Reise- und Kulturbilder aus den Vogesen - Karl Emil Franzos - E-Book

Reise- und Kulturbilder aus den Vogesen E-Book

Karl Emil Franzos

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Beschreibung

In Karl Emil Franzos' Werk 'Reise- und Kulturbilder aus den Vogesen' werden Leser auf eine faszinierende Reise durch die Vogesen mitgenommen. Durch detaillierte Beschreibungen der Landschaft und der Kultur vermittelt Franzos ein lebendiges Bild dieser Region. Sein literarischer Stil zeichnet sich durch eine präzise Beobachtungsgabe und eine mitreißende Erzählweise aus, die den Leser in den Bann ziehen. Das Buch bietet nicht nur eine reine Reisebeschreibung, sondern auch kulturhistorische Einblicke in die Lebensweise und Traditionen der Bewohner der Vogesen. In der Literatur seiner Zeit nimmt dieses Werk eine besondere Stellung ein, da es sowohl informative als auch ästhetische Elemente vereint und somit sowohl Bildungs- als auch Unterhaltungswert bietet. Karl Emil Franzos, als deutsch-jüdischer Schriftsteller, war bekannt für seine Sensibilität gegenüber kulturellen Unterschieden und seine Fähigkeit, diese in seinen Werken einzufangen. Seine Reisen durch Europa und sein Interesse an verschiedenen Kulturen spiegeln sich in diesem Buch wider, in dem er die Vogesen auf eine einzigartige Weise darstellt. Als Mitglied des literarischen Realismus legt Franzos Wert auf genaue Darstellungen und authentische Beschreibungen, was sein Werk für Leser besonders ansprechend macht. Lesern, die sich für detaillierte Reise- und Kulturbeschreibungen interessieren, kann 'Reise- und Kulturbilder aus den Vogesen' von Karl Emil Franzos wärmstens empfohlen werden. Durch die lebendige Sprache und die tiefgründigen Einblicke wird der Leser nicht nur unterhalten, sondern auch in fremde Welten entführt. Dieses Buch eignet sich besonders für literarisch interessierte Leser, die an kulturellen Studien und Reiseberichten interessiert sind.

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Karl Emil Franzos

Reise- und Kulturbilder aus den Vogesen

Reiseberichte aus Anhalt & Thüringen
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Inhaltsverzeichnis

Aus Anhalt und Thüringen
Aus den Vogesen

Aus Anhalt und Thüringen

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Von einer verschollenen Fürstenstadt
Dessau
Elysäische Felder
Erfurt
Im Schwarzatal
Paulinzelle

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Kein Freund von Vorreden, will ich doch sagen, wie dies Buch entstanden ist.

Die Wanderlust, die mich in meiner Jugend durch drei Weltteile führte und die ungebahnten Pfade Halbasiens mit Vorliebe aufsuchen ließ, hat mich seit einem Menschenalter auch auf unzähligen Fahrten und Wanderungen durch Deutschland geführt. Es gibt zwischen der deutschen Wasserkante und den Alpen kaum einen Gau, in dem ich nicht mindestens wochenlang verweilt, kaum eine Stadt, die ich nicht genauer kennengelernt hätte. Ich tat's zu meiner Erholung, zu meiner Freude; geschrieben habe ich in den drei Jahrzehnten nur wenige Schilderungen, schon weil mir andere Arbeit nach der Heimkehr keine Zeit dazu ließ.

Auch beim Antritt meiner Ferienreise im Sommer vor zwei Jahren dachte ich wahrlich nicht daran, als Ausbeute ein dickes Buch heimzubringen. Die Redaktion der »Vossischen Zeitung« hatte kurz vorher Beiträge für ihr Feuilleton von mir gewünscht, und ich versprach ein Reisebild, wenn ich Stoff und Muße dazu fände. Nun fügte es der Zufall, daß ich zuerst in ein so merkwürdiges und wenig bekanntes Nest wie Zerbst geriet, und da mich dann in der nächsten Station der Regen zwei Tage im öden Hotelzimmer festhielt, schrieb ich auf, was ich in der »verschollenen Fürstenstadt« gesehen hatte, und schickte den Aufsatz nach Berlin. Er fand im Leserkreise des Blattes so freundliche Aufnahme, wie ich sie mir nie hätte träumen lassen, und ein ganzes Häuflein von Zuschriften ermunterte zu ähnlichen Aufsätzen. So schrieb ich denn während der Reise die Schilderungen aus Dessau und Wörlitz und skizzierte mir die Eindrücke meiner folgenden Stationen noch etwas sorglicher in mein Tagebuch, als ich es sonst zu tun pflegte.

