ihre Liebe lange Zeit nicht erwiderte.
Nach ihrer Vermählung mit Talaan schloss sie sich der Friedensdelegation auf sein Bitten hin an. Dabei fühlt sie sich neben den beiden Maigan, dem Schamanen und den beiden Gelehrten absolut fehl am Platze. Allerdings unterschätzt sie die Wichtigkeit, die ihre unerschütterliche Zuversicht und ihr Rückhalt für ihren Mann haben.
Man konnte schwer sagen, wo der Regenwald endete und die Graslande begannen. Am vierzehnten Tag ihrer Wanderung schwanden zunächst die Riesenbäume, dann schienen nach und nach auch ihre kleineren Geschwister zu schrumpfen. Je weiter sie nach Westen kamen, umso lichter wurde das Unterholz, bis es irgendwann stetig dichter werdenden, hüfthohen Grashalmen wich. Noch weiter im Westen wich der Wald immer mehr auseinander, wie um den Wanderern Platz zu machen und sie auf der Reise nicht zu behindern.
Wo der Dschungel zu den Graslanden wurde, vermochte Kirra nicht zu sagen. Dennoch gab es diesen einen Moment, in dem sie sich das erste Mal umblickte und mit einer befremdlichen Mischung aus Ehrfurcht und Unbehagen feststellte, dass die Graslande sie umfangen hatten. Vor ihnen breitete sich eine schier endlos wirkende Ebene aus Gräsern aus, betupft mit vereinzelten Baumgruppen und Büschen. Hinter den Wanderern hingegen schienen sie sich nach Osten hin zu einer eigentümlichen Herde zu versammeln. Wie ein grünes Bollwerk erhob sich weit weg der Regenwald der nun fernen Heimat.
Wehmütig dachte Kirra an ihre Familie und ihr Dorf, die sie zurückgelassen hatte, um sich der Friedensdelegation anzuschließen. Nun – genau genommen war sie Talaan gefolgt, um den sie zu lange gekämpft hatte, um ihn nicht wieder herzugeben. Welchen Beitrag sollte sie als einfache Jägerin schon dabei leisten, König Mohab von einer Invasion abzuhalten? Es war an den anderen Delegierten, jene Schönheit zu bewahren, auf die sie ein letztes Mal blickte.
Kirra wandte sich wieder nach Westen und erschauderte. Über ihren Köpfen türmte sich derart viel blassblauer Himmel, dass es ihr wie ein Abgrund dünkte. Selbst auf den Wipfeln der Riesenbäume hatte der Himmel nicht ein solch gewaltiges Ausmaß angenommen.
»Wenn ich das sehe«, staunte sie, »dann möchte ich glatt meinen, ich könnte erkennen, wo die Welt zu Ende ist.«
»Das ist nicht das Ende. Was du siehst, ist der Horizont.« Gutmütig lächelnd schüttelte Reshero das altersgraue Haupt. »Du hast bei meinen Besuchen viele kluge Fragen gestellt. Ich bin sicher, du kannst dich auch meiner Antworten entsinnen.«
Es fiel ihr schwer, den Blick vom Rand der Welt abzuwenden und den Gelehrten anzusehen. »Ich weiß, dass kluge Köpfe errechnet haben, dass die Welt eine Kugel sein muss. Aber meine Augen behaupten, sie wäre flach. Meine Instinkte scheuen vor dem Rand zurück.«
»Dann vertraue dem Wissen«, entgegnete Reshero in gelehrigem Ton. »Es unterscheidet uns von den Tieren.«
»Gleichwohl sind wir ihnen näher, als wir es uns eingestehen wollen, nicht wahr?«, warf Talaan ein und legte von hinten die Arme um Kirra. Mit einem Schlag verschwand das Bedrohliche aus allem, dessen sie gewahr wurde. »Siehst du es nicht in seinen Augen? Grenzenloses Staunen darüber, wie sehr sich die errechnende Gelehrsamkeit wie ein Wunder anfühlen kann.«
Tatsächlich kam es ihr vor, als würde Resheros Erstaunen das ihre noch übertreffen. Von ihren Gefährten trug lediglich der Schamane Tonri ein unbeeindrucktes und zudem düsteres Gesicht zur Schau.
»Woher willst du Naseweis wissen, dass ich nicht schon mehrfach durch die Graslande gestreift bin?«, versuchte Reshero, sich zu empören. Jedoch fiel dabei jeglicher Nachdruck seinem geistesabwesenden Tonfall zum Opfer.
Sie spürte Talaans leises Lachen eher, als dass sie es hörte. »Vielleicht liegt es daran, dass du die Savanne anschaust, als würdest du in neuer Liebe entflammen.«
»Das, oder dein Buch hat dich verraten«, warf die ehrwürdige Rerrena ein. Die Neckereien zwischen der Orakelgelehrten und dem Schriftgelehrten waren seit ihrem Aufbruch aus Kirras Dorf ein unsichtbarer Begleiter.
Tatsächlich hielt Reshero sein Schreibbuch in der einen Hand, während die andere mit einem wundersamen Eigenleben Skizzen zu Papier brachte. Sie hielt auch dann nicht inne, als er etwas entgegnen wollte, sich aber wieder in seinen Gedanken verlor.
»Du hingegen scheinst mir sehr vertraut mit den Graslanden, Talaan«, sagte Sorral mit Neugier in der Stimme. Der Maigan war wie so oft ein aufmerksamer Beobachter.
»Dort, wo ich herkomme, glauben die Menschen, die Savanne sei die Wiege der Menschheit«, erklärte ihr Mann und kuschelte sich ein wenig enger an sie. »Irgendetwas ist an diesem Ort, das mich das ebenfalls glauben lässt.« Nur für sie bestimmt raunte er leise: »Was beunruhigt dich, Geliebte?«
»Wie könnte es das nicht?«, flüsterte sie zurück und bemerkte dankbar, dass die Aufmerksamkeit der anderen sich wieder der Ferne zuwandte. »Es gibt selten einen Ort im Dschungel, an dem man weiter blicken als einen Stein werfen kann. Hier gibt es keinerlei Deckung.« Sie deutete mit einem Schaudern auf jene Bäume, die ihnen am nächsten waren. »In den Schatten dort könnte sonst was lauern.«
»Vermutlich ist das so«, stimmte Talaan ihr zu und wirkte kein bisschen besorgt dabei. »Deswegen werden wir uns auch von ihnen fernhalten. Geparden jagen nur auf kurze Distanz und wir würden sie weit vorher kommen sehen. Vor Löwen brauchen wir uns in einer Gruppe nicht zu fürchten.«
Unweigerlich musste Kirra kichern. »Es ist seltsam, dass es plötzlich andersherum ist. Du klingst, als wäre dies vertrautes Terrain für dich, während ich mich wie ein Flauschohr fühle.« Dann wurde sie wieder ernst und legte erneut den Kopf in den Nacken. Seltsame Vögel mit übergroßen Schwingen kreisten in der Ferne. Etwas Unheilvolles haftete ihnen an. »Dieser Himmel fühlt sich falsch an. Wie kommt es, dass es dir anders geht?«
Mit einem schwärmerischen Unterton, mit dem er auch hin und wieder von schönen Begebenheiten aus früheren Leben erzählte, erwiderte er: »Für mich ist es, wie einem alten Freund zu begegnen, den ich lange nicht gesehen habe. Es würde mich sehr glücklich machen, wenn ich euch bekannt machen dürfte.«
»Erst Schwimmen und jetzt sowas«, maulte sie, merkte aber, wie seine Begeisterung sie ansteckte. »Ist es zu spät, um mir einen anderen Ehemann auszusuchen?«
Talaans Fangzähne knabberten verführerisch an ihrem Halsansatz. »Viel zu spät, meine Geliebte«, sagte er mit raspelnder Stimme er.
»Kommt ihr, Kinder? Oder sollen wir euch eine Weile allein lassen?«, rief Rerrena aus einiger Entfernung. Überrascht stellte Kirra fest, dass die anderen schon längst weitergezogen waren.
»Wir kommen in ein paar Stunden nach!«, schrie Talaan.
»Du bist unmöglich«, stöhnte sie und verpasste ihm einen verspielten Stoß mit dem Ellenbogen. Wie konnte er sich vor den Gelehrten nur so aufführen? Sie löste sich aus seinen Armen, auch wenn es schwerfiel, und eilte sich, um aufzuholen.
