Reise in das unbekannte Land des Vertrauens - André Stern - E-Book

Reise in das unbekannte Land des Vertrauens E-Book

André Stern

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Beschreibung

Ein Augenöffner, ein Herzwärmer – eine großartige Lektüre

»Zerrt man an einer Raupe, so wächst sie nicht schneller. Man bringt sie um.«

André Stern beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, warum wir als erwachsene Menschen in Rollen gefangen sind, obwohl wir als Kinder weder Hautfarbe noch Geschlecht oder Alter kannten.

Im neuen Buch des Bestsellerautors begleiten wir eine Figur, die durch eine Welt voller Grenzen, Trennungen und Misstrauen reist, auf der Suche nach Vertrauen. Wir werden feinsinnig und dennoch kraftvoll-direkt konfrontiert mit den uns selbstverständlich erscheinenden Bewertungen, die nachhaltig beeinflussen, stören, schädigen. Dabei findet sich der Wunsch, so angenommen zu werden, wie wir sind, in jedem Menschen. André Stern hält uns in diesem wahren Märchen in bildstarker, poetischer Sprache den Spiegel vor und er beleuchtet Seiten - Winkel, Details aber auch das große Ganze -, die wir so noch nicht gesehen haben. Dieses Buch ist ein Herzöffner.

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Seitenzahl: 213

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André Stern

Über die Sehnsucht so angenommen zu werden, wie wir sind

Reise in das unbekannte Land des Vertrauens

Für Amelia, die du hättest sein können

…in aller Seelenruhe dreht sich das Schiff um sich selbst, wie in einem Science-Fiction-Film. Die Schwerkraft ist überall dieselbe, Tag und Nacht folgen aufeinander in einem Rhythmus von Licht und Schatten. In einigen Sektoren wechseln sich kalte und warme klimatische Phasen ab, die wir mit einer gewissen Wehmut »Jahreszeiten« nennen. Ein Zusammenspiel von komplexen Systemen wacht über die Voraussetzungen, die das Leben der Menschen und der anderen Arten sichern, die bei diesem Abenteuer mit uns an Bord sind. Der Schutz vor Strahlungen dauert an, die Zusammensetzung der Atmosphäre ist günstig, und ihr Druck hat sich auf einen Wert eingependelt, der dem Wasser erlaubt, flüssig zu bleiben. Einige unserer großen Wasservorkommen weisen wahrhaftige Gezeitenphänomene auf, die durch eine Art Satellit mit einer präzisen Umlaufbahn hervorgerufen werden.

Wir alle hier sind Teil des Experiments, autark im Weltraum zu überleben. Niemand weiß, wann und wo die Reise zu Ende gehen wird. Es geht nicht darum, auf ein Ziel zuzusteuern (die Umlaufbahn unseres Schiffs ist kreisförmig), sondern die Bedingungen zu beobachten, und manchmal zu verbessern, die nicht nur das Funktionieren der ganzen Vorrichtung sichern, sondern auch ihre Nachhaltigkeit, oder sogar ihre Weiterentwicklung.

Obwohl unser Schiff erstaunlich robust ist und – von Bord aus gesehen – riesengroß erscheint, wirkt es doch winzig und verletzlich inmitten der Unendlichkeit, der Kälte, der Einsamkeit und der Gefahren des Weltraums. Der Erfindungsreichtum und die Zuverlässigkeit seiner Systeme verschlägt denen, die sich dafür interessieren, die Sprache. Und sollte es wahr sein, dass ursprünglich nichts dem Zufall überlassen worden war, so scheint das Experiment doch deutlich auf unsere Willensfreiheit gerichtet zu sein. Zum Beispiel sind einige Ressourcen endlich, während andere auf Prozessen beruhen, die einwandfrei funktionieren, solange sie sich selbst überlassen sind, jedoch aus dem Takt kommen, sobald wir zu sehr eingreifen.