An ein Buch dachte ich aber auch nach meiner Heimkehr nicht, und erst im Lauf des folgenden Winters gewann der Plan dazu Gestalt, wieder auf Ermunterung von Freunden, die meinten, eine Sammlung werde nicht ganz ohne Berechtigung und dem und jenem willkommen sein. So entstand – mitten zwischen anderen, größeren Arbeiten und dringlichen Pflichten – das Kapitel über Erfurt, und ich wollte nun die folgenden in einem Zuge hinschreiben, als mir ein Augenleiden die Feder – wie es damals schien, für immer – aus der Hand nahm. Lange währte es, bis ich sie wieder brauchen und nun endlich die mir lieb gewordene Arbeit abschließen konnte.

Lieb ist mir dies Buch, weil es mich an sonnige Tage erinnert, aber auch, weil ich es mit gutem Gewissen in die Welt hinaussenden darf. Denn es ist, bei aller warmen Neigung für Land und Leute, ein ehrliches und fleißig gearbeitetes Buch. Im übrigen muß es nun selber zusehen, wie es durch die Welt kommt.

Ich füge nur noch bei, daß die Aufsätze sämtlich vorher in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind – außer in der »Vossischen Zeitung«, welche die meisten brachte, in der »Nationalzeitung«, der »Magdeburgischen Zeitung«, der »Nation« und der »Deutschen Dichtung« –, daß ich sie aber für diese Buchausgabe noch einmal sorglich durchgearbeitet habe.

Dieser »ersten Reihe« meiner »Deutschen Fahrten« soll jedenfalls noch eine zweite, welche die Vogesen schildert, folgen. Ob eine dritte, hängt davon ab, wie lang ich mich noch an der Schönheit dieser Welt erfreuen darf.

Berlin, im Juni 1903Der Verfasser

Von einer verschollenen Fürstenstadt

Inhaltsverzeichnis

Alljährlich, wenn die Tage länger und heißer werden, faßt mich ein Gefühl, aus brennender Sehnsucht und behaglicher Neugier gemischt, das mich nie verläßt; es folgt mir bis in den tiefsten Traum. Wer ein Landkind ist wie ich, sehnt sich sein Leben lang, kaum daß der Winter vorbei ist, nach grünen, rauschenden Bäumen, nach Kühle und Stille, und hat er den höchst nervenstärkenden Beruf, Schriftsteller und Redakteur zu sein, so rüttelt ihn dies Sehnen in der qualmenden Stadt endlich wie ein Fieber. Aber tröstlich mischt sich in diese Qual die fröhliche Neugier: Wohin nun eigentlich? Mein Plan bei meinen Erholungsreisen ist immer, keinen zu haben. Als ich noch jung war und das Recht meiner Jahre auf Torheit redlich benützte, bin ich nach genau demselben Plan vier Jahre lang von Land zu Land gefahren, immer bereit, zu bleiben oder zu gehen, wie mein ungestümes Herz wollte. Das ist nun über zwanzig Jahre her; ich bin zahm und seßhaft geworden, trage die Fron täglicher Pflichten und mache auch sehr verständige Pflichtreisen mit Rundreisekarte und auf Tag und Stunde vorgeschriebenem Plan, o ja! wenn's sein muß. Aber im Sommer muß es nicht sein; da darf ich's treiben wie in den jungen Tagen. Ich mache mir keinen Plan, dessen Knecht ich dann bin, nehme mir nichts vor und versäume daher nichts, weiß am Morgen nie, wo ich am Abend sein werde, und lasse mich vom Augenblick tragen wie der Fisch von der Welle. Darüber werden die klugen, zielbewußten Leute, die acht Monate an dem Plan ihrer vierwöchigen Reise arbeiten, sicherlich lächeln, und mit Recht – aber, du lieber Himmel, das ganze bißchen Leben und Lebensglück vergeht uns ja in der klugen Jagd nach bestimmten Zielen – sollte man da nicht mindestens in seinem Vergnügen töricht sein dürfen? Auch ist es eine sehr angenehme Torheit: wenn ich so, nachdem der Koffer gepackt ist, die Landkarte vor mir ausbreite und mein Blick über die bunten Linien schweift, dann ergreift mich ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann, das mir um keine Weisheit der Welt feil wäre: da liegt die schöne Erde selbst vor mir ausgebreitet; die Flüsse rauschen, die Wälder flüstern, die Seen blinken zu mir empor, und die Wahrzeichen der Städte heben grüßend ihr Haupt – und dies alles ist mein; ich werde davon sehen und genießen dürfen, was mir beliebt... Und weil schließlich alles schön ist, für das Auge fast und in der Erinnerung gar ganz gleich schön, darum weiß ich, wenn ich abreise, höchstens die Himmelsrichtung, und auch die nur, weil es des Bahnhofs wegen sein muß.

