Traum von Klauen und Dämmergrün - Christopher Abendroth - E-Book

Traum von Klauen und Dämmergrün E-Book

Christopher Abendroth

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Beschreibung

»Aber du wirst lernen, Weltenwandler«, sind die letzten Worte, die Talaan hört, bevor ein Schwert sein Leben beendet. Der menschgeborene Talaan erwacht inmitten eines Urwaldes im Körper eines Pumamannes. Um zu überleben, muss er sich seinem neuen Volk - den MaKri - anschließen, das jedoch mit den Menschen verfeindet ist. Da Talaan Magie beherrscht, wird er als der nächste Maigan verehrt - ein vom Schicksal Erwählter. Dabei kommt er sich wie ein Hochstapler vor, denn er fühlt sich weder wie ein MaKri noch von einer höheren Fügung begünstigt. Im Gegenteil: Der neue Körper bringt dunkelste Triebe in ihm zum Vorschein, während seine Hütte zum goldenen Käfig wird. Nachdem er die uralte Schrift des Orakels enträtselt hat, wird klar: Ein Krieg steht bevor und Talaans Rolle darin ist größer, als er sich eingestehen möchte. Getrieben von der kultischen Verehrung und seinen inneren Dämonen drängt ihn alles zur Flucht. Die Jägerin Kirra begibt sich kurzentschlossen auf eine Pilgerreise, um den neuen Maigan zu treffen. Im tiefsten Dschungel lernt sie rasch, wie erbarmungslos die Menschen Jagd auf die MaKri machen. Beide ahnen nicht, wie eng ihre Schicksale im Kampf um ihr ganzes Volk miteinander verwoben sind.

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Christopher Abendroth ist seit drei Jahrzehnten passionierter Autor von Fantasy- und Science-Fiction-Geschichten. Sein Debüt, die dystopische Science-Fiction-Novelle »Der salzige Geschmack unserer Freiheit«, gewann den renommierten deutschsprachigen Literaturpreis für Phantastik SERAPH 2023 in der Kategorie »Bester Independent-Titel«. Nun legt er mit »Traum von Klauen und Dämmergrün« den Auftakt seiner ersten Fantasy-Trilogie vor.

Privat ist er Familienvater mit Leib und Seele. Wenn ihm das Schreiben Zeit dazu lässt, durchstreift er als Khajiit die Reiche Tamriels oder verbringt verträumte Tage in der freien Natur. Im Urlaub bereist er gerne ferne Kulturen und Naturwunder.

Anmerkung des Autors:

Am Ende des Buches befindet sich ein Glossar, verfasst von meinem Protagonisten Talaan höchstpersönlich. Er wollte sich nach den Ereignissen dieses ersten Bandes ein paar Notizen machen und das halbe Dorf und ein paar Würdenträger haben Kommentare hinzugefügt.

Oder anders ausgedrückt: Das Glossar ist mit Sicherheit unterhaltsam, enthält aber milde Spoiler. Das darauffolgende Personenverzeichnis hingegen ist vollends unverfänglich.

Inhaltsverzeichnis

ERWACHEN

DER MAIGAN

DAS TIER IM INNERN

DIE INITIATION

IM GOLDENEN KÄFIG

AUF DER FLUCHT

KLAUEN UND STAHL

DER RAT DER ÄLTESTEN

WUNDER UND MAGIE

GIFT UND WAHRHEIT

DREI LEBEN

EINE NEUE HEIMAT

VERLETZUNGEN

EIN WAHRER MAIGAN

HEILENDE WUNDEN

DAS KUSSREH

DAS ENDE DES FRIEDENS

DER RUF DES MAIGAN

SHARASH TAR TALIMAR

EWIGE BANDE

GLOSSAR

PERSONENVERZEICHNIS

NACHWORT

ERWACHEN

Talaan erwachte – zum ersten Mal in diesem Leben. Mit der Gier eines Ertrinkenden sog er mit aller Kraft Luft in seine Lunge und riss die Augen auf. Sofort brach eine verschwommene Flut aus grellen Grüntönen über ihn herein und zwang seine Lider, sich wieder zu schließen. Sollte der Himmel nicht blau sein? Jenseits dieser Überlegung fand er jedoch nichts als wabernden Nebel in seinem Kopf. Etwas stimmte ganz und gar nicht.

Mit der Erfahrung von tausend Lebensjahren drängte Talaan jegliche aufkeimende Panik zurück und folgte dem Pfad des inneren Friedens. So zur Ruhe kommend, sandte er all seine anderen Sinne aus.

Er spürte weichen Boden unter dem Rücken, seine Finger strichen über feuchte Erde. Ein stetes, friedvolles Rauschen erfüllte die Luft und flüsterte ihm mit der Sprache eines fremden Waldes zu. All die Gerüche, die in seine Nase strömten, wirkten durch und durch neuartig und bemerkenswert intensiv. Überdies machten sie auch deutlich, dass er inmitten unberührter Natur lag. Mit Sicherheit gab es hier Raubtiere. Er musste auf die Beine kommen – sofort!

Also befahl Talaan seinen Augen, sich zu öffnen. Stoisch ertrug er das formlos changierende Grün und wartete darauf, dass sie sich an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnten. Mal rückte kurz ein mannshoher Farn in den Fokus, der sich über ihn beugte, mal der Ast eines darüber aufragenden Baumes. Dann wieder glitt sein Blick an den Stämmen gewaltiger Baumriesen entlang. Doch so sehr er sich bemühte, etwas länger zu betrachten, stets verschwamm es immer wieder vor seinen Augen. War die Klinge vergiftet gewesen?

Woraus dieser Gedanke auch immer erwuchs, ergab Gift durchaus Sinn. Talaans Verwirrung, an einem fremden Ort zu sein, die zerfasernden Blicke und der Nebel in seinem Kopf passten ins Bild. Der erste Versuch, sich aufzurichten, offenbarte zudem, dass seine Glieder ihm nur widerstrebend gehorchten. Stöhnend ließ er sich wieder auf den Rücken sinken. Irgendwo über ihm setzte ein schrilles Kreischen ein, das sich schnell zu einem wilden, vielstimmigen Tohuwabohu steigerte. Geschwind fegte es durch die Bäume und entfernte sich zur Linken. Affen! Es hatte ihn wohl in einen Dschungel verschlagen.

»Weltenwandler.«

Ruckartig setzte er sich auf, Adrenalin schoss durch seine Adern und endlich stellten sich seine Augen scharf. Hohe wie niedrige Farne, exotische Palmen, Schlingpflanzen, die kleinere Baumstämme und mächtige Säulen der Baumriesen umschlangen – all das erfasste er innerhalb zweier Herzschläge. Doch nirgends sah er den Sprecher. Nur langsam begriff er, dass diese vier Silben nicht durch die Ohren zu ihm gedrungen waren, sondern aus seiner Erinnerung.

Kaum tastete Talaan nach jenem Fragment, schossen kalte Hände aus dem Nebel der Vergangenheit hervor und eine erste Reminiszenz zog ihn hinein. Dieses Wort war eines der letzten Dinge gewesen, die er gehört hatte, bevor ihm das Leben entrissen worden war.

»Es ist erneut geschehen«, murmelte er ungläubig. Seine Stimme klang rau und fremd. »Ein neues Leben.« Er blickte sich um. Nichts von alledem, was er sah, schien vertraut. »Und eine neue Welt.« Seine Zunge formte diese Sätze nur widerwillig.

Wie hatte es Talaan an diesen Ort verschlagen? Seinen Abschied von jenem Idyll, das die Elfen den Jungen Wald nannten, fand er mühelos und kristallklar in seinem Gedächtnis wieder. Selbst das abgründig melancholische Gefühl, dass dieser Ort nicht länger seine Heimat gewesen war, schmeckte ebenso bitter wie damals. Danach hatte eine ziellose Wanderschaft gefolgt, doch ihr Ende verschwand im Nebel.

»Weltenwandler«. Mit der Zunge verlieh er diesem fremdartigen Wort Klang und Realität im Hier und Jetzt.

»Aber du wirst lernen, Weltenwandler«, hatte der Mann gesagt, bevor er Talaan mit seinem Schwert durchbohrt hatte.

Unweigerlich betastete er seine Brust und erstarrte. Zwar spürte er keine Wunde, jedoch fühlten seine Finger weiches, dichtes Fell. Wie in Trance wollte er sein Gesicht betasten, als urplötzlich zwei klauenbewehrte Pranken nach ihm hieben. Mit einem entsetzten Aufschrei sprang er auf, stolperte über seine eigenen Füße und prallte unsanft auf den Boden.

Nirgends konnte er das Tier ausmachen, das ihn angegriffen hatte. Das ließ nur einen Schluss zu. Bemüht um so viel innere Ruhe, wie er nur finden konnte, hob er erneut die Hände und schaute sie fassungslos an. Auf ihren Innenseiten fand er Haut vor, die Außenseiten jedoch waren von sandfarbenem Fell überzogen. Statt Fingernägeln ragten Krallen aus den Fingerspitzen. Talaans Fokus verschob sich. Weißes Fell bedeckte Brust und Bauch, der Rest seines Körpers wies eben jene beige Fellfärbung auf. Die Beine wirkten auf den ersten Blick seltsam verkrüppelt, bis er erkannte, was er wirklich sah: die Hinterläufe eines Pumas. Sie endeten in raubtierhaften Pfoten statt in menschlichen Füßen. Das buschige, längliche Ding dazwischen akzeptierte er nur widerwillig als Schwanz.