Ein so perfektes Objekt führt – wie immer, wenn so unterschiedliche Gemeinschaften zusammenkommen – zu Legenden und Glaubensbekenntnissen darüber, wohin die Reise führen soll und wer oder was am Anfang war. Es scheint, dass auch dies Teil der Erfahrung ist, ebenso wie das sorgfältige Fehlen gesicherter Nachrichten zu diesem Thema. Während die einen an einen Schöpfer glauben, diskutieren die anderen noch über die Form unseres Schiffs. Da kaum jemand es von außen gesehen hat, zirkulieren alle möglichen Theorien weiter.

Ich möchte von unseren Gemeinschaften erzählen und den hauptsächlichen Strömungen, die sie auszeichnen. Zuvor jedoch muss ich dich vorstellen. Du bist ein Mädchen aus einem der armen Sektoren und heißt Confidentia – obwohl dir bei deiner Geburt ein anderer Name gegeben wurde. In deinem Quartier wirst du von manchen, wegen einer Geschichte, die du nicht gelesen hast, auch »Die Kindliche Kaiserin« genannt, weil du alle Lebewesen liebst, denen du begegnest, wer sie auch seien und welches Lager sie gewählt haben mögen. Dir wird vorausgesagt, dass du eines Tages Präsidentin der Republik sein wirst »oder so was Ähnliches«, aber darauf hast du überhaupt keine Lust und dafür bist du sowieso nicht am richtigen Ort geboren worden. Vor allem aber sind viele Menschen davon überzeugt, dass du keinen leiblichen Vater hast, dass du vom »Schöpfer« persönlich gezeugt worden bist. Im Gegensatz zu deiner Mama, glaubst du das nicht im Geringsten, doch muss ich zugeben, dass dieser Glaube, wie er auch entstanden sein mag, dir erlaubt hat, unter ganz besonderen Umständen aufzuwachsen. Voller Fürsorge, voller Respekt vor den Absichten desjenigen, dessen Tochter sie in dir zu sehen glaubten, haben die, die dich umgeben, es nie gewagt, dich zu beeinflussen oder verändern zu wollen.

Es ist leicht beunruhigend, dass das Natürlichste, das jedes Kind erleben würde, dem man wirklich vertraute, dessen Natur man nicht veränderte, in unserer riesigen Kolonie eine Ausnahme geworden ist. Wie kommt es, dass du von denjenigen, die sich für dich interessieren, immer als etwas Besonderes bezeichnet wirst, obwohl du nur ein ganz gewöhnliches Kind bist? Du bist nicht anders veranlagt zur Welt gekommen als andere Kinder. Nichts hat dich von ihnen unterschieden. Der Unterschied kam von außen, nicht von dir. Der Unterschied war – und bleibt – die achtungsvolle Haltung, die deine Umgebung eingenommen hat, und das Vertrauen, das diese Menschen hatten, dass dein unberührtes Werden relevant und voller Sinnhaftigkeit war. Und wenn sie auch auf einem Missverständnis beruht, hat diese Haltung die Umstände und die Bedingungen geschaffen, die alle immer davon abgehalten haben, auf deine Veranlagung den schweren Deckel der Erwartungen und der Konditionierung zu legen.

Weil auf unserem Schiff niemand weiß, was Kindheit bedeutet, wirst du wie eine Ausnahme betrachtet. Niemand scheint Rechenschaft darüber abzulegen, dass die Art und Weise, wie man hier Kinder von Anfang an behandelt, das Ende dessen bedeutet, was Kindheit sein könnte. Von den ersten Augenblicken seines Lebens an merkt jedes Kind, dass man es lieber hätte, wenn es auf seine Natur verzichten und beginnen würde, der von den Älteren entwickelten Vorstellung zu entsprechen, wie Kindheit zu sein hat. Ersetzt von den Vorstellungen des Erwachsenen fällt die Kindheit wie eine unnütze Mauser von jedem Kind ab, wird mit Füßen getreten und zu Staub gemacht von den erzieherischen Wanderungen einer ganzen Gesellschaft, die aus Gewohnheit und Unwissenheit handelt, ohne schlechte Absichten.

Auf unserem Schiff gibt es zahlreiche Gettos. Für diejenigen, die deinen besonderen Status nicht kennen, gehörst du ganz klar zu einem dieser Gettos, sogar zu dem am weitesten verbreiteten, das selbst innerhalb der anderen Gettos zu finden ist. Das werden wir immer wieder sehen, wenn wir dich ein bisschen begleiten.