Diesmal also wollte ich nach Westen, zunächst nach Frankfurt und dann in die Schweiz oder weiß Gott wohin, und mit diesem Gedanken ging ich vorgestern abend zu Bette, fröhlich wie ein Schneidergesell, der sich auf den morgigen Sonntag freut. Aber war's die Hitze oder die Freude, ich konnte nicht schlafen und holte daher aus der Handtasche eines der Bücher heraus, die ich mir als Reisebegleiter gewählt hatte: Goethes Briefe an Frau von Stein. Und da fiel mein Auge auf die Briefstelle aus Wörlitz, 14. Mai 1778: »Hier ist's jetzt unendlich schön... Es ist, wenn man so durchzieht, wie ein Märchen, das einem vorgetragen wird, und hat ganz den Charakter der elysäischen Felder; in der sachten Mannigfaltigkeit fließt eins ins andere; keine Höhe zieht das Auge und das Verlangen an einen einzigen Punkt; man streicht herum, ohne zu fragen, wo man ausgegangen ist und hinkommt...«

Wörlitz? Und so schön ist's dort? Wo ist Wörlitz? Offenbar bei Dessau; Goethe war ja dort der Gast des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau. Aber das ist ja so nahe bei Berlin; das kann man von Berlin aus haben. Nein, morgen bis Frankfurt. Und mit diesem Gedanken schlief ich ein.

Anders gestern morgen, als ich zum Bahnhof Zoologischer Garten fuhr. Freilich, dachte ich, ist Wörlitz nahe bei Berlin und schön und eigentümlich wie manches andere, wie zum Beispiel der Spreewald, den du noch nicht kennst, eben weil du immer denkst: Also nächstens! Mit Wörlitz soll's dir nicht so gehen. Und ich nahm meine Karte nur bis Güterglück.

Mit mir fuhr ein junges Ehepaar, das ich von irgendeinem Diner her kannte; es wollte nach Rippoldsau und malte mir die Reize des dortigen Kurhotels enthusiastisch aus. »Das teuerste Haus in Deutschland!« rief er begeistert. »Und diese Toiletten!« flüsterte sie. »Mindestens dreimal täglich muß man sich umkleiden!« Nun wieder er: »Kein Mann unter fünfzig Mille Einkommen!« Dann klagten beide über ihre Nerven; darum wollten sie von Rippoldsau nach St. Moritz und schließlich nach Scheveningen. O der Blick, mit dem sie mich maßen, als ich ihnen sagte, daß ich zunächst nur nach Wörlitz wollte! Und mit solchen Leuten kommt man bei Berliner Diners zusammen, dachten sie. Ich auch.

In Güterglück – wie sich nur der seltsame, freundliche Name erklären mag? – mußte ich über eine Stunde auf den Magdeburg-Leipziger Zug warten, der mich nach Dessau bringen sollte, und das war keine verlorene Zeit. Denn ich bin dadurch zu zwei stillbehaglichen Tagen in einer hübschen alten Stadt gekommen, an der ich sonst gewiß, gleich den meisten, vorbeigefahren wäre. Das aber kam so.