Knurrend sprang er erneut auf die Füße – er weigerte sich, sie Pfoten zu nennen - und kam wankend wie ein Matrose auf Landgang zum Stehen.

Wenigstens muss ich nicht wie ein Tier auf allen vieren laufen.

Auf das Schlimmste gefasst, betastete er nun sein Gesicht. Als er Schnauze und Schnurrhaare fand, wo sich Mund und Nase befinden sollten, entfuhr ihm ein weiteres Knurren. Ein ungewohnt befriedigender kehliger Laut.

Tausend Jahre ein Mensch unter Elfen und nun bin ich – was? Ein Scheusal?

Mit äußerster Konzentration wagte er mit einem Raubkatzenfuß einen Schritt. Talaan schwankte, doch er stürzte nicht. Diese vermaledeiten Beine fühlten sich vollends anders an, aber sie gehorchten seinem Willen. Was auch immer er jetzt sein mochte, sein Geist blieb Herr über den Körper. Ein Monster war er nicht.

Mit einst geübtem Blick versuchte er, die Himmelsrichtung einzuschätzen, scheiterte jedoch schon im Ansatz. Das grünschimmernde Zwielicht des Dschungels war dichter als alles, was er kannte. Schulterzuckend setzte er sich bedachtsam Schritt für Schritt in Bewegung. Zwar wusste er keinen Deut, wohin er nun gehen sollte, doch stehen zu bleiben und auf ein Wunder zu hoffen, war nicht seine Art. Schließlich hatte er nichts zu essen und keine Jagdwaffen, um das zu ändern. Vielleicht fand er ja einen Pfad. Dann würde er weitersehen.

Bereits zwei Stunden Wanderung brachten Talaan an den Rand der absoluten Erschöpfung, erforderte allein das Laufen seine vollkommene Aufmerksamkeit. In diesem Körper fühlte sich das Bahnen eines Weges durch das überwucherte Unterholz wie ein Balanceakt auf einem Hochseil an – einem Seil, auf dem Wurzeln und Schlingpflanzen unentwegt nach den Füßen griffen. Hinzu kam, dass ihm hinter jedem Farnwedel ein Tiger auflauern oder sich auf den kräftigeren Ästen Panther die Lefzen lecken könnten – ganz zu schweigen von Giftschlangen und tödlichen Spinnen, die sich im dichten Blattwerk verbergen mochten.

Talaans Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Zehn Jahrhunderte Erfahrung in der Wildnis und auf der Pirsch halfen gerade erniedrigend wenig. Nichts hatte ihn auf das grüne Chaos eines Dschungels vorbereitet, den es in einer halbtierischen Gestalt zu durchqueren galt. Denn auch wenn ihm das Laufen zunehmend besser gelang und sich das Dickicht geringfügig lichtete, ließen ihn seine schärferen Sinne Entfernungen völlig falsch einschätzen. Bei so manchem Rascheln oder Knacken schnellte er kampfbereit herum, nur um dann zu erkennen, dass sich irgendetwas viel tiefer im Unterholz seinen Weg bahnte.

Gerade als Talaan durchaus sehnsüchtig über eine kurze Rast nachsann, zahlten sich die andauernde Wachsamkeit und seine empfindlichen Raubtierohren endlich aus. Er vernahm etwas, mit dem er inmitten des Urwaldes nicht gerechnet hätte: Stimmen. Noch vermochte er nicht, die Worte zu verstehen, doch gab es keinen Zweifel, dass mindestens zwei Männer durch die Wildnis streiften und sich dabei unterhielten. Und sie kamen näher.

Widersprüchliche Impulse ließen ihn untätig verharren und wertvolle Augenblicke verrinnen. Sollte er auf sich aufmerksam machen, in der Hoffnung, Hilfe zu erhalten? Oder galt es, sich so gut es ging, vor feindseligen Blicken zu verbergen? Schließlich musste er fremden Augen wie ein gefährliches Tier anmuten und ein Pfeil im Leib war das Letzte, was er sich wünschte.

»… verabscheue diese Art der Jagd«, drang ein erster verständlicher Satzfetzen an seine Ohren. »Dieser drohende Krieg mit dem Westen ist scheußlich.«

»Glaube mir, ich wäre jetzt auch lieber bei Frau und Kindern, anstatt diesen Teil des Dschungels zu durchstreifen. Doch sollte ich einen dieser Wilden zur Strecke bringen, die Noarr auf dem Gewissen haben, ist es mir das wert.«

Unter protestierendem Gezwitscher stiegen Vögel nicht weit von Talaan entfernt auf und verdrängten jedes gesprochene Wort. Ganz sicher hatten die beiden Männer sie aufgescheucht – und das verhieß nichts Gutes. Denn ein Blick an sich hinab genügte, damit er sich ein Aufeinandertreffen ausmalen konnte. Fell und Klauen sowie ein Lendenschurz aus schlichtem, grauem Gewebe machten deutlich, wer hier einer der Wilden sein würde, nach dem die Menschen suchten. Auf keinen Fall wollte er als Kriegsgefangener in einem Käfig landen, wobei »Jagd« und »zur Strecke bringen« noch Schlimmeres als das vermuten ließen.

Ohne langes Federlesen wandte er jedes Quäntchen seiner neu erlernten Körperbeherrschung auf, um zu einer Mulde zu schleichen, die von einer offenliegenden Wurzel eines Riesenbaumes gestützt wurde. Sollen diese Raubkatzenpfoten einmal zeigen, was sie wert sind.

»… das Fell abziehen«, vollendete einer der Männer gerade einen Satz, als ein kleiner Zweig am Boden unter Talaans Gewicht mit einem dumpfen Knacken zerbrach.

Er erstarrte mitten in der Bewegung. Die Stille, die folgte, bedeutete Unheil: Die Kundschafter hatten ihn bemerkt. Noch während er versuchte, seine Aussichten auf ein geräuschloses Entkommen einzuschätzen, brach auch schon einer der Späher aus dem Unterholz hervor. Doch glich er nichts, was Talaan je gesehen hatte.

Gebleckte, messerscharfe Zähne blitzten zwischen zurückgezogenen Lefzen auf. Gelbe Raubtieraugen starrten ihn voll tödlichen Zorns aus einem Pumagesicht an. Das befremdliche Wesen hielt einen mörderisch spitzen Speer wurfbereit in der einen Hand und zielte mit der anderen auf Talaans Brust. Ein angespannt hin und her pendelnder Schwanz rundete das Bild des aufrecht stehenden Pumakriegers ab. Nur mühsam gelang es Talaan, nicht zurückzuweichen.

»Bist du närrisch?«, fauchte die Werbestie. »Wir stehen kurz vor einem Krieg mit den Menschen des Westens und du schleichst hier allein durch den Dschungel?«

»Von Schleichen kann wohl kaum die Rede sein, Rashek«, erklang eine Stimme unvermittelt hinter Talaan und ein zweiter Werpuma trat lautlos zwischen Farnen hervor. »Er hat derart viel Krach gemacht, als wäre er ein Junges.« Ein raspelndes Bellen folgte, das für Talaan erst Momente später als Lachen erkennbar war. Der kampfbereite Krieger knurrte missfallend. Talaan immer noch skeptisch musternd ließ er endlich den Speer sinken.

Nun, da die unmittelbare Gefahr des Todes gebannt zu sein schien, ergaben einige Beobachtungen zusammen ein Muster.

Die Fellfarbe der Pumamänner glich der seinen. Auch die Lendentücher um ihren Hüften ähnelten dem, das Talaan trug. Und zu guter Letzt begriff er erst im Nachhinein, dass die Krieger eine fremde Sprache verwendeten, die er dennoch verstand. Das Wieso entzog sich ihm indessen restlos. Er war nicht einer jener Wilden, die die beiden Werpumas jagten. Er gehörte zum selben Volk wie sie.

Als sich das Schweigen dehnte und die forschenden Blicke des Gelbäugigen immer bohrender wurden, fühlte Talaan sich gedrängt, etwas zu sagen. Die Wahrheit erschien ihm am passendsten. »Ich bin vollkommen verloren.« Befremdlich ungewohnt formte er mit der Zunge seine ersten Worte in dieser neuen Sprache. »Wäret ihr so freundlich, mir eine Richtung zu weisen?«

Die Augen des Kriegers namens Rashek verengten sich misstrauisch. »Nicht so schnell. Fangen wir doch damit an, dass du Maresh und mir erklärst, wer du bist und woher du stammst.«

Eine allzu natürliche Frage, leider kam sie nicht minder ungelegen. Talaan wusste rein gar nichts über diese Welt und das Volk der Pumawesen. Zudem trugen improvisierte Lügen selten Früchte. Darum nannte er seinen Namen, während er hektisch eine möglichst vage und unverfängliche Antwort suchte. Der Feind kam aus dem »Westen«, das schied schon einmal aus. »Ich komme aus dem Norden, um zu helfen. Gerüchte eines drohenden Konfliktes gehen bei uns um.«

»Talaan?«, fragte der andere Krieger, Maresh, und kratzte sich ratlos hinter den halb aufrecht stehenden Ohren. »Du musst wahrlich weit im Norden geboren sein, dass selbst dein Name derart fremd anmutet.«

Es brauchte eine Weile, bis Talaan die Worte des Mannes, dessen Augen einen sanften Bernsteinton aufwiesen, vollends verstand. »Maresh« bedeutete sinngemäß »fest am Speer« und Rashek »guter Pirscher«. Auch »Talaan« wohnte eine Bedeutung inne, doch schien »Freund der Elfen« – noch dazu in der Zunge des Schönen Volks gesprochen – inmitten dieses Dschungels fehl am Platze.