In den letzten hellen Stunden des Tages legten die Wanderer noch einige Meilen nach Westen zurück, immer tiefer hinein in diese wunderliche Weite der Graslande, die sich sanft aber stetig von grün zu einem trockenen Ockergelb verwandelte. In dieser Zeit lernte Kirra noch einmal einiges über ihren Mann – und über sich selbst.
Damals, während ihrer ersten gemeinsamen Tage, hatte sie Talaan für einen verschrobenen, verträumten Jungspund gehalten. Dinge, die alltäglich schienen, hatten ihn derart in den Bann geschlagen, dass er alles um sich herum vergessen hatte.
Dabei hatte er nur ihre Welt betreten – wortwörtlich. Jetzt betrat sie seine, wenn auch nur im übertragenen Sinne. Zwar schien es immer noch, als würden in jeder Baumgruppe und unter jedem Busch entlang des Weges hungrige Augenpaare lauern, aber dann geschah etwas Magisches und sie vergaß alles andere.
Gerade bestaunte sie eine friedlich äsende Herde schlanker, hochgewachsener Tiere, die sie entfernt an Rehe mit lanzenartigen Hörnern auf dem Haupt erinnerten. Reshero verkündete – eifrig skizzierend –, dass dies Antilopen seien, als die Herde plötzlich aufschreckte und panisch davonstob. Wie aus dem Nichts sprang eine gertenschlanke Raubkatze aus dem hohen Gras und setzte den fliehenden Tieren nach. Die Welt verflog und Kirra hatte nur noch Augen für den gepunkteten Jäger. Wie ein kraftvoll geworfener Speer schoss er auf seine Beute zu – auf die Stelle konzentriert, an der er sie reißen würde. Die Beine verschwammen zu einem wirbelnden Flirren. Mit aberwitzigem Tempo hetzte er über die weite Ebene – ein fließender, gefleckter Blitz. Sie konnte geradezu seinen fokussierten Instinkt spüren, während er immer dichter zu einem Jungtier aufschloss, dessen Hakenschlagen ohne Mühe ausglich und es dann mit einem kühnen Prankenhieb nach den Beinen zu Fall brachte.
Die Welt wurde wieder weit, als der Räuber die Zähne in die Kehle des armen Tieres schlug. Als Jägerin wusste Kirra um den Kreislauf des Lebens und dennoch bedauerte sie diese wunderbar fremde Schönheit, die vor ihren Augen gefallen war.
»Ich habe noch nie eine Raubkatze von der Pirsch bis zum Reißen jagen sehen«, hauchte sie ehrfürchtig. »Schon gar nicht so unmittelbar.« Für eine Weile lauschte sie den sich überschlagenden Gefühlen in ihrem Herzen. Was hatte sie derart in den Bann gezogen? Dieser beinwirbelnde gefleckte Pfeil, der durch das Gras geschossen war? Das Jagdfieber? Die fremde Schönheit des Lebens an diesem Ort? Vielleicht all dies auf einmal – aber warum fühlte sie sich unwohl dabei? »Wir sind ihnen näher als die Menschen, nicht wahr?«, flüsterte sie schließlich. »Ich habe in diesem Jäger all das gesehen und sogar gefühlt, weswegen ich Jägerin geworden bin.«
Wie eine schützende Decke legte Talaan einen Arm um sie und blickte mit ihr gemeinsam dorthin, wo gerade der letzte Lebensfunke der Antilope erlosch. »Ja, wir sind den Geparden näher als der Mensch«, stimmte er nachdenklich zu. »Vielleicht sogar näher als dem Menschen selbst. Und das ist gut.«
Überrascht sah sie ihn an. Sie wusste, wie sehr seine Instinkte ihn umgetrieben und sogar verängstigt hatten. »Mir scheint, du hast endlich deinen Frieden gefunden.«
Ein wenig Wehmut lag in seinem Lächeln. »Dieser Gepard wird nie aus Gier töten, aus Machthunger oder Grausamkeit. Du wirst die Menschen kennenlernen – die Beherrscher und die Unterdrückten. Dann wirst du verstehen, was ich meine.«
Ein unwohles Gefühl kroch Kirras Rücken empor, aber sie schüttelte es ohne Umschweife ab. »Ich bin froh, dass ich das miterleben durfte.« Fröhlich stellte sie sich seinen grüblerischen Gedanken entgegen und merkte, wie sich auch Talaan wieder entspannte. »Mir muss die Savanne nicht gefallen, aber ein Abenteuer ist sie allemal.«
Er lachte leise. »Ja, das ist sie. Eines, das wir gemeinsam erleben.«
»… das wir gemeinsam erleben«, wiederholte sie und stahl ihm einen Kuss. »Komm jetzt, bevor du wieder ins Grübeln verfällst.«
Seit der Begebenheit mit dem Geparden hielten die Wanderer Augen und Ohren wachsam offen und witterten immer wieder, was die Luft zu ihnen herantrug. Zwar galt die Handelsroute zwischen der Großen Stadt und Tullma als vergleichsweise sicher, doch lehrte sie der Tod der Antilope, dass Wachsamkeit der Preis der Gefahrlosigkeit war.
Talaan indessen schien wenig bekümmert und vielmehr voller Freude über alles, was sie umgab. Er flüsterte hin und wieder die rätselhaften Worte »Alor Lethain« und suchte die Graslande eher wie jemand ab, der etwas zu entdecken hoffte, und weniger wie jemand, der einen Angriff befürchtete.
Schließlich wurde er fündig. Kirra erkannte es an dem schelmischen Lächeln, das sich ihm auf die Lippen stahl, bevor seine Augen freudig aufleuchteten. »Können wir einen kleinen Umweg machen, Reshero? Ich würde gern bei den Bäumen dort hinten vorbeischauen.«
Der Ehrwürdige musterte den Horizont, zog die Karte der Graslande zurate und nickte bedächtig. »Wir müssen ohnehin unseren Weg ein wenig Richtung Norden korrigieren. Dieser markante Felsen dort wird unser Nachtlager sein.«
»Bisher hast du uns geraten, Abstand von den Bäumen zu halten.« Dies waren Tonris erste Worte, seit die Sonne den Zenit überschritten hatte, und aus seinem Mund klangen sie wie ein Vorwurf.
»Nicht in diesem Fall«, versicherte Talaan. »Vertraut mir.« Trotz seiner Aussage ging er in eine leicht geduckte Haltung über, als er behutsam auftretend vorausging.
Kirra erkannte eine Jagd, wenn sie eine sah. Sie packte den Speer fester und eilte sich, erprobten Pirschgangs zu ihrem Mann aufzuschließen. »Was hast du vor?«, flüsterte sie. »Wir haben genügend Vorräte für die ersten Tage in den Graslanden.«
»Du wirst es lieben«, murmelte er und witterte.
Sie tat es ihm gleich. Eine ganze Flut an unbekannten Gerüchen wirbelte durch ihre Nase. Mehrere Tiere mussten sich unter den Bäumen verstecken und keines davon kannte sie. Wenigstens roch es nicht nach Raubtier. Ihre Neugier begann vor Freude hin und her zu hüpfen. Eine andere Art von Jagdfieber floss nun durch ihre Adern: Sie wollte etwas entdecken, nicht töten. Mit einem erwartungsvollen Grinsen folgte sie Talaan dichtauf, bis er der Gruppe mit einem Handzeichen gebot, einen Steinwurf von den Bäumen entfernt innezuhalten.
»Kannst du es sehen?«, flüstere er ihr direkt ins Ohr.
Kirra musterte das Wirrwarr aus Bäumen, Sträuchern und Licht. Die niedrig stehende Sonne zeichnete scharfe Kontraste und tiefe Schatten. Alles war so fremd und neu, dass sie nicht recht wusste, worauf sie achten sollte. Dann bemerkte sie es. »Etwas stimmt mit den Bäumen nicht. Einige wiegen sich, obwohl kein Windweht.«
Sie hatte es kaum ausgesprochen, als erst einer der Stämme in Bewegung geriet, dann noch einer und noch einer. Dabei regten sie sich nicht nur – sie begaben sich fort.
In dem Moment, da Kirra begriff, vergaß sie alles andere und hatte nur noch Augen für sie. Die größten Tiere, die sie jemals gesehen hatte, schritten mit einlullender Bedächtigkeit durch das hüfthohe Gras, das den schlanken Beinen nicht einmal bis zu den Knien reichte. Freundliche, große Augen blickten friedlich aus einem Kopf in die Weite, der im Vergleich mit dem gefleckten, langen Hals geradezu klein anmutete. Sie schlenderten mit einer grazilen, weltvergessenen Eleganz, also ob nichts ihren Frieden stören könnte. Nur knapp konnte Kirra ein begeistertes Kichern unterdrücken, als sie entdeckte, dass selbst die kleinen Hörnchen auf dem Kopf der Langhälse mit flauschig anmutendem Fell bedeckt waren.
