Pfad durch Licht und Grabesschwärze - Christopher Abendroth - E-Book
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Pfad durch Licht und Grabesschwärze E-Book

Christopher Abendroth

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Beschreibung

»Dich treibt eine Frage um, Talaan: Was haben meine Schlachtenmagier Besseres zu tun, als Mohabs Heer zu verteidigen?« Die Halle des Lichts ist unter die Schatten gefallen - der Krieg hat begonnen. Mit der vagen Hoffnung, das Waldvolk könnte mit viel mächtigeren Zaubern in die Schlacht ziehen, kehrt Talaan heim. Inzwischen erlernen Tausende MaKri die Kampfmagie und Kirra bildet einen Kreis von Heilern aus. Dennoch stehen die Chancen schlecht. Das ausziehende Heer des Feindes ist übermächtig und die Zeit knapp. Auch steht der Ältestenrat nicht länger geschlossen hinter dem Maigan. Doch nicht nur das Rätsel der vereinten Geistessymbole treibt Talaan um. Während sich die ersten MaKri rüsten, um den Feind anzugreifen, bleibt die entscheidende Frage: Welchen perfiden Plan verfolgen der dunkle Weltenwandler Marten und seine Hexer? Das epische Finale der Tetralogie »Die Macht der Weltenwandler«!

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Christopher Abendroth ist seit drei Jahrzehnten passionierter Autor von Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten. Sein Debüt, die dystopische Science-Fiction-Novelle »Der salzige Geschmack unserer Freiheit«, gewann den renommierten deutschsprachigen Literaturpreis für Phantastik »SERAPH« 2023 in der Kategorie »Bester Independent-Titel«. Nun erscheint mit »Pfad durch Licht und Grabesschwärze« das Finale seiner Fantasy-Tetralogie »Die Macht der Weltenwand-ler«.

Privat ist er Familienvater mit Leib und Seele. Wenn ihm das Schreiben Zeit dazu lässt, durchstreift er als Khajiit die Reiche Tamriels oder verbringt verträumte Tage in der freien Natur. Im Urlaub bereist er gerne ferne Kulturen und Naturwunder.

Inhaltsverzeichnis

Anmerkung des Autors:

TALAAN

KIRRA

TAUSENDFACHE FRUCHT

DER KRIEGSRAT

ZWISCHEN LICHT UND SCHATTEN

WAS VERBINDET UND WAS TRENNT

DAS GEWEBE DER MAGIE

MEISTER DES GEWEBES

SENGENDES, BRENNENDES LEBEN

DAS SCHWINDEN DER HOFFNUNG

DAS MEER DES VERGESSENS

RAT OHNE HOFFNUNG

DER BLICK DES NÖRDLICHEN ORAKELS

DIE HÄNDE DER GEGENWART

DER HEROLD DES KÖNIGS

EIN LEBEN FÜR EIN LEBEN

DAS FESTMAHL DER GROßEN BESTIE

DIE LEBENDEN UND DIE TOTEN

LOSE ENDEN

BRÜCHE IM HERZEN

WAHRHAFT EINS

GLOSSAR

Arkane Manufaktur

Eine Schrift, die

Effenda

Geistessymbol

Graslande

Große Bestie

Kata

Klingentanz

Kriegsrat

KriSam

Nördliches Orakel

PurishTarr,

Rikashi

RishKawjular

TaKri

Tullma

Waswari

Zauberbuch

PERSONENVERZEICHNIS

NACHWORT

DANKSAGUNG

Anmerkung des Autors:

Auch der letzte Band von »Die Macht der Weltenwandler« kommt mit einem Glossar daher. Talaan ordnet hier seine Gedanken nach dem großen Finale und in gewohnter Manier geben diverse MaKri ihren Senf dazu. Daher könnte es dir beim Nachschlagen während des Lesens passieren, dass kleine, unwichtige Details verraten werden. Alternativ kannst du die Tetralogie auch mit dem Glossar ausklingen lassen.

Das Personenverzeichnis ist wie immer knapp und spoiler-frei.

TALAAN

Talaan ist ein Welten-wandler, dessen schwer zu greifende Macht die Phantasie ist. Mit seelen-tiefen Tagträumen verändert er künftige Welten. Der Übergang zwischen diesen ist jedoch der Tod. Was er sich für die MaKri und den losgebrochenen Krieg erträumt hat, vermag er allerdings nicht zu sagen.

Auch wenn er in seinem letzten Leben, das nur ein Jahr her ist, ein Mensch war, fühlt er sich voll und ganz den MaKri verbunden. Ihr Dschungel ist seine neue Heimat geworden und er würde alles dafür tun, sie gegen seinen Widersacher Marten zu verteidigen. Der dunkle Weltenwandler ist ihm Warnunggenug, dass die Achtung vor dem Leben und ein solider moralischer Kompass stets sein Handeln bestimmen müssen.

Ganz gleich, welche Herausforderungen ihm nun nach dem Fall der Halle des Lichts bevorstehen: Seine Frau Kirra ist sein Fels in der Brandung, auf den er sich voll und ganz verlassen kann. Bei ihr darf er einfach er selbst sein, mit allen Schwächen und Zweifeln, während er nach außen als Maigan Hoffnungs-träger der MaKri ist.

KIRRA

Kirra hat ihr Leben als einfache Jägerin endgültig hinter sich gelassen. Auch haben ihre Zweifel, ob sie unter Maigan und Gelehrten einen Platz hat, ein Ende gefunden. Seit sie erkannte, dass es ihre Bestimmung ist, die Heilmagie zu erlernen, ist sie über sich hinausgewachsen.

Trotzdem ist sie noch die Alte geblieben. Seit sie mit Talaan verheiratet ist, ist ihr liebster Zeitvertreib, ihn mit seinen menschlichen Prägungen immer wieder in Verlegenheit zu bringen. Außerdem fällt es ihr nach wie vor schwer, ernst zu bleiben, wenn ihr eine ulkige Bemerkung auf der Zunge brennt.

Den Herausforderungen, die der Krieg mit den Menschen des Westens und das Leben an der Seite eines Maigan mit sich bringen, sieht sie mit Sorgen entgegen. Dabei weiß sie jedoch, dass sie sich stets auf ihren Mann verlassen und stützen kann.

TAUSENDFACHE FRUCHT

Talaan flog so schnell es seine Kräfte und die Grenzen des Flugzaubers erlaubten. Hier über den Bäumen erschien ihm das derart quälend langsam, dass es ihn nahezu wahnsinnig machte. Zu bedeutsam war das Wissen, das ihm das Orakel anvertraut hatte, bevor es von den Schatten verhüllt worden war. Oder versuchte er nur, vor dessen Offenbarung davonzufliegen, warum das geschehen war? Er selbst würde es vernichten, falls die MaKri den Krieg verlieren würden.

Augenblicklich wurde er bei diesem Gedanken noch schneller. Also doch nur auf der Flucht. Mühevoll schüttelte er die unliebsame Erinnerung und die übertriebene Hast ab. Dass Marten mit Hilfe des Orakels zu einem Gott aufsteigen könnte, war ein schwacher Trost für jenen künftigen Frevel. Eine Tat, zu der es nie kommen würde, denn die Halle des Lichts war unerreichbar für die MaKri geworden.

Zugleich tat Talaan das treibende Gefühl der Eile gut. Die Tage des Wartens während seiner Pilgerschaft waren endlich vorüber. Die Zeit des Handelns als Maigan hatte begonnen.

Auch wenn die Ungewissheit blieb und nur ein anderes Gewand trug, wurde sie jetzt von einer sehr greifbaren Hoffnung gemildert, anstatt in einem Meer konfuser Sorgen zu treiben.

Wie weit ist die Große Stadt denn noch entfernt?, fragte er sich nicht zum ersten Mal. Sein Verstand hielt sich jedoch nicht lange damit auf. Viel lieber kehrte er zu den Ereignissen der letzten Tage zurück und versuchte, sie zu sortieren und das Muster zu erkennen.

Die Schockstarre hatte nicht lange angedauert, nachdem die Halle des Lichts unter die Schatten gefallen war. Die darauffol-gende Suche nach den Hexern des Feindes war rasch zu einer regelrechten Treibjagd herangewachsen, angefacht von Zorn und Angst. Marten musste mit Hilfe des Nördlichen Orakels umden Ausgang des Scharmützels gewusst haben. Vermutlich waren sie deshalb in so großer Zahl ihren Häschern entwischt. Mit welchem Ziel mochte der dunkle Weltenwandler sie zurück in den Dschungel entsandt haben? Ganz sicher verfolgte er weitere Pläne, nachdem sein wichtigster Streich in diesem Krieg geglückt war. Wenn sie sich als ähnlich wirkungsvoll und verschlagen herausstellen sollten wie der Angriff auf die Halle des Lichts, dann stand Schlimmes bevor.