Zu seiner Erleichterung antwortete Rashek an seiner statt: »Vielleicht stammt er von der anderen Seite des großen Stroms. Von denen haben wir lange nichts mehr gehört und wir wissen, wie seltsam die Leute dort sind.«

»Verzeih ihm bitte seine ruppigen Worte«, wandte sich Maresh an Talaan. »Er ist von Natur aus ein alter Griesgram und erträgt zudem schon drei Tage lang meine Gesellschaft.«

Der Gescholtene zuckte nur mit den Achseln und maß Talaan von Kopf bis Fuß. »Wenn er so gut kämpfen wie schleichen kann, ist er ohnehin keine Hilfe.«

»Ich bin heute nicht ganz ich selbst«, verteidigte sich Talaan. »Aber gib mir ein Schwert und ich werde mich euch in der Schlacht beweisen.«

»Ein Schwert?« Der urplötzliche Zorn in Rasheks Stimme ließ Talaan nun doch zurückweichen. Prompt trat er sich auf den Schwanz und fiel der Länge nach hin. »Das ist ein Werkzeug der Menschen, nur für den Krieg gemacht!«

»Na, na«, wiegelte Maresh ab. »Siehst du nicht, dass es unserem neuen Freund offensichtlich nicht gut geht?«

Rashek knurrte nur und kniete neben Talaan nieder. Mit festem Griff packte er sein Kinn und besah sich seine Augen und Ohren genau. »Keine sichtbaren Anzeichen einer Vergiftung und für Trunkenheit sprichst du zu klar. Aber mein Kamerad hat Recht – du scheinst an irgendeiner seltsamen Krankheit zu leiden. Vielleicht kann dir die Kräuterfrau der Großen Stadt helfen.« Sorge in der Miene eines Pumas zu sehen, verstörte Talaan beinahe mehr als der zähnefletschende Zorn. Es schien so durch und durch menschlich.

Dennoch ergriff er Rasheks dargebotenen Unterarm und fand sich von kraftvollen Muskeln rasch wieder auf die Beine gestellt.

Maresh musterte ihn indessen kritisch. »Unsere Rache für Noarr wird warten müssen, schätze ich.« Er brummte nachdenklich.

Sein Gefährte zuckte sichtlich verärgert mit den Schnurrhaaren, stimmte aber schließlich zu. »Ohne Hilfe findet der Fremde aus dem Norden niemals zur Großen Stadt – nicht in seinem Zustand.«

Auch wenn Talaan es skurril und beängstigend zugleich fand, die beiden Pumamenschen bei ihrem kleinen Gespräch zu beobachten, durchströmte ihn Erleichterung bei ihren Worten.

»Heißt das, ihr werdet mich hinbringen?«, fragte er mit aufkeimender Hoffnung.

»Wir können dich ja schlecht zum Sterben zurücklassen.« Rasheks Stimme war ein einziges Grollen.

Maresh bemühte sich um ein freundliches Lächeln – etwas, das im Gesicht eines Pumas nicht minder fremd wirkte wie Sorge. »Was mein Freund meint, aber nicht über die Lippen dringt, ist eine einfache Weisheit, die selbst bei den MaKri im Norden gelten dürfte: Es ist stets vorzuziehen, ein Leben zu bewahren, anstatt eines zu nehmen. Komm jetzt. Der Weg ist weit, ganz besonders, wenn deine Füße dich nicht so recht tragen wollen.«

»Habt Dank, das ist gütig von euch«, entgegnete Talaan seinen unerwarteten Helfern.

Was auch immer diese neue Welt für ihn parat hatte: Das hier war ein guter Anfang, so befremdlich ihm dieses Pumavolk auch erscheinen mochte.

Rashek – nach wie vor noch leicht missmutig – und der wesentlich umgänglichere Maresh erwiesen sich als meisterhafte Führer. Sie hielten zielstrebig eine Richtung, ganz gleich wie oft sie natürlichen Hindernissen oder Jagdgebieten von Raubtieren auswichen. Sie bewegten sich nicht durch den Dschungel, als würde er ihnen gehören, sondern vielmehr, als durchstreiften sie das Heim eines altvertrauten Freundes.

Schon bald begriff Talaan endgültig – so sehr es seinen Waldläuferstolz kränken mochte – dass all seine Kenntnisse hier keinen Wert besaßen. Er musste sich den beiden Pumakriegern vollends anvertrauen – und konnte es auch. Mit dieser Einsicht legte er all sein vergebliches Lauschen, Spähen und Fährtenlesen ab und gab sich ganz und gar den Freuden seiner geschärften Sinne hin. Seine Nase ließ ihn Tiere in der Nähe wittern, die er nie zu Gesicht bekam. Seine Augen machten selbst die kleinsten Bewegungen aus, sodass es ihm immer noch schwerfiel, sich zu konzentrieren. Diese neuen Ohren vermochten mit zunehmender Übung sogar eine huschende Maus am Wegesrand präzise auszumachen.

Mit nicht minder großem Erstaunen erfüllte ihn der Regenwald an sich. Er pulsierte schier vor Vitalität – beinahe wie der Junge Wald und zugleich dennoch ganz anders.

Die Bäume dort waren jung und voller Leben, da sie die Zeit niemals berührt hatte. Der Dschungel hier mutete frisch an, weil er sich ständig aufs Neue selbst gebar.

Die Pflanzen des Urwaldes schienen darauf bedacht zu sein, ihre Lebensenergie zur Fülle zu nutzen, um dann der nächsten, ebenso kraftvollen Generation Platz zu machen. Inmitten dieser Schnelllebigkeit ragten überall alte Bäume wie monumentale Säulen der Beständigkeit empor.

Unzählige fremdartige Tiere krochen, liefen, flogen oder kletterten umher. Sie kreischten, trällerten, fauchten, jammerten. Unverwandt sah Talaan sich um, wobei er die verwunderten Blicke seiner Begleiter betont ignorierte. Für sie mochte dies alltäglich sein, für ihn jedoch erschien der Urwald als nicht versiegen wollende Quelle der Überraschungen und Wunder.

Das Außergewöhnlichste von allem blieben indessen seine Führer selbst. Dennoch wagte er kaum, sie offen anzusehen. Regenwälder und ihre Ureinwohner, Tiere wie Menschen, kannte er aus unzähligen Berichten. Nie zuvor hatte er von einem vernunftbegabten Volk von Tiermenschen gehört. Die beiden verstörten ihn auf mehr als nur eine Weise. Sie bewegten sich mit der tödlichen Grazie von Pumas. Ihre Körperspannung, wie sie lautlos durch Farn und Unterholz glitten, die kampfbereit gehaltenen Speere … Sie waren ihren vierbeinigen Vettern so ähnlich, dass der aufrechte Gang nicht ins Gewicht fiel.

Dass ihre armselige Ausrüstung nahelegte, dass sie einem Stamm Wilder entsprangen, half nicht unbedingt, viel Vertrauen in einen höheren Grad an Zivilisiertheit zu setzen. An dem Gürtel, der das Lendentuch hielt, hingen in einer grobledernen Scheide ein schlichtes, kurzes Messer und ein kleiner Beutel aus grobem Stoff. Die Speere wiesen zwar Stahlspitzen auf, waren aber sonst von simpler Machart.

Eventuell hat mich das Leben unter Elfen einfach zu sehr verwöhnt, dachte Talaan bei sich. Die Schmiede des Waldvolks konnten Wochen damit verbringen, Jagdmesser wie diese aus dem Stahl herauszuarbeiten und feine Muster hineinzuziselieren. Vielleicht sollte er sich in Milde und Demut üben, da er selbst nur einen Fetzen Stoff an einem Lederriemen am Leibe trug.

Zumal sich die beiden Krieger, all diesem Wilden und Tierhaften zum Trotz, wie gewöhnliche Männer unterhielten. Während sie wie selbstverständlich die Umgebung im Blick behielten, sprachen sie voller Liebe von Heimat und Familie, gedachten in Trauer der Gefallenen und lachten über ganz banale Scherze.

Dass Talaan nun, wie sie auch, ein Fell hatte, vertiefte den Graben zwischen ihnen auf eigenartige Weise mehr, als dass es half, ihn zu überwinden. Sein Überleben hing davon ab, so schnell wie möglich überzeugend einen MaKri zu mimen. Denn unter keinen Umständen durfte irgendwer herausfinden, dass er eigentlich ein Mensch war. Also lauschte er aufmerksam und achtete auf jedes Detail.