»Das sind Giraffen«, erklärte Talaan mit gedämpfter Stimme. »Sind sie nicht einfach wunderbar?«
»Das glaubt mir zu Hause keiner«, erwiderte sie und sah die gefleckten Tiere weiterhin zärtlich an. »Sie sind so …« Derart viele Eindrücke strömten durch sie hindurch: Ehrfurcht, liebevolle Zuneigung, rückhaltloses Staunen, Bewunderung. »… groß und friedlich. Friedliche Riesen«, brachte sie lediglich hervor, weil sie nicht stundenlang plappern wollte, nur um die Wahrheit trotzdem zu verfehlen.
Trotzdem verstand Talaan sie, dessen war sie sich gewiss. Denn in seinen Augen, dessen Blick auf den wundersamen Tieren ruhte, sah sie dieselbe Welt an Gefühlen. »Ich denke, sie ziehen zum Wasserloch. Wenn wir es ruhig angehen und der Wind sich nicht dreht, können wir sie noch eine ganze Weile beobachten.«
Also ließen sie den friedlichen Riesen eine Weile, um Abstand zu gewinnen, bevor sie ihnen folgten.
Die Sonne näherte sich als glühende, wabernde Scheibe dem Horizont, als sie das Wasserloch beim Felsen erreichten. Dabei verwandelte ihr Schein den Rand der Welt und alles dazwischen in ein schwarzgoldenes Schattenspiel. Darin bewegten sich die unverwechselbaren langen Hälse weiterer Giraffen, aber auch eine ganze Herde massiger Silhouetten, die es an Imposanz mit den Giraffen gut aufnehmen konnten. Diese hielten – auf der anderen Seite – in träger Zielstrebigkeit auf das Wasser zu. Aus anderer Richtung näherte sich eine Gruppe von Tieren, die Kirra zunächst für Antilopen hielt, die sich beim Näherkommen jedoch als deutlich kleiner herausstellten. Mit einigem Gezeter ließen sich große Vögel mit dürren Beinchen und schlanken Hälsen nahe dem Ufer im Wasser nieder. Es schien ihr, als würden sich alle Lebewesen der Graslande hier einfinden.
Vor lauter Begeisterung entging ihr beinahe, wie angespannt Talaan wirkte. Besorgt betrachtete er die Zusammenkunft der Tiere.
»Was hast du?«
»Wir sollten rasch Wasser in unsere Schläuche füllen und uns dann auf den Felsen zurückziehen«, sagte er nur. »Etwas beunruhigt die Giraffen.«
»Wie sieht denn eine beunruhigte Giraffe aus?« Kichernd musterte sie die drei Langhälse, denen sie gefolgt waren.
»Sie trinken nicht«, stellte er fest. »Sie stehen einfach nur da und beobachten.«
»Sollten sie nicht umso schneller trinken, wenn sie Gefahr wittern?«, fragte Reshero.
»Wenn sie das tun, sind sie am verletzlichsten.« Talaan wirkte unruhig, als er das sagte. »Eilt euch!«
Kirra fiel es schwer, beim Füllen des Schlauchs die Umgebung wachsam im Auge zu behalten. Die massigen Schatten traten gerade am nördlichen Ufer aus dem Buschwerk heraus ins restliche Licht der Abendsonne. Hätte ein Berg Kinder gebären können, die auf Erden wandeln sollten, dann würden sie dergestalt aussehen. Beine wie Baumstämme, ein Körper wie ein massiver Felsbrocken, über und über bedeckt mit granitener Haut. Ohren, groß wie Ruka-Farn, und…Was auch immer das im Gesicht des wandelnden Berges zwischen den gewaltigen Stoßzähnen war – einer von ihnen hob es wie eine sich aufrichtende Schlange gen Himmel und stieß ein schallendes Trompeten aus. Ehrfürchtig machten alle anderen Tiere der bedächtig einmarschierenden Herde Platz. Zu ihrer endlosen Entzückung konnte sie auch kleine wandelnde Berge entdecken, die ausgelassen den großen hinterhertrotteten: Jungtiere.
»Elefanten«, wisperte Talaan. »Die grauen Riesen der Savanne. Sie benehmen sich gern, als würde ihnen alles gehören. Dein Schlauch ist voll, Geliebte. Du kannst von oben weiterstaunen.« Ganz leise sprach er wieder dieselben fremdländischen Worte: »Alor Lethain.«
Etwas in seiner Warnung versetzte Kirra in Unrast. Sie blickte zu den Giraffen. Die taten immer noch nichts dergleichen, wie die Hälse zum Wasser hinabzuneigen.
»Da ist etwas im Osten«, zischte er in Richtung der anderen. Die Kleinantilopen drehten die Köpfe in seine Richtung und die wundersamen rosa Vögel reckten die Hälse. »Ich möchte nicht hier sein, wenn die Elefantenherde dort drüben…«
Weiter kam er nicht. Ein Rudel sandfarbener Raubkatzen verließ die Büsche nahe dem östlichen Ufer. Dass ihnen der Sinn nicht nach Jagd stand, konnte Kirra am gelassenen Gang der Jäger ausmachen. Mit ihren kraftvollen Körpern und dem taxierenden Starren in Richtung einiger lebender Happen strahlten sie jedoch eine derart intensive Aura der Bedrohlichkeit aus, dass sie trotz der Elefanten nicht daran zweifelte, wer die Herrschaft über dieses Wasserloch innehatte. Die Luft am Teich lud sich mit einer fast greifbaren Energie auf.
»Ein Löwenrudel«, raunte Talaan angespannt und machte energische Handzeichen, dass die Reisenden verschwinden sollten.
Plötzlich ging alles ganz schnell. Die kleinen Geschwister der Antilopen stießen ein vielkehliges, schrilles Bellen aus, dann preschte die Herde los – fort von den Löwen und hinein in die wartenden Giraffen. Dabei stießen sie fast mit deren langen Beinen zusammen. Erst im letzten Augenblick wechselten die fliehenden Tiere die Richtung und eilten hinaus in die Weiten der Graslande. Aber nun gerieten die drei Riesen in Panik. Sie wendeten sich mit seltsam staksigen Bewegungen vom Wasser ab, nur um dann überraschend leichtfüßig in einen langbeinigen Galopp zu verfallen – direkt auf die Wanderer zu.
Kirra schauderte. Sie brauchte nicht viel Phantasie um sich auszumalen, wie viel Wucht im Hufschlag einer Giraffe steckte. Plötzlich flammte Feuer in den Händen Talaans und Sorrals auf, die den Giraffen entgegentraten. Die scheuten auf, rissen ihre langen Glieder herum und folgten den kleinen Antilopen hinaus in die Weite.
Die Wanderer verweilten nicht länger und zogen sich zu den Felsen zurück, als ein abgrundtiefes Grollen die Luft erfüllte. Kirras Blick schnellte zu den Löwen, doch die wirkten – vom misstrauischen Beäugen der Flammen abgesehen – wenig aufgebracht. Dann erst bemerkte sie die Veränderung, die über die Elefantenherde gekommen war. Die Elterntiere hatten einen Schutzwall gebildet. Hinter ihren massigen Leibern verbargen sie die Jungen und schützten sie vor den Gefahren am Wasserloch: den Löwen und ihnen. Das Grollen stammte aus den Kehlen der grauen Riesen. Tief und bedrohlich.
»Macht das Feuer aus!«, fauchte Kirra die beiden Maigan an. Als die Männer zu den Elefanten schauten, taten sie wie geheißen.
Nur war es zu spät. Die Tiere hatten sie bemerkt und in ihren Augen gab es vermutlich keinen großen Unterschied zwischen einer Gruppe MaKri-Wanderer und einem Rudel Löwen. Raubtiere, die sie in die Enge drängten. Gierige Zähne, die sich von beiden Seiten des Wasserlochs anpirschten und gegen die es sich zu verteidigen galt.
Mit einem peitschenden Trompeten brachen einige der Elefanten aus der geschlossenen Reihe hervor. Mit einer Geschwindigkeit, die Kirra diesen schweren Kolossen gar nicht zugetraut hatte, rannten sie mit abgespreizten Ohren das Ufer entlang, das nach einer viel zu kleinen Weile jenes wurde, an dem die Wanderer standen.