Als ich in der Bahnhofswirtschaft mein Bier trank, tat neben mir ein dicker alter Mann das gleiche; jeder Zoll ein Schlächtermeister, dachte ich im stillen, und richtig fragte er die Wirtin, ob sie Brägenwurst gebrauchen könne, »echte Zerbster Brägenwurst mit Zwiebeln«. Sie lehnte ab, und das verdroß ihn. »Den Magdeburgern, den Leipzigern«, sagte er mir, »läuft das Wasser im Mund zusammen, wenn sie von Zerbster Brägenwurst hören, und in Güterglück mag man sie nicht! Was soll man dazu sagen?!« Da ich auch nicht wußte, was man dazu sagen sollte, so schwieg ich. »Haben Sie schon unsere Wurst gegessen?« fragte er weiter. »Ich erinnere mich nicht«, sagte ich schüchtern. »Die Wurst vergißt man nicht!« rief er. »Schon wegen der Zwiebeln. Dann haben Sie vielleicht gar auch noch kein Zerbster Bitterbier getrunken?« Ich schüttelte den Kopf. »Sie kennen ja die besten Sachen nicht«, sagte er mitleidig, »fahren Sie nach Zerbst und tun Sie sich's an! Die schönste Stadt! Und morgen ist auch Königs-Vogelschießen auf der Schützenwiese.« – »Was gibt's denn sonst dort zu sehen?« – »Ein Kriegerdenkmal haben wir und die Butterjungfer aus Gold und eine Pferdebahn und alte Sachen. Und dann ist ja doch von uns die große Kathrin her, die sich dann mit mindestens dreißig Männern nacheinander hat trauen lassen. Im Schloß sind Bilder von ihr und ihre Wiege und so Zeugs.« – »Welche Kathrin?« Aber da fiel's mir bei: richtig, Katharina II. war ja eine Prinzeß von Anhalt-Zerbst! Brägenwurst und Bitterbier, Vogelschießen, Pferdebahn und Kriegerdenkmal hätten mich kalt gelassen, und was die goldene Butterjungfer sein sollte, wußte ich nicht, aber die Andenken an die große Kaiserin lockten mich, und um keinen Preis hätte ich den eifrigen und ohnehin gekränkten Lokalpatrioten darüber aufklären mögen, daß es zwar mit den mindestens dreißig Männern seine Richtigkeit hatte, aber mit den Trauungen nicht. Noch ein Blick in den Baedeker, und als ich dort las: »... noch von Mauern, Türmen und Graben umgeben«, da sagte ich: »Ich will hin.« Der Schlächtermeister lächelte mit Mund und Backen und allen vier Unterkinnen. »So ist's recht! Ich selbst muß nach Magdeburg, aber meine Würste treffen Sie überall!... Was sind Sie denn?« – »Schriftsteller.« – »Also beim Gericht«, sagte er (er hatte offenbar von Schriftsätzen gehört). »Dann gehen Sie zu Schulzen gegenüber der Nikolaikirche, hinter dem Rathaus.« Ihm pfiff sein Zug nach Magdeburg, ich aber stieg eine halbe Stunde später in Zerbst aus.

Die Wahrheit zu sagen, der Anfang war nicht ermutigend. Außer mir stieg niemand aus, und als ich aus dem Bahnhof trat, lag in der prallen Sonnenglut ein von grünen Büschen umrahmter kleiner Platz vor mir; in der Ferne tauchten hinter dem Buschwerk Häuser auf, und etwas näher, in einer Ecke des Platzes, stand ein kleiner Pferdebahnwagen mit einem Roß davor, das melancholisch in der grausamen Hitze Schwanz und Ohren hängen ließ. Aber ein Kutscher war weit und breit nicht zu sehen. Minute um Minute verstrich, rings kein Laut, nur heiße, brütende Stille. Das war ja nun allerdings eine Sehenswürdigkeit, diese Pferdebahn.

Aber dann kam Leben in die Sache. Aus der Bahnhofswirtschaft trat der Kutscher, wischte sich den Mund und fragte: »Machen Sie vielleicht mit hinein? Dann geht's los!« Er schaffte mein Gepäck in den Wagen, und nun ging's wirklich los, aber sachte; ohne jede Übereilung rollten wir der Stadt zu. Zunächst breite, gerade Straßen mit kleinen, modernen, freundlichen Villenhäusern; dann jenseit eines kleinen Brückleins, unter dem ein Bächlein dahinschlich, eine hohe, graue Mauer. Aber sieh – jählings, als wär's nicht mehr dieselbe Stadt, rücken nun die Häuser enger zusammen, daß das Wägelchen fast den ganzen kleinen Raum zwischen den Bürgersteigen einnimmt, und diese Häuser sind alte heimelige Giebelhäuser, und die Leute rechts und links bleiben stehen und gucken neugierig den Fremden an. Nun gar ein Prachtstück: ein uralter, riesiger, freistehender Glockenturm, dann immer stattlichere Häuser aus dem 16., höchstens 17. Jahrhundert. Endlich aber als Schönstes der Marktplatz: das prächtige, dreigiebelige Rathaus mit der Rolandsäule davor, aber auch sonst fast jedes Haus mit einem Wahrzeichen geschmückt und selbst ein stattliches, wohlerhaltenes Wahrzeichen deutscher Baukunst. »Ja«, sagte der Kutscher stolz, »unser Markt!« Dann begann er sachte mein Gepäck auf das glühende Pflaster abzuladen; flachshaarige Buben und Mädel schlichen neugierig herbei; einige von ihnen teilten sich in mein Gepäck, und hinter ihnen her wandelte ich langsam über den schönen Platz meinem Gasthof zu. Es lohnt sich zuweilen, dachte ich im stillen, wenn man unterwegs mit alten Schlächtermeistern redet; aber warum bedurfte es erst dieses Zufalls? Seltsam, diese Stadt und dieser Verkehr!