Eine gefühlte Ewigkeit später verspürte er für zweierlei Dinge enorme Dankbarkeit. Zum einem gewöhnte er sich allmählich an seinen neuen Körper. Das Laufen fiel ihm leichter, da sein Schwanz sich nach und nach von einem Ärgernis in eine echte Hilfe verwandelte. Zum anderen beschlossen seine Führer endlich, in einer Lichtung an einem schmalen Bächlein Rast zu machen. Denn bei aller Faszination für diese neue Welt, glich ihre Wanderung für Talaan einem Gewaltmarsch. Selbst Alltägliches, wie aufrechtes Gehen und dabei das Gleichgewicht zu halten, kosteten unverhältnismäßig viel Kraft. Beim Versuch, sich auf dem Boden niederzulassen, brach er einfach zusammen.

Augenblicklich fand er Maresh neben sich, der seine Nase befühlte. »Dehydriert, würde ich sagen. Wir haben es wohl übertrieben.« Ohne weitere Umschweife ging er zu einem nahestehenden Baum und schnitt ein trichterförmiges Blatt von einer Pflanze ab, die dessen Stamm umrankte. Damit kehrte er zu Talaan zurück und reichte es ihm. In dem Blatt hatte sich randvoll Wasser gesammelt. »Trink.«

Er tat, wie ihm geheißen und hätte den ersten Schluck beinahe wieder ausgespuckt. Die Flüssigkeit schmeckte bitter wie Wermutkraut. Nur Mareshs verwunderter Blick ließ Talaan es widerwillig hinunterschlucken. Giftig würde das Wasser nicht sein und so weit im Norden konnte »von der anderen Seite des großen Stroms« nicht liegen, dass ein Fremder das nicht wüsste.

»Hab Dank«, sagte Talaan schließlich, nachdem er aus reiner Vernunft den ungewöhnlichen Kelch geleert hatte. »Habt ihr vielleicht auch Proviant dabei?«

»Selbstverständlich«, entgegnete Maresh. Während er den Beutel an seinem Gürtel öffnete, fügte er noch hinzu: »Es ist ein wenig seltsam, dass du keinen mit dir führst.«

»Meine Reise ist eher rau verlaufen«, erwiderte Talaan so vage wie möglich. »Am Ende ist mir vom Reisegepäck nicht mehr geblieben als das, was ich am Leibe trage.« Das war nicht einmal gelogen.

»Kein Speer? Kein Messer und kein Proviant?« Der durchdringende Blick Rashek ließ seine Worte umso mehr wie ein Verhör klingen.

Allein schon, um Zeit zu gewinnen, biss Talaan von dem Streifen Trockenfleisch ab, das Maresh zu Tage gebracht hatte, und kaute begeistert. Wann hatte er das letzte Mal etwas derart Köstliches gegessen? Tatsächlich fühlte er sich, als wäre er am Verhungern. Er beließ es bei einem Schulterzucken und riss gierig einen weiteren Happen ab.

»Lass es gut sein«, wiegelte Maresh ab. »Du siehst doch, dass er viele Strapazen hinter sich haben muss.«

»Schlechte Vorbereitung ist die größte Mühsal auf einer Wanderung«, hielt Rashek dagegen und rümpfte missbilligend die Schnauze. »Bestimmt wieder so ein Narr, der seiner Liebsten etwas beweisen möchte.«

Bei diesen Worten tauchte ungebeten das Bild der wunderschönen Ginuthal vor Talaans innerem Auge auf, wie sie bleich und reglos auf ihrem Totenbett gelegen hatte. Unweigerlich verkrampfte sich sein Herz.

Rashek deutete seine kummervolle Miene offensichtlich falsch. »Dachte ich es mir doch. Ich habe schlechte Neuigkeiten für dich. Der Letzte, der mit dieser Einstellung in die Große Stadt kam, atmet nicht länger.«

Maresh fügte hinzu: »Du musst ziemlich dumm sein, wenn du glaubst, der Kampf brächte etwas anderes als Narben und Tod. Wir haben im vergangenen Monat mehr von unserem Volk verloren als im gesamten Jahr davor. Dabei hat der Krieg mit den Menschen noch gar nicht begonnen. Das sind alles nur Grenzscharmützel.« Trotz seiner harschen Worte reichte er Talaan ungefragt einen zweiten Streifen Trockenfleisch.

Bevor dieser sich seinem Hunger erneut hingab, rumorte alles in ihm, eine Sache richtigzustellen: »Ich bin ganz sicher nicht hier, um mich irgendwem zu beweisen. Jedes Leben ist kostbar, jedoch genügt ein Aggressor, um zwei Seiten in einen Konflikt zu stürzen.« Unweigerlich dachte er an die Toten von Ferragun und schob jegliche Erinnerung daran rigoros beiseite. Zurück blieb ein Nachhall des Grauens, der ihm unter das Fell kroch. Er würde sich dem eines Tages stellen müssen, aber dieser Tag war nicht heute.

Maresh schien es nicht entgangen zu sein, denn er betrachtete Talaan nun eine ganze Weile nachdenklich, bevor er ihm weiteres Dörrfleisch gab. »Iss, trink und komm wieder zu Kräften.« Mit diesen Worten erhob er sich und gesellte sich zu Rashek, um selbst seinem Proviant zuzusprechen.

Allzu willig folgte Talaan dem Rat des Kriegers. Mit Heißhunger verspeiste er den zweiten Streifen. »Das ist das beste Trockenfleisch, das ich seit Jahren gegessen habe«, versicherte er seinen Gefährten zwischen dem Kauen. Das mochte mit daran liegen, dass er in diesem Leben noch nie etwas zu sich genommen hatte.

»Wie man sieht, treibt es der Hunger rein«, meinte Maresh trocken und biss betont missmutig einen weiteren Happen von seinem eigenen Fleisch ab.

Nachdem ein drittes Stück den Weg in Talaans Magen genommen hatte, fand er die Kraft, hinüber zum Bach zu gehen und Wasser zu schöpfen. Das Spiegelbild, das ihm fremd aus dem träge dahinfließenden Gewässer entgegenblickte, ließ ihn innehalten. Wohl hatte er erwartet, dass sein Antlitz dem seiner Begleiter ähneln würde, es schließlich aber selbst zu sehen, war äußerst verstörend. Er blickte in das Gesicht eines Raubtiers. Es mochte das seine sein, doch wehrte sich alles in ihm dagegen, dass dies real sein könnte.

Rubinrote Iriden, stellte er fest – ein weiteres irritierendes Detail. Neugierig wandte er den Kopf ein wenig nach links und rechts. Auf gewisse Weise behagte ihm sein neues Ich sogar. Wildkatzen haftete eine unter der Oberfläche schlummernde Erhabenheit an, eine natürliche Eleganz, die ihn stets in den Bann gezogen hatte. Er entblößte die Zähne und schauderte. Diese leicht gebogenen Fangzähne machten einen schrecklich scharfen Eindruck.

Mareshs Stimme drang auffällig laut zu ihm hinüber: »Da hast du den Beweis, Rashek. Unser junger Freund kann nicht wegen seiner Liebsten hier sein. Dafür ist er zu offensichtlich in sein eigenes Spiegelbild verliebt.«

Beide lachten lauthals.

Mit den Gedanken viel zu sehr bei dem, was er sah, erwiderte Talaan gelassen: »Das kann dir nicht passieren, ich weiß.«

Rasheks Lachen schwoll an, während sein Freund brummte: »Was soll das denn heißen? Ich bin mit einer Frau gesegnet, die mein Gesicht für das schönste der Welthält.«

Probehalber zuckte Talaan mit seinen neuen Ohren. Als Mensch war er damit stets gescheitert. Nun vermochte er es sogar, sie gezielt in eine Richtung zu drehen. »Wer versteht schon die Frauen«, parierte er.

Nun konnte sich auch Maresh das Lachen nicht mehr verkneifen. Unweigerlich lächelte Talaan. Obwohl sich für ihn selbst das Lächeln befremdlich anfühlte – mit einer Schnauze reichten seine Mundwinkel viel zu weit nach hinten – tat dies seiner zunehmend steigenden Gemütslage keinen Abbruch. Derart anders schienen die Pumamenschen doch nicht zu sein. Verspielt tippte er eine Kralle in das träge fließende Wasser und vertrieb so sein Spiegelbild.

DER MAIGAN

Die Zeit floss im Dschungel seltsam dahin. Das dichte Blätterdach narrte Talaan jedes Mal aufs Neue, wenn er versuchte, den Stand der Sonne zu prüfen. So blieb nur eine vage Vermutung, dass seit ihrer Rast einige Stunden vergangen waren. Auch sein Orientierungssinn spielte ihm im wechselhaften grünen Zwielicht mehr als einmal den Streich, er würde eine Stelle wiedererkennen. Jetzt kapitulierte der Fährtensucher in ihm endgültig.

Jahrzehnte bevor ihm der Ehrenname Talaan zugesprochen worden war, hatten ihm die Elfen den Beinamen Jaquimo verliehen – eine verballhornte Form des Titels »meisterhafter Waldläufer«. Sie hätten angesichts seiner derzeitigen Lage vermutlich milde gelächelt. Erst recht, da er genau in jenem Augenblick schwor, sie würden im Kreis gehen, als sie jäh aus dichtem Buschwerk hinaus auf eine erstaunliche Lichtung traten.

