Reise ihres Lebens - Irene Hülsermann - E-Book

Reise ihres Lebens E-Book

Irene Hülsermann

4,8

Beschreibung

Frühjahr 2034: Eva weiß, dass sie alles vergessen wird. Doch bevor dies geschieht, überredet sie ihre Enkelin Stella zur "Reise ihres Lebens". Drei Monate wollen die beiden kreuz und quer durch Italien reisen. Eva möchte ihrer Enkelin die wichtigsten Stationen ihres Lebens zeigen und über ihre vier großen Lieben berichten. Auf dieser Reise erfährt Stella viel über politische Unruhen in Italien und Deutschland, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Umweltprobleme und Naturkatastrophen in den Jahren von 1980 bis 2034, sowie über die Tabuthemen Homosexualität, Aids, Drogen und Scheinmoral. Auch die italienische Lebensfreude kommt nicht zu kurz und über die tausende Jahre alte Kultur Italiens wird genau so erzählt, wie auch darüber, dass Freundschaften Jahrzehnte überdauern können. Etliche Reisetipps sind im Roman enthalten und die Freunde der italienischen Küche finden die im Buch erwähnten Gerichte als Rezepte im Anhang.

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Seitenzahl: 542

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Die Autorin erzählt

Meine Eltern kommen aus Oberfranken, ich bin 1960 im Allgäu geboren, in Oberbayern aufgewachsen und lebe nun mit meiner Familie in Bayrisch-Schwaben.

Genauso abwechslungsreich verlief mein Arbeitsleben. Nach meiner Ausbildung zur Erzieherin arbeitete ich in einer bekannten und außergewöhnlichen Boutique in München. Im Anschluss an meine Rückkehr aus Rom, wo ich zwei Jahre lebte, arbeitete ich in einem Büro einer Computerfirma und in einem Autohaus. In Donauwörth machte ich mein Hobby zum Beruf: Seit 20 Jahren unterrichte ich Italienisch. Darüber hinaus schreibe ich als freiberufliche Journalistin Beiträge für den Kulturteil der Donauwörther Zeitung, den vmm Verlag Augsburg und verschiedene Magazine.

Ich bin verheiratet, habe einen Sohn und eine Tochter. Unser stolzer Kater Jack vervollständigt unsere Familie.

Das Buch hat autobiographische Züge und der Eine oder Andere aus meinem Bekannten- und Freundeskreis wird sich vielleicht wieder erkennen.

Ich möchte aber ausdrücklich betonen, dass die Geschichten, mit denen sie verwoben sind, nichts mit der Realität zu tun haben.

Alle (Reise- und Landes-) Informationen in diesem Buch sind vom Autor sorgfältig geprüft worden, ein Haftung ist ausgeschlossen.

Danke …

… an meine Familie, die mir in der gesamten Zeit bei der Verwirklichung des Romanes geholfen hat. Unermüdlich haben mein Mann und meine Kinder mein Manuskript gelesen, verbessert, konstruktive Vorschläge gemacht und nicht zuletzt bei dem Layout und dem Cover mitgewirkt.

… an Chiara für die witzig geschriebenen ‚Rezepte zum Nachkochen‘ im Anhang.

… an meine Mutter, die schon immer an mich geglaubt hat.

… an meine Freundin Petra Plaum, ohne die ich es nie so weit geschafft hätte.

– Inhalt –

Donauwörth, 28. Januar 2034

Donauwörth, 29. Januar 2034

Starnberg, 27. Februar 1995

Donauwörth, 29. Januar 2034

Donauwörth, 18. März 2034

Malcesine, 19. März 2034

Malcesine, 15. August 1979

Verona, 20. März 2034

Sirmione, Borghetto di Valeggio sul Mincio, 21. März 2034

Venezia, 22. März 2034

Malcesine, 24. März 2034

Düsseldorf, August 1990

Malcesine, 24. März 2034

Udine, 25. März 2034

Udine, 4. April 1985

Gorizia, Trieste, 26. März 2034

Malcesine, 27. März 2034

Malcesine, 28. März 2034

Padua, 29. März 2034

Cremona, 30. März 2034

Malcesine, 15. August 1979

Cremona, 30. März 2034

Bologna und San Marino, 31. März 2034

Starnberg, 14. Juli 1980

Firenze, Roma und Galatina, 27. und 28. Juli 1980

Galatina 2. August 1980

San Marino, 31. März 2034

San Marino, 1. April 2034

San Marino und San Leo, 3. April 2034

Urbino und Gradara, 5. April 2034

Gabicce Monte, und Ancona, 6. April 2034

Peschici, 7. April 2034

Monte Sant `Angelo, 10. April 2034

Peschici, 1. Mai 2002

Monte Sant`Angelo, 10. April 2034

Vieste, 11. April 2034

Peschici und Alberobello, 12. April 2034

Starnberg, 5. September 1984

Alberobello, 13. April 2034

Galatina, 14. August 1981

Alberobello, 14. April 2034

Starnberg, 28. Mai 1987

Alberobello, 14. April 2034

Ostuni, 15. April 2034

Galatina, Gallipoli, S. Maria di Leuca, 18. April 2034

Lecce, Alberobello, 19. April 2034

Alberobello, 20. April 2034

Donauwörth, 28. Oktober 2013

Tropea, 22. April 2034

Locri, Gerace, 23. April 2034

Pizzo und Capo Vaticano, 25. April 2034

Reggio Calabria, Messina, Taormina, 28. April 2034

Taormina, 29. April 2034

Donauwörth, 15. Mai 2001

Taormina, 29. April 2034

Taormina, 1. Mai 2034

Liparische Inseln, 4. Mai 2034

Taormina, 5. Mai 2034

Donauwörth, 5. Mai 2014

Taormina, 5. Mai 2034

Palermo, 9. Mai 2034

Teggiano, 11. Mai 2034

Teggiano, 10. August 2020

Teggiano, 11. Mai 2034

Teggiano, 13. Mai 2034

Donauwörth, 15. November 2014

Teggiano, 13. Mai 2034

Amalfi, 14. Mai 2034

Pompeji, 15. Mai 2034

Lago Bracciano, 17. Mai 2034

Roma, 26. Juli 1980

Lago Bracciano, 17. Mai 2034

Formello, 1. Dezember 1985

Lago Bracciano 17. Mai 2034

Roma, 18. Mai 2034

Formello, Borgo Isola Farnese, Sacrofano, 19. Mai 2034

Roma, 20. Mai 2034

Roma - Trastevere, 20. August 1988

Roma, 20. Mai 2034

Lago Bracciano, 21. Mai 2034

Formello, 26. April 1986

Lago Bracciano, 21. Mai 2034

Roma, 22. Mai 2034

Donauwörth 28. Juli 2023

Donauwörth 15. Oktober 2028

Roma, 22. Mai 2034

Sutri und Roniciglione, 23. Mai 2034

Formello, 24. Mai 2034

Roma, 25. Mai 2034

Olbia, 27. Mai 2034

Starnberg, 15. Mai 1996

Olbia, Arzachena, 27. Mai 2034

Arzachena, 28. Mai 2034

Baja Sardinia, 29. Mai 2034

Baja Sardinia, 21. Mai 1993

Baja Sardinia, 29. Mai 2034

Castiglione, Gavorrano, Massa Marittima, 31. Mai 2034

S. Galgano, Buonconvento, 1. Juni 2034

Abbazia di Monte Oliveto Maggiore, 2. Juni 2034

Siena, 12. März 1996

Buonconvento, Bagno Vignoni, Pienza, 2. Juni 2034

Pienza, Montepulciano, Sarteano, 3. Juni 2034

Sarteano, Castiglione del Lago, Perugia, 4. Juni 2034

Perugia, 20. April 1985

Sarteano, Castiglione del Lago, Perugia, 4. Juni 2034

Perugia, 5. Juni 2034

Assisi, 6. Juni 2034

Gubbio, 7. Juni 2034

München, 30. Dezember 2000

Perugia, 7. Juni 2034

San Donato in Poggio, 8. Juni 2034

Firenze, 9. Juni 2034

San Gimignano, 10. Juni 2034

Donauwörth, 11. September 2001

San Gimignano, 10. Juni 2034

Castellina in Chianti, 11. Juni 2034

Siena, 12. Juni 2034

Greve und Montefioralle, 13. Juni 2034

Pisa und Cinque Terre, 14. Juni 2034

Riomaggiore, 9. April 1985

Cinque Terre, 14. Juni 2034

Camogli, 15. Juni 2034

Camogli, 14. Juni 2014

Camogli und Torino, 15. Juni 2034

Torino, Sacra di San Michele, Suno, 16. Juni 2034

Mont-Saint-Michel, 18. März 2033

Torino, Sacra di San Michele, Suno, 16. Juni 2034

Suno und Oleggio, 17. Juni 2034

Suno, 18. Juni 2034

Gallarate, 19. Juni 2034

Lago Maggiore, 20. Juni 2034

S. Maria del Monte, S. Caterina Sasso, 21. Juni 2034

Lago Varese, 26. August 2009

Santa Maria del Monte, Varese, 21. Juni 2034

Vergiate, Isola Madre, 22. Juni 2034

Lago di Lugano, 5. Juni 2006

Vergiate, Isola Madre, 22. Juni 2034

Bergamo, 24. Juni 2034

Formello, 8. Mai 198

Bergamo, 24. Juni 2034

Lago d’Orta, 25. Juni 2034

Milano, 26. Juni 2034

Vigevano, Suno 27. Juni 2034

Suno, 18. Juni 2014

Vigevano, Suno, 27. Juni 2034

Vogogna, Genestredo, Domodossola, 10. Juni 2018

Vigevano, Suno, 27. Juni 2034

Bergamo, 28. Juni 2034

Suno, Oleggio, 29. Juni 2034

Suno, 30. Juni 2034

Rezepte zum Nachkochen

Hauptfiguren im Roman

Reiseroute in Italien

Donauwörth, 28. Januar 2034

Sie wachte auf und wusste sofort, was sie zu tun hatte. So klar wie heute waren ihre Gedanken schon lange nicht mehr.