Viel mehr als über diese Bedrohung zerbrach Talaan sich jedoch über die kriegsentscheidenden Dinge den Kopf, die er in der Halle des Lichts gehört hatte. Würden die Träume ausreichen, die sein jüngeres Weltenwandler-Ich von dieser Welt gehabt hatte? Sie waren das Gegengewicht zu dem blanken Willen, mit dem Marten das Schicksal des Menschenreichs geschmiedet hatte.

So viele Unbekannte in der Gleichung. Wo ist diese verflixte Stadt?

Am Ende spielte ohnehin nur eine Rolle, wie die Zukunft der vereinten Geistessymbole aussah, von denen das Orakel gesprochen hatte. Magie, die mehrere MaKri in einzelnen Köpfen und dennoch gemeinsam wirken konnten, hatten das Zeug, das Angesicht der Welt zu ändern. Vorerst jedoch blieb es eine vage Vorstellung, ein Mysterium. Um es ergründen zu können, fehlte Talaan die wichtigste Komponente: weitere Zauberkundige. Er konnte es gar nicht erwarten, damit anzufangen.

Bis dieses Rätsel gelöst sein würde, galt es, sich dem Feind so gut es irgend ging entgegenzustellen. Zum vielleicht zwanzigsten Male tastete Talaan nach dem Stein im Beutel an seiner Hüfte, in den er das Abbild eines Zaubers eingeschlossen hatte. Ein Zauber, der die ersten Schlachten entscheiden würde. Wie neunzehn Mal zuvor fand er, was er suchte, an Ort und Stelle.

Endlich erspähte er, wonach er so angestrengt Ausschau gehalten hatte: In den Siedlungen des Waldvolkes wuchsen die Riesenbäume besonders hoch in den Himmel. So erhob sich in dem grün wogenden Blättermeer in weiter Ferne eine nichtminder grüne Insel. Ein gewaltiges Eiland, unter dem sich die vertrauten Rundhütten der Großen Stadt verbargen.

Obgleich die Verlockung groß war, seinem geplagten Körper jetzt schon ein wenig Ruhe zu gönnen, wurde Talaan nicht langsamer, bis er kopfüber durch das Blätterdach hinab-sank.

Eine wohlige Stille begrüßte Talaan, als er ihre gemeinsame Hütte betrat. Zwar konnte er sich der großen Enttäuschung nicht erwehren, dass er Kirra nicht antraf – insgeheim hatte er sich immer wieder ausgemalt, wie sie ihn liebevoll bei der Rückkehr empfangen würde –, dennoch kam dieses Haus Heimat so nah, wie es ohne seine Liebste nur ging. Mit einem ungemein befriedigenden Gefühl stellte er das Bündel ab, das ihm so treue Dienste während der Pilgerzeit geleistet hatte, und sah sich trotz aller Eile in Ruhe um.

Wie kam es, dass ihm diese Rundhütte derart lieb und teuer geworden war? Während der ersten Tage war sie Talaan wie ein goldener Käfig erschienen, vor dem er geflohen war. In den späteren hatte die Last der Verantwortung ihn immer wieder daran erinnert, wieso er das Haus des Maigan bewohnte. Dennoch…Talaan schnupperte und lächelte. Kirras Duft hing in der Luft. Zugleich war es mehr als das. An jenem Tisch zur Rechten war er gesessen, als zwei Kinder ihn gelehrt hatten, welche Freuden mit der Verantwortung verquickt waren. Auf diesem Sitzpolster beim Küchenbereich hatte Tonri gesessen und Talaan auf seine verschroben gutherzige Art eine Lektion in Freundschaft erteilt – und sich als wahrer Freund erwiesen. Aus den Schüsseln, die im Regal standen, hatte er all die Köst-lichkeiten verspeist, welche die gutherzigen Nachbarn ihm Abend für Abend durch Hritani auftischen ließen. Auf diesem Kissenkreis dort hatte er durchwachte Nächte über dem Zauberbuch verbracht, wohingegen jener hier an fröhliche Abende mit Mani erinnerte.

Diese Hütte hatte über die kurze Zeit nicht weniger Geschichten zu erzählen als die Wohnungen seines ersten Lebens, in denen er Jahre verbracht hatte. Nun würde sie ihmwieder Obdach geben, angefüllt mit Gemütlichkeit, Kirra an seiner Seite und weiteren Begebenheiten von Pflicht und Freundschaft. Talaan freute sich darauf.

Mit einem leicht wehmütigen Seufzer wandte er sich von dem friedlichen Idyll ab, um hinaus ins Freie zu treten. Es galt, Reshero zu finden.

Vor seinem inneren Auge sah er fünf Gruppen aufmerksam lauschender MaKri, mit einigem Abstand zueinander am Rande der Großen Stadt verteilt. Schüler lauschten konzentriert den Worten der ehemaligen Abgesandten, welche die Kunst der Geistessymbole aus Tullma mitgebracht hatten.

Doch bereits als Talaan sich dem Stadtrand aus der Luft näherte, strafte ihn die Realität Lügen. Ein reges Stimmengewirr drang zu ihm hinüber, das unmöglich nur von einhundert Kehlen herrühren konnte. Immer wieder durchbrach das markante Fauchen von Feuerbällen das Wirrwarr, krachende Entladungen von Kugelblitzen oder das bedrohliche Summen der Kraftkugeln.

Endlich erreichte er jenen Felsen, auf dem die Lehre der ersten Schüler ihren Anfang genommen hatte, und hielt staunend in der Luft inne. Zwar sah er, wie erwartet, Gruppen von zwei Dutzend Lernenden, allerdings gab es derer so viele, dass der Blick entlang der Grenze zwischen gelichteter Stadt und üppiger Wildnis sie nicht fassen konnte. Mit dem Begreifen zogen Hoffnung und eine von Stolz erfüllte Freude in seinem Herzen ein. Die Welt hatte sich während der RishKawjular weitergedreht. Aus Schülern waren Lehrer geworden.

Ein irrlichternder Feuerball schoss derart dicht an Talaan vorbei, dass er dessen Hitze spüren konnte. »Das war ein guter Versuch, aber erschreckend schlecht gezielt«, vernahm er eine vertraute Stimme. »Ein wenig tiefer und du hättest eine Rund-hütte in Brand gesetzt. Etwas weiter rechts und du wärest in die Geschichte eingegangen als das Flauschohr, das den erwählten Maigan getötet hat.«

Unweigerlich musste Talaan grinsen. Dieser bärbeißige Humor ließ keinen Zweifel mehr offen, wem diese Stimmegehörte. »Rashek, mein Freund, ich denke, du kannst aufhören, deine Schülerin zu schelten. Ich sehe von hier aus, wie rot ihre Ohren angelaufen sind.«

Behutsam landete er bei dem Krieger und der Gescholtenen – einer jungen MaKri, die trotz knallroter Ohren und gesenktem Haupt schelmisch grinste.

»Das war ein guter Zauber, Sháuurri«, brummte Rashek versöhnlich. »Nur hast du nicht damit gerechnet, dass er gelingt und deshalb alle Vorsicht fahren lassen. Geh jetzt und übe, wo es sicher ist.«

»Das werde ich«, erwiderte sie und schnupperte im Vorbeigehen an Talaan. »Riecht kein bisschen verkohlt.«

Kopfschüttelnd blickte Rashek ihr nach, auch wenn ihm ein schmales Lächeln auf den Lippen lag. Schließlich wandte er sich dem Maigan zu. »Es tut gut, dich wiederzusehen, Talaan.«

Der ergriff die Hand, die ihm Rashek darbot, und umarmte ihn kurz. »Es tut gut, wieder hier zu sein, glaube mir. Zu sehen, dass du jetzt einer von vielen bist, der die Kunst der Magie lehrt, macht mich froh.«

Der Krieger folgte Talaans Blick zu den Übenden. Überall flammten Auren auf und magische Energie knisterte beinahe greifbar in der Luft. »Ja, es macht Mut, zu sehen, wie aus hundert Samen tausendfache Frucht erwächst«, sinnierte er. »Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich ein Teil davon bin … Heda!«, rief er plötzlich. »Keine Partnerübung ohne magischen Schild, habe ich gesagt!«

»Genau das habe ich versucht«, murrte der Schüler. Ein junger MaKri, kaum alt genug, dem magischen Gesetz zu genügen. »Ich wollte …«

Ein kurzes Knurren Rasheks brachte ihn zum Schweigen. »Ich werde gebraucht, Talaan. Bestimmt bist du auch nicht vom Orakelzurückgekehrt, nur um zu plaudern«, sagte er.

»Ich hoffte, Reshero hier zu finden«, lenkte Talaan ein.

»Der Ehrenwerte lehrt eine Gruppe viel weiter in dieser Richtung.« Sein Freund deutete den Waldrand entlang. »Jetzt entschuldige mich, bevor es noch Tote gibt.« Rashek nickteihm zum Abschied zu, setzte ein grimmiges Gesicht auf und stapfte hinüber zu seinen Schülern.