So weit das Auge reichte, nahm niedriges Gras den Platz des Unterholzes ein. Kleinere Bäume und Farne fehlten vollends. Einzig die gewaltigen Stämme der Riesenbäume erhoben sich himmelwärts und bildeten mit Ästen und Blattwerk sonnendurchflutete Bögen einer kolossalen Kathedrale.

»Es gefällt ihm, würde ich sagen«, meinte Maresh wohlwollend.

Rashek indessen ließ ein stolzes Lächeln aufblitzen und deutete mit einer ausschweifenden Geste auf alles vor ihnen. »Willkommen in der Großen Stadt!«

Für einen Moment erwog Talaan, ob sich sein Begleiter einen sonderbaren Schabernack erlaubte. Dann überwand sein Verstand die Pracht der Baumriesen und er sah wirklich, was der Krieger meinte. Vielleicht ein Dutzend Schritt über dem Grund schmiegten sich erste Rundhütten um die Stämme der Riesenbäume. Kleine wie große Häuser formten Kragen um die Hälse der Bäume in ganz unterschiedlichen Höhen. Nicht selten entdeckte er sogar zwei oder drei in einem gewissen Abstand übereinander. Um die Hütten herum verliefen hölzerne Stege, von denen nur wenige durch Strickleitern vom Boden aus erreichbar waren. Abenteuerlich anmutende Hängebrücken verbanden alles miteinander.

»Was für ein Anblick«, brachte Talaan schließlich ehrfürchtig heraus.

»Das will ich meinen!« Rashek und klopfte ihm ausgelassen auf den Rücken. »Die Große Stadt ist der Stolz der MaKri und zugleich Dreh- und Angelpunkt des Handels mit den Völkern der Menschen. Ihm haben wir unsere zahlreiche Bevölkerung und den Wohlstand zu verdanken.«

Erst jetzt verstand Talaan, dass der Begriff MaKri »Waldvolk« bedeutete und wie tief er in der Lebensweise dieser Wesen wurzelte. Das hätte den Elfen gefallen.

Nun, da sein Verstand sich vom Staunen erholt hatte, fiel ihm das geschäftige Alltagsleben am Boden auf. Marktstände säumten hier und da die Füße der Riesenbäume, anderswo machte er die Werkstätten von Kürschnern, Schreinern oder Seilern aus. Lediglich die Schmieden fand er – als einzige Hütten mit solide gemauertem Kern – in größtmöglichem Abstand zu den Stämmen. Wohin er auch blickte, herrschte emsiges Treiben. Kinder spielten Fangen und tobten unbekümmert zwischen den Erwachsenen herum, die sich daran nicht im Geringsten störten.

Neugierige Blicke begegneten ihm, als er von den beiden Kriegern begleitet durch den lebhaften Trubel schritt. Ein fremdes Gesicht schien selbst hier aufzufallen.

Talaan zwang sich, nicht unentwegt seine Füße anzustarren. Zwei sprechende Pumawesen mit Zähnen und Klauen hatten seine Gelassenheit bereits gründlich auf die Probe gestellt. Eine ganze Stadt zu sehen, in der es von diesen Werpumas nur so wimmelte, verlangte einiges an Selbstbeherrschung von ihm.

Wie als Antwort auf seine unbestimmten Ängste stieß ein vielleicht vierjähriges MaKri-Mädchen im vollen Lauf mit ihm zusammen, stolperte rückwärts und fiel hintenüber. Als sie mit überraschten, aufgerissenen Katzenaugen zu ihm aufblickte und nicht so recht zu wissen schien, ob nun Schmerz oder Schrecken überwog, rührte sich unweigerlich Fürsorglichkeit in Talaan. Er machte nun seinerseits Kulleraugen, so gut er nur konnte. »Hast du dich auch so erschreckt? Meine Güte – so klein und erschreckst schon so Große.«

Das Kind rümpfte die Schnauze, wackelte zweimal damit und entschied sich gegen den Schmerz. »Wirklich? Ich hab dir Angst gemacht?«

»Ehrenwort«, beteuerte er und reichte ihr die Hand. »Und jetzt hoch mit dir, junge Kriegerin.«

»Ich werde keine Kriegerin«, behauptete das Mädchen und ließ sich aufhelfen. »Ich werde irgendwann eine Maigan sein«, sagte sie mit dem Brustton der Überzeugung. Damit wuselte sie davon.

Maigan?, dachte Talaan verwundert. Das bedeutete »vom Schicksal Erwählte«. Den Sinn indessen verstand er nicht. Welch eine seltsame Bezeichnung für einen Beruf. Er gestand sich widerwillig ein, dass es für ihn viel zu lernen gab.

Schulterzuckend verwarf er diese Gedanken und schaute der Kleinen lächelnd hinterher. Sie hatte geradezu niedlich ausgesehen mit ihren großen Augen und den Flauschohren. Dankbar nahm er dies als Zeichen, dass er sich eines Tages an die Gesellschaft der MaKri gewöhnen könnte.

»Wie es aussieht, fällt es dir nicht schwer, neue Freundschaften zu schließen«, meinte Maresh schmunzelnd. »Dann können wir dich ja beruhigt allein lassen. Rashek und ich werden jetzt erst einmal nach einem Platz Ausschau halten, an dem du Obdach findest.«

Sein Freund fügte hinzu: »Schau dich derweil in Ruhe um oder pack bei den Handwerkern mit an, wenn du magst. Morgen kannst du die Kräuterfrau aufsuchen und wir werden sehen, was aus dir werden soll.«

Talaan schüttelte die Hände der beiden, wie er es bei den Bürgern beobachtet hatte: Hand an Unterarm. »Habt Dank, ihr zwei. Ohne euch hätte meine Reise sicherlich ein unliebsames Ende genommen.«

Damit verabschiedeten sie sich und ehe Talaan sichs versah, verschwanden seine Retter im Strom der Passanten und ließen ihn allein zurück. Für einen Augenblick fühlte er sich inmitten der Menge ebenso ratlos und verloren wie nach seinem Erwachen im Dschungel. Dann übernahm sein Pragmatismus die Führung und er beschloss, diese ungewisse Situation – wie sein neues Leben – als das zu nehmen, was es war: ein gewaltiges Abenteuer.

Auf diese Weise bestärkt tauchte er in das bunte Getümmel der Stadt ein und überließ es dem Zufall, was oder wen es mit sich bringen würde.

Ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen ließ Talaan sich wie ein Fisch vom Strom treiben und tat, was der Schwarm tat. Nur so konnte er mehr über dieses außergewöhnliche Waldvolk erfahren – und lernen musste er. Sein weiteres Leben, vielleicht sogar sein Überleben hing davon ab. Dennoch fiel es ihm schwer, bei der Sache zu bleiben. Immer wieder brach sich kindliches Staunen Bahn.

Mal, wenn der Wind das Blätterdach der Großen Stadt zerzauste und plötzlich ein breiter Strahl goldgelben Sonnenlichts an Stämmen und Hütten vorbei Richtung Boden schoss. Oder sooft hoch oben MaKri über wild schwankende Hängebrücken eilten, als gäbe es die schwindelerregende Höhe nicht. Nicht zuletzt waren da die Pumamenschen selbst. Allein ihre Augenfarben boten eine faszinierende Vielfalt, die meisten davon in exotischen Varianten wie tiefviolette Amethyste oder charismatisch leuchtende Smaragde. Ihrer vollkommen unvertrauten Mimik und Gestik hätte er stundenlang zusehen können.

Indessen gelang es Talaan dann doch, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Es galt, so viel wie irgend möglich über das alltägliche Leben des Waldvolks zu lernen. Am Ende dieses Tages wollte er genügend darüber erfahren haben, um keine unliebsamen Fragen zu provozieren.

Also ließ er sich weiter treiben und beobachtete, ohne ins offensichtliche Starren zu verfallen. Nicht alle MaKri trugen einen grauen Lendenschurz und die Frauen zusätzlich ein Tuch über den Brüsten. Immer wieder sah er farbenfrohe Sprenkel, die seine Aufmerksamkeit fingen. Grundlegend schienen die Pumamenschen enganliegende Stoffe zu meiden. Hosen, Westen und längere Gewänder hielten sich stets großzügig bemessen, wenn auch elegant fallend. Zunächst tat er diese auffallend andere Kleidung als ein Zeichen eines höheren Ansehens ab, doch schon bald machte Talaan gegenläufige Beobachtungen: Der Respekt, der sich in angedeuteten Verbeugungen oder durch eine ehrfurchtsvollere Ansprache ausdrückte, wurde meist Älteren entgegengebracht. Kasten beziehungsweise Ränge schien es, zumindest in diesem Teil der Stadt, nicht zu geben.

Zwei Passanten, die vor ihm ohne erkennbare Hast von hier nach da geschlendert waren, strandeten an einem der vielen Handwerksstände am Fuße eines Riesenbaums. Talaan gab vor, sich ebenfalls für die Waren zu interessieren, die hier auslagen. Während er bunt lasierte Töpferwaren in Augenschein nahm, beobachtete er äußerst interessiert, was sich nun zwischen Händlerin und Kunden abspielte. Ein Gespür für die hier gepflegte Kultur des Feilschens und handelsübliche Preise stellten elementares Wissen dar.