Sie schlurfte in die Küche und schaltete die betagte Espressomaschine ein, ihr ganzer Stolz, und suchte ihr Handy. Wo hatte sie es nur wieder hingelegt? Ruhig bleiben, mahnte sie sich, sie würde es schon finden.

Erst mal zurück in die Küche. Dort warteten schon ihre zwei Maine-Coon-Katzen auf ihr Frühstück. Ein wenig Milch in das Wasser, das liebten sie. Als sie den Kühlschrank öffnete, sah sie sofort, wo sie das Handy gelassen hatte. Es lag zwischen dem Käse und der Butter.

Sie nahm es heraus und rief ihre Enkelin an. Aber es antwortete nur der Anrufbeantworter, also sprach sie darauf: „Ruf mich zurück, bitte … es ist wichtig … ach, ähh, ich bin’s deine Oma!“

Ihre Gedanken kreisten immer wieder um dasselbe. Sie war entschlossen und musste nur noch ihre Enkelin überreden, mitzukommen. Mitzukommen, auf die Reise ihres Lebens!

Zeit hatte sie genug und ihre Enkelin auch. Stella wartete im Augenblick auf einen Studienplatz. Sie musste ihr den Plan also nur noch schmackhaft machen.

Was aber, wenn sie nicht mitmachen würde? Alleine könnte sie es nicht schaffen. Ach was, redete sie sich ein. Ihre Enkelin würde euphorisch sein. Sie war doch genauso begeisterungsfähig und spontan wie sie selbst. Sie hatte schon früh an Stella bemerkt, dass sie ihr charakterlich so sehr ähnelte. Das liebte sie auch so sehr an Stella.

Sie machte sich einen Espresso, nahm die alten Fotoalben aus dem Regal, setzte sich an ihren Lieblingsplatz im Wintergarten und blickte hinaus. Noch lag ein Hauch von Schnee über der Zypresse, die sie vor vielen Jahrzehnten aus der Toscana mitgebracht hatte. Aus dem 30 cm hohen Gewächs war im Laufe der Zeit eine stattliche Zypresse geworden. Bald begann wieder ihre Lieblingsjahreszeit! Dem Winter konnte sie nicht viel Gutes abgewinnen und darum freute sie sich schon sehr auf die kommende Wärme des Frühlings. Wenn alles wieder zu leben begann, konnte sie stundenlang durch den Garten gehen und bewunderte jedes Pflänzchen, das aufblühte. Es lag der Duft von Erneuerung und Jugend in der Luft und ließ sie ihr eigenes Altern vergessen.

Während sie im Fotoalbum blätterte und in alten Erinnerungen schwelgte, klingelte ihr Handy. Wendig erreichte sie es. Sie war für ihr Alter noch erstaunlich beweglich, wenn doch nur ihr Kopf auch noch so gut funktionieren würde wie der Rest des Körpers.

„Hallo Oma, ich bin es, Stella! Was gibt es so Wichtiges?“

„Ach mein Schatz, du bist es. Stella, hättest du mal ein wenig Zeit für deine Oma Eva. Ich müsste unbedingt etwas mit dir besprechen.“

„Ähh, kannst du mir das denn nicht am Telefon sagen?“

„Nein, am Telefon ist das … ach Stella, kannst du nicht einfach vorbeikommen? Ich koche auch etwas Leckeres für dich.“

Stella erwiderte lachend: „Also gut, wenn du mir etwas Italienisches kochst, lass ich mich gerne überreden. Wann passt es dir denn? Morgen Abend?“ Begeistert und gleichzeitig beschwingt rief Eva ins Handy: „Ja, morgen Abend wäre perfekt. Sagen wir um 19 Uhr?“

„Super! Bin ich da. Hab dich lieb Oma, bis morgen.“

Zitternd legte Eva auf und seufzte tief. Hoffentlich ging ihr Plan auf. Aber erst mal musste sie sich etwas Gutes für das Abendessen ausdenken.

Kochen war nach wie vor eine ihrer großen Leidenschaften. Wie wäre es mit spinatgefüllten, gegrillten Auberginen als Vorspeise, gebratenem grünem Spargel zu spaghettiund gefüllte seppioline mit einem leckeren, gemischten Salat? Oder doch lieber klassisch, Carpaccio, dann die penne in der Speck-Bier-Tomaten-Soße und anschließend Saltimbocca1? Am besten sie geht gleich einkaufen und lässt sich vor Ort inspirieren.

Donauwörth, 29. Januar 2034

Sie hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Was ist, wenn sie Stella nicht von ihrer Idee begeistern konnte? Gab es jemand anderen, mit dem sie ihre Pläne umsetzen konnte? Nein, nur Stella, nur mit ihr wäre es machbar.

Der Tag zog sich wie Gummi und sie versuchte, sich mit allerlei abzulenken. So richtig wollte ihr das nicht gelingen. Und dann war es endlich so weit: Stella kam. Wie schön sie war. Aber das behaupteten wohl alle Eltern und Großeltern von ihren Kindern und Enkeln. Heimlich sah Eva Stella an, ihre langen dunklen Haare und die braunen Knopfaugen, die immer freundlich blickten, das Grübchen in der Wange, das zum Vorschein kam, wenn sie lächelte. Zufrieden blickte Eva weg.

Stella strahlte wie immer. Schon als Kleinkind nahm sie Herzen wie im Flug für sich ein. Ihr fröhliches Wesen und ihre Begeisterungsfähigkeit hatten ihr so manche Tür geöffnet.

„Lieblingsoma, was gibt es so Dringendes?“, fragte sie gleich beim Eintreten. „Komm erst mal herein und mach es dir bequem, ich habe für uns etwas Gutes gekocht.“

„Du tust ja so geheimnisvoll. Du hast doch nichts angestellt?“

Besorgt betrachtete Stella ihre Oma. Nur zu gut wusste sie, dass ihre Großmutter für Vieles zu haben war und manches Mal auch die eine oder andere Verrücktheit in ihrem Leben gemacht hatte. Zudem machte Stella sich Sorgen um ihre Gesundheit. Ihr ist nicht entgangen, dass es mit ihrem Gedächtnis nicht mehr so gut bestellt war.

Früher sprachen alle von ihrem Elefantengedächtnis. Nichts, aber rein gar nichts vergaß sie. Manchmal, bei den Familienfeiern, wurde sie von den Enkeln getestet. Aber die Oma erinnerte sich sogar an die Kleidung, die ihr Mann Georg trug, als sie ihn die ersten beiden Male im Autohaus traf, in dem sie arbeitete.

Diese Geschichte erzählten ihre Großeltern immer wieder und immer zu zweit. Ihre Liebesgeschichte. Schicksal. Selbst Opa, ein rational denkender Mann, sagte stets, wie seltsam ihre ersten Treffen waren.

Starnberg, 27. Februar 1995

Georg brachte das Unfallfahrzeug seines Arbeitskollegen in die Werkstatt, in der Eva seit vier Jahren im Büro arbeitete. Normalerweise wäre er nie in dieses Autohaus gegangen, weil er stets größere und schnellere Autos fuhr.

Während er wartete, blieb sein Blick an den Polaroidfotos der gebrauchten Fahrzeuge hängen. Und da passierte es: Er verliebte sich in ein Rallye-Fahrzeug.

In der Zwischenzeit beobachtete Eva den jungen Mann. Was sie sah, gefiel ihr sehr gut. Nach all den katastrophalen Beziehungen, die sie hinter sich gebracht hatte, glaubte sie kaum noch an die Liebe.

Aber irgendetwas an ihm war anders. Er strahlte so eine Zuverlässigkeit aus.

Genau das, was sie an ihren Ehemaligen immer vermisst hatte. Wenn sie über diese sprach, redete sie von Sonntagsmännern. Es lief immer gut, bis der Alltagstrott mit den kleinen Problemen auftauchte.

Während der sympathische, junge Mann weiterhin das Foto und die dazugehörigen Autodaten studierte, musterte ihn Eva heimlich weiter. Obwohl es noch Winter war, hatte er ein leicht gebräuntes Gesicht. Und was Eva besonders gefiel: Es war voller Sommersprossen. Seine grünen Augen leuchteten hell und sein kastanienrotes, kurzes Haar passte perfekt dazu. Sie sagte später immer, dass es bei ihr Liebe auf den ersten Blick war.

Da aber beide, was das andere Geschlecht anging, eher schüchtern waren, passierte an diesem Tag rein gar nichts mehr.