Lächelnd setzte sich Talaan in die gewiesene Richtung in Bewegung. Also hatte es Rashek in die Auswahl der zweiten Welle geschafft. Bei aller Raubeinigkeit hatte der MaKri auch mit ihm viel Geduld bewiesen. Er gab sicherlich einen guten Lehrer ab.

Talaan widerstand dem Drang, sich wieder in die Luft zu erheben. Die Kunde, dass der erwählte Maigan vom Orakel zurückgekehrt war, sollte sich ruhig in der Großen Stadt verbreiten. Je öfter man ihn sah, desto besser. Also nahm er sich Zeit zum Schlendern. Er grüßte, wann immer ein Blick auf ihn fiel und lobte, wenn er einen Zauber für gut gelungen hielt. Tatsächlich folgte ihm eine gehobene Stimmung wie eine Bugwelle, bis er endlich den Gelehrten fand.

Der beobachtete gerade hochkonzentriert die Übungen seiner Schützlinge. Offenbar lehrte er derzeit die Erdbeherrschung, auch wenn statt Felsnadeln teils geometrische Objekte wie Quader oder Kugeln aus der Erde hervorbrachen, teils sogar komplexere Gebilde, die an grob behauene Steinstatuen erinnerten.

»Willst du sie lehren, Städte aus Stein zu errichten, mein Freund?«, fragte Talaan, nachdem er das Schauspiel eine Weile bewundert hatte.

»Du bist rascher zurück, als ich nach der Nachricht des Scha-manen erwartet hatte«, entgegnete Reshero mit eben jener Zerstreutheit, die ihm immer anhaftete, wenn er sich auf etwas konzentrierte. »Ich lehre sie Präzision im Umgang mit dieser Macht. Dies ist mein Tribut an jenen Jungen, den du in Tullma beinahe getötet hast.«

Diese Worte zwickten, indes wusste Talaan um ihre Wahrheit und auch, dass der Gelehrte dies nicht böse meinte. »Das ist verantwortungsvollerer Umgang mit dieser Macht, als ich es mir erträumt habe«, gab er zurück. »Ich danke dir.«

»Das macht ihr außergewöhnlich gut!«, rief Reshero den Schülern zu. »Gönnt euch ein wenig Ruhe und besorgt einenKorb mit kleinen Früchten. Aber esst nicht alles auf, wir brauchen das Obst für Zielübungen.«

Jetzt endlich wandte sich der Gelehrte Talaan zu. »Nun, was hast du Dringendes auf dem Herzen?« Mit einem ernsten Lächeln tauschte Reshero einen Handschlag mit ihm.

»Was lässt dich glauben, dass ich dich nicht einfach nur besuchen möchte?«, fragte Talaan mit einer betont zweifelhaften Darbietung von Gekränktheit.

Ein Teil der Lachfalten an Resheros Augen kehrte für einen Moment zurück. »Wir sind Woche für Woche durch die Graslande gewandert. Ich saß an deiner Seite, wann immer du mit dem König von Tullma verhandelt hast. Ich weiß, wann du angespannt bist, Maigan.

Aber jetzt stelle meine Neugier nicht länger auf die Probe und rede, beim Schöpfer.«

»Ich habe dir eine harte Nuss zum Knacken gebracht«, köderte Talaan ihn ein letztes Mal und brachte den rundgewa-schenen Stein aus dem Beutel am Gürtel zum Vorschein. Kaum ließ er ein wenig magische Energie hineinfließen, erschien das Abbild jenes Geistessymbols in der Luft, das er an ihn gebunden hatte.

Wie erwartet biss der Gelehrte an. Das äußerst komplexe Geflecht, das er geradezu mit den bernsteinfarbenen Augen verschlang, stellte ein Rätsel dar, dem er nicht zu widerstehen vermochte. »Warum kommst du damit zu mir?«, fragte er tief in Gedanken. »Sorral ist als Maigan viel länger mit der Gabe der Geistessymbole vertraut.«

»Weil du ein Gelehrter bist und die Welt mit anderen Augen siehst«, gab Talaan jene Antwort, über die er stundenlang gegrübelt hatte. »Dieser Zauber hebt auf der einen Seite ebenso Naturgesetze auf, wie er sie an anderer Stelle nutzt oder gar verstärkt. Zudem brauche ich dein Verständnis für all diese Dinge, damit du es schneller lernst, als es irgendein anderer könnte.«

»Schmeichelst du mir gerade, um mir die Demütigungen unzähliger Fehlversuche erträglicher zu machen?«, fragte Reshero mit gespielter Strenge und sah ihn fragend an.

»Genauso ist es«, antwortete Talaan grinsend. »Und weil es der Wahrheit entspricht. Schau gut her, Zeit ist ein kostbares Gut in diesen Stunden.«

Der Gelehrte nickte und konzentrierte sich wieder auf das Geistessymbol vor ihm. Talaan deutete mit ausgefahrener Kralle auf ein kleines Segment des Symbols, das daraufhin noch heller strahlte. »Aufhebung der Schwerkraft.« Mit der Kralle wanderte er weiter und ließ einen anderen Teil aufleuchten. »Abmilderung der Trägheit.« Weiter. »Abmilderung der Luft-verwirbelungen.« Talaan deutete auf zehn nahezu identische Linienknoten, die auf der äußeren Sphäre des Geistessymbols verteilt lagen. »Impulse für Richtungswechsel. Das dort kompensiert in begrenztem Rahmen die Fliehkraft.« So ging es noch eine Weile weiter, doch der Gelehrte nickte jedes Mal nur knapp und wachsam. Am Ende von Talaans hastigem Abriss wiederholte er jede Erläuterung absolut fehlerfrei.

Dann schlich nach und nach ein Lächeln auf Resheros Lippen, bis es das gesamte Gesicht erhellte. »Willst du mir sagen, dass ich anhand von diesem Brocken lernen werde, wie man fliegt?«

Talaan legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die kindliche Freude über diese Erkenntnis rührte ihn. »Ich will dir damit sagen, mein Freund, dass du lernen wirst zu lehren, wie wir alle fliegen können.«

»Ein wertvolles Geschenk.« Seine Altersfalten vertieften sich noch mehr. »Aber warum sollen wir das lernen?«

»Ich habe erst beim Kampf an der Halle des Lichts erkannt, wie sehr dieser Zauber das Gesicht des Krieges verändern kann. Die MaKri werden damit etwas erlangen, wofür in dieser Welt das Wort noch nicht erfunden wurde.« Talaan ließ grimmig Zähne blitzen. »Lufthoheit.«

DER KRIEGSRAT

Die Hitze der Feuerschale lag schwer in der Luft, als Talaan in die Hütte des Rates trat. Man musste sie schon vor Stunden entfacht haben. Stunden vor seiner Ankunft in der Großen Stadt, wie er verwundert und auch ein wenig besorgt feststellen musste. Trotz des flackernden Scheins benötigten seine Augen einen Moment, um sich an die Dunkelheit im Raum des Rates zu gewöhnen. Fenster und Tür hatte man wie immer, wenn das Feuer brannte, mit Leder verhangen.

Die schweren Vorhänge, welche die Hütte in zwei Hälften teilten, raschelten und eine ungewöhnlich besorgt dreinschauende Shaila trat hindurch. Überraschung huschte über ihre Züge und machte dann einem freudigen Lächeln Platz. »Maigan Talaan! Es ist ein gutes Omen an einem dunklen Tag, dass du so schnell zurückgekehrt bist.« Sie deutete auf den Kreis aus Sitzkissen, der heute einige mehr zählte, als es Köpfe im Rat gab. »Nimm Platz, du kommst zur rechten Zeit. Wir hoffen auf bessere Neuigkeiten, als sie uns über die Schamanen erreichten.«

»Ich bringe viel Hoffnung und ein gerütteltes Maß voll Sorgen«, erwiderte er frei heraus.

Während er sich wie geheißen niederließ, fragte er: »Für wen sind die anderen Kissen? Für weitere Gäste, mit denen ihr nicht gerechnet habt?«

»Wir haben einen Kriegsrat einberufen, Talaan«, erwiderte die Kräuterfrau mit sorgenvollem Ernst. Kopfschüttelnd murmelte sie noch einmal: »Einen Kriegsrat.« Mit einem Stöhnen, das nicht dem Alter allein geschuldet war, nahm sie ein Sitzkissen von einem Stapel und betrachtete es eingehend, als hätte sie es nie zuvor gesehen. »So viel Verantwortung schultern wir fünf nicht allein. Wir sind auf Ratgeber angewiesen.« Während sie bedächtigen Schrittes zu Talaan hinüberkam, wirkte sie tatsächlich um Jahre gealtert. »Dafür haben wir Mani in den Ratberufen. Sie versteht sich besser auf Truppenbewegungen und Strategien als wir alle zusammen.« Shaila blickte Talaan mitleidig an. »Außerdem berufen wir dich in den Kriegsrat, Maigan.« Das Kissen fiel in einer Lücke schwer zu Boden.