Gettos entstehen selbstständig und erhalten sich selbst von innen. Das ist ganz einfach, ganz natürlich, unvermeidlich. Tragt die Kleider reicher Leute in einem armen Quartier, und schon fühlt ihr euch in Gefahr; und umgekehrt, wenn ihr in einem Quartier der Reichen in Lumpen daherkommt, fühlt ihr euch straffällig. Um als Reicher zu überleben, muss man die Kleider der Reichen tragen, und man hat auch keine andere Wahl – diese findet von selbst statt – als in einem reichen Quartier zu wohnen.

Du freilich liebst alle gleich und glaubst an kein Getto. Du fühlst dich geschützt vor Werturteilen, Vergleichen, Rivalität, Diskriminierung, du hältst dich weder für schlechter noch für besser als andere; du hast das Gefühl, die richtige Person am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein, was jedes Kind normalerweise so empfinden würde. Du gehst in die große weite Welt hinaus, du erkundest neugierig unser Boot. In deinem Innern hast du einen Heimathafen: das Vertrauen, das dir geschenkt wurde, das Gefühl, das deine Umgebung dir gegeben hat, dass du geliebt wirst, so wie du bist. Darum hast du keine Angst, wo du auch bist.

Vertrauen ist eine der bedrohtesten Ressourcen auf unserem Schiff. Ihre Verknappung muss Teil des Experiments sein. Es ist ein ungleicher Kampf. Wie eine Lumpensammlerin durchstreifst du unser Schiff, um so viele Restposten von Vertrauen wie möglich zu finden. Du bist seine Hüterin und Beschützerin.

Du sammelst nicht nur Vertrauen, du trägst auch die anderen Geschichten zusammen, die das Gegenteil erzählen, weil sie auf deiner Suche deine Überzeugung immer wieder bestärken. Ich möchte diese deine Sammlung zwischen die Seiten dieses Buches schieben, sie in die Hände der Leserinnen und Leser legen, damit sie überlebt, sollten wir verschwinden.

2

In deinem Getto, so erstaunlich das auch scheinen mag, gibt es Worte, die du nicht aussprechen darfst, Dinge, die du nicht tun darfst. Gewöhnlich hältst du dich daran, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, vor allem in der Öffentlichkeit. Diese Vorsicht ist in deinem eigenen Quartier überflüssig, wo alle wissen, wer du bist.

Der innere Radar, der Diskriminierungen aufspürt, ist in dir nicht deaktiviert worden, nicht konditioniert von einem »so ist das Leben«. Der Respekt, den dein Umfeld dir entgegengebracht hat, hat dir erlaubt, außerhalb der Beziehung von Herrschenden und Beherrschten groß zu werden. Du fühlst dich weder dominierend noch dominiert. Nie und nirgendwo. Jede herrische Haltung dir oder anderen Mitgliedern deines Gettos gegenüber – oder jedes anderen Gettos – macht dich zutiefst unglücklich.

Noch unglücklicher macht es dich, mitanzusehen, dass sich die Opfer von Diskriminierung meist nicht bewusst machen, dass sie Opfer sind. Es gibt Tische, an die ihr euch nicht setzen dürft, und viele sind so daran gewöhnt, dass sie sich nicht ausgeschlossen fühlen, sondern schlicht an dem Platz, der ihnen zusteht. Es gefällt dir nicht, dass Rang, Farbe oder Größe bestimmen, wo gesessen wird. Manchmal hältst auch du dich daran, hörst aber nie auf zu denken, dass es ungerecht ist.

Wir Menschen werden so, wie man uns sieht. Das ist das schlimmste der Gefängnisse. Das macht dich klaustrophobisch.

Schlimmer noch als die Plätze, Worte oder Dinge, zu denen ihr keinen Zugang habt, ist diese ganze Armada von Orten, Gegenständen, Vokabularien, Kleidern und Haltungen, die spezifisch für euch bestimmt sind, mit der Erklärung, eurer Kaste besonders sorgfältig angepasst zu sein. Sie unterstreichen die Ausgrenzung, die Unterteilung in Klassen. Sie lassen die Mauern zwischen all dem wachsen, was vereint sein sollte. Das Schlimmste dabei ist, dass diese Armada mit dem ehr- und redlichen Willen aufgestellt wird, das Richtige zu tun.