Das war gestern mittag mein erster Eindruck, und heute nachmittags wo ich aus meiner kühlen Stube in dem wohnlichen alten Hause den schönen Platz nochmals übersehe und mich all des Behaglichen und Sehenswerten erinnere, das mir dieser Aufenthalt gebracht hat, kann ich auch nur ähnliches sagen. Ich weiß ja nun: es gibt in Zerbst große Pferde- und andere Märkte, und im Frühling und Herbst kommen die Herren Kommis mit den neuen Mustern und den alten Anekdoten, auch sollen sich die Guts- und Fabrikbesitzer der Nachbarschaft hier oft gütlich tun. Und nicht immer ist's so heiß, daß zur Pferdebahn der Kutscher fehlt. Kurz, ich will meine Erfahrung nicht verallgemeinern, aber warum kommen so wenige nur ihres Pläsiers wegen?

Ja warum? Zerbst ist kein blendendes, bewunderungswürdiges Schaustück, aber in seiner stillen Art ein guter, alter, anheimelnder Raritätenkasten, und auch derlei hat sonst viele Freunde. Hier fehlen sie, weil – aber das weiß ich eben nicht. Freilich, die Notiz im Baedeker ist knapp, und die Stadt hat es noch zu keinem eigenen Führerchen samt Stadtplan gebracht, deren es sonst heute in jedem Nest gibt, aber daran allein kann es nicht liegen. Ich glaube, es ist eben Schicksalssache mit den Städten wie mit den Büchern. Der Ruhm ist nie unverdient, wohl aber zuweilen die Verschollenheit. Was besprochen wird, kennt man, und was man kennt, wird besprochen, und wie sich Erfolg und Reklame verketten, hat noch niemand ergrübelt. Deshalb leben sie doch in der Stille fort, die guten Bücher und die guten Städte.

Und Zerbst lebt sogar behaglich. Das konnte ich schon an dem Mittagessen im Gasthof erkennen. Selbst die großen internationalen Hotels sind immer, wenn auch nur dem schärferen Auge erkennbar, vom genius loci beeinflußt, und nun erst der Gasthof einer Mittelstadt, wo die Honoratioren verkehren, die es dort besser finden wollen als zu Hause. Das Essen war menschenwürdiger als zumeist in diesen Gegenden. Denn in Mitteldeutschland ißt man am schlechtesten. »Wir sind eben keine Schlemmer«, sagte mir vor vielen Jahren ein reicher Leipziger Verleger, als er mich mit einem mir unvergeßlich gebliebenen Kalbsbraten bewirtete, »im Herzen Deutschlands denkt man lieber an ideale Interessen.« Aber ich glaube, das war mehr eine Erklärung für diesen besonderen Kalbsbraten als für die Erscheinung im allgemeinen. Ich wenigstens werde beim Essen ungern durch zähes Fleisch und fades Gemüse an ideale Interessen erinnert und fand es löblich, daß mir dies hier erspart blieb.

Dann aber dachte ich an diese Interessen, und auch hier war, wie in jeder fremden Stadt, mein erster Gang in den Buchladen, mir einen Spezialführer zu kaufen. Ich tue dies immer, nicht bloß in den seltenen Fällen, wo ich über meine Reise zu schreiben vorhabe, und kann dies jedem raten, der rechte Freude am Fremden gewinnen will. Die Baedeker sind in allem Praktischen die besten Reiseführer der Welt, mit größtem Geschick dem Bedürfnis des Durchschnittsmenschen angepaßt, darum eben auch im Detail knapp. Und doch gibt erst das Detail Farbe und Leben, und erst das Wissen gibt rechte Liebe. Nun, hier gab's kein solches Büchlein. Und einen Stadtplan nur in Folio. Da ging ich denn selbständig drauflos. Selbständig, einsam, aber nicht alleine. Denn die drei Buben, die mir mein Gepäck in den Gasthof getragen hatten, Hänschen, Ernstchen und Fritzchen, waren plötzlich wieder da und folgten mir auf drei Schritte Entfernung, verlegen die Rotznäschen senkend, wenn ich umblickte, aber beharrlich.