Alles in ihr schrie danach, vor den stampfenden Ungetümen mit den absurd großen Stoßzähnen davonzulaufen. Dann übernahm die Jägerin in ihr die Kontrolle und schätzte in einem Wimpernschlag die Situation ein. Der Felsen befand sich näher bei ihnen als bei den Elefanten. Darin lag die einzige Hoffnung. Sie konnten es schaffen.
Also zwang sie die Angst zurück und rannte. Und wie sie rannte. Die anderen taten es ihr gleich.
»Wie kommen wir hinauf?«, keuchte Rerrena dicht hinter ihr.
»Da muss ein Spalt sein«, schnaufte Reshero nahebei. »Der Fels heißt …« Beinahe glitt ihm die Büchertasche von der Schulter. »… das gespaltene Herz.« Kurzentschlossen entriss Kirra sie ihm und stöhnte kurz auf, als sie merkte, wie schwer sie war.
Die verheißende Rettung kam näher und die Elefanten auch. Bei dem schweren Wummern ihrer Schritte glaubte sie fast, die Erde beben zu spüren. Sie erkannte, dass die Fliehenden zwar vor den Tieren am Ziel sein würden, aber wenn sie nicht bald…
»Da, links vom verdorrten Busch!«, rief Sorral.
Tatsächlich! Eine Wölbung verbarg den Spalt fast vollständig, aber dahinter schien es tiefer in das Gestein hineinzugehen. Es war nicht mehr weit.
Sie mobilisierten noch einmal alle Kräfte, als Rerrena mit einem überraschten Aufschrei stürzte. Kirra ließ Resheros Reisesack fallen und wandte sich um.
»Beim Schöpfer, lauft!«, schrie Talaan entsetzt.
»Meine Bücher!«, überdeckte Resheros panischer Ruf den seinen. Links von ihnen die bebende Erde unter den Füßen der Elefanten.
Instinktiv fanden sich die Blicke Kirras und ihres Mannes. Ein Nicken in Richtung der gestürzten Gelehrten genügte und sie wusste, was zu tun war. Während sie nach dem linken Arm der Orakelkundigen griff, packte Talaan im Vorbeilaufen den anderen. Einen Moment später hatten die beiden Rerrena auf ihre Schultern gehievt und zogen sie mit sich.
Nur noch zehn Schritte bis zum Spalt. Das Beben ließ Kirras Zähne klappern. Ein ohrenbetäubendes Trompeten fetzte durch ihr Trommelfell. Nur noch fünf. Ob der alte Mann zur Vernunft gekommen war, konnte sie nicht sagen. Es gab nur noch ihr hämmerndes Herz, ihre brennende Lunge und das Getöse der grauen Riesen.
Dann schluckte sie die rettende Schlucht.
Das Brüllen der Löwen jagte Kirra immer wieder einen Schauer über den Rücken. Es war mit nichts zu vergleichen, das sie aus dem Regenwald kannte. Zwar war ihr das Brüllen der Tiger geläufig, das selbst gestandenen Jägern – erfahrener und älter als sie – Angst in die Knochen trieb. Oder das Grollen aus der Kehle eines Panthers, das einem die Kälte ins Blut fließen ließ, wenn man es unerwartet über sich hörte. Das Brüllen der Löwen jedoch, stammte meist aus mehreren Kehlen und wehte über die Weite der Graslande wie ein bedrohlicher, nicht zu greifender Geist. Sie wusste nie genau, aus welcher Richtung und wie nah sich das Rudel befand.
»Geht es dir gut, Kind?«, fragte Rerrena und erlöste sie so von unheilvollen Gedanken.
Kirra schüttelte den Nachhall der Düsternis mit einem beherzten Lächeln ab. »Am Leben und gesund, ehrenwerte Rerrena, hab Dank. Es sind nur die Graslande …« Sie spähte in die Savanne hinaus, jedoch lag hinter dem Rand des Feuerscheins nur Finsternis. Nur über dem Horizont funkelte in kühler Pracht ein durch und durch beeindruckender Sternenhimmel. »Sie sind ebenso beängstigend wie wunderschön.«
»Da werde ich dir nach dem unerfreulichen Angriff der Elefanten nicht widersprechen«, warf Reshero ein, während er kopfschüttelnd den Stift über das Papier seines Notizbuches führte.
Sorral schnaubte. »Schön, dass du die Angst in dir noch rechtzeitig gefunden hast. Zwei Herzschläge später und ich hätte herrenlose Bücher in Sicherheit gebracht.«
»Das Angesicht des Todes ist oft ein Lehrmeister der Weisheit«, brummte Tonri und klang nicht minder missbilligend als der Maigan.
Reshero deutete auf die geretteten Werke. »Diese Bücher sind wichtiger als ich«, wiegelte er gedankenverloren ab und zog die Stirn kraus, während er das Zeichnen unterbrach.
Mit einem äußerst missbilligenden Zungenschnalzen beendete Rerrena den kleinen Disput. Die Männer verstummten.
»Wehe, wenn Männer von der Angst gekostet haben«, flüsterte die Gelehrte Kirra zu und schmunzelte. »Da brauchen sie immer eine Weile, bis sich das Feuer in ihren Adern wieder abgekühlt hat.« Sie nickte in Richtung Talaans, der am Rande des Felsens im Schneidersitz versonnen auf das Wasserloch hinabblickte. »Dein Mann hingegen scheint nicht viel davon zu halten, die Graslande beängstigend zu finden.«
Tatsächlich wirkte er in diesem Moment friedlicher auf Kirra, als sie ihn je gesehen hatte – einmal abgesehen davon, wenn er schlief. Es schien seltsam, dass er ausgerechnet hier inneren Einklang fand, zugleich ließ es ihr Herz leise und glücklich seufzen, ihn auf diese Weise zu sehen. »Ich glaube, er ist einfach verliebt in all dies mannigfaltige Leben da draußen«, entgegnete sie verträumt. »Da übersieht er die Nachteile.«
»Nun, wir können den Elefanten kaum einen Vorwurf machen, dass sie ihre Jungen verteidigt haben«, warf Reshero ein. Seufzend ließ er das Buch sinken, auf das er grimmig hinabschaute. »Obwohl ich es ihnen dennoch ein wenig nachgetragen hätte, wenn sie meine Kompendien plattgetrampelt hätten. Oder mich.«
Kirras heiteres Lachen stieg in die Nacht empor und gesellte sich zu dem der anderen am Lagerfeuer. Es wirkte einen wunderbaren Zauber gegen das geisterhafte Brüllen der Löwen, der ihr Unwohlsein endgültig vertrieb. Hier, an diesem Feuer im Kreis jener geschätzten MaKri, schien die Welt wieder zu sein, wie sie sein sollte.
Das blieb auch so, als sie eine Weile einfach nur dasaßen und in die Flammen oder zu den Sternen blickten.
Reshero nahm erneut sein Buch zur Hand, warf es aber bald wieder verärgert auf das Gepäck. »Wenn mir davon das Fell nicht noch grauer wird, dann weiß ich nicht.«
Das ließ Rerrena aufhorchen. »Was plagt dich, alter Freund?«
»Ich plage mich«, erwiderte der Gelehrte ungewohnt mürrisch. »Und zwar in jeder Hinsicht.« Anklagend hob er den Zeigefinger gegen sein Notizbuch. »Das Abbilden von Tieren war nie meine liebste Disziplin, wie du weißt. Wir sind die ersten MaKri-Gelehrten in den Graslanden seit über dreihundert Jahren und ich bringe einfach keine vernünftige Bebilderung für ein Nachschlagewerk zu Papier.«
Eine seltsam verschämte Aufregung brandete in Kirra hoch. Wie gern würde sie auch nur eines dieser unglaublichen Tiere skizzieren! Dass sie es zustande bringen konnte, wusste sie. Sie mochte keine große Künstlerin sein, trotzdem bildeten die Zeichnungen, die sie vor aller Augen gut verborgen hielt, ihre Beobachtungen als Jägerin ausreichend ab. »Hast du mir nicht erzählt, die ehrwürdige Rerrena hätte ein gutes Auge für Details?«, warf sie stattdessen ein.