Zu wissen, dass es so ist, hindert dich nicht daran, die Ironie zu verabscheuen, welche die anderen Kasten euch gegenüber an den Tag legen. Wie jeder Frau (die Geschlechter sind auch Teil der großen Diskriminierungen auf unserem Schiff – was Sie vermutlich nicht in Erstaunen versetzen wird), läuft dir ein Schauer über den Rücken, wenn Männer zu dir sprechen, als wärest du eine Zicke, weil sie Frauen für unfähig halten, wie Männer zu verstehen. Gleichermaßen verabscheust du, wenn zu dir mit dieser erstaunlichen Mischung aus Geziertheit und Vormundschaft – und sogar Autorität – gesprochen wird, mit der man sich gewöhnlich an die Mitglieder des Gettos wendet, dem du nun mal anzugehören gedacht bist.

Du verabscheust die Haltung. Nie die Person. Du liebst alle, denen du begegnest. Du möchtest sie beschützen, das freie Kind beschützen, das sie einmal waren, als sie zur Welt kamen. Du wirst nie wütend. Fast nie.

Es ist dir bewusst, dass es zahlreiche Dinge gibt, bei denen die Größe, die Kraft, die Verantwortung, die Erfahrung einen Unterschied machen. Einen funktionellen Unterschied, klar, aber warum müssen deswegen unterschiedliche Haltungen und Behandlungsweisen entstehen? Wozu das Machtgefälle? Du glaubst fest daran, dass die Unterschiede uns nicht trennen, sondern im Gegenteil vereinen, uns zu einer stärkeren und kompetenteren Einheit machen könnten. Alle Kinder wissen das, es ist eine grundlegende Erkenntnis der Natur, man kann sie in jedem Wald beobachten, in jedem System der Tier- und Pflanzenwelt, in jedem Organismus. Jedes Kind weiß instinktiv, dass es in erster Linie die Verschiedenheit ist, die gegenseitig bereichert.

Kinder suchen instinktiv, wie du es immer getan hast, diese Verschiedenheit. Sie stellen ohne Weiteres eine Verbindung von Herz zu Herz her, sind getragen von der Überzeugung, dass du und ich uns ergänzen, und dass wir das, was uns vereint, durch unsere Verschiedenheit bereichern. Vereint kann uns gelingen, was wir allein nicht erreichen könnten.

Du liebst alle, denen du begegnest, nicht weil du außergewöhnlich bist, oder außergewöhnlich tolerant oder gar naiv. Es ist nur so, dass dir die Aufgeschlossenheit von Herz und Geist, die so charakteristisch ist für unsere frühen Jahre, unterwegs nicht abhandengekommen ist. Du betrachtest die kleinen Kinder um dich herum und siehst, wie sie die Welt erkunden, ohne Vorurteile und ohne einen Hauch von Segregation. Du siehst, wie sie alle auf die anderen zugehen (Menschen oder auch nicht), mit offenen Armen und Herzen, ungeachtet von Kaste, Hautfarbe, Religion, Größe, Geschlecht oder Alter. Sie haben es nicht nötig, zur Toleranz erzogen zu werden, weil sie die Intoleranz gar nicht kennen… Wie diese Kinder, wie all diejenigen, die diese Seiten lesen, bist auch du so auf die Welt gekommen. Du aber bist so geblieben, dank dem besonderen Status, den du in den Augen deines Umfelds hattest: Du bist frei von allen »ismen« herangewachsen, frei von Rassismus, Sexismus, Speziesismus, Kastendenken, Altersdiskriminierung… und hast nie begriffen, warum man Kinder, Erwachsene und Alte unterschiedlich behandelt. Noch immer hast du nicht begriffen, warum es selbstverständlich ein Verbrechen ist, Kleinkinder zu essen, Kälber zu essen aber nicht, oder weshalb man nach einem Autounfall, bei dem ein Tier ums Leben gekommen ist, sagt: »Zum Glück war es nur ein Hirsch und kein Fußgänger.« Kinder identifizieren sich mit Tieren nicht weniger als mit Menschen, sie nehmen sie wahr als das, was sie sind: der Empfindung fähige, unersetzliche Wesen.