Ein Aufwallen von Panik drehte ihm den Magen um. »Ich verstehe mich auf arkane Künste und auf Schwerter, aber kein bisschen auf Feldzüge oder Strategie«, widersprach er augenblicklich. »Was habe ich in einem Kriegsrat verloren?«

»Was hat Marten an der Seite des Königs verloren?«, fragte Häuptling Firr, dessen Eintreten Talaan ebenso wenig bemerkt hatte wie das von Amisha oder Harjit. »Dennoch ist er dort und treibt den Vormarsch maßgeblich an.«

»Haben die Menschen des Westens ihren ersten Schlag gegen uns nicht mit Magie geführt?«, ließ Harjit, der Vertreter der Männer, die nächste Frage folgen. »Ihre Macht verdunkelt die Halle des Lichts, oder nicht?«

»Und außerdem, Maigan«, fuhr Amisha, die Vertreterin der Frauen, fort, während sich alle Ratsmitglieder auf die Kissen sinken ließen, »berufen wir dich in den Rat. Wir ersuchen dich nicht.«

Talaan wurde heiß und kalt. Erst Tullma und jetzt das. Wie um alles in der Welt war er hier von Nutzen? Als Berater, sicher, auf Zauberei verstand er sich. Aber als Teil des Rates? Er würde über die Geschicke des Krieges mitentscheiden. Und die Verantwortung über Leben und Tod – auf beiden Seiten – tragen müssen.

»Wir alle nehmen diese Bürde hin, weil sie uns von den Menschen des Westens auferlegt wurde«, sagte Firr versöhnlich. »Ein jeder von uns fragt sich, weshalb das Ende des jahrhundertealten Friedens ausgerechnet auf unsere Zeit im Rat fallen muss. Dennoch nehmen wir diese Verantwortung auf uns. Weil es jemanden geben muss, der das tut. Das Waldvolk verlässt sich darauf. Es verlässt sich auf uns und den vom Orakel erwählten Maigan, der mit ihm Zwiesprache in der Halle des Lichts geführt hat, bevor die Schatten fielen.«

Unweigerlich kamen Talaan die Worte des Orakels in den Sinn. Marten war in diese Welt gekommen, da nur durchTaten aus geformtem Willen Wirklichkeit wurde. Auch Talaans Taten würden dazu beitragen, dass aus einem Traum von Frieden wirklich Frieden erwuchs. Es lag an ihm, dass dieser Traum mächtiger wurde als die Pläne seines Widersachers. Ob er es leugnete oder nicht: Er war das Gegengewicht zum dunklen Weltenwandler in der Waage dieser Zeiten.

Mühsam schluckte er den Klumpen in seinem Hals herunter und verneigte sich andeutungsweise. »Ich nehme diese Bürde auf mich, Älteste. Möge ich sie nicht lange tragen müssen.«

»Möge sie auf unser aller Schultern nicht zu lange lasten«, stimmte Shaila ein, zwei Finger auf dem Herzen. Die anderen Ratsmitglieder taten es ihr gleich. Alle, nur nicht der Schamane des Rates.

»Wo ist Tonri?«, fragte Talaan verwundert.

»In seiner Hütte«, übernahm Harjit die Antwort. »Ich verstehe nicht viel von schamanischen Praktiken, aber vereinfacht ausgedrückt teilt er mit Mani eine Trance. Sie wollte mit eigenen Augen sehen, was unsere Späher vor den Toren Tullmas erblickt haben. Träume, die Schamanen von Nichtschamanen einsammeln, bedürfen eines geschulten Auges, um Illusion von Realität zu scheiden.«

»Wir haben Späher in der Savanne?«, fragte Talaan überrascht. »Was ist mit den magischen Augen?«

Firr nickte einer im Schatten sitzenden MaKri zu, die Talaan bisher nicht einmal bemerkt hatte. Sie ließ eine Sphäre der Sicht entstehen, welche die Stadttore Tullmas und das Land davor zeigte. Keine Menschenseele war zu sehen. Das Bild schimmerte kurz und zeigte den Flug eines Auges über den kargen Landstrich, der sich zwischen den Graslanden und der Königsstadt erstreckte. Nirgendwo konnte Talaan eine Menschenseele erblicken.

»Der Feind hat seine Armeen in Bewegung gesetzt, aber unsere Augen sind blind«, erklärte Häuptling Firr ernst. »Dies konnten wir zu Beginn der RishKawjular nicht wissen, gleichwohl trieb uns ein ungutes Gefühl um. Unser Instinkt trügt uns selten, also haben wir Späher ins Feindesland entsandt, um im Verborgenen Wacht über Tullma und das Umland zu halten.«

»Ein großes Wagnis unter den Augen des Nördlichen Orakels«, warf Talaan ein.

»Auch die Augen des Nördlichen brauchen ein Geheiß, wohin sie blicken sollen«, sagte die Orakelgelehrte Rerrena, welche gerade durch die Ledervorhänge der Tür schlüpfte. »Der Rat hat gute Jäger entsandt, die wissen, wie man sich verbirgt.« Mit diesen Worten ließ sie sich neben Talaan auf einem freien Kissen nieder.

»Es war ein Wagnis, wert, es einzugehen«, stellte Häuptling Firr klar. »Wir wurden dafür reich belohnt, auch wenn uns dieser Lohn bitter schmeckt. Vor einer Woche erreichten uns erste Berichte, dass entlang der Stadtmauer Feldlager aufgeschlagen wurden und Truppen über Truppen darin Stellung bezogen. Bald wurde klar, dass es nicht die Soldaten aus den Kasernen Tullmas waren, die sich anschickten, auszurücken. Mohab versammelte seine Streitmächte.« Als geübter Redner, welcher der Häuptling nun einmal war, ließ er die letzten Worte sich entfalten, bevor er weitersprach.

»Schließlich öffneten sich auch die Tore der Stadt und spien Soldaten über Soldaten aus. Alle Truppen, von denen uns berichtet wurde, rückten wie eins vor drei Tagen zu Beginn der elften Stunde aus. Der Feind hat so lang gezögert, uns anzugreifen und geht nun mit einem Mal derart entschlossen vor. Mani sagte, dies wäre ein denkbar schlechtes Zeichen.«

»Eines, das mit den schrecklichen Neuigkeiten zusammenfällt, die Maigan Talaan uns über die Schamanen zukommen ließ«, ergriff Rerrena das Wort. »Ein Umstand, über den ich ausgiebig nachgesonnen habe. Helft mir, die Dinge für euch zu entwirren, und vielleicht vermag dann einer von uns, die verbleibenden Rätsel aufzulösen.« Bei diesen Worten huschten die blattgrünen Augen der Gelehrten über Talaan hinweg. Bildete er es sich ein, oder waren sie für einen Moment an ihm haften geblieben?

»Ich erspare euch einen ausgiebigen Vortrag über Zeitlinien und wie die Orakel im Gegensatz zu uns die Verästelung von Möglichkeiten betrachten. Stattdessen beschränke ich michdarauf, euch die Konsequenzen dieser Umstände vor Augen zu führen. Ich ersuche den Rat, mir aufmerksam zu folgen.«

Für einen Moment sammelte sie sich mit zerfurchter Stirn. »Wir wissen von Effenda Mani, dass sie unzählige Male mit Hilfe des Nördlichen Orakels die Feldzüge gegen die MaKri geplant hat. Stets war der Sieg der ihre. Dennoch erlangten sie in keiner möglichen Zukunft, was König Mohab tatsächlich begehrt: die Halle des Lichts. Man müsste aber meinen, mit so vielen Soldaten wäre es nur eine Frage der Zeit, selbst im tiefsten Dschungel etwas so Großes wie die Halle des Lichts aufzuspüren.«

»Hast du uns nicht gelehrt, dass unser Orakel in einigen möglichen Zukünften blinde Flecken hat?«, sinnierte Shaila. »Du hast sogar davon gesprochen, dass die schlüssigste Erklärung dafür sein Ende in jenen Zeitlinien ist. Der Krieg ist schuld daran, nicht wahr?«

Dem Nicken der Gelehrten haftete Beklommenheit an. Der Tod des Orakels war sichtlich etwas, das sie sich nicht ausmalen wollte. »Ich vermute, dass es so ist. Ich begreife jedoch nicht das Wie und ebenso gibt es Widersprüche, die wir noch auflösen müssen. Dennoch ist dies die erste wichtige Erkenntnis unserer Zusammenkunft.

Fakt ist, dass Mohab und Marten sich entschieden, Verhandlungen zu führen. Unterhandlungen, an deren Ende ohne Frage Zugang zum Östlichen Orakel in Friedenszeiten stehen würde. Was eine neue Frage aufwirft: Wenn diese Zukunft mit Hilfe des Nördlichen vor den Augen des Königs ausgebreitet lag, muss er dann nicht wissen, wo die Halle des Lichts zu finden ist? Die Antwort darauf ist einfach: selbstverständlich.«

»All die Späher, all die Toten vor den Gesprächen in Tullma waren unnötig?«, fragte Harjit ungläubig.