»Mir ist der Sturz schlecht bekommen«, wehrte die Orakelgelehrte ab und betrachtete missmutig das rechte Handgelenk. »Ich werde noch ein paar Tage benötigen, bis die Verstauchung mir Ruhe lässt.«
»Du weißt, dass Talaan mich die Heilung gelehrt hat?«, fragte Sorral, während er gedankenverloren in der Glut stocherte. Er hatte es als letzter in die Schlucht geschafft und gesagt, er hätte den Atem der Elefanten im Nacken gespürt. Seitdem wirkteer ein wenig abwesend.
»Ich sagte, ich würde ein paar Tage benötigen«, wiederholte sie ihre Worte. »Wenn mich die Schmerzen lange genug daran erinnert haben, wie töricht ich als Weise war, dann lasse ich dich meine Hand gern heilen, Maigan.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe diese Wanderung für einen Spaziergang gehalten, bei dem mein Gewand schon geeignet wäre.« Erneut schnalzte sie missbilligend – diesmal galt es ihr selbst. »Dass ich während der Flucht auf den Saum getreten bin, hätte beinahe einige von uns das Leben gekostet.« Tatsächlich trug sie jetzt nur noch ein schlichtes Lendentuch und eine Weste.
Sichtlich enttäuscht setzte Reshero zu einem weiteren Einwand an, doch Rerrena hob nur mahnend den Zeigefinger. Der füllige Gelehrte seufzte, dass es Steine erweichen konnte, und gab es auf. Zögerlich griff er wieder zum Stift, setzte an und starrte verloren auf das Papier.
Ich könnte es versuchen, flüsterten Kirras Gedanken leise, dennoch kam ihr kein Laut über die Lippen. Sie holte tief Luft, ließ sie ruhig entweichen und schwieg. »Ich …«, begann sie schließlich. Das kleine Fünkchen Mut, das sie gefunden hatte, erlosch mit einem Schlag, als Reshero zu ihr aufsah. »… gehe mal nach meinem Mannsehen.«
Traurig erhob sie sich und kurz kreuzte sie den Blick mit Tonri. Da schien ihr, er könne in sie hineinsehen und ihren Wunsch und das Zagen erkennen. Rasch wandte sie sich ab. Schamanen sind unheimlich, dachte sie schaudernd. Vielleicht ist es mir ja auch einfach nur peinlich.
Seufzend schlenderte sie zu Talaan hinüber, der immer noch am Rande des Felsens das Treiben am Teich beobachtete, und ließ sich neben ihm nieder.
Ohne dass er sie ansah, erhellte ein wunderbar sonniges Lächeln sein Gesicht. »Schön, dass du kommst, Liebste.«
Beinahe schaffte er es, ihren Kummer damit zu vertreiben. Beinahe. Nähebedürftig lehnte sie sich an ihn an und blickte hinab zu den Tieren. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie deutete auf ein Paar klobig aussehende Tiere, die zwei ungleiche Hörner auf der Schnauze trugen. »Was sind das für welche?«
Mit einem Kuss auf den Kopf schlang er einen Arm um sie. »Warum verbirgst du dein Talent vor ihnen?«
Das war ganz gewiss nicht das, was sie als Antwort erwartet hatte. »Woher weißt du, dass ich gern zeichne?«, frage sie, sich behutsam vortastend. »Nicht einmal meine Eltern wissen es. Hat Loma geplaudert? Vor meiner Schwester kann ich nie etwas verbergen.«
»Erinnerst du dich an den Tag, an dem Reshero ins Dorf kam?«, stellte ihr Liebster eine Gegenfrage. Kirra blieb nur, zu nicken. »Du hattest gerade am Esstisch gezeichnet, als du mir wegen Karisha und Ramesh auf die Schliche gekommen bist. Ich habe deine Zeichnung später dort liegen sehen und dachte, es wäre dir recht, wenn ich sie unauffällig verschwinden lasse.«
»Du hast nie ein Wortgesagt«, stellte sie fest.
Behutsam strich Talaan ihre Schnurrhaare mit dem Handrücken nach hinten. Wohlig schloss sie die Augen. »Mir war klar, dass du noch nicht so weit warst, es mit mir zu teilen«,sagte er. Zart hauchte er ihr einen Kuss auf die Lippen und ließ ein Lächeln darauf zurück. »Ich wollte nicht, dass dir der Gedanke unangenehm ist, dass ich deine Zeichnung gesehen habe.
Aber das bringt mich zurück auf meine Frage, Liebste. Wieso verbirgst du deine Begabung? Nicht nur vor ihnen, sondern vor allen?«
Das wirkte auf Kirra wie ein Schwall kaltes Wasser über den Kopf. Murrend öffnete sie die Augen wieder. Derart sanft, wie er sie ansah, konnte sie ihm nicht böse sein. »Weißt du nicht, wie wertvoll Papier bei den MaKri ist?«, fragte sie.
Ihr Mann rieb sich verlegen das Kinn. »In meinem ersten Leben gab es Papier im Überfluss. Dass es das Privileg eines Maigans sein könnte, soviel davon zu besitzen, ist mir nie in den Sinn gekommen.« Friedlich und ergründend sah er sie an. »Hast du das Gefühl, dass deine Zeichnungen das Papier nicht wert sind?«, fragte er schließlich und klang heilsam ungläubig dabei.
Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Ich … schätze, ich bin der Antwort auf diese Frage immer ausgewichen.«
Sacht ergriff er ihre Hand, küsste zärtlich die Innenseite und schloss dann seine Hände darum. »Kirra, du hast eine Begabung dafür.« Sie suchte in seiner ernsten Miene nach irgendeiner Art gut gemeinter Täuschung. Indessen fand sie keine. »Ich habe nur diesen Tiger im Sprung gesehen, den du auf dem Tisch vergessen hast. Es war nicht irgendein Tiger, sondern jener, der unsere Jagdgruppe angegriffen hat, richtig? Ich habe ihn wiedererkannt.« Sie nickte. »Wenn die anderen Bilder, die du zu Papier gebracht hast, ähnlich gut sind, hast du keinen Grund, dich zu verstecken, meine Liebste.«
Dieser ihm eigene Ernst, über den sie manchmal die Augen rollte, wirkte in diesem Moment wie Balsam. Eine wilde Freude stieg in ihr auf, doch erstickte diese gleich wieder, als sie über die Schulter schaute. »Sieh dich um, Liebster. An diesem Lagerfeuer sitzen ein Ältester, zwei Gelehrte und ein Maigan.« Bei der Vorstellung, vor all diesen Würdenträgern einen ersten Gehversuch zu wagen, drehte sich ihr der Magen um. Hoffnungslos ließ sie die Ohren hängen. »Ich kann es nicht«, maulte sie und spürte gleichzeitig, wie ihre Finger aufgeregt zu kribbeln begannen.
»Ich weiß, dass du es kannst«, widersprach er nachdrücklich.
Stur biss sie die Zähne zusammen.
»Stell dir nur vor, Geliebte«, raunte Talaan im verschwörerischen Tonfall. »Reshero gibt dir bestimmt so viel Papier, wie du nur möchtest …«
»Du!«, rief sie empört und schnappte nach seiner Schulter. Geduldig ließ er es über sich ergehen. »Das ist schummeln.« Ihre verräterische Schwanzspitze hatte sich jedoch pendelnd selbstständig gemacht und freilich war ihm das nicht entgangen.
»Ich glaube an dich, Kirra«, sagte er bedächtig. »Wenn du willst, komme ich mit.«
Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals und musste mehrfach schlucken, damit keine Tränen hochkamen. »Hör auf, derart lieb zu mir zu sein. Sonst fang ich an zu heulen und nichts ist mit Zeichnen.«
»Darauf kannst du lange warten.« Ihr Mann schmunzelte, während er aufstand.
Die dargebotene Hand ignorierte sie mit gerecktem Kinn und erhob sich, so langsam es die Würde nur zuließ. Sie atmete einmal, ein zweites Mal und mit dem dritten Atemzug kehrte sie zum Lagerfeuer zurück.