Als du klein warst, hattest du sehr kurzes Haar. »Das ist praktischer, wenn man den ganzen Tag überall herumtrabt«, sagte Mama. Alle hielten dich für einen Knaben. Das hat dich nicht gestört. Du hattest keinen Grund, dich mehr mit den Mädchen zu identifizieren als mit den Knaben, denen du begegnetest. Obendrein war dir wie jedem Kleinkind der Begriff des Geschlechts unbekannt; eher glaubtest du, es gebe so viele Geschlechter wie Menschen an Bord unseres Schiffs. Kinder sind von keinem Vornamen überrascht, sie gehen auf jeden Menschen und seinen Namen zu mit der Vorstellung, beide seien einzigartig, sie akzeptieren sie, wie sie sind, ohne sie anders zu deuten. Kinder haben den Reflex noch nicht, den Personen nur aufgrund der Indizien, die den meisten Vornamen inhärent sind, ein Geschlecht zuzuweisen. Sie haben den Kleider- und Verhaltenskodex noch nicht verinnerlicht, der einem Menschen ein Geschlecht zuweist und für Erfindungsreichtum keinen Platz lässt.

In deinen Augen gab es keinen Unterschied zwischen männlich und weiblich. Du unterschiedest die Tätigkeiten nicht in männliche und weibliche. Du spieltest einen schwangeren Knaben, du spieltest Ball mit Mama, und du schneidertest mit deinem Großvater die Kleider und schreinertest die Möbel für die Puppe, die er für dich genäht hatte.

3

Dein Großvater, den du seit jeher Bapy nennst, ist in einem Getto geboren worden, das es heute nicht mehr gibt. Auch auf unserem Schiff verändern sich die Dinge: Kasten werden abgeschafft, Mauern eingerissen, Prinzipien revidiert. Nur dein Getto scheint unveränderlich.

Bapy ist aus seinem Getto geflüchtet, ein paar Jahre bevor es niedergerissen und der darin stattfindende Versuch aufgegeben wurde. Die Ironie des Experiments war, dass es auf einem System beruhte, das eine freie Gesellschaft hätte schaffen sollen, ohne Kasten, ohne Privateigentum, ohne Verschwendung, ohne Ungleichheiten – und all dies hätte in einem Getto mit strengen Regeln stattfinden sollen, mit richtigen Mauern, einer Bevölkerung, die von allen anderen abgesondert wurde und noch weniger Freiheiten hatte als auf dem Rest des Schiffs.

Dein Bapy hat dort wissenschaftliche Studien betrieben. Er hat seine Kenntnisse und die Materialien, über die er in seinem Laboratorium verfügte, dazu benutzt, seine Flucht geduldig vorzubereiten. Eines Nachts ist er aufgebrochen, hat alle Hindernisse überwunden und ist den bewaffneten Wachen entwischt, die die seltenen Flüchtlinge erschossen, sobald sie sie sahen. In dem Sektor angekommen, wo du geboren bist, wurde er Fensterputzer. Du warst immer glücklich, wenn du ihn begleitetest, ihm helfen konntest, seinen Geruch und seine Wärme spürtest, ihm zuhörtest, wenn er dir mit seiner sanften Stimme – er redet immer leise – die faszinierendsten Dinge erklärte. Mit ihm warst du zusammen, wenn Mama arbeitete; er hatte nie einen fixen Einsatzplan, damit er mit dir zusammen sein konnte. Seine Kunden wussten, dass er eines Tages kommen würde, mehr nicht. Wenn die anderen Kinder dich fragten, wer dein Vater sei, hast du immer geantwortet: »Ich brauche keinen, ich habe meinen Bapy.« Er war der erste, der dich seine »Kindliche Kaiserin« nannte.