Ein paar Tage später war Eva mit ihrer Freundin Barbara in der Disco und das, obwohl sie an diesem Abend überhaupt keine Lust dazu hatte. Aber Barbara hatte nicht locker gelassen und sie letztendlich überredet.

Auf der Tanzfläche rumpelte sie des Öfteren mit einem jungen Mann zusammen. Sie starrte ihn an. Sie kannte ihn. Aber woher? Es wollte ihr nicht einfallen.

Als sie später nach Hause gehen wollte und an der Garderobe stand, kam er vorbei und blieb vor ihr stehen. Dann machte er etwas, was er sonst nie tat. Er sprach sie an. Er fragte, ob sie öfters hier sei. Sie bejahte und stellte sofort eine Gegenfrage. „Kennen wir uns nicht von irgendwoher?“ Er zuckte mit den Schultern, sie bohrte weiter. „Fährst du vielleicht einen Fiat?“ Er verneinte mit den Worten, dass ihm dieses Auto zu klein wäre.

„Ach so, ich dachte, ich hätte dich letztens in dem Autohaus gesehen, in dem ich arbeite.“

„Ja, da geh ich morgen hin und hol meinen neuen Wagen ab.“

Mit diesen Worten verschwand er und ließ eine verdutzte, junge Frau zurück. Sie grübelte: ‚Die Autos in unserem Autohaus gefallen ihm nicht, aber er hat eines dort gekauft?‘

Später, daheim im Bett, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Seit Kurzem hatte der Händler zusätzlich eine weitere Automarke im Angebot. Mist! Morgen hatte sie frei und konnte ihn somit nicht sehen.

Am kommenden Montag lief sie sofort in der Früh zu den neu angelegten Akten und schaute sie durch. Und Tatsache, er hatte das Rallyeauto, einen Lancia Delta HF Integrale, gekauft. Neugierig studierte sie seine Akte.

Er wohnte erst seit Kurzem in Bayern. Und er war jünger als sie. Sie schrieb ihm einen Brief mit der beigelegten Abmeldebescheinigung des alten Fahrzeuges, und in der Hoffnung, dass er es bemerke, schrieb sie ausnahmsweise ihren Vornamen dazu. Sie war noch nicht ganz fertig, da sah sie ihn überraschend mit seinem neuen Fahrzeug in den Firmenhof fahren. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und die Schmetterlinge flogen wie wild in ihrem Bauch.

Als er kurze Zeit später das Büro betrat, drückte sie ihm den Brief in die Hand. Er schaute sie nur verdutzt an und ging mit dem Juniorchef hinaus. Eva, die seine Nähe suchte, überlegte sich einen Grund, den beiden zu folgen und fand ihn, indem sie Unterlagen in das zweite Firmenbüro auf der anderen Seite des Hofes brachte.

Sie lief an ihm vorbei und bemerkte nur kurz: „Schöner Wagen!“ Er antwortete etwas verdutzt: „Jepp, damit können wir bestimmt auch mal gemeinsam eine Probefahrt machen.“ Beide stutzten. Er, weil er nicht wusste, warum er das gesagt hatte und sie, weil sie damit nicht gerechnet hatte.

In Gedanken verloren ging sie zurück an ihren Arbeitsplatz. Die nächsten Tage verlebte sie wie in Trance.

Dann rückte der Donnerstag näher. Sie wollte in die Disco, um „ihn“ zu sehen. Doch es kam ihr etwas dazwischen und sie war todunglücklich.

Da reifte in ihr der Entschluss, ihn einfach anzurufen. Sollte sie es wirklich tun? Sie überlegte nicht lange und fragte auch keine Freundin um Rat. Die aus seiner Akte abgeschriebene Telefonnummer in der Hand, griff sie, kaum Zuhause angekommen, zum Hörer: „Hallo, ich bin’s Eva.“

Schweigen am anderen Ende des Telefons. Später erzählte er immer, dass er gerade die Haustür seiner erst vor Kurzem bezogenen Wohnung aufsperrte. In den Händen einen vollen Wäschekorb. Und das er nicht wusste, wer diese Eva sei.

„Ja, ähh, hallo? “, erwiderte er langsam.

„Eva! Vom Autohaus!“, versuchte sie zu erklären. Langsam kam ihm ein Gesicht ins Gedächtnis.

„Ach ja, du bist doch vom Büro, oder?“

„Genau!“ Stockend versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen. Es war ihr so peinlich. Sie war doch davon ausgegangen, dass er sie kannte und dass sie ihm gefiel. Und nun das! Wie kam sie nur wieder aus dieser Situation heraus, ohne viele Federn zu lassen. Nach kurzem Geplänkel stellten sie fest, dass sie beide gerne ins Kino gehen und er versprach, sich mal zu melden. Enttäuscht legte sie auf. ‚Das war’s!‘, dachte sie, von dem höre ich nie wieder etwas.

Aber da täuschte sie sich sehr. Nur zwei Tage später rief er sie abends um 18 Uhr an. Ob sie Lust hätte, mit ihm ins Kino zu gehen? Und ob sie wollte! Um 19 Uhr käme er sie abholen. In weniger als einer Stunde!

„In Ordnung!“, sagte sie und dachte, wie soll ich das nur schaffen? Also rief sie ihre Mutter an.

„Mama kannst du heute auf Alessandro aufpassen?“ Die Mutter bejahte.

Schnell, aber liebevoll brachte sie ihren Sohn zur Oma. Dann zurück, duschen schminken, anziehen. Aber nichts war schön genug. Die ewige Leier: Frauen haben nichts Schickes zum Anziehen, wenn es drauf ankommt! Ein schneller Blick in den Spiegel, da klingelte es schon. Georg stand schüchtern vor der Tür.

Auf der Fahrt von seinem Wohnort zu ihrem fiel ihm plötzlich ein, dass er nicht mehr genau wusste, wie sie aussah. Was, wenn jemand anderes die Tür öffnete? Dann wüsste er nicht, ob er die Richtige abholte. Da kam ihm in den Sinn, dass er vom Autohaus einen Prospekt zum 25-jährigen Bestehen der Firma erhalten hatte, in dem alle Mitarbeiter dargestellt waren. Er hielt auf einem Parkplatz und war beim Betrachten ihres Fotos sehr zufrieden. Zufrieden war er auch mit der tollen Wohngegend. Sah ja mal nicht übel aus. Schicke Häuser mit großen Gärten.

Sie bat ihn kurz rein, er sah den Swimmingpool im Garten und dachte „Bingo“! Die Kinderschuhe und die Kleidung im Flur übersah er.

Sie blieben nicht lange, fuhren gleich nach München. Es regnete, sie war nervös und wenn sie das war, redete sie pausenlos. Sie wollte ihm sagen, dass sie ein Kind hat und dass sie älter war als er. Aber aus irgendeinem Grund traute sie sich nicht. Also erzählte sie aus ihrem Leben. Von ihren drei Berufen, von ihren zwei Jahren in Rom, von ihren Hobbys. Er staunte nur und rechnete heimlich die Jahre zusammen. Er war Mitte zwanzig und sie sah etwa genauso alt aus. Aber durch ihre Erzählungen wurde ihm klar, dass sie älter sein musste.

Dann erzählte er, wie es ihn nach Bayern verschlagen hatte und dass er einen Neffen und eine Nichte habe. Da hakte sie gleich nach. „Magst du Kinder?“

„Ja.“

„Super, ich haben einen kleinen Sohn“, platzte es aus ihr heraus. Sein überraschter Blick sprach Bände. Oje, dachte sie, das war ja wohl nichts. Besser sie sagte ihm ihr Alter noch nicht, sonst sah sie ihn vielleicht nie wieder.

Der Abend wurde entspannt und unterhaltsam und sie verabredeten sich für den Sonntag zum Brunch bei ihr. Auch ihr Sohn Alessandro fand ihn cool.

Sie sahen sich immer öfter und irgendwann erfuhr er auch ihr Alter. Aber das störte ihn nicht. Die Gemeinsamkeiten überwogen deutlich.

Sie verbrachten glückliche Stunden, trotz der Wochenendbeziehung, denn in der zweiten Woche wurde er in eine andere Stadt versetzt.

Nach sechs Wochen machte er plötzlich Schluss mit ihr. Sie fiel aus allen Wolken. Er war doch der Richtige für sie.

Wenige Stunden später rief er sie aber wieder an, bat sie um Verzeihung und erklärte zu seiner Entschuldigung, er hätte plötzlich vor der Verantwortung Angst gehabt. Die folgende Versöhnung schweißte sie noch mehr zusammen. Weitere zwei Wochen später machte er ihr einen Heiratsantrag und sie stimmte überglücklich zu.

In der Verwandtschaft und im Freundeskreis trafen sie auf Unverständnis. Nach zwei Monaten kennt man sich doch noch gar nicht, war die Meinung. Aber die beiden spürten ganz genau, dass sie füreinander bestimmt waren und heirateten ein Jahr nachdem sie sich kennengelernt hatten.

1 Rezepte zum Nachkochen Seite 393 ff.

Donauwörth, 29. Januar 2034

Stella seufzte tief. Ihre Großeltern waren mittlerweile 38 Jahre verheiratet. Und jeder, der sie kannte, schwärmte von diesem Paar. So einen Mann wünschte sie sich auch einmal.