Zunächst zum Schloß. Über den stillen Markt, dessen alte graue Giebelhäuser mit den geschlossenen, verhangenen Fenstern im grellen Sonnenschein wie in Schlaf gebannt lagen, dann die enge kühle Gasse, die Alte Brücke entlang, durch die ich vom Bahnhof hergekommen war, bis zu dem Glockenturm. Schwer und massig ragt der graue Riese in die Luft, fast die Gasse sperrend; der abgebröckelte Anstrich läßt gewaltige, roh behauene Steinblöcke sehen; so fügten sie bis ins 12. Jahrhundert hinein die klotzigen Türme; bemerkenswert scheint mir die in Norddeutschland seltene Ablösung vom Hauptbau. Dieser Bau, die Bartholomäikirche, ursprünglich natürlich gleich dem Turm romanisch, ist offenbar seither so vielfach umgestaltet worden, daß er heute von außen einen seltsam buntscheckigen Eindruck macht. Ich wollte das Innere besehen und kommandierte meine Leibgarde, den Küster zu holen.

Hänschen und Ernstchen stürzten ab, aber Fritzchen blieb. Er war weitaus der hübscheste von den Jungen, für seine neun Jahre auffallend schlank und stark, das freilich ungewaschene Gesicht von kühnem, edlem Schnitt. Ich strich ihm das feine Haar aus der Stirn. »Sag mal, Fritzchen, wer ist denn dein Vater?« Da wurde der Knabe blutrot, und die blauen Augen füllten sich mit Tränen. »Mutter sagt's nicht«, stammelte er. Mein Trostwort und ein Trostgroschen machten es nicht gut. Als ich mich einen Augenblick abwandte, war Fritzchen verschwunden und kam nicht wieder. Mein Lebtage will ich kein Kind mehr nach seinem Vater fragen, mindestens gewiß nicht ein auffallend schönes Kind.

Die beiden anderen aber kamen mit einer Magd zurück, die ein behaglich einfältiges Gesicht hatte und einen großen Schlüssel in der Hand trug. Der Küster sei nicht zu Hause, meldete sie, auch sei drinnen nichts Rechtes zu sehen. »Nun, Bilder werden doch da sein«, meinte ich, »auch möchte ich den Bau sehen.« – »Es sind ja aber nur so ganz alte Bilder, und gebaut ist alles von Stein!« Ich mußte laut auflachen; verdutzt sah mich die Gute an und lachte dann mit. »Aber Sie haben da doch einen Schlüssel?« fragte ich weiter. »Der ist ja zum Turm«, sagte sie eifrig, »da werden wir jetzt gleich hinaufsteigen!« – »Ich nicht! Bei dieser Hitze!« – »Aber oben sieht man ganz Zerbst und sieben Dörfer!« Ich blieb hart. Da spielte sie ihren stärksten Trumpf aus. »Mein guter Herr«, sagte sie mahnend, »da ist schon einmal der frühere Herr Kreisdirektor hinaufgestiegen!« Aber selbst dies Beispiel rührte mich nicht, und ich wanderte weiter, nach der Schloßfreiheit.

Ein unregelmäßiger Platz, in den die neuerbaute Schloßwache störend hineinschneidet; auch von den älteren Häusern einige nüchtern – und doch, läge dieser Platz nicht in Zerbst, wie oft wäre er schon gemalt und nun gar photographiert! Denn hier stehen auch einige Bauten im reichsten französischen Barock, wie man sie schöner, ja nur gleich schön selten finden wird. Namentlich zwei kleine einstöckige Palais dicht am Park sind geradezu entzückend, von den schönsten, zierlichsten Verhältnissen; und alles, alles, vom First bis zur Schmucklinie des Erdgeschosses, und Fenster und Fenstergitter und Türen und Schlösser und nun gar die Friese und Kartuschen von demselben Geist feiner, fröhlicher, überquellender Üppigkeit erfüllt. So um 1700 mögen sie erbaut worden sein, von wem weiß ich nicht, aber für wen wag ich zu erraten: das Schloß liegt ja dicht daneben; dort hauste Serenissimus mit Serenissima, hier aber seine Herrin – warum sollten wir immer Mätresse sagen? Ein schweres, blondes Edelfräulein des eigenen Landes oder eine kleine, pikante, braunäugige Französin oder eine italienische Sängerin mit schwarzen Glutaugen. Aber es sind ja zwei solcher Häuser, wird man mir einwenden. Oh, das stößt meine Hypothese noch lange nicht um; die Zerbster Fürsten waren sehr, sehr lustige Herren...