Allgemein wird er sehr geliebt und sehr geschätzt, nicht nur in eurem Sektor, auch anderswo auf dem Schiff. Viele Leute wenden sich an ihn, wenn sie Schwierigkeiten haben oder Fragen; sie besuchen ihn zuhause oder kommen manchmal zusammen, um mit ihm zu reden, wenn er sich am Abend neben eine der Feuerstellen im Quartier setzt. Mit all seinen Kenntnissen und seinem Talent als Geschichtenerzähler hätte er zu den Honoratioren zählen können. Er aber wollte lieber Fensterputzer bleiben in eurem Quartier. Es stimmt dich zärtlich, ihn in euren Straßen zu sehen, wie er läuft, wie er um sich schaut, als würde er immer noch staunen, als müsste er sich unablässig davon überzeugen, dass es kein Traum ist, als würde er dieses so bescheidene Quartier als Schlaraffenland betrachten. Noch heute beeinflussen ihn gewisse Gewohnheiten aus seinem ursprünglichen Getto. Er weiß es, aber er kann nichts dagegen tun. »So ist es nun mal«, sagt er jeweils mit einem beinahe beschämten Lächeln. Wenn ihr zum Beispiel eine Pause machtet zwischen zwei Schaufenstern und er dich in ein Café führte, um eine Schokolade zu trinken; für dich waren das seltene und wertvolle Momente, also spieltest du lange mit dem Schaum in deiner Tasse und mit dem Kakao und dem Zimt, die darauf gestreut waren. Das war ein Luxus, ein seltener Hochgenuss, zuhause konntet ihr einen solchen Schaum nicht zubereiten, du ließest dir Zeit, die Zeit des Kindes. Doch nach zehn Minuten wurde Bapy nervös, schaute auf die Uhr, sah sich um, zwang sich, dich nicht aufzufordern, schneller zu trinken. Eines Tages sagte er zu dir: »Das kommt von meiner Kindheit im Getto. Man durfte niemals länger bleiben, als man brauchte, um den Kaffee zu trinken, dann musste man Platz machen für den nächsten Kameraden.«

Zuhause hingegen ist seine Geduld schon immer unendlich gewesen. Du hast ihm zugeschaut, wie er eins ums andere die kleinen Stücke Paprika aus einem soeben von ihm gekochten Reisgericht entfernte, nachdem er vergessen hatte, dass du Paprika nicht magst. Er benutzte die Spitze seines Messers und die Gabel, summte dazu ein Lied und lächelte.

4

Da die Angehörigen deines Gettos leicht zu erkennen sind, entkommen sie schwerlich der Segregation. Die anderen Kasten können sich euch gegenüber erlauben, was anderen gegenüber unmöglich wäre.

Würde sich ein Mann irgendeiner Kaste einer Frau irgendeiner anderen Kaste nähern, ihre Wange streicheln und sagen »Wie hübsch du bist«, täte er etwas Unerlaubtes, würde er Gefahr laufen, eine heftige Reaktion auszulösen oder bestraft zu werden. Tut der gleiche Mann dasselbe mit dir, erregt er bei niemandem Anstoß, wegen der Kaste, der du angehörst. Es ist selbstverständlich, schockiert niemanden, nicht einmal die Mehrheit der Angehörigen deines Gettos, die von Anfang an dazu erzogen werden, diese Beziehung zwischen den anderen Kasten und der euren als normal zu betrachten.

Dein Getto ist die Kindheit. Und Kindheit gibt es auch in jedem anderen Getto.