In diesem Augenblick verspürte sie mehr Angst als bei ihrer ersten Begegnung mit einem Tiger. Aber sie hatte dieses verflixte Raubtier überlebt, da würde sie auch das durchstehen. Gerade als sie den Mund öffnen wollte, legte sich die Hand ihres Mannes zwischen ihre Schulterblätter und alles wurde ein wenig erträglicher. »Ehrenwerter Reshero?«, fragte Kirra und fand, dass es wie ein Krächzen klang. Sein grimmiger Blick wurde mild, als er ihn hob. »Darf ich es einmal versuchen?«
Oberflächlich betrachtet glich dieser Abend seinen fünfzehn Geschwistern zuvor. Die Wanderer saßen um das Lagerfeuer nahe einer Wasserstelle und tauschten Worte über die Erlebnisse des Tages, während Talaan am Rande des Felsplateaus sitzend in die Nacht hinausschaute. Indessen lag ein Hauch von Abschied und Wehmut in der Luft, der jedem anhaftete, auch wenn ihm die Erklärung dafür fehlte. Sie sickerten selbst in die Gespräche, die bei Weitem nicht so ausgelassen verliefen wie sonst. Zudem saß Talaan nicht in Richtung des Wasserlochs. Stattdessen schaute er nach Westen.
Selbst Kirra konnte sich dieser schleichenden Beklommenheit nicht erwehren, obwohl ihr dieser wunderbare Teil der Welt inzwischen so ans Herz gewachsen war. Sie liebte die nicht enden wollende Wanderung durch die Weiten der Graslande. Stets brachen sie am Morgen auf und stets begleitete sie ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Der Horizont wich mit jedem Schritt, den sie taten, einen zurück. Bauminseln trieben an ihnen vorbei, Herden verschiedenster Tiere zogen mal nah, mal fern ihre Bahnen und es schien gleichgültig, ob sie recht bald oder erst später jenes Fleckchen erreichten, das zuvor in weiter Ferne gelegen hatte.
Heute Abend fand all das ein Ende. Seufzend erhob sie sich und schlenderte zu ihrem Geliebten. Ohne ein Wort ließ sie sich neben Talaan nieder und ihre Hände fanden ineinander. Einvernehmlich schweigend sahen sie nach Westen. Dort, am Rand der Welt, tanzten schimmernde Lichter. In der Dunkelheit der Nacht – der Mond hatte sich noch nicht erhoben – vermochte Kirra unmöglich zu sagen, ob sie einfach nur Sterne dicht über dem mit Sonnenwärme getränkten Boden waren, oder sich knapp unter dem Horizont befanden. Je länger sie starrte, umso mehr schien die schwarze Grenze zwischen Himmel und Erde zu verschwimmen.
Letzten Endes machte es keinen Unterschied, ob die erste menschliche Siedlung, von der Reshero gesprochen hatte, irgendwo vor dem Horizont oder einen Hauch dahinter lag. Am morgigen Tage würden sie das Herrschaftsgebiet König Mohabs betreten. Das würde alles verändern.
Friedlich lächelnd drückte Talaan ihre Hand. Wie Balsam legte sich dieser Trost auf ihr leicht wundes Gemüt und ließ sie erleichtert ausatmen. Ja, ab morgen würde vieles anders werden und das erfüllte sie mit Sorge. Andererseits hatte sie das auch beim Verlassen des Dschungels gedacht und nun würde sie die Savanne kaum weniger vermissen als die Heimat.
Dankbar blickte sie auf die vergangenen Wochen mit all den mannigfaltigen Erlebnissen zurück. Sie hatte sich solche Sorgen gemacht, dass sie den Ehrwürdigen eher ein Klotz am Bein sein würde. Nur hatten diese bei all der sorgfältigen Planung übersehen, dass sie ohne Kirra beinahe ohne Jägerin ausgezogen wären. Dabei hatte es sich für sie als ganz besonderes Abenteuer herausgestellt, in dieser vollkommen fremdartigen Umgebung die Jagd aufs Neue zu erlernen. Was sie an Wissen vermissen ließ, machte sie mit einer gesunden Mischung aus Gespür für das Verhalten der Tiere und einem erprobten Speerarm wett. Auch erschien ihr das Zeichnen mit dem Gelehrten immer noch wie ein unfassbares Geschenk.
»Kannst du das glauben?«, fragte sie leise, um die Stille nicht zu harsch zu vertreiben. »Der ehrenwerte Reshero hat mich heute gebeten, ihm nach unserer Heimkehr bei seinem Kompendium über die Tiere und die Pflanzen der Graslande zu helfen. Er möchte nicht nur, dass ich die Zeichnungen anfertige, sondern auch, dass ich einen Teil über Jagdtaktiken verfasse.«
»Und ob ich das glaube!« Talaans Zähne blitzten hell in der Dunkelheit auf. Überschwänglich küsste er Kirra und liebkoste schließlich ihre Schnauze mit der seinen. »Das sind phantastische Neuigkeiten. Ich freue mich für dich.«
Zunächst wollte sie den aufwallenden Stolz hinter einem reglosen Gesicht verbergen, aber sein immer breiter werdendes Grinsen sprang auf sie über und ein fröhliches Lachen stieg aus ihrer Kehle empor. »Jetzt müssen mir daheim alle glauben, wenn ich ihnen von den Springböcken erzähle.«
Nun war es an ihm zu lachen. »Du hast reichlich verdutzt ausgesehen. All das schöne Einkreisen und dann macht er diesen unglaublichen Satz.«
Jetzt fühlte sie sich in ihrer Ehre als Jägerin gekränkt. »Nicht einmal du hast damit gerechnet, dass er derart hoch springen könnte.«
»Ich hatte keine Ahnung.« Kopfschüttelnd und schmunzelnd zog er sie näher zu sich heran. Auf diese Weise aneinander gekuschelt versanken sie wieder in Schweigen und sahen hinaus in die dunkle Ferne.
»Ich hätte gedacht, du würdest besorgter sein, wenn wir uns den Siedlungen der Menschen nähern«, stellte sie irgendwann fest.
Kurz versteifte sich sein Körper, doch mit einem Seufzen fiel die Anspannung wieder von ihm ab. »Seit wir nach unserer Hochzeit aufgebrochen sind, begleiten mich die Gedanken an die Verhandlungen in Tullma wie ein Geier einen Verdurstenden. Aber über den Graslanden liegt ein wundersamer Zauber, der zumindest die bleiernen Sorgen von mir fernhält. Schon morgen jedoch …« Seine Worte verloren sich im Starren in jene Richtung, in der Kirra die Lichtpunkte am Horizont ausgemacht hatte.
Was, wenn sie weder Sterne noch Behausungen waren? Vielleicht wanderten dort noch mehr wundersame Tiere umher, von denen weder ihr Mann noch Reshero etwas wussten? In den Graslanden schien alles möglich zu sein, dennoch wusste sie zu genau, was Talaan in ihnen sah. »Wenn das dort Häuser sind, darfst du nicht länger nur der Wanderer sein, sondern bist wieder der vom Schicksal Erwählte, auf den alle schauen werden.«
Brummend schüttelte er sacht das Haupt. »Das Schicksal hat mich bereits mit dem Heilen deiner Schwester gelehrt, dass ich mich nicht vor ihm verstecken kann – und möchte. Dadurch dass es mit Sorral einen zweiten Maigan gibt, ist es zudem erträglicher. Aber dass die Ältesten der Großen Stadt mir die Verantwortung für Verhandlungen mit dem Kriegstreiber des Westens aufgebürdet haben … Wenn ich versage, werden unzählige MaKri ihr Leben oder ihre Freiheit verlieren. Das Heer des Königs ist einfach zu gewaltig, als dass etwas anderes als ein Friedensvertrag in Frage kommt.«
Diese Sorgen waren ihr nicht neu, indessen ging es ihr wie ihrem Gatten: Die Graslande hatten sie mit ihrer ganz eigenen Magie von Kirra ferngehalten. Nur zu gut wusste sie, dass Talaan diese Bürde nur trug, weil die Eine Schrift des Orakels ihm ermöglichte, menschliche Gestalt anzunehmen, und die Ältesten wussten, dass er unter Felllosen aufgewachsen war. Sie kannte sein Hadern, ob das allein genügte, den Herrscher des Westens milde zu stimmen. Dabei fühlte sie sich nicht anders: ungenügend und voller Zweifel, ob sie nicht fehl am Platze war.
»Wenn wir versagen, meinst du«, rief sie ihm in Erinnerung. »Du grübelst viel zu gern allein vor dich hin, alter Mann, und vergisst, dass die besten der MaKri an deiner Seite sind. Rerrena und Reshero werden ihr Wissen und ihre Weisheit in die Waagschale werfen und Tonri seine Gabe, tief in Seelen blicken zu können.«
»Das ist wohl wahr«, stimmte Talaan milde zu. Er ergriff ihre Hand und küsste sie zärtlich auf die Haut der Innenseite. »Ich kann mir keine bessere MaKri an meiner Seite wünschen als dich.«
»Verliebter Charmeur«, protestierte sie, gleichwohl konnte sie spüren, wie seine liebevollen Worte Balsam für ihre Selbstzweifel waren. Und da sie die Sorgen von morgen jetzt noch nicht zu nah an sich heranlassen wollte, beließ sie es bei diesem Trost.