Nun zum Schloß. Ein stolzer Bau, dem Mitteltrakt schließen sich rechtwinklig zwei langgestreckte Flügel an, so daß der Schloßhof ein nur nach dem Park offenes Rechteck bildet. Gleichfalls Barock, aber mit stärkerer Betonung antikisierender Formen als an den Schmuckstücken der Schloßfreiheit; stammt das Schloß von demselben Meister wie diese, so war er für die kleinere Aufgabe begabter. Immerhin ein stattlicher Bau; wir haben in Deutschland schönere Schlösser aus derselben Zeit, aber kaum eines, das imponierender wirkte. Wenigstens auf mich übte es diesen Eindruck, wie es so plötzlich in der Stille und Öde des verwilderten Gartens vor mir stand. Ich setzte mich auf eine Bank am Rand des Parks und schaute hin und schaute. Mir wurde ganz märchenhaft zumut... Das verwunschene Schloß; kein Laut, keine Spur der Menschen; nur die Mücken zirpen im Grase, und um den Turm kreist langsam eine Schwalbe in der heißen, schweren Luft... Hin und wieder blitzt es in einer Ecke des Schloßhofs, die Sonne spiegelt sich in etwas Glänzendem, das kommt und geht, was mag das sein?... Aber nun ist's verschwunden, und auch die Schwalbe sehe ich nicht mehr, und alles ist stumm und schläft und träumt, das stolze Schloß und all die Menschen, die darin hausen, und ich selbst träume... Von fern klingt der Schlag einer Turmuhr herüber und ertrinkt in der Stille; ich zähle: drei Uhr – die Schloßuhr aber weist auf zwölf. Mittag war's, da einst der Zauber gesprochen ward und alles in Schlummer verfiel: Serenissimus, der sich eben nach dem Dejeuner zum Gang in das kleine lustige Palais rüstete, und Serenissima, die sich die Schminke neu auflegen ließ, und der Erbprinz, als er im Schweiß seines Angesichts die »Phädra« übersetzte, und der Kammerjunker, als er das Hoffräulein auf das Schminkpflästerchen der linken Schulter küßte, und der Hofprediger über der Postille, der Gardist in der Wachstube, der Koch am Bratofen und die Lakaien jeder am Platze, wo sie sich gähnend herumgedrückt hatten. Ist aber die Zeit um und der Zauber gebrochen, dann geht Serenissimus quer über den Rasenplatz zu seiner Holden, und Serenissima blickt ihm seufzend nach oder läßt vielleicht im Gegenteil den hübschen Abenteurer, der jüngst aus Paris an den Hof gekommen ist, seine Fortune zu machen, zur Audienz befehlen, und das Leben rollt weiter, das lustige üppige Leben eines kleinen deutschen Hofes um 1700...

»O du Ochse!« Ich fuhr empor. Zehn Schritte hinter mir vertrieben sich Hänschen und Ernstchen die Zeit mit Balgen und landesüblichen Kosenamen. Da war ich wieder ganz wach. Nein, dacht ich, sie schlafen nicht, sie sind tot, ganz tot, und das ist gut. Denn ihr lustiges, üppiges Leben war doch mit zuviel Blut und Tränen ihrer Untertanen bezahlt. Nun aber wollen wir sehen, wie sie gehaust und wie sie ausgeschaut haben. Ich stand auf und ging dem Schlosse zu.