Auffällig wird es immer, wenn man die Kasten vermischt. Zum Beispiel gibt man oft Eltern den Ratschlag: »In der Familie kann nur einer der Chef sein, und der Chef ist nicht das Kind, der Chef sind Sie.« Die meisten Leute in unserer Umgebung empfinden das als klare, überzeugende Logik. Denkt man sich das in einem anderen Kontext, oder ändert auch nur ein Wort, wird die Haltung, die man Kindern gegenüber akzeptiert, unmöglich gegenüber allen anderen Kasten. Zumindest heutzutage. Es wäre heute schockierend, wenn ein Mann zu seiner Partnerin sagen würde: »Es gibt in der Paarbeziehung nur einen Chef, und der Chef ist nicht die Frau, sondern der Mann.« Vor einigen Jahrzehnten hatten die Frauen auf unserem Schiff eine ähnliche Diskriminierung zu ertragen wie die Kinder, und der zitierte Satz wäre vermutlich akzeptabel gewesen. Die Dinge haben sich ein bisschen verändert, auch wenn die Kasten noch lange nicht verschwunden sind. Andere Segregationen sind auch verblasst, während unser Experiment voranschritt, aber keine ist wirklich vergessen worden. Die Diskriminierung wegen der Hautfarbe war einst sehr auffällig, aber du entdeckst sie auch heute noch, filigraner, immer wieder und überall, obwohl sie in der Zwischenzeit offiziell abgeschafft worden ist. Immerhin, wer heute öffentlich sagte: »Es gibt nur einen Chef, und der Chef ist nicht der Schwarze, sondern der weiße Mensch«, würde ausgebuht und vermutlich bestraft.

Nur gegenüber Kindern werden dieser Satz und die Haltung, die er ausdrückt, nach wie vor als zutreffend betrachtet.

5

Wegen deines Sonderstatus bist du aufgewachsen im Vertrauen darauf, dass du all das lernen würdest, was nötig ist für dich, und dass du alles werden würdest, was du werden möchtest. Dass nichts auf Zufall beruht und dass deine Entfaltung und deine Weiterentwicklung, deine Handlungen und deine Charakterzüge, so wie sie sein würden, richtig wären an ihrem Platz zwischen einer Ursache und einer Wirkung. Dass es ausreichen würde, dir zu vertrauen, dich leben zu lassen, dich nicht zu bremsen in deinem Elan, auf andere zuzugehen, mit dir zu leben in dieser Welt, auf dass du ein »guter Mensch« wirst.

Es bricht dir das Herz, dass es einer Legende um deine Person bedurfte. Dass die anderen Kinder nicht im Schoß dieses so einfachen Vertrauens groß werden können. Dass sie im Misstrauen aufwachsen. Die historische Haltung gegenüber der Kaste der Kinder führt dazu, dass Erwachsene denken, ein Kind, das man nicht fördert, erzieht, überwacht… gehe mit dem Risiko einher, ein schlechter Mensch zu werden, unwissend und asozial. Daher rührt das Bedürfnis, das Kind zu quantifizieren, zu vergleichen, zu prüfen und ununterbrochen zu messen, zu überwachen, und wenn nötig, seinen »Fortschritt« anzuregen… als ob er sonst eines Tages anhalten sollte.

Heranzuwachsen im bedingungslosen Vertrauen, dem Vertrauen, dass es in einem nichts Übles oder Zufälliges gibt, in diesem Vertrauen, das ganz synchron ist mit der Überzeugung, die jedes Kind in sich trägt, die richtige Person im richtigen Moment und am richtigen Ort zu sein – oder heranzuwachsen unter der Angst der anderen, dass aus einem ein schlechter Mensch werden könnte… das macht schon einen Unterschied…

6

Die Kolonien auf unserem Schiff sind im Raum zerstreut, wie sie es in der Zeit waren. Wir haben alle möglichen Epochen hinter uns gebracht. Wir sind für die unterschiedlichsten Umgebungen eingeteilt. Immer mit dem Ziel, so scheint es, unsere Fähigkeit zu beobachten, uns den Bedingungen anzupassen, unter denen wir aufwachsen.

Das Ausmaß der unglaublichen Vielfalt an Potenzialen zu erkennen, die wir entwickeln müssen, um uns an Klima, Umwelt, Ressourcen, Bedürfnisse und Bräuche anzupassen, gestattet uns, zu realisieren, dass diese unglaubliche Verschiedenheit unser aller Los ist.