Aber erst mal wollte sie die Welt sehen und einen tollen Beruf erlernen. Noch wartete sie ja auf einen Studienplatz. Sie wollte Architektur studieren. Schon als Kind konnte sie sich stundenlang damit beschäftigen, Häuser zu malen. Dabei achtete sie nicht nur auf Schönheit, sondern auch auf Funktionalität.

Aber heute Abend war sie gespannt, was ihre Oma ihr mitteilen wollte. Es klang sehr geheimnisvoll am Telefon.

Ihre Großmutter erzählte allerdings immer noch nichts. Anscheinend wollte Oma sie wohl erst mit dem italienischen Menü verwöhnen. Erst beim Espresso fing sie dann an zu erzählen.

„Stella, mein Kind, du hast ja auch gemerkt, dass ich in letzter Zeit so viel vergesse“, fing sie an. „Ich war bei mehreren Ärzten und mein Verdacht hat sich bestätigt. Ich leide unter einer beginnenden Altersdemenz.“ Entsetzt starrte ihre Enkelin sie an. „Mach nicht so ein Gesicht, ich bin nicht mehr die Jüngste und ein paar Jahre werden mir schon noch bleiben.“ Stella war immer noch sprachlos. „Aber eines möchte ich noch machen, bevor ich zu viel vergesse.“ Eva legte eine Pause ein, bevor sie fortfuhr: „Ich möchte eine Rundreise durch Italien machen. An alle Orte, an denen ich war, im Urlaub und auch bei meinem längeren Aufenthalt in Rom. Und … und ich möchte sie mit dir gemeinsam machen!“

Stella blieb stumm. Damit hatte sie nicht gerechnet. „Aber“, stammelte sie, „wie stellst du dir das denn vor? So eine Reise dauert ja Wochen, nein Monate und das viele Geld …!“

„Keine Panik, ich habe mir schon alles genau überlegt. Ich habe einiges angespart. Das reicht locker für uns zwei. Ich sag mal, wir werden drei Monate benötigen. Außerdem jobbst du im Augenblick ja sowieso nur.“

Stella blieben die Worte im Halse stecken. Wie stellte sich ihre Oma das nur vor? Einfach mal für drei Monate wegfahren. Aber da kam ihr auch schon ein zweiter Gedanke. Drei Monate kreuz und quer durch Italien. Wie schön ist das denn? Und es stimmte, sie wartete noch immer auf die Zusage für ihren Studienplatz und das konnte dauern.

„Und was ist mit Opa?“

„Mit ihm habe ich schon geredet. Er ist einverstanden. Er würde auch mitkommen, aber so lange kann er nicht weg. So viel Urlaub kann er sich im Augenblick einfach nicht nehmen. Und er weiß auch, wie wichtig es mir ist, dir die vielen schönen Plätze unserer gemeinsamen Reisen zu zeigen.“

Das war wieder typisch für Opa. Hauptsache er wusste, es geht seiner geliebten Frau gut, dachte sich Stella.

„Aber eine Nacht darf ich darüber nachdenken, oder?“ Großmutter lachte schallend. Ihre hellen Augen leuchteten: „Auch zwei!“ Wie einfach es doch war, einen Menschen glücklich zu machen, dachte sich Stella.

Donauwörth, 18. März 2034

Sie hatte nächtelang nicht geschlafen, kein Auge zugemacht und fragte sich immer wieder: Warum nur tue ich mir das an? Sie fand keine Antwort. Aber sie erinnerte sich daran, dass sie schon immer so war. Reisen war eine große Leidenschaft von ihr und sie ist viel gereist in ihrem Leben.

Als junges Mädchen mit Rucksack, allein, mit Freunden und später mit ihrem Mann. In Deutschland und Europa hatten sie fast jede Ecke entdeckt, aber auch den Norden von Amerika. Und jedes Mal vor der Abreise wurde sie nervös und bereute es fast, Reisepläne geschmiedet zu haben.

Kaum war sie unterwegs, war alles vergessen und sie wollte am liebsten gar nicht mehr heim. Und das, obwohl sie ihre Heimat und ihr Zuhause so liebte.

Sie saß inmitten von Kleiderstapeln und wusste nicht, was sie für die lange Reise mitnehmen sollte. Vielleicht war es besser auf Stella zu warten und gemeinsam mit ihr zu packen, als ihr geliebter Mann herein kam und ihr geschickt beim Verstauen der benötigten Kleider half. „Und wenn dir etwas fehlt, dann kaufst du es dir ganz einfach“, lachte er. „In Italien wirst du bestimmt fündig.“

Ihr wurde wieder ganz schwer ums Herz, wenn sie in sein spitzbübisches Gesicht schaute. Wie sollte sie es nur so lange ohne ihn aushalten? Auf was hatte sie sich da nur wieder eingelassen? Das war wieder einmal typisch für sie. Sie hatte immer ausgefallene Ideen und steckte die anderen mit ihrer Begeisterung an. Am Ende aber hatte sie oft Angst vor ihren eigenen Vorschlägen.

In Cornwall, zum Beispiel, hatte sie in einem Reiseführer einen tollen Wanderweg zu einem Traumstrand entdeckt und ihre ganze Familie überredet, dorthin zu laufen. Dabei achtete sie aber nicht darauf, dass der Weg steil an den Klippen verlief. Da sie, seit sie denken konnte, unter schrecklicher Höhenangst litt, kam es, dass sie auf dem schmalen Pfad eine Panikattacke bekam. Ihr war es hinterher so peinlich.

Oder im Chiemgau. Auf der Rückfahrt mit der Bahn vom Wendelstein kam ihr spontan die Idee, man könnte doch eine Station früher aussteigen. Auf dem Plan, der in der Bahn aushing, sah die Strecke sehr kurz aus. Zeit, lange darüber nachzudenken, hatten sie nicht und so sprangen Georg, Eva und ihre Tochter Clara in letzter Sekunde durch die offene Tür der Zahnradbahn hinaus. Der Weg entpuppte sich zwar als wunderschön, aber auch als wesentlich längere Variante als gedacht. Zu allem Übel war es an diesem Tag sehr heiß und die Getränke waren bereits fast aufgebraucht.

Sie zweifelte an ihren Reiseplänen. Georg sah es ihr an, nahm sie zärtlich in die Arme und sagte sanft: „Du wirst sehen, es wird großartig werden. Und Stella wird staunen, was du und später wir gemeinsam alles erlebt haben. Einmal Italien vom Norden bis zum Süden. Fast bin ich ein wenig neidisch“, versuchte er sie zu beruhigen. „Vermissen werde ich dich jetzt schon. Eines musst du mir vorher aber unbedingt versprechen.“ Sie schaute ihn gespannt an. „Wenn du wieder zurück bist und dich von den Strapazen erholt hast, fahren wir in diesem Spätsommer noch für zwei Wochen nach Irland.“

„Natürlich, das ist ja schon abgemacht und ich freue mich so sehr darauf. Du weißt doch sicherlich, wie gerne ich mit dir verreise und dass ich diese Tour nach Italien gern mit dir machen würde.“

„Ja, das weiß ich. Aber jetzt freu dich erst mal auf deine zweite Heimat!“

Malcesine, 19. März 2034

Stella holte Eva am Morgen ab, sie frühstückten noch mit Georg und dann ging es los. Sie fuhren über die neue unterirdische Autobahn Richtung Süden.

Als sie auf Höhe der Alpen waren, dachte Eva: Schon schade, dass man die Berge nicht mehr sehen kann. So praktisch es auch war, einige Hauptautobahnen in Europa unter die Erde zu verlegen, so langweilig wurden die Fahrten nun vor allem für die Beifahrer, die nichts mehr Besonderes zu sehen bekamen. Eva hätte zwar während der Fahrt einen Film sehen können, aber das wollte sie Stella nicht antun.

Auch wenn die Autos fast alles automatisch machten und autonom fuhren, musste sie trotzdem die ganze Fahrt die Automatik überwachen.

‚Was für ein Unterschied zu früher!‘, dachte sich Eva. Als sie 1978 den Führerschein machte, meinte ihr Fahrlehrer, ein typischer Macho, sie würde es nie schaffen. Daher brauchte sie auch viele Fahrstunden und rasselte zunächst durch die Fahrprüfung. Als sie den Führerschein dann endlich hatte, fuhr sie aus lauter Angst zwei Jahre lang kein Auto.

Dann brauchte sie aber für ihre neue Arbeitsstelle einen fahrbaren Untersatz. Ihr Vater setzte sich zwei Wochen lang auf den Beifahrersitz, fuhr mit ihr eine halbe Stunde zum Arbeitsplatz nach Fürstenfeldbruck, nahm die S-Bahn zurück und holte sie abends wieder ab und fuhr gemeinsam mit ihr zurück. Er gab ihr Tipps und erklärte ihr Dinge, von denen sie vorher auch in der Fahrschule nichts gehört hatte. Es half Eva sehr und sie fühlte sich mit neuem Selbstbewusstsein nun sicher im Straßenverkehr. Sie fuhr nach München, sie fuhr nach Süditalien, nach Rom, nach Norddeutschland. Und sie fuhr leidenschaftlich gerne Auto. Ihrem ehemaligen Fahrlehrer hätte sie gerne einmal gesagt, dass sie nie in ihrem bisherigen Leben einen Unfall gehabt hatte.