Der Mond begann derweil, sich über den Rand der Welt zu erheben, und tauchte die Graslande in ein kühles Licht. Die Grenze zwischen Himmel und Erde wurde sichtbar. Kein Zweifel. Die Lichtpunkte befanden sich darunter. Das bedeutete, dass sie auf die erste Siedlung der Menschen blickten.
Kirra seufzte, als die Melancholie sie wieder einholte. Jetzt endlich erkannte sie auch, welcher Natur sie war: Abschied lag in der Luft. Abschied, von den wunderbaren Graslanden.
Die Sonne, die hoch über ihnen am Himmel stand, brannte gnadenlos auf die Wanderer hinab. Die Luft verschwamm in einiger Entfernung zu einem wabernden Flimmern und die Graslande mit ihr. Umso härter und fremdartiger stachen die schroffen Mauern jener mannshohen Umfriedung hervor, welche das vor ihnen liegende Dorf umfasste. Ein armseliges Ding, an dem hier und da Risse klafften. An einigen Stellen legte abgeplatzter Lehm die eingemauerten Felsbrocken darunter frei und es gab sogar eine Bresche, die man notdürftig mit Geröll aufgefüllt hatte. Mensch oder MaKri würde diese Mauer gewiss nicht aufhalten. Man hatte sie wohl gegen die Tiere der Savanne errichtet.
Stöhnend wischte sich Talaan eine dicke Schweißschicht von der Stirn und nahm einen tiefen Schluck aus dem Wasserschlauch. Die Hitze schien seinen Begleitern nicht viel auszumachen, in menschlicher Gestalt jedoch war sie ihm unerträglich.
Einmal mehr sah Kirra ihn zweifelnd an. »Hältst du das wirklich für einen guten Gedanken? Du schwitzt dich ja beinahe zu Tode. Ich bin ohnehin sicher, dass die Menschen nur MaKri erwarten. Noch hast du Zeit, dich zurückzuverwandeln.«
Ohne es auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen, schüttelte er den Kopf, obgleich ihm die Versuchung zwei herrlich kühle Hände auf die Schultern legte.
»Ich glaube, das ist der bessere Weg. Den Menschen wird es leichter fallen, sich mit uns zu einigen, wenn sie vertraute Konturen vor Augen haben. So werden sie hoffentlich denken, dass ich ebenfalls ihre Interessen vertreten will.« Er deutete auf die Siedlung vor ihnen. Innerhalb der Mauern kauerten sich mehrere kantige Lehmhäuser aneinander. »Ich denke, wir werden bei diesen Bauern ein gutes Gespür dafür bekommen, wie viel Wahrheit in meiner Hoffnung enthalten ist.«
»Mir gefällt es trotzdem nicht«, murrte Kirra.
Talaan lächelte darüber, wenn auch ein wenig unsicher. Er wusste, wie sie sich jetzt fühlte: verwirrt durch das Wissen, dass der Mann, den sie liebte, in diesem seltsam felllosen Körper steckte. Zu seiner großen Erleichterung erwiderte sie das Lächeln und nahm ihm die Scheu.
»Auf jetzt«, sagte er lauter zu den anderen Wanderern. »Ich lechze nach kühlem Brunnenwasser und einem schattigen Dach, um die größte Mittagshitze zu überdauern.«
Der Empfang, den man ihnen bereitete, übertraf alles, was er befürchtet hatte. Das windschiefe Tor, das den einzigen Zugang zum Dorf bot, fanden sie zwar geschlossen, aber nicht abgeschlossen vor. Trotzdem schlug ihnen ein entsetzter Schrei entgegen, als sie das von der vielen Sonnenhitze ausgemergelte Tor aufstießen. Die abgezehrte, dunkelhäutige Frau, der er entsprungen war, griff ein kleines Kind beim Arm und zerrte es in die Hütte, vor der sie gestanden hatten. Die Tür knallte zu und das Schaben von Holz bedeutete wohl einen vorgeschobenen Riegel.
Köpfe schoben sich aus Fenstern und Menschen traten zwischen den dichtgedrängten Häusern vor, welche die schmale Straße säumten, die offenbar zum Dorfplatz führte. Sie alle sahen ebenso hager aus wie entsetzt drein. Aufgerissene Augen schauten ängstlich aus von der Sonne zu Leder gegerbten Gesichtern. Dann setzte ein Durcheinander aus Stimmen ein. »Die Dämonen kommen!«, »Bringt euch in Sicherheit!«, »Bei den Göttern!« oder »In die Häuser, in die Häuser!« waren die Brocken, die Talaan aus dem Gewirr heraushören konnte. Binnen weniger Atemzüge lag die Straße wie ausgestorben da.
Die Wanderer sahen sich betroffen an.
»Ich glaube, wir sollten wieder gehen«, grollte Tonri.
Talaan rieb sich nachdenklich das Kinn und sah dem Staub beim Sich-Setzen zu, den die fliehenden Menschen aufgewirbelt hatten. Ohne Schnauze fühlte sich das seltsam an. »Ichsage, wir sollten bleiben. Im schlimmsten Fall sehen die Menschen hier, wie ein paar MaKri friedlich Wasser aus dem Brunnen schöpfen und Rast halten, statt zu morden und zu brandschatzen. Bestenfalls kommen wir ins Gespräch.«
»Was bedeutet ›brandschatzen‹?«, fragte Reshero hellhörig.
Gequält lachte Talaan auf. »Ich wünschte, diese Menschen wüssten, dass nicht einmal ein Gelehrter der MaKri dieses Wort kennt.« Mit einem Räuspern wandte er sich der verwaisten Straße zu. »Ich weiß, dass gute Worte von Fremden wenig zählen!«, rief er. »Darum lassen wir Taten sprechen!«
Über die Schulter flüsterte er: »Wir lassen unsere Waffen am Tor zurück. Gut sichtbar. Auch die Messer.« Ohne lange Umschweife hob er den Speer weit erkennbar gen Himmel und lehnte ihn dann an die Mauer des Dorfes. Das Jagdmesser folgte mit dem gleichen Ritus.
»Das halte ich für keine gute Idee«, grollte Tonri. »Ich weiß zwar nicht, was ›brandschatzen‹ bedeutet, aber die Worte ›wütender Pöbel‹ habe ich schon einmal gelesen.«
»Du gehörst dem Rat an, der den vom Orakel Erwählten zum Verhandlungsführer bestimmt hat«, entgegnete Kirra und schob trotzig das Kinn vor. »Dann handle auch so.« Entschlossen rammte sie den Speer neben dem Tor in den Boden und legte das Messer daneben. Trotz dieser markigen Worte erkannte Talaan, dass sich ihre Ohren rot färbten, und er nickte ihr dankbar für den Beistand zu.
Der Schamane blickte noch finsterer drein – ein Umstand, den Talaan für unmöglich gehalten hatte – und folgte mit weitaus weniger Nachdruck ihrem Beispiel. Dann endlich legte auch Sorral die Waffen nieder. Reshero ließ ein einfaches Jagdmesser folgen, während Rerrena die Hände zum Himmel streckte, um zu zeigen, dass sie leer waren.
Unbewaffnet setzten sie sich in Bewegung und folgten der von heruntergekommenen Häusern gesäumten Straße. An deren nicht allzu fernem Ende weitete sie sich zu einem Dorfplatz hin, in dessen Mitte gut sichtbar ein Brunnen aus dem Boden ragte. Ein einsamer Baum mit knorrigem Stamm und weit ausladenden Ästen warf Schatten darauf.
Bei jedem Schritt spürte Talaan die verängstigten Blicke vieler verborgener Augen auf sich. »Wir würden uns über eure Gastfreundschaft freuen!«, rief er in die leere Straße hinein. »Aber uns soll auch Wasser aus eurem Brunnen und ein wenig Schutz vor der Sonne genügen. Wir bedanken uns für beides.«
Irgendwo knarrte altes Holz, sonst regte sich nichts. Als er endlich in die Kühle des Schattens trat, atmete er erleichtert auf und ließ sich am Baum zu Boden sinken. Es würde wohl ein paar Tage brauchen, bis er sich in dieser Gestalt an die Hitze gewöhnt hatte. Wenn ich nicht vorher an einem Hitzschlag sterbe.