»Sie waren nötig, um uns zu Verhandlungen zu zwingen«, korrigierte Firr ihn ungewöhnlich grimmig.

Erneut nickte Rerrena, diesmal sichtlich zufrieden, dass man ihren Worten so konzentriert lauschte. »Ein Friedensvertrag mit den MaKri hätte dazu geführt, dass der Herrscher des Westens bekäme, was er wollte. Es geschah jedoch etwas, das selbstfür ihn und das Nördliche Orakel eine Überraschung war. Das Östliche selbst griff in den Lauf der Dinge ein. Die Verhandlungen scheiterten. Effenda Mani rebellierte. Viel schlimmer wog jedoch für den König: Die MaKri erwachten und entdeckten ihre magische Gabe. Das zwang den Feind, einen neuen Plan zu ersinnen. Eine Strategie, wie der Krieg zu gewinnen und die Halle des Lichts vor der Vernichtung zu behüten sei. Der Westen entsandte Hexer, um die Halle zu verdunkeln.«

Erwartungsvoll schwieg sie und ließ ihre Herleitung Wirkung entfalten. Talaan wurde derart unwohl, dass er sich zwingen musste, nicht auf seinem Kissen hin und her zu rutschen. Warum nur hatte er das ungute Gefühl, dass die Gelehrte die Wahrheit bereits kannte und nur den Rat dazu bringen wollte, selbst die richtigen Schlüsse zu ziehen?

»Die Truppen des Königs sind in jenem Moment ausgerückt, als es geschah«, stellte Häuptling Firr nachdenklich fest. »Das muss doch bedeuten, dass sie den Tod des Östlichen Orakels durch uns befürchtet haben. Der Feind ist erst aufgebrochen, als diese Gefahr gebannt war.«

»Das ist das Rätsel, auf dessen Lösung ich durch den Rat hoffe«, schloss Rerrena. Obwohl sie »Rat« sagte, blickte sie nun unverhohlen Talaan an.

Vor diesem Moment hatte er sich gefürchtet – wahrhaft gefürchtet. Jener, in dem er den MaKri gegenüber bekennen musste, welch erschreckende Wahrheit er vom Orakel erfahren hatte. Die Unausweichlichkeit, mit der Rerrena ihn zu einer Antwort nötigte, machte es noch schlimmer. Nur mühsam zwang er seinen Mund, sich zu öffnen.

Aber gerade, als er sprechen wollte, sprang ihm Shaila bei. »Ich verstehe, dass du Aufklärung vom Maigan erwartest, Ehrenwerte Rerrena. Schließlich weilte er in der Halle des Lichts, als die Hexer ihr furchtbares Werk begannen. Dennoch bin ich verwundert, dass ausgerechnet du so forsch eine Antwort einforderst. Hast du uns nicht alle gelehrt, dass der Rat des Orakels zwischen ihm und dem Pilger verbleiben sollte, sofern er nicht aus freien Stücken darüber zu sprechen wünscht?«

Bedauern hielt in Rerrenas strenger Miene Einzug, bis sie schließlich beschämt das Haupt senkte. »Etwas läuft falsch, wenn man eine Gelehrte an ihre eigenen Worte erinnern muss«, sagte sie seufzend.

Da war er: ein Ausweg. Verborgen unter dem Mantel, die Wahrheit später, vielleicht viel später auszusprechen. Talaan könnte darauf hoffen, dass es mit der Zeit gar nicht mehr nötig wäre. Indessen ertrug er ausgerechnet Rerrenas Scham, die er irgendwann seit Tullma eine Freundin nennen durfte, nicht. »Ich möchte aus freien Stücken sprechen«, brach er schließlich das Schweigen und lächelte der Gelehrten aufmunternd zu, obgleich er gerade Ermutigung so viel dringender bedurfte.

»Rerrena hat mit scharfem Verstand aus Bruchstücken heraus eine Wahrheit erkannt – oder vermutet sie zumindest –, auf die sie eine Antwort verdient. Sie, die ihr Leben dem Orakel widmet, mehr als jeder andere hier im Raum.« Ich schwafele schon wieder, wie immer, wenn ich nervös bin. »Der Gelehrte Bedan hat uns vermittelt, dass kein Sterblicher die Macht besitzt, ein Orakel zu töten. Rerrena hat sich meine Antwort darauf gemerkt, nicht wahr?«

Sie nickte betreten. »Du hast Bedan korrigiert und gesagt, dass Marten einWeltenwandler und nicht sterblich ist.«

»Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst, Maigan«, drängte Amisha sichtlich verdrießlich.

»Ich bin ebenfalls ein Weltenwandler«, sprach Talaan endlich die erste Hälfte der Wahrheit aus und spie die zweite hinterher. »Das Orakel hat mir offenbart, dass in allen Zukünf-ten, in denen es stirbt, ich es sein werde, der es tötet.«

Bei den letzten Worten traten Tränen in Rerrenas Augen und sie schlug den Blick nieder. Dennoch verließ statt einer Anklage eine Frage ihren Mund. »Hat es dir auch gesagt, welche Verzweiflung dich zu solch einer Tat treiben würde?«

Nur das. Nach allem, was sie gehört hatte, vertraute sie ihm noch. Sie verließ sich darauf, dass er nicht aus bösem Willen, sondern aus gutem Grund so handeln würde. »Ich habe diese Verzweiflung selbst gespürt, Rerrena«, sagte er sanft. »Es hat mich eine dieser Zukünfte erleben lassen.«

Zum Rat gewandt erklärte er sich: »Marten sucht nicht weniger als einen Weg, zu einem Gott aufzusteigen. Dieser bliebe einem Sterblichen selbst mit dem Wissen des Östlichen Orakels versperrt. Mit der Gabe jedoch, zwischen Leben und Welten zu wechseln, kann er ihn beschreiten, das hat mir das Orakel versichert. Ihr seht ja, was er als Berater eines Königs anzurichten vermag. Als gottgleiches Wesen möchte ich mir ihn nicht ausmalen.«

»Dabei dachte ich, es könnte nicht schlimmer werden«, sagte Shaila kopfschüttelnd und ihr entwich das Stöhnen einer alten Frau.

Rerrena indessen erhob sich in aller Würde und verneigte sich vor dem Rat. Talaan schenkte sie dagegen ein trauriges Lächeln. »Lass nicht zu, dass ich mich irgendwann zwischen dich und das Orakel stellen muss, Maigan Talaan. Bis dahin vertraue ich auf die Weisheit des Östlichen, das wiederum auf dich zu zählen scheint. Mach etwas daraus.«

Mit diesen Worten wandte sich die Gelehrte zum Gehen. Auf diese Weise jedoch wollte er sie nicht ziehen lassen. Nicht nur mit dieser vagen Hoffnung. »Rerrena?«

Es fiel ihr sichtlich schwer, innezuhalten und noch schwerer, ihm in die Augen zu blicken. Dennoch tat sie es – würdevoll.

»Als das Orakel sein Wissen mit mir teilte, weilte Marten in der Halle der Morgenröte und sah, wie die ihm bekannte Zukunft brach. Was er gesehen hat, ließ ihn rasend werden. Er versuchte, mich mitsamt diesem Wissen in der Halle des Lichts einzuschließen.«

Das Lächeln, das kurz über ihre Lippen huschte, war nur ein Schatten des sonst so gütigen. »Wie ich sagte: Mach etwas daraus.« Mit diesen Worten trat sie durch die Tür ins Freie, wo sie beinahe mit Tonri zusammenstieß, der gerade hereinwollte. Mani folgte ihm auf dem Fuße.

Ihre Augen leuchteten auf, als sie Talaan entdeckte. »Gut, dass du wieder da bist«, begrüßte sie ihn in der Sprache des Westens. »Die ganze Sache macht mir Angst.«

Er stand auf, um sie kurz ermutigend zu umarmen. »Dann sind wir schon zwei. Aber gemeinsam – wir alle – können wir bestehen.«

Zaghaft hoben sich ihre Mundwinkel. Auch wenn Firr ein wenig verwundert die Stirn runzelte, sagte er nichts zu dem Wortwechsel in fremder Zunge, der alle Ältesten ausschloss. Vielleicht verstand er nur zu gut, dass der Maigan und die ehemalige Effenda gleichermaßen mehr Verantwortung auf dem Rücken trugen, als sie zu ertragen glaubten.