Stella und Eva unterhielten sich die ganze Fahrt, bis Eva irgendwann vor Müdigkeit einnickte. Sie wachte auf, als sie spürte, dass der Wagen hielt. Sie standen auf einem Parkplatz mit Blick auf den Gardasee. Eva, noch ein wenig schläfrig, glaubte zu träumen. Der Anblick war überwältigend. „So, Zeit für einen cappuccino!“, stellte Stella fest und stieg aus.

Die italienische Bar mit dem sensationellen Ausblick erwies sich als Glücksgriff. Sie bekamen die Adresse von einem Hotel in Malcesine am Gardasee, das noch ein Familienbetrieb war. Heutzutage eine Rarität.

Als sie im besagten Hotel ankamen, wurden sie herzlichst begrüßt. Das ältere Ehepaar war sofort angetan von Stella und Eva. Sicher auch, weil beide fließend Italienisch sprachen.

Das albergo lag etwas abseits, inmitten eines großen parkähnlichen Gartens. Zahlreiche Zypressen säumten den Weg und überall spitzten die ersten Blüten hervor. Ihre beiden Zimmer hatten Seeblick und der gemeinsame Balkon lud zum Verweilen ein. Hier ließ es sich gut ein paar Tage aushalten. Keine Frage, sie hatten wirklich Glück.

Am Abend fanden sie ein nettes gemütliches Lokal am See und besprachen nach dem vorzüglichen Mahl das Programm für die nächsten Tage.

Stella schaute ihre Großmutter an. Sie war noch immer eine gut aussehende Frau und es ließ sich erahnen, dass sie einmal sehr attraktiv war. „Warum wolltest du denn ausgerechnet nach Malcesine?“, fragte sie und als die Antwort ausblieb: „Der Gardesee ist wirklich sehr groß und hier gibt es so viele schöne Ortschaften. Das habe ich erst vor ein paar Tagen im Internet recherchiert.“

Zögernd fing ihre Oma an zu erzählen. „Als ich sechs Jahre alt war, fuhren meine Eltern mit meinen drei Geschwistern, mir und meinem Opa über den Brennerpass, um Urlaub am Gardasee zu machen. Damals gab es nur die Landstraße. Wir fuhren nach Sirmione. An vieles kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber an die Esel. Vielleicht fing dort die Liebe zu diesen Tieren an.“ Stella musste grinsen, ihre Tante Clara hatte Eva vor etlichen Jahren einen Esel geschenkt. Den hatte sie ihr schon als junge Reiterin immer versprochen. „Wenn ich mal einen Reiterhof habe, dann bekommst du deinen eigenen Esel!“, hatte sie immer verlauten lassen und eines Tages hatte sie das auch wahr gemacht. Eva hatte sich sehr darüber gefreut; sie hegt und pflegt ihren Esel noch heute.

„Das zweite Mal kam ich mit siebzehn Jahren nach Italien. Ich fuhr mit meiner Schwester Maria und ihrem Freund nach Malcesine. Als ich damals auf den See schaute, spürte ich plötzlich, dass ich endlich heimgekommen war. Dieses Gefühl kann man gar nicht so richtig beschreiben. Es war einfach da. Von da an kam ich öfters nach Malcesine.“ Sie blickte versonnen auf den See.

Stella konnte ihre Großmutter gut verstehen. Auch sie liebte dieses Land. Das musste wohl in den Genen stecken. Schon Ihre Urgroßeltern kamen immer wieder hierher. Ihr Urgroßvater hatte hier einige Jahre im Zweiten Weltkrieg und anschließend in amerikanischer Gefangenschaft verbringen müssen. Später fuhren die beiden oft in den Ferien an den Gardasee, nach Venedig, Rom oder in die Toskana.

„In Malcesine wurde mir das erste Mal das Herz gebrochen!“ Mit diesen Worten durchbrach Eva das angenehme Schweigen. „Wie?“, fragte Stella irritiert. „War dein erster Freund aus Malcesine?“ Eva nickte nur.

Neugierig geworden bohrte Stella nach: „Erzähl mal, das klingt ja spannend!“

„Ich war neunzehn Jahre alt und das dritte Mal am Gardasee. Mit meiner Schwester Elisabeth und ihrem neuen Freund. Die beiden waren frisch verliebt und ständig auf ihrem Zimmer. Aber das machte mir nichts aus. Ich zog alleine los. Mir hat es noch nie etwas ausgemacht, alleine zu sein. Ich spazierte durch die kleinen Gassen, saß stundenlang am See, aß ein Eis und war einfach nur glücklich. Dann lernte ich Franco kennen. Er bediente mich in der Bar, in der ich meinen cappuccino trank und meine Ansichtskarten schrieb. Wir kamen ins Gespräch, waren uns sympathisch und verabredeten uns für den Abend.“ Eva stockte.

„Von da an sahen wir uns jeden Tag. Unsere Gespräche gingen schleppend, da sein Englisch nicht sehr gut war. Meines übrigens auch nicht. Die paar Brocken Deutsch, die er konnte und die zwei italienischen Wörter, die ich damals mühsam erlernt hatte, brachten uns nicht sehr weit. Aber wir verstanden uns trotzdem irgendwie sehr gut. Ich war nach ein paar Tagen total verknallt in Franco. Bis zu diesem Tag hatte ich kaum Erfahrungen mit dem anderen, dem männlichen Geschlecht gesammelt. Es war immer das Gleiche: Die Jungs, die mir gefielen, fanden mich nett, aber bevorzugten dann andere Mädchen und die Jungs, die mir den Hof machten, fand ich langweilig und zu bieder.“ Eva machte passende Grimassen dazu, so dass Stella laut lachen musste.

„Als die zwei Wochen Urlaub um waren, war ich todunglücklich. Aber wir telefonierten täglich. Dann fuhr ich im Sommer noch einmal hin. Meine Eltern waren nicht begeistert, dass ich alleine nach Italien fuhr. Aber was sollten sie machen, ich war ja schließlich volljährig“, erklärte sie mit einem Lächeln auf den Wangen.

Eva machte eine Pause und lehnte sich zurück. Sie starrte auf den See und Stella bemerkte, wie ihr die Erinnerung wehtat. „Du musst es mir nicht erzählen.“ Stella streichelte ihr den Arm. „Nein, ich möchte es erzählen. Das ist ja ein Teil der Reise. Ich möchte dich nicht nur an die Orte bringen, die so wichtig für mich waren, sondern von meinem Leben erzählen, bevor ich es vergesse.“ Bei diesen Worten erschrak Stella. Sie wollte es noch immer nicht wahrhaben, dass ihre geliebte Oma in den kommenden Monaten und Jahren alles vergessen würde.

Eva sah das verschreckte Gesicht, nahm Stella in den Arm und sagte: „Keine Angst, ich werde kämpfen, so lange es geht!“

„Also“, forderte Stella ihre Oma auf, „wie ging es weiter mit euch?“

„Zuerst freute sich Franco sehr, mich zu sehen. Aber dann merkte ich, dass er mir etwas verheimlichte. Ich sprach ihn darauf an. Aber er wich mir aus. Trotzdem sahen wir uns täglich und verbrachten eine schöne Zeit miteinander. Nur manchmal überkam mich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Noch einmal sprach ich ihn darauf an. Da wurde er böse und meinte, er habe keine andere Frau und es nerve ihn, wenn ich das annähme. Also sagte ich nichts mehr. Dann kam der Abend, der alles veränderte: Ich hatte beschlossen, dass ich mit ihm schlafen wollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich es noch nie getan.“

Eva seufzte: „Hätte ich das doch nie getan. Ich hatte mir alles so romantisch vorgestellt, wie in einem von diesen Schnulzenromanen. Wir waren in einem schönen Lokal essen und gingen danach am See spazieren. Es war schon sehr spät und der Strand menschenleer. Da küsste ich ihn wieder, aber diesmal ließ ich es nicht zu, dass er irgendwann aufhörte. Ich verführte ihn.“ „Und dann?“ Stella konnte es vor Neugier fast nicht erwarten, zu erfahren, was damals passiert war.

Malcesine, 15. August 1979

Als er sie küsste, wanderte ihre Hand hinunter. Er stockte. Doch sie forderte ihn auf, weiterzumachen.

Sie nahm seine Hand und schob sie unter ihre Bluse. Sie hatte keine Ahnung, was sie da tat. Sie kam sich sehr unbeholfen vor, aber sie wollte es endlich wissen. Sie fand, sie war alt genug dazu.

Warum nur war er so gehemmt? Waren Männer immer so, wenn es zum Letzten kam?

Egal, sie wollte es hier und jetzt.

Als er endlich auf ihr lag und in sie eindrang, war es weder spektakulär, noch besonders schön. Nach wenigen Minuten war alles vorbei.

Etwas enttäuscht lag sie neben ihm. Und das soll es gewesen sein, fragte sie sich. Sie konnte nicht verstehen, dass „darum“ so ein Aufhebens gemacht wurde. Franco war auch nicht mehr sehr zärtlich. Er sah etwas verschreckt aus. Vielleicht hatte er nicht erwartet, dass sie noch Jungfrau war.