Man begrüßte sich wie Altbekannte und plauderte gleichermaßen über dies und das und nebenher über die Schüsselchen, die erworben werden sollten. Zu seiner großen Irritation besiegelten ein Handschlag und ein paar Worte des Dankes den Handel, dann wechselte die Ware den Besitzer. Münzen oder sonst irgendein erkennbarer Gegenwert wurde jedoch nicht getauscht.

Als die Töpferin seine neugierigen Blicke falsch verstand und zu ihm kommen wollte, nickte er ihr nur höflich lächelnd zu und folgte anderen Passanten zu einem unbekannten Ziel. Nur am Rande bekam Talaan noch mit, wie die Frau schulterzuckend zu ihrer Werkbank zurückkehrte und den Pinsel in die Hand nahm.

Einige Stände später blieb ihm das Verhältnis der MaKri zu Geld nach wie vor ein Rätsel. Dafür machte er einen Brauch aus, der damit vielleicht zusammenhing.

Nicht selten geschah es, dass ein Bürger für ein freundliches Hallo bei einem Handwerker anhielt und sich beide in ein längeres Gespräch vertieften. Dabei griff der Gast selbst zum Werkzeug, um einfache Handgriffe abzunehmen. Die Meister widmeten sich indessen ohne Eile dem kunstfertigen Teil ihrer Zunft. Fand die Unterhaltung ein Ende, legte der Besucher alles zurück an seinen Platz und zog weiter. Allmählich verstand Talaan, was Rashek mit seinem Rat gemeint hatte, er könne sich nützlich machen.

Voller Neugier machte er an einer überdachten Bühne halt. Die Seiten und die Rückwand beherbergten mit Büchern und allerlei Krimskrams vollgestopfte Regale. Vor dem Podium saßen in einem ausladenden Halbkreis auf einladend aussehenden Sitzkissen Kinder verschiedenen Alters. Sie blickten gebannt auf das, was eine durch die Jahre ein wenig welk gewordene MaKri in hellblauer Robe mit einem Stock in den Sand zeichnete. Überrascht erkannte er das Schema eines einfachen Flaschenzugs, das die Gelehrte in simplen Worten erläuterte.

Nun stellten Seilzüge keine Erfindung der Neuzeit dar. Doch veränderte sich Talaans Blick auf das Volk der MaKri mit dieser Beobachtung grundlegend. Selbstverständlich musste das Waldvolk den Flaschenzug erfunden haben – anders hätten sie die Rundhütten niemals so weit über dem Boden errichten können. Als er diese Bauwerke näher betrachtete, wurde ihm klar, über welch beachtliches Verständnis der Statik und der Zimmermannskunst sie verfügten.

Mit ihren Lendenschurzen und den Speeren wirkten die MaKri wie primitive Urwaldbewohner. Doch jetzt, da er genauer hinsah, erkannte er seinen Irrtum. Ihre Werkzeuge zeugten durch Vielfalt und Verarbeitung von hoher handwerklicher Fertigkeit. Die Stoffe, die er bei einer Weberin begutachtete, sahen schlicht aus, erwiesen sich aber als angenehm weich und fein gearbeitet. Auch die Speere, die er bei einer Schmiede in die Hand nahm, besaßen Spitzen aus hochwertigem Stahl und er fand sie perfekt ausbalanciert.

»Brauchst du einen, Freund?«, erkundigte sich die Schmiedin und schenkte Talaan ein blitzendes Lächeln, das jedoch von den scharfen Fangzähnen ruiniert wurde. »Mir scheint, ich habe dich vorhin ohneWaffe in die Stadt kommen sehen.«

»Ich bin dir aufgefallen?«, fragte er überrascht und stellte den Speer behutsam zurück in den Waffenständer. Bei der regen Betriebsamkeit, die hier herrschte, wunderte es ihn doch, dass er so viel Aufmerksamkeit erregte.

»Ha! Jungspunde.« Mit einem Auflachen schüttelte die MaKri heiter den Kopf. »Nein, so unwiderstehlich bist du nicht, Süßer. Aber Maresh ist mein Gatte.«

Talaan horchte auf. »Du bist seine Frau?« Kurzentschlossen nahm er sich eine rohe Messerklinge aus einer Kiste und setzte sich auf einen Schemel am Schleifblock. Das war etwas, auf das er sich verstand. »Er hat von dir gesprochen.«

»Ist das so?«, fragte sie lauernd, während sie in der Glut des Schmiedeofens stocherte.

Er begnügte sich mit einem wissenden Lächeln und machte sich in aller Seelenruhe daran, die Schneide mit der einen, dann mit der anderen Seite über den Schleifstein zu führen. Für den Jungspund lasse ich sie jetzt schmoren. Er stutzte und sah die MaKri überrascht an. Für einen Augenblick hatte er vergessen, dass er mit einem Pumamenschen sprach.

Die Schmiedin durchbohrte ihn inzwischen mit durchdringenden Blicken. »Was hat Maresh über mich erzählt?«

Schmunzelnd widmete er sich wieder dem Ausschärfen. »Er sagte, du würdest sein Gesicht so lieben, wie es ist.«

Die eben noch sehr finstere Miene der MaKri hellte sich auf. »Einer meiner größten Vorzüge, will ich behaupten.« Mit einem zufriedenen Lächeln wandte sie ihre Aufmerksamkeit abermals dem Hüten der Glut zu, in der Eisenrohlinge glommen. »Also? Benötigst du einen Speer?«

Talaan, der das Geschäftsgebaren des Waldvolks längst nicht verstanden hatte, lehnte dankend ab. »Ich möchte mich nur nützlich machen«, behauptete er, wenngleich das nur einem Teil der Wahrheit entsprach.

Diese Art von Arbeit beherrschte er blind, was ihm die Möglichkeit bot, sich ausgiebig umzuschauen. So fand er das erste Mal die Gelegenheit, mit Mareshs Frau eine weibliche MaKri zu studieren, ohne dass es nach zweideutigen Absichten aussah. Im Gegensatz zu den Männern besaß sie einen wesentlich feiner geformten Schädel und wies auch sonst eine klar feminine Gestalt auf. Gleichzeitig wirkte sie nicht minder kraftvoll und agil als jeder Pumamann.

Ein beiläufiger Seitenblick von ihr genügte, um hastig wieder die vorbeikommenden Passanten ins Auge zu fassen. Also arbeitete Talaan weiter die Schärfe aus dem Stahl heraus und ließ die Blicke schweifen. Etwas Unbestimmtes, nicht wirklich Greifbares kitzelte seinen Verstand wie eine Feder die Nase, nur bekam er es nicht zu packen. Er beobachtete und grübelte erfolglos, bis er seine Arbeit beendet hatte. Stumm hielt er Mareshs Frau die Schneide zur Kontrolle hin.

Die begutachtete sie gegen die Glut des Ofens und hob anerkennend die Brauen. »Bei der werde ich vorsichtig sein müssen, wenn ich sie in das Heft einfüge. Du kannst wiederkommen, Jungspund.«

»Gut«, erwiderte Talaan, griff nach der nächsten rohen Klinge und ging weiter seinen Überlegungen nach. Erst als er zum letzten Schliff ansetzte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Ganz gleich, wohin er auch blickte – ob zu den Marktständen, zu den Werkbänken oder den Flanierenden – überall sah er mehr Frauen als Männer.

Zunächst vermutete er, es läge am Konflikt mit den Menschen, der die Männer an die Waffen und in den Dschungel gerufen hätte. Doch dem widersprach, dass er nicht weniger weibliche MaKri den Speer führen sah als männliche. Die Frauen waren beim Waldvolk eindeutig gleichberechtigt und zudem vielleicht doppelt in der Überzahl.

Gerade wollte Talaan nach einer dritten Klinge greifen, als ein herzzerreißend menschlicher Klageschrei durch die Luft fetzte. Der Fluss aus Bewegung und Unterhaltungen stockte und sämtliche Köpfe drehten sich in dieselbe Richtung.

»Oh, nein«, stöhnte Mareshs Gattin. Alles Burschikose fiel von ihr ab. »Nicht schon wieder.« Hastig blickte sie auf die Rohlinge in der Glut und schüttelte missbilligend das Haupt. »Ich kann nicht fort. Schaust du bitte, wie schlimm es diesmal ist? Und komm zurück, ja?«

So gut er konnte, schenkte er ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Aber sicher.« Mit einem unguten Gefühl folgte er den anderen MaKri zum Stadtrand, von dem nun lautes Wehklagen drang.

Die Rücken der Herbeigeeilten bildeten eine undurchdringliche Mauer. Sie umringten eine undefinierbare Mitte, in der jeder nur vorstellbare Schrecken lauern mochte. Das unentwegte Klagen drängte sich in Ohren und Herz gleichermaßen und ließ Schlimmstes erahnen.

»Holt die Kräuterfrau, Verbandszeug und etwas Klargebranntes!«, rief eine Frauenstimme aus dem Zentrum der Versammelten. Panik schwang in ihr mit. »Schnell, verdammt!«

»Und beim Schöpfer: Bildet eine Gasse, damit die Hilfe durchkommt!«, forderte eine andere.