Mani wandte sich von Talaan ab und begann zu berichten, noch während sie Platz nahm: »Die Größe von Mohabs Armee überrascht selbst mich. Ich weiß aus meiner Zeit als Effenda um die Zahl der Männer und Frauen, die unter Waffen stehen. Daran wird sich jüngst nicht viel geändert haben. Zugleich weiß ich um den desolaten Zustand des Friedens in den eroberten Reichen, den der König nur mit harter Hand und einer Großzahl von Klingen aufrechterhält. Die Beobachtungen der Späher lassen vermuten, dass er wesentlich mehr Truppen aus den Reichen abberufen hat, als er es sich leisten kann. Genaues vermag ich erst zu sagen, wenn ich es mit eigenen Augen erblicke.«

»Von welcher Zahl sprichst du, Effenda?«, brachte Amisha die Frage aller zum Ausdruck.

»Siebzigtausend«, gab sie vorsichtig zur Antwort. »Vielleicht mehr, aber kaum weniger. Mohab teilt seine Truppen in Fünf-hundertschaften ein und die Beobachtungen der Späher legen nahe, dass es derer weit mehr als einhundert dort draußen gibt.«

Die Versammelten wurden von bleiernem Schweigen ergriffen. Talaan sah so etwas wie erste Verzweiflung in den sonst ruhigen Gesichtern der Ältesten. Siebzigtausend? Diese Zahl erschien ihm nicht derart groß. Ihm waren auf Terra Kriegsberichte zu Ohren gekommen, in welchen von zweihundert-tausend oder gar einer halben Million die Rede war. Dann aber dachte er daran, wie klein die Städte dieser Zeit, dieser Welt, waren – auf beiden Seiten – und erschauerte.

»Es gibt noch etwas, das erwähnenswert ist. Viele Visionen, die Tonri mit mir teilte, hatten eines gemein: Ich habe darin Soldaten gesehen, die inmitten einzelner Fünfhundertschaften ein Artefakt auf einer Art Sänfte trugen. Ein großer Kristall, geschliffen wie ein Edelstein. Durch die Augen der Späher betrachtet umgab jeden eine mächtige magische Aura.« Mani sah nun Talaan direkt an. »Sind diese verzauberten Artefakte Waffen?«

Über diese Frage dachte er gründlich nach. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Meine Erfahrung mit solchen Dingen sagt mir, dass immer nur ein Zauber an einen Gegenstand geknüpft werden kann. Je größer und reiner er beschaffen ist, umso mächtiger ist die Magie, die in ihm eingeschlossen ist. Kristalle dieser Größe wären in der Lage, ganze Kohorten vor dem magischenAuge zu verbergen. Das ist ihr Zweck.«

Das schien Mani ein wenig zu beruhigen und sie fuhr mit dem Bericht fort: »Zurück zu der Stärke des Heeres: Das Nördliche Orakel gibt Mohab in der Tat viel Macht. Er wird die Zahl der Besatzer für jede Provinz mit seiner Hilfe auf den letzten Mann genau austariert haben. Vielleicht plant er sogar, die unwichtigen zurückzuerobern, sobald der Krieg gegen euch vorüber ist.

Ich weiß ja nichts über die Menge der Krieger, die ihr in die Schlacht führen könnt, aber selbst wenn ihr ein Dutzend Städte wie diese hier hättet und unzählige Dörfer, wäre das nicht genug. Mögt ihr nun Blitze schleudern können oder nicht.«

»Die Große Stadt ist einzigartig«, erwiderte Firr schwach. Jeder Stolz, der sonst seiner Stimme beiwohnte, wenn er über seine Siedlung sprach, schwand dahin.

»Wir sind ein Volk von Jägern, nicht von Kriegern«, fügte Harjit hinzu. »Die meisten wissen den Speer in der Schlacht weniger gut zu gebrauchen.«

»Wir haben seit Jahrhunderten keine Kriege geführt«, warf Shaila ein.

Mani sah sie zunehmend bestürzt an. »Was ist mit euren Geistessymbolen?«

»Wir werden vielleicht viereinhalbtausend MaKri der Kampfmagie fähig nennen können«, berichtete Tonri. »Die erste Welle der Schüler hat viel Zeit auf den Wegenzu unseren weit verstreuten Siedlungen verloren. Die zweite lehrt erst selbst seit kurzer Zeit.«

Obwohl Talaan diese Zahlen ein Dutzend Mal ausgerechnet hatte, erschreckten sie ihn nun in Anbetracht der Übermacht des Feindes. Sein Vertrauen auf die noch sehr vage Hoffnung vereinter Zauber würde auf eine harte Probe gestellt werden.

»Wie steht es um die arkane Heilung?«, brach Mani das betretene Schweigen.

Shailas Augen leuchteten bei ihrer Frage auf. »Die Ehrenwerte Kirra hat Beeindruckendes geleistet. Allein in der Großen Stadt hat sie einen erlesenen Zirkel von einhundertzwanzig Heilern um sich geschart, die an einem Tag ein Vielfaches an Verletzten zu behandeln vermögen, selbst wenn keiner von ihnen an die Fähigkeiten der Ehrenwerten Kirra heranreicht.«

»Das ist viel zu wenig«, flüsterte Mani entsetzt, während Talaan dachte: Die Ehrenwerte Kirra? »Wie sollen wir Mohabs Armee mit so wenigen entgegentreten können?«

»Mit vereinten Kräften«, antworte Talaan. »Damit bemühe ich keine Redensart. Ich habe erkannt, was die Macht des Orakels wirklich ist: ein gewaltiges, verwobenes Geistessymbol. Was das Orakel mit seinem unermesslichen Verstand vollbringt, kann unser Volk gemeinsam ebenfalls erreichen. Ich werde Zeit dafür benötigen und Sorrals Hilfe. Wenn die MaKri erst einmal vereinte Geistessymbole meistern lernen, wird unsere bisherige Magie dagegen das Geplapper kleiner Kinder sein.«

Während Shaila bedächtig nickte, blickte Amisha geradezu widerborstig, Harjit sichtbar zweifelnd und Tonri noch finsterer als gewohnt drein.

Häuptling Firr fragte indessen besonnen: »Von wie viel Zeit sprichst du, Maigan?«

Nur mühsam gelang es Talaan, sich bei dieser Frage nicht zu winden. Allzu unangenehm war sie ihm seit dem Aufbruch von der Halle des Lichts immer wieder unter das Fell gekrochen.»Das vermag ich nicht zu sagen. Derlei ist noch nie versucht worden. Auch wäre kein anderes Volk dazu in der Lage. Aber wenn es eine Hoffnung gibt, gegen solch einen mächtigen Feind zu triumphieren, dann liegt sie in vereinten Geistessymbolen«, gab er mit mehr Zuversicht zur Antwort, als er verspürte. Er war ein Maigan. Man erwartete von ihm Bestärkung in diesen Dingen.

»Ist das wahrhaftig alles, was du vom Orakel heimgebracht hast?«, fragte Tonri mit Grabesstimme. »Die Ahnung eines Ausweges, ohne zu wissen, ob und wann er Früchte trägt?«

»Das halte ich für ein gewagtes Spiel«, wandte sich Amisha ohne Zögern an die anderen Ratsmitglieder. »Wenn den Mai-gan ein Durchbruch gelingt, wird das ohne Frage ein großer Tag für unser Volk. Doch bis dahin müssen wir greifbare Schritte planen. Pläne schmieden, die belastbar sind.«

»Wir könnten ihren Unterricht kürzen«, überlegte Harjit laut. »Ein, zwei Kampfzauber und den Schild. Wenn unsere derzeitigen Schüler schneller zu Lehrern werden könnten, hätten wir zehntausend oder mehr zauberkundige MaKri, die wir dem Feind entgegenstellen können.«

»Dem muss ich widersprechen«, hielt Talaan augenblicklich dagegen. Was geschah hier gerade? Selbstverständlich war dies ein Rat, aber er hätte nie erwartet, dass sich die Ältesten auch einmal gegen ihn stellen könnten. »Auch wenn diese Aussicht verlockend erscheint, so habe ich aus der Schlacht um die Halle des Lichts eine Lehre gezogen. Eine Lehre, die ich schon verinnerlicht glaubte: Wahre magische Macht liegt nicht in Zahlen. Es kommt weder auf die Menge der Zauber an, die man beherrscht, noch auf die Anzahl der Köpfe. Das Orakel ging verloren, weil wir nicht die richtigen Zauber beherrschten und obwohl der Feind in der Minderzahl war.«

»Was schlägst du stattdessen vor?«, fragte Firr. Falten der Konzentration gruben sich ihm zwischen die Brauen.