An diesem Abend verabschiedete er sich relativ früh, er sei müde, habe heute viel gearbeitet. Und sie verstand. Sie verstand immer. Sie sagte zu ihm, sie sähen sich ja morgen. Er nickte ihr nur kurz zu.

Doch als sie am nächsten Tag zur Bar kam, war er nicht da. Er sei krank, hieß es. Also lief sie zu ihm nach Hause. Aber dort machte ihr niemand die Türe auf. Langsam machte sie sich Sorgen um ihn.

Um sich zu beruhigen, ging sie ein wenig am See spazieren. Kurze Zeit später stand sie wieder vor seinem Haus. Aber auch dieses Mal hatte sie keinen Erfolg.

Die nächsten Tage wurden unerträglich. Sie sah ihn nicht mehr, weder an seiner Arbeitsstelle noch zu Hause. In der Bar wollte sie dann nicht noch einmal nach ihm fragen, es war ihr unangenehm.

Und nach einigen Tagen war es ihr dann auch so klar geworden. Er wollte sie nicht mehr sehen. Ihr Schmerz war unerträglich.

Sie schrieb ihm einen Brief, schmiss ihn in den nächsten Briefkasten, packte ihren Koffer und fuhr vorzeitig nach Hause.

Verona, 20. März 2034

Stella schaute am Morgen vorsichtig ins Zimmer ihrer Großmutter. Sie machte sich Sorgen aber ihre Oma schlief noch immer.

Der gestrige Abend hatte so entspannend angefangen. Aber dann hatte sie die verhängnisvolle Frage gestellt und Eva hatte zu erzählen angefangen. Als die Beiden dann ins Hotel zurückkamen und Stella ihre Oma auf das Zimmer begleitete, bemerkte sie, dass sie immer noch diesen nachdenklich und traurigen Blick hatte. Später machte Eva einen verwirrten Eindruck auf ihre Enkelin, denn als sie aus dem Badezimmer zurückkam, hatte sie anstatt ihres Schlafanzuges ihr Sommerkleid angezogen.

Eva bemerkte Stellas fragenden Blick und meinte erstaunt: „Wollten wir denn jetzt nicht nach Verona fahren?“

„Nein, Oma, jetzt schlafen wir erst mal. Morgen nach dem Frühstück fahren wir los“, redete sie beruhigend auf die ungläubig schauende Eva ein.

Am nächsten Morgen ging Stella direkt zur Rezeption und fragte, ob sie ausnahmsweise das Frühstück mit aufs Zimmer nehmen könnte. Ihrer Oma ginge es heute Morgen nicht so gut. Wie sie schon fast erwartete, hatten die netten Besitzer nichts dagegen einzuwenden.

Als sie dann aber wieder das Zimmer betrat, stand ihre Oma fröhlich lächelnd und eingekleidet vor ihr. „Wann geht es los? Ich freu mich schon so sehr, dir das Haus von Romeo e Giulia zu zeigen.“ Stella war zwar sehr erstaunt, freute sich aber, dass es ihrer Oma anscheinend besser ging und sie erholt wirkte.

Nach dem Frühstück, bei dem Eva munter plauderte, fuhren sie also wie geplant nach Verona.

Auf der Fahrt am See entlang wurde Eva wieder ruhiger und rief plötzlich: „Schau, da vorne geht es nach Cisano und nach Garda. Hier habe ich oft Urlaub gemacht. Erst mit deinen Urgroßeltern und deinem Vater. Wir wohnten in einem Mobilheim am See. Dein Vater war hier immer sehr glücklich, denn er hatte genug Platz, um sich auszutoben. Er war ein richtiger Temperamentsbolzen. Später, als ich mit Opa verheiratet war, kamen wir noch einige Male hierher. Einmal, das war noch vor der Geburt deiner Tante, machten wir auf der anderen Seeseite in San Felice di Benaco einen Zelturlaub. Das war sehr lustig. Am letzten Tag regnete es in Strömen und alles war nass“, kicherte Eva. Ihre Augen leuchteten, während es nur so aus ihr heraussprudelte.

So verging die Zeit sehr schnell und sie waren wie im Fluge auf dem Parkplatz vor den Toren Veronas angekommen. Hier mussten sie ihr Fahrzeug parken, da man in die meisten europäischen Städte nicht mehr mit dem Auto hineinfahren durfte.

Große Parkhäuser vor den Zentren und ein Shuttle Service waren schon vor langer Zeit eingerichtet worden. Die hohe Luftverschmutzung, die der Gesundheit mehr schadete, als man jahrelang annahm und die hohen Schäden an den historischen Gebäuden, dazu der Verkehrslärm, alles das hatte zu diesen Maßnahmen geführt.

Nach einem ersten Aufschrei in der Bevölkerung hatte sich diese mittlerweile gut daran gewöhnt und war sogar erleichtert, dass die allabendliche Suche nach freien Parkplätzen nicht mehr stattfand. Die Innenstädte waren wieder voller Lebensfreude und Gemütlichkeit.

Die Geschäfte, die vor einigen Jahren fast alle schließen mussten, da sie sich nicht mehr gegen die rasante Zunahme der Einkäufe im Internet behaupten konnten, waren zu neuem Leben erwacht.

In den Innenstädten gab es fast nur noch Fußgängerzonen, Parkanlagen, gemütlich gestaltete Plätze mit vielen Blumen und Bäumen. Kindergeschrei war nun noch das Einzige, was die angenehme Ruhe durchbrach. Fahrzeuge sah man nur noch selten in Form von Shuttlebussen, Lieferfahrzeugen und Krankentransportern.

Und so war es auch in Verona. Eva lief mit leuchtenden Augen und offenem Mund durch die Straßen. Hin und wieder kommentierte sie voller Begeisterung die alten Häuser und Gassen. Ihre Erinnerungen kamen hoch und sie teilte sie ihrer Enkelin fortwährend mit.

„Schau mal, da drüben, die Arena. Da müssen wir hinein, da waren wir auf den Steinbänken gesessen. Ich weiß noch genau, auf unserer Hochzeitsreise im März 1996, hatten dein Vater Alessandro und wir, zwei frisch verliebte Turteltäubchen“, sie kicherte wieder, „hier in Verona einen Zwischenstopp eingelegt. Dein Vater Alessandro trat mal wieder in die Rolle eines Ritters und rannte vergnügt und laut rufend durch die Reihen und wir beiden liefen Händchen haltend hinter ihm her.“

Sie stutzte: „Oh, das ist aber ganz schön teuer geworden. Die spinnen ja. Ich kann die Italiener verstehen, aber … Die letzten Jahrzehnte waren nicht einfach für dieses stark gebeutelte Volk.“

Und dann holte Eva erst mal tief Luft: „Weißt du, die Italiener hatten keine Regierung länger als ein paar Monate oder wenige Jahre. Es kam Berlusconi, dann der Euro. Das war für dieses schöne Land eine wahre Katastrophe.“

Immer wenn Eva über ihr Lieblingsland redete, nahm sie so richtig Fahrt auf und war kaum noch zu stoppen.

„Aber das weißt du ja bestimmt alles. Das habt ihr bestimmt alles in der Schule gelernt: Die Sparmaßnahmen und die Hilfsfonds für Griechenland, Spanien, Portugal usw.“

Eva sah Stellas Blick: „Damit langweile ich dich sicherlich nur.“ Also lenkte sie sofort ab: „Schau mal, da drüben geht es zur 'Piazza delle erbe’.Von dort ist es nicht mehr weit zum Balkon der Giulia und ihrem Romeo.“ Mit diesen Worten und flinken Schritten entfernte sie sich von der Arena, ohne hineingegangen zu sein.

Der Tag in Verona verlief ausgesprochen fröhlich. Eva lief wie ein Wiesel durch die Altstadt. Sie kaufte Blumen und ein Seidentuch mit einem Motiv aus Mohnblumen, ihrer Lieblingsblume, auf der ‚Piazza delle erbe‘, welcher schon seit Jahr-zehnten bekannt war für seinen lebendigen Markt. Kurze Zeit später fanden sie den Balkon von Giulia. Aber er war so voller Touristen, dass Eva enttäuscht der Szenerie entfloh.

Sie besichtigten das beeindruckende Castelvecchio und den Ponte Scaligero, das im 14. Jahrhundert von Cangrande II. della Scala erbaut wurde, entschieden sich aber dagegen, das in der Burg beherbergte Museum anzusehen, da es schon recht spät war.

Eva wollte unbedingt auf die andere Seite des Flusses, dem Adige. Sie suchte die alte Osteria, in der Georg, Alessandro und sie vor vielen Jahren so gut gegessen hatten. Bis ins letzte Detail erzählte Eva von diesem Abend. Sie seien den ganzen Tag herumgelaufen und hatten Hunger und dann fanden sie dieses Lokal und wussten nicht, dass es ein so feines Restaurant sei.

Als sie es betraten, war es schon zu spät und der freundliche Kellner hatte ihnen schon einen Platz angeboten. Er tat so, als würde er gar nicht bemerken, dass sie hier nicht hineinpassten. Heimlich versteckte Eva die Plastiktüte ihrer Einkäufe unter dem Tisch. Sie aßen so gut wie noch nie vorher. Eva war ganz begeistert von dem Ambiente, von den riesigen Tellern und den kleinen, aber feinen Portionen. Sie kam sich damals wie eine Prinzessin vor.