Du hast oft gehört, wie Bapy das seinen Gesprächspartnern erklärt hat. In eurem Sektor, wie in vielen anderen, ist es ausschlaggebend, dass man wissenschaftliche Beweise vorlegen kann, um wirklich gehört zu werden: »Die genetischen Programme können nicht erraten, wo und wann der Mensch, den sie gerade konstruieren, zur Welt kommen wird. Es sind die gleichen Programme seit Tausenden von Jahren: für die Menschen, die vor 20000 Jahren auf der Erde in der Eiszeit gelebt haben, wie für die heutigen Bewohner der heißesten Gegenden unserer Welt. Der Mensch muss unter diesen so unterschiedlichen Bedingungen überleben können, auch wenn dazu so extrem verschiedenartige Fähigkeiten notwendig sind. Deshalb haben die genetischen Programme eine ganz einfache Lösung gefunden: Sie statten jeden Menschen mit allen nur denkbaren Potenzialen aus, damit in diesem riesigen Sortiment auch diejenigen Fähigkeiten vorhanden sind, welche die günstigsten sind, um in der jeweiligen Umwelt zu überleben.«

Jedes Kind kommt mit der Fähigkeit auf die Welt, alles zu lernen und alles zu werden.

Wie alle, wie immer, schaust du dich um, auf der Suche danach, was veranschaulicht, konkretisiert, greifbar und vergleichbar macht, was du soeben verstanden oder beobachtet hast. Und wie alle, wie immer, wenn du besonders aufmerksam bist, auf ein Thema konzentriert, das dich gerade kolonisiert, findest du bald, was du suchst. Hier, ganz in der Nähe, etwas Alltägliches und Bekanntes. Die angepasste Metapher. Der Mund eines Neugeborenen ist fähig, alle Laute zu formen, die es überhaupt gibt, niemand hat nur die Veranlagung, die eigene Muttersprache zu erlernen oder ist dazu unfähig. Es ist, als wären alle Phoneme aller Sprachen der Welt schon im Mund des Babys, im Stadium des Potenzials, bereit, sich zu entwickeln oder zu verblassen, je nach Umgebung.

Das gilt auch für alle anderen menschlichen Fähigkeiten.

»Aber warum«, hast du an dem Tag gefragt, als du das begriffen hattest, »können nicht alle alles, jede Sprache der Welt sprechen, oder begnadete Akrobaten werden?«

Bapy hat gelächelt: »Weil nur die Kinder noch dazu fähig sind. Sie sind die Hüter des Ozeans unserer Potenziale, sie halten in ihren kleinen Händen alles, was Menschen werden und lernen können. Sind sie einmal geboren, beginnt eine natürliche, aber auch unabwendbare Auslese unter allen Potenzialen, je nachdem, ob sie im jeweiligen Umfeld eines Kindes nötig – also aktiviert sind – oder unnötig, also nicht aktiviert. Nimm als Beispiel Folgendes: In den Sektoren des Typs ›Urwald‹ ist es unerlässlich, ungefähr 200 Nuancen von Grün unterscheiden zu können, was in einem städtischen Umfeld wie dem unseren kein Vorteil ist. Jedes Kind kommt auf die Welt mit der Fähigkeit, diese Nuancen zu unterscheiden, aber weil es keinen Sinn hat, dieses Potenzial in unserem Quartier zu entwickeln, wird es sich verlieren zugunsten der Fähigkeiten, die hier für das Überleben nützlich sind. Diese Auslese aus der Vielfalt der Möglichkeiten funktioniert automatisch, ist unvermeidlich und unentbehrlich; sie erklärt, weshalb wir nur die Fähigkeiten entwickeln, die generell für die Lebewesen unserer Kolonie notwendig sind, neben ein paar anderen, individuelleren, die mit unserer Persönlichkeit, unseren Vorlieben und unseren eigenen Entscheidungen zu tun haben. Alle anderen verflüchtigen sich. Einige unter uns entwickeln eine große Zahl von Fähigkeiten, wie du, meine Kindliche Kaiserin; verglichen mit dem ursprünglichen Potenzial sind es dennoch nur wenige. Selbst ein Astrophysiker, der auch Akrobat ist und alle Sprachen unseres Schiffs spricht, ist nur ein Schatten dessen, was er alles hätte werden können. Das ist kein Unheil, es erniedrigt uns nicht, vielmehr ist es eine Einladung, den Kindern dieser Welt mit Demut zu begegnen, denn vom Gesichtspunkt ihrer Fähigkeiten her sind sie Riesen.«

7

Du hast auch einen kleinen Bruder.