»Der Feind hält sich vor unseren magischen Augen mit Hexerei verborgen. Wir benötigen keinen klareren Beweis als diesen, dass Mohab arkane Künste gegen uns ins Feld führen wird. Marten ist auf abscheuliche Weise gerissen, wenn es umihren Gebrauch geht. Dem begegnen wir nicht mit Tausenden von Feuerbällen. Alle Zauberkundigen in der Großen Stadt müssen mehr beherrschen als nur Kampfmagie. Für das, was auf uns zukommt, müssen sie die Natur der Geistessymbole selbst begreifen. Auch müssen sie lernen, diese in ihrer ganzen Fülle kreativ einzusetzen.« Ein wenig erschrocken stellte Talaan fest, dass er immer lauter und enthusiastischer gesprochen hatte. Wesentlich ruhiger fügte er hinzu: »Das wird uns gute Dienste leisten, falls Sorral und ich scheitern sollten und erst recht, wenn wir Erfolg haben.«

»Das überzeugt mich nicht«, hielt Amisha vehement dagegen. »Ich bin eine Frau der Tat. Ich will konkrete Schritte planen und Erfolge sehen und nicht noch mehr Unterricht. Wir sollten Harjits Vorschlag folgen. Noch heute müssen wir die begabtesten Zauberkundigen entsenden, um diese Kristalle zu zerstören. Unsere magischen Augen dürfen nicht blind sein, wenn der Feind den Dschungel erreicht.«

Tonri und Harjit legten zwei Finger auf ihr Herz.

»Ihr braucht mindestens zwei Wochen, bis ihr auf den Feind trefft«, stemmte sich Talaan nun ebenfalls mit aller Kraft gegen die Vorschläge der Zweifler. Das Ganze würde sonst in einem Desaster enden! »Im besten Fall sind die Kristalle nur in Schutzzauber gehüllt, die gleichwohl arkane wie auch körperliche Angriffe abwehren sollen. Sie sind nicht sonderlich schwer zu wirken und Marten wäre ein Narr, darauf zu verzichten. Allein dafür braucht ihr Raffinesse. Schlimmstenfalls hat er Hexer abgestellt, um sie zu verteidigen. Nicht zuletzt müsst ihr euch durch eine Fünfhundertschaft von Soldaten kämpfen.«

Mit einer grimmigen Zufriedenheit stellte er fest, dass die vor Überzeugung angeschwollenen Brustkörbe wieder abnahmen. »Lasst mich einen Gegenentwurf zeichnen: In dieser Stunde lernt Reshero, die Levitation zu meistern. Er besitzt das unvergleichliche Talent, in einfachen Wortenzu lehren, wie die Welt um uns herum beschaffen ist. In einer Woche werden seine Schüler und deren Schüler fliegen können. Sie können zwei Tage darauf die Armee erreichen und nachts wie die Falken aus dem Himmelherab in das Lager des Feindes stürzen.«

»Und die besagten Schutzzauber?«, fragte Tonri zweifelnd.

»Sind wertlos, wenn wir Magie kreativ einsetzen«, entgegnete Talaan – zufrieden, dass ihm die Frage des Schamanen in die Karten spielte. »Schutzzauber wirken gegen Angriffe von außen. Resonanz indessen entsteht im Innern eines Kristalls. Ich habe da einen kleinen Zauber in meinem Buch, der unseren Zwecken dienen wird.« Eindringlich blickte er einem jeden Ratsmitglied in die Augen, während er weitersprach: »Das ist nur ein Beispiel dessen, was uns mit gut ausgebildeten Zauberwirkern gelingen kann.«

»Ich bin nach wie vor nicht überzeugt«, sagte Harjit entschieden. »Bereits unter den Schülern der zweiten Generation gibt es große Unterschiede im magischen Talent. Wir wissen nicht, ob sie überhaupt ein tieferes Verständnis für solch komplizierte Dinge entwickeln können.« Amisha und Tonri nickten zustimmend.

»Wir stehen hier vor einer äußerst grundlegenden Entscheidung«, ergriff Häuptling Firr das Wort, der bisher wachen Blickes und hoch konzentriert zugehört hatte. »Sollen wir darauf vertrauen, dass unsere neu erwachte Macht uns tragen wird, wenn wir uns ihr vollends hingeben, oder wollen wir die Flutwelle aus dem Westen mit einem Damm aufhalten, den wir aus Masse und Gewalt errichten? Das ist die erste entscheidende Frage, über die wir heute zu befinden haben.«

»Ich vertraue auf den Weg,den das Schicksal für uns bereitet hat«, sagte Shaila in würdiger Gelassenheit. »Ich sehe den erwählten Maigan, das Erwachen der MaKri und den Rat des Orakels. Aus drei Punkten kann man eine Richtung ablesen.« Damit hob sie die Hand.

»Mein Vertrauen gilt Talaan«, fügte Mani hinzu und hob ihrerseits die Hand.

Er selbst hatte seinen Worten nichts hinzuzufügen und schloss sich ihnen an. Damit versiegten die Meldungen. Erwartungsvoll blickte er hinüber zu Tonri, indessen schüttelte der bedauernd den Kopf. Nur drei von sieben Stimmen? Das konnteer nicht glauben. Dennoch blieb es dabei. Mutlos ließ Talaan den Arm wieder sinken.

»Ich befürworte, so viele Kampfmagier wie nur irgend möglich auszubilden«, machte Harjit den eigenen Standpunkt noch einmal klar und hob die Hand. »Wenn jeder dieser Zehntausend auch nur einen Feuerball wirft, so ist die Schlacht für uns entschieden.«

Wie von allein hatte sich Talaans Mund geöffnet, um dem etwas entgegenzusetzen, allerdings verwehrte ihm Firr mit einer entschiedenen Geste das Wort. »Keine verbalen Gefechte während der Abstimmung«, erklärte er.

Amisha meldete sich als zweite Anhängerin von Harjits Vorschlag. »Es ist ein solider und einfacher Plan, mit dem nicht viel schiefgehen kann.«

»Ich bin ein Mann, der Bewährtes zu schätzen weiß«, folgte Tonri und hob ebenfalls die Hand. »Das Neue muss sich erst beweisen und dieses Mal hängt zu viel davon ab, dass wir nicht falschliegen.«

Desillusioniert blickte Talaan nun zu Firr. Der tat jedoch nicht dergleichen, die Mehrheit zu vervollständigen. Stattdessen saß er eine geraume Weile nur da und dachte nach. Seine Stimme bildete einen ruhigen Fluss, als er das Schweigen schließlich beendete. »Es ist nicht gut, dass unser Kriegsrat gleich mit so gegensätzlichen Positionen beginnt. Das sage ich nicht, weil mir damit als Häuptling die finale Entscheidung aufgebürdet wird, sondern schlichtweg, weil es den Rat schwächt.«

Eine wohlplatzierte Pause später fuhr er fort: »Unser Feind hat an der Halle des Lichts bewiesen, wie wenige Männer nötig sind, um einen entscheidenden Schlag zu führen. Was eine ganze Armee in unzähligen Zeitlinien nicht vermochte, haben sie mit dem raffinierten Einsatz von Magie zuwege gebracht.

So einem Angriff dürfen wir nie wieder wehrlos gegenüberstehen. Der Schlüssel zu diesem Krieg liegt in der magischen Gabe des Waldvolks, geführt von der Weisheit des Orakels. Der von ihm erwählte Maigan ist sein Werkzeug.« Er maßHarjit, Amisha und Tonri mit ernsten Augen. »Meine Stimme gehört dem Vorschlag des Maigan.«

»Ich hoffe sehr, dass wir das nicht bereuen«, brummte der Schamane. »Aber so sei es. Der Rat hat entschieden.«

»Der Rat hat entschieden«, bestätigte Firr mit Nachdruck. »Ich weiß, dass wir ähnlich gründliche Differenzen hatten, als der erwählte Maigan uns ersuchte, die Große Stadt verlassen zu dürfen. Ich vertraue darauf, dass wir auch diesmal einig hinter der Entscheidung des Rates stehen werden. Nichts darf uns in dieser schweren Stunde spalten.«

»Selbstverständlich stehen wir hinter der Entscheidung«, bestätigte Amisha, wenn auch deutlich verstimmt. Tonris und Harjits Finger legten sich auf ihre Herzen.

Zufrieden nickend entspannte sich der Häuptling wieder und fand beinahe zurück zu seiner alten, gut gelaunten Form. »Bevor wir besprechen, wie wir unsere Heimat auf den Krieg vorbereiten, Nahrungsvorräte horten und den Nachschub organisieren, möchte ich das Wort Maigan Talaan übergeben. So er bereit ist, aus freien Stücken darüber zu reden, sollten wir all das erfahren, was ihm das Orakel kundgetan hat.« Er warf dem Feuer in der Schale einen verdrießlichen Blick zu. »Dies wird ein lange Ratssitzung, meine Freunde.«

ZWISCHEN LICHT UND SCHATTEN

Wie jeden Tag in letzter Zeit kehrte Kirra vollkommen erschöpft nach Hause zurück. Beinahe schien es, der Schöpfer selbst habe die Heilmagie mit dem Preis des Schmerzes und der Verausgabung belegt. Vielleicht sah er darin einen geeigneten Weg, um die Sterblichen an ihre Vergänglichkeit und den Wert des Friedens zu erinnern. Dennoch kehrte sie jeden Abend nicht nur zufrieden, sondern in der Tiefe ihres Herzens glücklich heim. Dass Wissen, dass diese Strapazen im Krieg vielfach Leben retten und Schmerzen lindern würden, war Belohnung und Ansporn zugleich.