Ihr war klar, dass es unwahrscheinlich war, nach all den Jahren dieses tolle Lokal wieder zu finden. Sie fragte sich, was sie denn dort heute vorfinden könnte. Eine Fast-Food-Kette, die Ende des letzten Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden geschossen waren oder die Gegenbewegung, die es seit einigen Jahren gab, ein Slow-Food-Restaurant? Aber was sie dann vorfand, damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet.

Als sie den kleinen, verwunschenen Laden betrat, wusste sie erst gar nicht, was sie dort entdeckt hatte. Die Einrichtung musste mindestens hundert Jahre alt sein und die Wände waren in schönen Pastellfarben gestrichen. In den freundlichen, hellen Vitrinen gab es Süßigkeiten, wie Eva sie aus ihrer Kindheit kannte. ‚Leckmuscheln' und ‚Pfenniglutscher', Riesengummischlangen und feinste Nougatpralinen.

‚Das musste das Paradies sein‘, dachte sich Eva.

Hinter der Theke stand eine fröhliche, junge Frau, die ihre langen blonden Haare zu einem seitlichen Zopf gebunden hatte und fragte, ob sie helfen könnte.

Stella und Eva standen minutenlang mit überraschtem, offenen Mund im Eingangsbereich.

Nachdem sie sich gefangen hatten und in der Auslage die herrlichen cup cakes sahen, entschlossen sie sich, an dem einzigen kleinen Tisch Platz zu nehmen und erst mal eine Köstlichkeit, inklusive einem leckeren cappuccino, zu sich zu nehmen.

Schnell kamen sie mit der jungen Besitzerin ins Gespräch und es wurde klar, sie war auch aus Bayern. Sie hatte einige Zeit in London gelebt und dort die Ausbildung zu einer Konditorin gemacht. Einige Jahre später hatte sie sich dann ihren Traum erfüllt und diesen kleinen Laden eröffnet.

Neben cup cakes kreierte sie die ausgefallensten Torten mit Motiven für jede Gelegenheit. Das konnte dem Sportbegeisterten genauso gefallen wie der flippigen Musikerin. Und so kam es dann auch, dass sie sich mittlerweile vor Aufträgen kaum noch retten konnte.

Eva wäre am liebsten noch viel länger bei der sympathischen, jungen Frau geblieben und hätte gerne noch lange ihren spannenden Geschichten zugehört. Aber es wurde schon dunkel und Stella mahnte zum Aufbruch.

Vor der Rückfahrt, Eva war aufgewühlt und erschöpft, aßen beide nur noch schnell eine pizza al taglio, die es nach wie vor in den italienischen Städten gab. Stella war begeistert von den kleinen Lokalen, in denen man Pizzastücke nach Wunsch und Gewicht bekam. Manchmal gab es dort auch noch Leckereien wie arancini : Frittierte Reisbällchen, gefüllt mit Hackfleischsoße, Erbsen und Mozzarella.

Im Hotel angekommen, saßen sie müde und zufrieden noch auf dem Balkon des Hotels und beobachteten, wie es langsam ruhiger wurde.

„Ich habe nie erfahren, warum Franco mich nicht mehr sehen wollte“, erzählte Eva plötzlich und unerwartet. „Und soll ich dir was sagen: Obwohl ich so glücklich verheiratet bin, ist er mir nie aus dem Kopf gegangen. Nicht weil ich ihn noch liebe oder so, sondern nur, weil ich gerne den Grund erfahren würde!“

Stella nickte. Ein wenig konnte sie ihre Oma verstehen. Sie hatte auch nie erfahren, warum ihr bester Kumpel Alexander, in den sie sich mit fünfzehn Jahren verliebt hatte, sich so merkwürdig verhalten hatte. Genauso wie in dem Lied von Klaus Lage, das schon so alt war und von der Jugend immer noch gesungen wurde: ‚Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert, tausend und eine Nacht und es hat Zoom gemacht.‘

Nachdem sie ihn dann einfach geküsst hatte, war alles anders. Er hatte eine unsichtbare Mauer aufgebaut und im Laufe der nächsten Zeit sahen sie sich kaum noch.

Kurze Zeit später ist er dann zum Studieren weggegangen und sie hatte nie mehr wieder etwas von ihm gehört.

„Und warum suchst du ihn nicht?“, fragte Stella.

„Ich weiß nicht? Soll ich mich nach über fünfzig Jahren vor ihn hinstellen und fragen, warum er das gemacht hat? Ist doch irgendwie blöd und … peinlich!“

Eva überlegte: „Nee, das trau ich mich nicht und vielleicht lebt er ja gar nicht mehr.“

Und damit war für sie das Thema erledigt. Um dem Ganzen den nötigen Nachdruck zu verleihen, ging sie ins Bett.

Sirmione, Borghetto di Valeggio sul Mincio, 21. März 2034

Am heutigen Tag wollten sie nach Sirmione fahren, mit einem kleinen Abstecher nach Borghetto di Valeggio sul Mincio. Schon am Frühstückstisch merkte man, dass es ein schöner, sonniger Tag werden würde.

Sirmione hatte sich überhaupt nicht verändert. Obwohl es erst März war, wimmelten schon hunderte Touristen durch die Altstadt.

„Hat sich nichts verändert“,murmelte Eva. „Schon bei den letzten Besuchen, als ich da war …“, sie überlegte, „… 1995 mit meinen Eltern und Alessandro, 1997 mit Georg und Alessandro, 2013 mit meinen Schwestern und meiner Mutter, musste man auf den riesigen Parkplätzen vor der Stadt parken.“

„Und dann musste man zu Fuß in die Altstadt laufen“, schnaufte sie. „Meine Mutter konnte nicht mehr gut gehen und so fuhren wir sie im Rollstuhl durch die Stadt.“

Vor dem großen Stadttor standen kleine Verkaufswagen, die im Wasser gekühlte Kokosnüsse und Obstscheiben zum Verkauf anboten.

„So, da muss ich mir erst mal ein Stück Kokosnuss holen. Das hat Tradition!“, rief Eva begeistert. Dem Verkäufer erzählte sie voller Stolz, dass sie das erste Stück 1966 mit sechs Jahren genau an der gleichen Stelle gegessen hatte und es nicht mehr vergessen konnte. Der Geschmack dieser Kokosnuss ist ihr immer im Gedächtnis geblieben.

Eva und Stella blieben nicht sehr lange im überfüllten Sirmione und fuhren lieber weiter nach Borghetto di Valeggio sul Mincio, wo es angenehm ruhig und gemütlich war.

In der trattoria auf der Brücke, die Eva schon seit Jahrzehnten kannte und die sich überhaupt nicht verändert hatte, aßen sie zu Mittag. Danach fuhren sie zurück zum Hotel nach Malcesine. Eva wollte sich ausruhen. Der gestrige Tag hatte sie doch mehr angestrengt, als sie am Morgen noch angenommen hatte.

Stella nutzte die freie Zeit und lief alleine durch die kleinen Gassen von Malcesine. Nicht ganz ohne Hintergedanken. Sie wollte mal sehen, ob sie nicht fündig wurde. Als Eva von Francos Bar erzählte, hatte sie bewusst nochmals nachgehakt. Und sie hatte Glück. Es gab diese Bar noch immer. Erst mal trank sie ihren caffè und checkte die Lage. Später kam sie in ein nettes Gespräch mit dem älteren Barbesitzer.

Wenn die Italiener merkten, dass sie fließend Italienisch sprach, waren sie sofort von ihr angetan. Heute sprach jeder nur noch Englisch. Und Stella hatte Glück. Sie erfuhr so einiges von Franco.

Venezia, 22. März 2034

Eva freute sich. Heute sollte es nach Venedig gehen. Venezia! Dafür stand die Langschläferin gerne auch mal zu einer unmenschlichen Uhrzeit auf.

Venezia! Die Stadt, die schon seit Jahrzehnten untergehen sollte. Den Gefallen tat sie den Menschen aber nicht. Gott sei Dank, dachte Eva. So eine außergewöhnliche, einzigartige Stadt gab es nur einmal auf der Welt. Wie oft war sie schon hier gewesen? Das erste Mal mit Marco. Marco? Was wohl aus ihm geworden war?

Marco hatte sie in Starnberg kennengelernt. Er saß immer mit seinem Freund in der Eisdiele. Das war 1980. Eines Tages fragte er sie, ob sie Feuer für ihn hätte. Eva rauchte aber nicht und verneinte. Trotzdem kamen sie ins Gespräch. Sein Deutsch war sehr schlecht. Kein Wunder, er war gerade erst aus Puglia angekommen. Der Arbeit wegen, wie so viele in dieser Zeit.

Sie sahen sich von nun an öfter und eines Tages waren sie dann ein Paar.

Mit Marco war sie Ostern 1982 hier in Venezia. Natürlich waren auch damals schon Touristen anwesend, aber noch nicht so viele wie später. Eva war im Laufe der Zeit dann einmal alleine, einmal mit Georg und Alessandro und einmal mit Georg und Clara sowie noch einige andere Male in Venezia.

Clara wollte Venezia damals unbedingt sehen, bevor diese außergewöhnliche Stadt vielleicht doch noch untergeht. Sie redete von nichts anderem mehr, so dass ihre Hartnäckigkeit letztlich belohnt wurde. Auf der Heimreise von San Marino, wo sie drei Wochen lang ihren Urlaub verbracht hatten, fuhren sie dann nach Venezia. „Das ist nun aber auch schon wieder über zwanzig Jahre her“, sinnierte Eva nachdenklich.