Während er mit gierigen Schlucken den halbvollen Wasserschlauch leerte, blickte er sich im Dorf um. Die lehmverputzten Häuser mit ihren Flachdächern hatten schon einmal bessere Zeiten gesehen. Sie standen dicht an dicht in der vorderen Hälfte der Umfriedung, nahe dem Tor. Das hintere Viertel links der Straße wurde von einem erstaunlich solide aussehenden Zaun umfasst. Tränken aus gebranntem Lehm und die festgestampfte Erde ließen vermuten, dass hier nachts Rinder oder andere Herden untergebracht wurden, die tagsüber in den Graslanden weideten.
Auf dem verbleibenden Viertel konnte er ebenfalls Tränken ausmachen, neben denen man Pfähle in den Boden gerammt hatte. Auch gab es einen Kreis aus Felsbrocken mit verkohlter Erde darin. Vermutlich lagerten hier die durchziehenden Handelskarawanen.
»Warum ist hier alles derart heruntergekommen?«, fragte Kirra und klang dabei bedrückt. »Habt ihr gesehen, wie abgezehrt diese bedauernswerten Menschen aussehen? Gut, die Graslande sind karger als unsere Heimat, aber trotzdem voller Wild, das man jagen könnte.«
»Dieser Ort ist einer der östlichsten Ableger des Königreichs«, erklärte Reshero, der sich im Schneidersitz mit dem Rücken an den Brunnen gelehnt hatte und mit wachen Augen das Dorf in seinem Buch skizzierte. »Man könnte es einen Vorposten nennen. Die Bewohner scheinen Bauern zu sein. Sie halten gezähmtes Vieh und betreiben weitaus mehr Ackerbau als unser Volk. Vermutlich hatten sie ein paar schlechte Jahre.«
»Kirra hat recht.« Rerrena musterte grüblerisch ihre Umgebung. »Dass sie mit Lehm statt mit Steinblöcken bauen, mag an der Abgeschiedenheit liegen, aber was auch immer sie arm macht,geht schon länger als ein paar Jahre.«
»Die Händler der Menschen sind wohlhabend«, fügte Tonri hinzu. Mit bedächtigen Bewegungen deckte er den Brunnen ab und ließ einen Eimer hinab in den Schacht. »Ich habe oft genug in der Großen Stadt mit ihnen gesprochen und Umtrunk gehalten. Ein Teil ihres Geldes müsste auch diesem Dorf zugutekommen. So sieht es aber nicht aus.«
»Hier stimmt noch mehr nicht.« Sorrals angespannte Haltung und die wachsam aufgerichteten Ohren machten deutlich, dass er dem angstvollen Frieden nicht traute. Er hielt sich bereit für einen Kampf. »Die Händler, die hier durchkommen, müssen von den MaKri berichtet haben. Warum fürchten sie uns?«
Alle Köpfe wandten sich Talaan zu, der bisher nichts gesagt hatte. Ein wenig beschämt stellte dieser fest, dass er die ärmlichen Verhältnisse hier einfach hingenommen hatte, ohne sie zu hinterfragen. Bauern waren arm. Er kannte das nicht anders. Wenn er allerdings ein wenig darüber nachdachte … »Der König unternimmt seit zwei Jahrzehnten Feldzüge gegen seine Nachbarn. Dafür braucht man Soldaten – junge, kräftige Männer im besten Alter; Männer, die jetzt hier für die Viehzucht und den Ackerbau fehlen. Soldaten brauchen Verpflegung – hier gibt es Vieh und Getreide. Soldaten brauchen Ausrüstung – also erhebt der König zusätzliche Steuern in Form von Silber, Leder und Stahl.« Er seufzte. »Wie ich bereits einmal sagte: Bei einem Krieg gibt es nur Verlierer auf beiden Seiten.«
»Wofür ist solche Feindseligkeit dann gut?« Ungläubig schüttelte Reshero den Kopf. »Sie kostet viele Leben und bringt viel Leid. Wenn sie die Menschen auch noch ins Elend stürzt, ist es unlogisch, einen Krieg zu führen.«
Darüber musste Talaan nicht lange nachsinnen. Er hatte das zu oft erlebt – in allen Welten. »Despoten legitimieren ihre Macht damit, dass ein Volk einen Anführer braucht, der weiß,was für es am besten ist. Einer, der die großen Zusammenhänge sieht. Einer, der sie vor Feinden beschützt. In Wirklichkeit sind diese Herrscher aber der Meinung, dass das Volk für sie da ist und nicht sie den Menschen dienen.«
»Aber sie müssen doch erkennen, dass das eine Lüge ist«, brummte Tonri. »Es gab seit Jahrhunderten keine Spannungen zwischen Menschen und MaKri. Spätestens die Angriffe gegen uns sollten allen die Augen öffnen.«
»Du hast gesehen, wie diese Bauern auf uns reagiert haben«, entgegnete Talaan. »Glaubst du wirklich, dass man ihnen die Wahrheit erzählt?«
Erst gedankenvoll, dann immer nachdrücklicher nickte der Schamane. »Allmählich erkenne ich, dass du weißt, was du tust. Es ist wichtig, dass die Menschen hinter die Masken blicken, die Mohab uns gegen unseren Willen aufgesetzt hat. Lasst uns hoffen, dass sich eine mutige Seele findet, die mit uns ins Gespräch tritt.«
Das Dorf blieb verwaist. Für Talaans menschliche Ohren drang kein wahrnehmbarer Laut aus den Häusern, sodass er sich nach einer Weile fragte, ob die Bauern durch geheime Fluchttunnel das Weite gesucht hatten. Kirra versicherte ihm jedoch, dass sie hier und da geraunte Gespräche hörte und mit ihren scharfen Sinnen auch hin und wieder Augenpaare aus den dunklen Höhlen der Fenster spähen sah.
Die Sonne rückte weiter. Als die schlimmste Hitze überstanden war, machten sich die Wanderer gerade bereit zum Aufbruch, als das Tor am Ende der Straße mit einem weit vernehmbaren Knarren aufschwang. Durch den Bogen trat ein stämmiger Mann, dessen weißes, krauses Haar einen leuchtenden Kontrast zu seiner nahezu schwarzen Haut bot. Er hielt kurz inne, als er der Gruppe am Brunnen gewahr wurde, blickte skeptisch auf die ansonsten leere Straße und setzte sich mit einem Schulterzucken wieder in Bewegung. Ein lahmendes Rind, das Talaan an einen Wasserbüffel erinnerte, hinkte hinter ihm durch das Tor und füllte es mit seinem massigen Leib nahezu vollständig aus.
Irgendwo öffnete sich eine Tür, und eine panisch wedelnde Hand schoss daraus hervor. Worte wurden gerufen – zu leise, um sie zu verstehen. Offenkundig eine Warnung. Der alte Mann winkte desinteressiert ab und führte das Rind in aller Ruhe zwischen den Häusern entlang auf den Dorfplatz zu. Das arme Tier bemühte sich sichtlich, den linken Vorderlauf nicht zu belasten, während der Altersgraue weitere Warnungen in den Wind schlug. So viel Gelassenheit stimmte Talaan zuversichtlich. Vielleicht trieb den Mann aber auch nur die Sorge um das Tier.
Skeptisch die MaKri beäugend führte der Viehhirte den Büffel schweigend am Brunnen vorbei. Wenn er Angst hatte, zeigte er sie nicht. Sein Misstrauen konnte man jedoch deutlich spüren.
Talaan setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Sei gegrüßt, guter Mann.« Eilig trat er auf den Alten zu. Der nickte nur knapp und ging weiter Richtung Gatter.
Die Tür einer Gelegenheit schloss sich mit jedem Herzschlag ein wenig mehr. Tu irgendetwas Kluges, dachte Talaan.
Da rief er sich den gut gefüllten Eimer neben dem Brunnen in Erinnerung. Das ist es. Rasch löste er die Haken am Ende des Seils von den Ösen an dem Gefäß und ergriff es dann. Beherzt folgte er dem Viehhirten.
Der bemerkte, dass jemand hinter ihm war, sah das Wasser und tatsächlich schien Talaan, dass sein Gesichtsausdruck ein wenig milder wurde. Nachdem das Rind durch das Tor gehinkt war, schlüpfte er ebenfalls hindurch und machte sich daran, eine der tönernen Tränken aufzufüllen. Der Alte beobachte ihn dabei mit wachsamen Augen und nickte schließlich zufrieden.