Dankbar nahm sie zur Kenntnis, dass Hritani wie nahezu immer Schüsselchen mit Speisen auf dem Esstisch am Fenster hinterlassen hatte. Sie und ihre Familie kümmerten sich rührend um Kirra, seit diese die Gabe der Heilung lehrte. Heute hatten sie es besonders gut gemeint. Das Essen würde nicht nur für sie und Mani genügen, sondern sogar für drei. Mit spitzen Krallen pickte sie ein Stückchen dunkel eingelegtes Fleisch heraus und ließ es eilig im Mund verschwinden.

Während sie in Gedanken den Tag vor ihrem inneren Auge noch einmal vorübergehen ließ, legte sie endlich die Robe ab, an die sie sich längst noch nicht gewöhnt hatte. Noruna hatte sie ungefragt und mit äußerst begnadeter Hand für sie gefertigt. Kirra brachte es nicht über das Herz, sie nicht zu tragen. Auch wenn der viele Stoff auf dem Fell wie ein permanenter Juckreiz schien, an dem sie zupfen, statt kratzen wollte.

Verwundert hielt sie inne. Das Fleisch schmeckte anders, nicht wie die Art nach der Hritanis Mutter kochte und irgendwie so gar nicht, wie irgendein MaKri Fleisch zubereitete – zumindest kein MaKri außer Talaan.

»Beim Schöpfer bist du schön«, seufzte eine herzensvertraute Stimme wonnig hinter ihr.

Kirras Herz machte einen ungestümen Satz und ihr Kopf schnellte herum. Da stand er – die Sonne ihres Herzens, die sie so innig vermisst hatte. »Liebster!«, rief sie ungläubig, während das überbrodelnde Glück, das in ihr aufstieg, schon über jegliche Zweifel erhaben war. Sie tat einen Schritt auf ihn zu und sah sich hemmungslos an ihm satt. »Du bist wieder da?« Mit einem frohen Juchzen sprang sie ihn an, riss ihn von den Beinen und bald kullerten sie kabbelnd über den Boden, bis Kirra siegreich auf ihm zu liegen kam.

Sie liebkoste seine Schnauze mit der ihren, sah ihn wieder freudig funkelnd an, liebkoste erneut, strich ihm mit der Hand über das Kinn, die Augen … »Du bist endlich wieder da.« Sein Kuss war der süßeste, köstlichste, seit dem Tag ihrer Hochzeit. Talaan schlang die Arme um sie, zog sie dicht an sich. Sie sog seinen vertrauten Geruch ein, während er sie noch fester umarmte, als wollte er in sie hineinkriechen.

»Kirra, meine Liebe«, flüsterte er zwischen zwei Küssen. »Von allen Dingen der Pilgerschaft war die Entfernung zu dir das Schlimmste.«

»Das soll ich dir glauben?« Sie rümpfte die Schnauze. »Was ist mit dem Regen?«

Talaan mimte kurzes Grübeln und erwiderte dann zweifelnd. »Darüber muss ich nachdenken.«

»Du!«, rief sie lachend und gab ihm einen strafenden Schnauzenstüber, den er verspielt in einen Kuss verwandelte.

»Drei Monate Regen sind mir lieber als zwei Wochen ohne dich, Geliebte meines Herzens«, sagte er ernst und Kirra nickte bedächtig mit geschlossenen Augen.

»Ich liebe dich, Talaan.« Sie kostete jede Silbe dieser Worte aus.

»Und ich liebe dich, Kirra«, erwiderte er mit dem wohl seligsten Tonfall, den sie sich wünschen konnte.

Plötzlich überkam sie heftige Wehmut. So süß dieses Wiedersehen auch war, umso schmerzlicher lagen die vergangenen Wochen auf ihrer Erinnerung. »Du musst mir etwas versprechen«, sagte sie ernst.

Er schmunzelte. »Was ist es? Ich bin ein verliebter Narr – du kannst alles haben.«

»Versprich mir, dass du mich ab jetzt mitnimmst auf deine Reisen. Ob ich nun protestiere oder nicht.«

In diesem Moment klopfte es am Türrahmen. Mani schaute mit einer eigentümlichen Mischung aus Scheu und rührseligem Lächeln zu ihnen hinab. »Störe ich euch?«

Bevor Talaan diese ohne Frage für ihn peinliche Situation ausnutzen konnte, nagelte Kirra ihn mit strengem Blick fest. Er war viel zu besorgt um ihr Leben. »Wir sind eins, Kirra. Ich verspreche es nur zu willig und wider meiner Vernunft.«

Glücklich küsste sie ihn überschwänglich und sagte dann zu ihrer Freundin: »Bleib nur, Mani, du bist uns willkommen.« Sie löste sich von ihm und stand auf. Ohne Hast streifte sie sich wieder die Robe über. Währenddessen kam Talaan derart umständlich auf die Füße, dass wohl nicht nur Kirra klar wurde, was er zu verbergen versuchte.

»Ich will wirklich nicht stören«, versicherte Mani und zögerte immer noch, einzutreten.

Obgleich er Kirra einen bedauernden Blick zuwarf, sagte er warmen Tonfalls: »Das war keine Floskel, Mani. Du bist uns willkommen – jederzeit. Unser Dach ist dein Dach.«

»Ich habe eindeutig den richtigen Mann geheiratet«, stellte Kirra in einem Aufwallen innigster Zuneigung fest und küsste ihn. »Nun setz dich schon, Mani. Talaan hat bewusst für drei gekocht, wie du siehst.«

»Oder das war der Hunger nach einem Monat Pilgerreise«, gestand er mit verlegenem Grinsen ein, deutete aber einladend auf den Tisch. »Diese neuen Kleider stehen dir übrigens viel besser als deine alte Uniform, die du heute im Rat getragen hast.«

»Kirra hat mich überredet, Noruna etwas für mich fertigen zu lassen. Sie war so gütig, es mir zu schenken.« Ein trauriges Lächeln huschte über Manis Gesicht. Noch bevor sie weiter-sprach, wusste Kirra, dass ihre Freundin heute nicht bleiben würde. »Ich habe euch einmal gesagt, dass ich mich nicht zwischen euch drängen werde. Feiert euer Wiedersehen. Talaanwar einen Monat fort.« Das anzügliche Wackeln ihrer Augenbrauen wirkte eher tapfer als fröhlich. Bevor Kirra oder ihr Geliebter etwas erwidern konnten, hob sie abwehrend die Hände. »Morgen ist auch noch Zeit für einen Plausch unter Freunden.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und trat hinaus in den Abend.

»Was ist denn mit Mani los?«, fragte Talaan sorgenvoll. »Hätte ich das mit dem Hunger nach der Pilgerreise nicht sagen dürfen?«

Darüber musste Kirra schmunzeln. »Das ist nicht der Grund. Etwas liegt ihr zunehmend schwer auf der Seele. Vielleicht kannst du es ja bald aus ihr herauskitzeln. Du kennst dich besser aus mit menschlichen Gepflogenheiten.« Auch wenn sie sich Sorgen um ihre Freundin machte, wollte sie den ungestörten Abend nicht verderben, der ihnen geschenkt worden war. Morgen war ein besserer Tag, um darüber zu sprechen.

»Was wird das?«, fragte Talaan mit skeptischem Blick, als sie sich zwei Schüsseln vom Esstisch schnappte und hinüber zu einer Gruppe Sitzkissen trug.

»Ich muss einen ausgehungerten Ehemann versorgen«, sagte sie schmunzelnd und schüttelte ihre Sorgen um Mani ab. Sie klopfte mit dem Schwanz auf ein Polster. »Komm, mach es dir gemütlich. Du musst bei Kräften sein, wenn wir nachher im Bett verschwinden.«

Als dieses unnachahmlich jungenhafte Grinsen in seinem Gesicht erschien, wusste Kirra, dass sie für diesen Abend den Sieg über alle Sorgen errungen hatte.

Als sie mit den Händen wie viele Nächte zuvor vergeblich nach Talaan tastete, dachte Kirra zunächst, sie hätte seine Heimkehr nur geträumt. Zugleich belehrte sie dieses warme, jede Faser ihres Körpers durchdringende Gefühl wohliger Zufriedenheit eines Besseren. Es war der Nachhall all der Nähe und all der Zärtlichkeit, die sie in den letzten Stunden geteilt hatten. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, wohin er ging, wenn er grübelnd keinen Schlaf fand.

Wäre er doch nicht zum Orakel gegangen. Ich mag es nicht, wenn er von unnachgiebigen Sorgen wachgehalten wird. Sie kannte andere MaKri, die vom Orakel in Gedanken versunken heimkehrten – und das, obwohl sie bereits den langen Weg zu Fuß zurückgelegt hatten, anstatt zu fliegen.