Bewegung kam in die Menge, während einige Bürger davoneilten, um die Aufträge zu erfüllen. Bald fand Talaan sich nicht nur am Rande der Versammlung, sondern auch am Eingang der Schneise wieder, die sich formte.

»Was ist geschehen?«, fragte er einen Mann ihm gegenüber, der eine blutige Lederschürze trug.

»Girrad ist von Soldaten des Westens überfallen worden.« Seine grüngrauen Augen blickten auf die nicht minder blutbeschmierten Hände hinab, die er unentwegt walkte. Offenbar war er Schlachter. »Er wurde schwer verletzt von Jägerinnen gefunden, die für mich auf der Pirsch waren. Es sieht wohl nicht gut aus.«

Was tun diese Menschen nur? Die MaKri sind fremdartig, aber keine Monster, dachte Talaan erbost.

Zwei Dinge wurden ihm deutlich bewusst: Zum einen, wie groß diese Stadt war und zum anderen, dass er selbst etwas für den Verwundeten tun konnte.

»Wo wohnt eure Kräuterfrau?«, fragte er den Mann.

Der winkte geistesabwesend in eine ungefähre Richtung. Doch als ihm der Sinn dieser Frage klar wurde, sanken die Ohren niedergeschlagen herab. »Das sind mindestens eine Strickleiter und acht Brücken. Auch ist Shaila nicht mehr die Jüngste.«

Mitten in diese aufgeregte Menge aus Pumamenschen zu treten und alle Blicke auf sich zu ziehen, war das Letzte, was Talaan in diesem Augenblick vorhatte. Ganz sicher würde er damit diverse Sittenregeln ihrer Gesellschaft brechen. Wie sie auf Magie zu sprechen waren, wollte er sich erst gar nicht ausmalen. Schließlich hatten sie nach einer Kräuterfrau und nicht nach einem Heiler oder Priester gerufen. Doch Girrad aus Feigheit sterben zu lassen, kam schlichtweg nicht in Frage.

Er holte tief Luft, zwang sein Herz zur Ruhe und trat in die bebende Gasse, die von den unruhigen MaKri gebildet wurde. Erste Köpfe drehten sich in seine Richtung. Mit jedem Schritt, den er tat, wurden es mehr.

Murren und Geraune wurden laut, bis einer rief: »Mach Platz für die Kräuterfrau, Fremder!«

Unbeirrt hielt er auf den Verwundeten am Ende der Schneise zu. Eine Jägerin kniete über ihn gebeugt und presste ihm sichtlich verzweifelt die Hände auf den Bauch. Blut sickerte durch das Fell ihrer Finger. Doch beinahe schlimmer ging Talaan die Wehklagende unter die Haut, welche hemmungslos weinend leicht abseits stand und auf Girrad hinabsah.

Talaan richtete seinen Willen auf diese drei MaKri aus und drängte die Feindseligkeit der Meute so gut es ging zurück. Deren Zorn konnte er ertragen, den Tod dieses Mannes und das Leid der beiden Frauen nicht. Auf diese Weise brachte er den Spießrutenlauf aus vergifteten Blicken und Anfeindungen hinter sich, bis er endlich neben der Jägerin niederknien konnte.

»Wie viel Blut hat er verloren?«, fragte er und schob ein Augenlid Girrads nach oben. Die Pupille reagierte kaum und war geweitet wie in finsterster Nacht. Sein Atem ging flach und unregelmäßig.

»Zu viel«, sagte die Kniende traurig. Sie schaute auf und Zorn umwölkte ihre Stirn, der rasch die gelben Augen erreichte und diese in Flammen steckte. »Was geht’s dich an? Tritt sofort für die Kräuterfrau beiseite!«

»Ich kann ihm helfen«, antwortete er mit fester Stimme und erwiderte ihren Blick mit erzwungener Ruhe.

»Was soll das heißen?« Die Gelbäugige fletschte die Zähne. »Du bist weder Schamane noch Kräuterfrau. Verschwinde, Jüngelchen!«

Nur mühsam hielt Talaan ihrem Zorn stand. In diesem Augenblick trat alles, was er an den MaKri fürchtete, geballt zu Tage. »Ich weiß nicht, was eure Heilerinnen zu tun vermögen, aber bis Shaila hier ist, wird Girrad nicht mehr am Leben sein.«

Zwar setzte die Jägerin zu einer wütenden Erwiderung an, schüttelte jedoch nur müde das Haupt. »Wenn du nicht weg bist, sobald sie auftaucht, ziehe ich dir persönlich das Fell ab.« Trotz ihrer harschen Wortefehlte ihrer Stimme nun alle Schärfe. Stattdessen traten ihr selbst Tränen in die Augen.

Diese Kapitulation genügte Talaan als Zustimmung. Behutsam legte er eine Hand auf die sich kaum regende Brust Girrads und schloss die Lider.

Zehn Jahrhunderte in einer von Magie durchdrungenen Welt waren nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Jenes Zauberbuch, das er jenseits des Jungen Waldes an sich gebracht hatte, enthielt mehr Zaubersprüche, als ein Mensch in so vielen Jahren lernen konnte. Den Heilzauber jedoch, der für ihn einen unermesslichen Wert besaß, hatte er sich in mühevoller Arbeit angeeignet. Die hochkomplizierten Sprüche und die nicht minder anspruchsvollen Gesten verziehen keine Fehler in Konzentration und Ausführung. Folglich zwang er seinen Puls zur Ruhe und kanalisierte den Atem, während er die Formel in der Sprache der Alten rekapitulierte.

Doch ehe er die erste Silbe aussprechen konnte, formten sich die Worte im Geiste als leuchtende Fäden. Sie verschmolzen vor seinem inneren Auge zu einem hellblau glühenden Muster verwirrender, graziler Komplexität. Bereits in der Entstehung spürte Talaan die betörende Macht, die diesem Geistessymbol innewohnte. Welch Wunder war dies? Vor lauter Staunen zerbrach beinahe der Fokus der Konzentration und das Ornament drohte zu ermatten. Im letzten Moment besann er sich des Ernstes der Lage und rettete damit die Inkantation.

Nun wappnete er sich gegen die wahre Herausforderung der Heilung. Er ließ dem Lebensgespür freien Lauf, das der Zauber mit sich brachte, und tastete mit ihm nach den Lebensströmen Girrads.

Die Verletzung klaffte als rote, vielfach verästelte Kluft im weißglühenden Geflecht seiner Lebenskraft. Ungebändigt schrie sie ihm ihren Schmerz entgegen. Nur widerwillig ging er auf die Pein zu, tauchte ein und ertrug sie.

Tiefer hinab sank er zu den durchtrennten Blutgefäßen, Muskeln und Nervenbahnen. Dort angelangt entfesselte Talaan die volle Macht des Heilzaubers und lenkte sie in die schreckliche Wunde. Äderchen wie Adern schlossen sich, Muskelfasern und ganze Stränge wuchsen zusammen und die Qual verebbte nach und nach zu einem leisen Flüstern. Als auch die Haut vollendet war, veränderte er den Strom der Magie derart, dass er nun durch den gesamten Körper des Geheilten floss und ihm neue Kraft spendete.

Erleichtert, dem Schmerz standgehalten zu haben, und glücklich darüber, dass Girrad überleben würde, ließ Talaan den Zauber ins Nichts zerfasern. Das glühende Geistessymbol erlosch mit einem Schlag.

Er öffnete die Augen und die große Welt um ihn herum drang wieder in sein Bewusstsein. Die Jägerin wich in Ehrfurcht vom Geheilten zurück, wobei sie ihren Blick nicht von ihm ließ. Die Wunde hatte sich vollkommen geschlossen. Selbst das Fell war wieder intakt, wenn auch hoffnungslos blutverschmiert.

»Er braucht nun viel klares Wasser und Ruhe«, sagte Talaan zu der Gelbäugigen. »Den Blutverlust kann ich nicht ausgleichen.«

Diese sah abwechselnd Girrad und ihn entgeistert an. Erst jetzt wurde er sich bewusst, dass ein kristallenes Schweigen in der Luft lag. Ein jeder starrte ihn an. Nun manifestierte sich die Gewissheit dessen, was er schon vor seinem Spießrutenlauf geahnt hatte. So sehr die Pumamenschen ein Werk sonderbarer Magie zu sein schienen, so fremd mochte ihnen dennoch vorkommen, was er eben vollbracht hatte. Inmitten einer Meute von MaKri, vor der es kein Entrinnen gab, war nun die entscheidende Frage, ob Zauberei beim Waldvolk als Ketzerei oder Wunder galt.

Die Lippen der nicht länger klagenden Frau, die sich neben Girrad auf den Boden fallen ließ, formten ein Wort. Formten es erneut, während sie den Bauch des Mannes betastete und einmal mehr, als sie seine Hand ergriff. Es wirkte wie ein stummes Schutzgebet gegen Teufel. Ihre blaugrünen Augen, die sie zu Talaan erhob, glichen aufgewühlten Teichen und sie flüsterte: »Maigan.«

Ein Raunen ging durch die Versammelten und einige MaKri schnappten den Ausruf auf und wiederholten ihn tuschelnd.