Umso mehr freute sie sich auf den heutigen Tag. Stella würde Augen machen. Sie hatte noch eine Überraschung bereit. Ohne es Stella erzählt zu haben, hatte sie vor einigen Tagen ihre Freundin Gabriella in Venedig angerufen.

Gabriella, ein alte Freundin aus den Jugendtagen in München, hatte einen Venezianer geheiratet und war deswegen schweren Herzens aus ihrer Heimat in den Dolomiten in seine Stadt gezogen. Gabriella sprach fließend Deutsch. Sie liebte Deutschland, so wie Eva Italien liebte, und so war es schon als junges Mädchen ihr Traum, einen Deutschen zu heiraten.

„Wir lachten immer darüber, weil ich immer einen Italiener haben wollte und wir beide kein Glück mit den Männern hatten. Am Ende habe ich einen deutschen Mann geheiratet und sie einen italienischen“, lächelte sie.

Stella und Eva fuhren von Mestre aus mit dem vaporetto direkt nach Venezia. An diesem Tag war es noch ein wenig nebelig, was der Stadt ein besonderes Flair gab.

Als sie am San Marco ankamen, führte Eva die begeisterte Stella direkt auf eine kleine Piazza, die etwas versteckt Richtung Marinehafen lag. Stella wollte zuerst gar nicht von der Piazza San Marco weggehen, aber als sie die Preise für einen Espresso in einer der vielen Bars rund um diesen Platz sah, folgte sie ihrer Oma willenlos. In der kleinen Bar, in der augenscheinlich nur Venezianer saßen, nahmen sie ein günstiges, aber sehr gutes zweites Frühstück ein.

Und dann rückte Eva mit Ihrer Überraschung heraus.

„Wir treffen Gabriella um 11 Uhr 30 an der ‚Seufzerbrücke‘, dann möchte sie uns ein paar Sehenswürdigkeiten von Venedig zeigen. Glaub mir, keiner kennt sich in Venezia besser aus. Am Ende unsere Städtetour begleiten wir sie nach Hause, wo schon ihr Mann Roberto auf uns wartet.“

Sie lächelte und bohrte mit ihrem Zeigefinger in ihre Backe. Das machen die Italiener, wenn etwas sehr gut schmeckt und sagen ‚buono’ dazu.

„Roberto ist ein begnadeter Koch!“, erklärte Eva weiter.

Überrumpelt ließ sich Stella durch die kleinen Gassen ziehen. „Schau, Stella, die vielen Künstler an der Promenade“, rief sie begeistert. „Hier hat sich dein Vater auch mal malen lassen. Du kennst doch das Bild in meinem Schlafzimmer.“ Und dann jammerte sie: „Ach, Stella, ein Tag in Venezia ist einfach zu kurz, wie soll ich dir da alles zeigen?“

Stella war wirklich sehr erstaunt. Sie hatte schon so viele Filme und Fotos von Venezia gesehen, aber in der Realität war es viel beeindruckender.

Die Seufzerbrücke, die im frühen 17. Jahrhundert erbaute weiße Kalksteinbrücke, schlägt ihren Bogen über den Canal Rio di Palazzo und verbindet so den Dogenpalast mit dem Gefängnis. Daher auch der Name. Denn wer damals verurteilt wurde, sah ein letztes Mal auf die Lagune.

Eva sah Gabriella sofort. Auch wenn wieder einmal Jahre seit dem letzten Treffen vergangen waren, erkannten sich die beiden sofort. Heimlich wischte Eva sich ein paar Tränen weg und Gabriella rief begeistert: „Wie machst du das nur? Du hast dich überhaupt nicht verändert.“

„Non esagerare, übertreibe nicht!“, antwortete ihr Eva.

Nachdem sich dann auch Stella vorgestellt hatte, ging es los. Gabriella bewegte sich immer noch so flink durch die Gassen wie früher. Lachend erklärte sie der staunenden Stella, dass sie und ihr Mann Roberto alles ohne Auto machen würden. So bliebe man einfach fitter. Sie ergänzte, dass es außerdem von großem Vorteil sei, wenn man sogar die Einkäufe stets zu Fuß nach Hause bringen müsste.

Im Laufe des Tages jedoch fügte sie allerdings hinzu, wie schwierig es oft sei, in so einer Stadt zu leben. Manchmal würde sie lieber in Belluno, wo sie aufgewachsen war, wohnen.

„Venezia ist so teuer“, erklärt sie. „Hier leben fast nur noch reiche Ausländer. Die Einheimischen können es sich selten leisten, die hohen Renovierungskosten für die häufig sehr baufälligen Palazzi und anderen Gebäude zu bezahlen.“

Zwar ist Venedig noch nicht untergegangen, aber durch den stetig steigenden Meeresspiegel, wird es immer schwieriger, die Stadt zu retten. Das ‚Acqua alta‘, das Hochwasser, das Venedig mehrmals im Jahr überschwemmt, wird auch immer extremer.

„Unser Sohn Massimiliano hat es schon vor Jahren vorgezogen, aufs Festland zu ziehen.“

Dann hakte sich Gabriella bei den beiden Frauen unter und zog sie weiter zum ältesten Fischmarkt der Stadt.

Am Campo della Pescheria boten die Fischhändler ab etwa neun Uhr in der Früh ihre fangfrischen Waren, wie zum Beispiel Thunfisch, Aal, Hai, Seezunge, Dorade oder Krusten- und Schalentiere an. Und das unter den Arkaden des venezianischen Bauwerkes, das Anfang des 20. Jahrhunderts auf Pfählen errichtet wurde.

„Nun zeige ich euch aber noch meine Lieblingskirche!“ Und mit diesen Worten bog sie in einen dunklen, verwinkelten Weg ein, der etwas unheimlich wirkte. Stella dachte sich, dass sie alleine nie in einen solchen Weg gegangen wäre.

Eva war begeistert: „Die Chiesa San Polo hast du uns damals auch gezeigt. Damals als Clara und Georg dabei waren. Besonders schön fand ich das Bild vom Abendmahl, gemalt von Tintoretto. Und da vorne muss die tolle Bar sein, bei der wir die leckeren tramezzini und focaccie gegessen hatten.“

„Stimmt! Ich hatte ganz vergessen, dass du ein Elefantengedächtnis hast! Zum Campo Santa Margherita gehen wir anschließend und essen erst mal eine Kleinigkeit“, erwiderte Gabriella lachend.

Kurze Zeit später stärkten sich die drei Frauen in der angesprochenen Bar, die es tatsächlich immer noch gab.

Nachdem Stella über Blasen an ihren Füßen klagte und Eva immer ruhiger wurde, beschlossen alle drei, den Rückweg zu Gabriellas Wohnung anzutreten.

Gabriella wohnte in Cannaregio, unweit vom „Ghetto Ebreico“, dem hebräischen Viertel, das es seit Anfang des 16. Jahrhunderts gab. Entstanden ist es, weil die jüdischen Händler zwar in die Stadt kamen, sich aber nicht niederlassen durften. Der Senat gestattete ihnen später, sich auf der Insel mitten in der Stadt und mit nur zwei Zugängen niederzulassen. Die Gebäude dort stehen auf Pfählen im Wasser, sind ungewöhnlich hoch und eng aneinander geschmiegt.

Auf dem Weg zur Wohnung kamen sie an einer Anlegestelle für Gondeln vorbei und Gabriella erzählte: „Mit der Gondel zu fahren wird mit jedem Jahr teurer. Wenn ihr aber trotzdem mal mit einer fahren wollt, dann könnt ihr dies hier für nur 2 Euro machen und auf die andere Seite des Canal Grande übersetzen. Ist zwar nicht so bequem wie mit den teuren Touristengondeln, um aber mal einen Eindruck zu erhalten, lohnt sich die kurze Überfahrt auf jeden Fall. Ein Geheimtipp!“

Stella war sofort begeistert von dieser Idee und so setzten die drei spontan diesen Vorschlag in die Tat um. Lange konnten sie aber nicht auf der anderen Seite verweilen, denn Roberto wartete schon und verwöhnte das aufgedrehte Trio mit einem unschlagbaren venezianischen Menü.

Erschöpft, aber glücklich fuhren Stella und Eva zu später Stunde zurück zum Hotel nach Malcesine. Eines wussten jedoch beide ganz genau: Den morgigen Tag wollten sie auf jeden Fall nur faulenzen. Nichts würde sie von einem Ruhetag abbringen.

Malcesine, 24. März 2034

Den gestrigen Tag haben Stella und Eva entspannt im Garten des Hotels verbracht. Die Frühlingssonne entwickelte mittlerweile eine enorme Energie und es war angenehm warm.

Für Stella, die die bronzefarbene Haut ihres Vaters geerbt hatte, war das jedoch kein Problem und Eva lag sowieso lieber im Schatten und las ihre mitgenommenen Bücher. In dieser Beziehung war sie altmodisch. Sie liebte den Geruch der bedruckten Seiten und das Rascheln beim Umblättern. Ihren modernen E-Book-Reader nahm sie nur auf Flugreisen mit.