»Maigan«, erklang es hinter ihm.

»Maigan!«, rief die Gelbäugige und reckte ihm einen blutverschmierten Finger entgegen.

Ein lauter Ausruf brach sich irgendwo in der Menge Bahn: »Er ist ein Maigan! Ruft die Ältesten herbei und bringt Girrad sofort einen SchlauchWasser!«

So er den Tonfall der Bürger richtig deutete, pflegte das Waldvolk zumindest keine Feindschaft gegen die Zauberei.

Erleichterung durchströmte Talaan. Die Hexenverbrennung fällt heute aus. Na, immerhin etwas.

Davon bestärkt wandte er sich an die Jägerin mit den gelben Augen: »Was hat die Aufregung zu bedeuten?«

Die Angesprochene neigte kurz respektvoll das Haupt, um ihn mit leuchtendem Blick wieder anzusehen, der in deutlichem Kontrast zu dem zornigen Feuer zuvor stand. »Du ehrst unsere Stadt mit deinem Besuch, Maigan. Bitte vergib mir, dass ich an dir zweifelte und dich fortjagen wollte.«

»Du hast recht gehandelt, mein Kind«, sagte eine Frauenstimme, die noch rauer als die der gewöhnlichen MaKri klang – geradezu rauchig. Sie gehörte zu einer Pumafrau, die sich durch ihr würdevolles Auftreten ebenso von den anderen unterschied wie durch ihr tiefgrünes Gewand, das von Silberornamenten geziert wurde. Ein wenig grau hatte sich in ihr sandfarbenes Fell geschlichen. »Du hast das Überleben Girrads im Blick gehabt und der Maigan trägt nicht die Zeichen seines Ranges. Aber jetzt seid alle so freundlich und tretet beiseite.«

Die Kräuterfrau, um niemanden sonst konnte es sich bei dieser imposanten Erscheinung handeln, nickte Talaan kurz zu und ließ sich neben dem Geheilten nieder. Der gab blutverschmiert und mit geschlossenen Augen immer noch ein Bild des Jammers ab. Mit raschen, geübten Bewegungen tastete die Alte den Liegenden ab.

»Das ist gute Arbeit, Maigan«, sagte sie mit flüchtigem Seitenblick zu Talaan. »Und ein Wunder, das mich mit Staunen und Freude erfüllt.« Sie griff nach einer von vielen lederumhüllten Trinkfläschchen, die an ihrem Gürtel baumelten, und entkorkte es. »Das wird die Blutbildung anregen«, erklärte sie dem Bewusstlosen und flößte ihm den Inhalt ein. Zu den Umstehenden gewandt sprach sie: »Besorgt eine Trage und seid behutsam mit ihm. Girrad hat für heute genug durchgemacht.« Damit erhob sie sich und sorgte mit in die Luft gestreckten Händen für Stille. Alle Blicke richteten sich auf sie und auch das letzte Tuscheln erstarb.

»Seit Anbeginn der Zeit gab es jene, die vom Schicksal die Begabung der Magie zugeteilt bekamen und sie stets mit außergewöhnlicher Weisheit verwendeten«, erklärte die Kräuterfrau mit dem feierlichen Tonfall einer Predigerin. »Diese MaKri werden Maigan genannt und ihr Erscheinen bedeutete immer, dass unser Volk Beistand gegen ein großes Übel erhält.« Sie deutete auf Talaan. »Die Gabe des Erwählten, der nun vor uns steht, ist die Heilung. Viele von uns sind überzeugt, dass der Krieg mit den Menschen des Westens unvermeidbar ist. So diese dunkle Stunde kommt, wird die Macht dieses Maigan die Verluste und die Schmerzen des Waldvolkes mindern.«

Unter heftigem Jubel der Menge wandte sich die Alte nun Talaan zu. Mit der Andeutung eines geneigten Kopfes bot sie ihm die Hand dar. »Ich bin Shaila, die Kräuterfrau dieser Stadt. Maigan, sei willkommen.«

Nach Art der MaKri ergriff er ihren Unterarm und schüttelte ihre Hand. »Ich danke Euch. Mein Name ist Talaan. Bitte belasst es dabei.«

»Wie es dein Wunsch ist, Maigan Talaan«, erwiderte Shaila.

Er seufzte resigniert. Ehrentitel waren ihm zuwider.

»Nun, da wir das Ganze hier sehr würdevoll und gediegen hinter uns gebracht haben: Darf ich jetzt anfangen, zu schnaufen und zu keuchen? Hohes Alter und die Hast, um Leben zu retten, sind keine guten Freunde.«

All die Anspannung brach sich in diesem Augenblick Bahn und ein herzliches und äußerst befreiendes Lachen platzte aus ihm heraus. Die Kräuterfrau lächelte dankbar und sackte mit einem Stöhnen ein Stückchen in sich zusammen.

Tatsächlich ein wenig keuchend fuhr sie fort: »Die anderen Ältesten werden bestimmt auch bald hier sein, um dich zu begrüßen.«

Talaan wusste nichts, was er hier und jetzt lieber vermeiden würde als das.

Shaila verwickelte ihn in ein intensives Gespräch, das ihn wenigstens die Aufmerksamkeit der umstehenden Schaulustigen vergessen ließ. Sie wollte wissen, wie lange er in der Großen Stadt verweilen wolle, wo er herkäme und solcherlei Dinge. Vor allem aber fragte sie ihn über Kräuter und Heilpflanzen aus, da sie offenbar glaubte, seine heilende Gabe und Kräuterkunde gingen Hand in Hand. Ihre Enttäuschung über seine Unkenntnis verbarg sie mit dem erfahrenen Geschick des Alters.

Die ganze Zeit fühlte er sich wie ein Gaukler auf dem Hochseil. Ein falscher Schritt und er würde fallen. Weder kannte er die Lage der Siedlungen der MaKri, ihre Geschichte, ja nicht einmal die Tiere, die in diesem Dschungel lebten. Da machte es die Sache auch nicht besser, dass nach und nach die anderen Ältesten eintrafen.

Häuptling Firr strahlte wie ein kleines Kind, als er den Handschlag mit Talaan tauschte. Amisha, die Vertreterin der Frauen, begrüßte ihn hin und her gerissen zwischen herzlichem Überschwang und ehrfürchtigem Respekt. Harjit, Vertreter der Männer, redete von der Ehre, dass endlich wieder ein Mann vom Schicksal erwählt worden sei. Lediglich der Schamane Tonri, ein düster dreinschauender Kauz, beließ es bei durchdringenden Blicken und einem ernsten »Willkommen«. Doch allesamt sprachen sie ihn beharrlich mit »Maigan« an und alle Versuche, sie davon abzubringen, blieben erfolglos.

Irgendwann gab Talaan es auf. Nur fühlte er sich durch diese Kapitulation noch mehr wie einen Hochstapler. Eine schwer greifbare Magie hatte ihn, einen Menschen, in diesem Körper stranden lassen. Aber das Gesicht eines MaKri zu tragen, machte ihn bei Weitem nicht zu einem der ihren. Hinzu kam, dass er sich erst recht nicht vom Schicksal Erwählter nennen konnte. Die Zauber, die er zu wirken vermochte, hatte ihm nicht die Fügung zugeteilt. Lange Studien und ausgiebige Übung bildeten die Säulen seines Könnens.

Doch die Ältesten merkten offenbar nichts von seinen Zweifeln und übergingen seine halbgaren Antworten mit immer neuen Fragen. Was er von den zunehmenden Zusammenstößen mit den Spähern des Westens hielt? Ob er hier sei, weil er glaubte, dass es einen offenen Konflikt geben würde? Als ihm nichts übrigblieb, als dies zu bestätigen, verlangten sie zu wissen, wann der Krieg seiner Meinung nach ausbrechen würde. Ihre Worte prasselten auf ihn ein wie ein Hagelsturm, vor dem er sich wegducken wollte. Sobald es die Höflichkeit erlaubte, sprach Talaan von seiner weiten Reise und der zusätzlichen Erschöpfung, die der Preis für die Heilung Girrads gewesen war.

Das ließ den Fluss ihrer Anfragen endlich versiegen. Freundlich und zuvorkommend entschuldigten sie sich vielmals für ihren Überschwang. Doch in dem Moment, als sie sich um Unaufdringlichkeit bemühten, brach der Damm, der die MaKri um ihn herum zurückgehalten hatte. Sie drängten auf ihn ein.

»Der Schöpfer segne dich, Maigan«, sagte eine wildfremde Frau und sah ihn voller Verzückung an.

»Hab Dank«, murmelte Talaan verlegen.

»Wirst du bei der Geburt unseres Kindes bei uns sein und über uns wachen?«, fragte eine andere. Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren Kugelbauch, der nach Zwillingen aussah.

Nur mühevoll gelang es ihm, sich dieser intimen Berührung nicht zu entziehen. »Selbstverständlich, gebt mir Bescheid«, hörte er sich erwidern.

»Ein Maigan«, raunte irgendwer in der zweiten Reihe und berührte mit ausgestrecktem Arm die Oberseite von Talaans Schnauze. Diesmal zuckte er unweigerlich zurück.

»Ich bin ein Zauberkundiger, kein Heiliger«, knurrte er.