Nun sah ich auch, woher das Blinken rührte, das vorhin gekommen und gegangen war: von der Pickelhaube des Soldaten, der hier Wache hielt. Es war der einzige Mensch auf dem Schloßhof, auch alle Fenster und Türen geschlossen. Einen Wachtposten darf man nicht ansprechen, und er darf nicht antworten, aber laut mit sich selbst reden darf der Mensch, und mit den Augen winken darf der Soldat. Und so sagte ich sehr vernehmlich vor mich hin: »Wo soll ich nun den Kastellan suchen?«, und der brave Anhaltiner lächelte und wies mit den Augen nach dem linken Flügel. Dort traf ich den Mann.

Der Kastellan – aber es schickt sich und ist im vorliegenden Falle wirklich das einzig Richtige, wenn ich »der Herr Kastellan« sage, denn in diesem Manne ist viel Wissen und Würde – hat sich redliche Mühe mit mir gegeben und mich lange, sehr lange treppauf, treppab von Saal zu Saal geführt und dabei unablässig auf mich los erklärt; freilich, allzuviel Besuch hat er ja nicht, und was man auswendig gelernt hat, will man doch auch gern mal aufsagen. Die Mühe war auch nicht vertan, es hat mich fast alles interessiert, nur war ich in vielem anderer Meinung als er. Mehr als manche andere abgedankte Residenz macht dies Schloß den Eindruck eines kalten, verstäubten Raritätenmuseums, nicht eines Hauses, durch das lange volles warmes Leben pulsierte, dessen Hauch man auch heute noch empfinden muß. War doch auch seine Glanzzeit kürzer als seine Bauzeit; 1681 begonnen, wurde es erst 1750, also nach 69 Jahren, vollendet – warum es so lange währte, von welchem Baumeister der Plan herrührt, konnte mir der Herr Kastellan nicht sagen: »Dieses ist nicht aufgeschrieben« –, und dann blieb es nur noch 43 Jahre bewohnt, schon 1793 starb der Mannesstamm der Zerbster Linie aus. Vier Jahre später kamen Schloß und Stadt in den Dessauer Zweig; die Herzoge von Anhalt kamen und kommen selten. Kein Wunder, in dieser ewig langen Reihe von Prunksälen, durch kein Kabinett, keinen mittelgroßen Wohnraum unterbrochen, muß sich's unbehaglich hausen lassen. Dagegen nützen die kostbarsten Möbel im Geschmack Louis' XV., die kuriosesten Spielwerke, Rokoko-Nippes und eingelegten Schränke, die teuersten Teppiche und Gobelins nichts, auch wenn sie sämtlich sehr hübsch wären, was man nicht sagen kann. Die Zerbster Herren haben sich's bei der Einrichtung mehr Geld als Geschmack kosten lassen; jeder, wie er kann. Dem Herrn Kastellan, oder richtiger, dem Verfasser der von ihm vorgetragenen Erklärung, ist freilich alles herrlich und vieles unvergleichlich; ich hütete mich gestern wohl, zu widersprechen; heute aber möchte ich sagen: Wer sich für derlei Dinge interessiert, wird schon deshalb den Besuch in Zerbst lohnend finden; handelt es sich doch um eine Zeit, wo fast jedes kunstgewerbliche Erzeugnis ein Unikum war. Und man findet solche Unika anderswo nicht kostbarer, wenn auch geschmackvoller. Die Zerbster haben ihr Schloß eingerichtet wie heute nur noch ein ganz rüder Parvenü seine Wohnung; sie rafften das Teuerste von dem zusammen, was zu ihrer Zeit erzeugt wurde. Kein Stück aus dem Mittelalter, kaum eines aus dem 16. Jahrhundert. Nirgendwo eine Statue, eine Landschaft, eine Historie; die Bilder fast nur Familienporträts aus dem 17. und 18. Jahrhundert und fast sämtlich von recht geringem Kunstwert.

Gleichwohl haben mich diese Porträts noch mehr interessiert als die Einrichtung; es sind die Zerbster Herren von dem Begründer der Linie, Rudolf (1603), bis zu dem letzten Fürsten, Friedrich August; nicht ganz zwei Jahrhunderte hat die Linie geblüht, was man so blühen nennt... Nicht um ihrer selbst willen interessierten sie mich samt ihren Ehehälften, sondern ihres größten Sprossen wegen, Katharina II. Sie ist in jeder Hinsicht ein Phänomen, auch in psychologischer und physiologischer. Als sechzehnjähriges Kind aus der Puppenstube zur Gattin des unheimlichen Erben eines Riesenreichs erwählt, wird sie unter Verhältnissen, die auch die stärkste Natur hätten brechen können, einzig durch ihren Willen und ihr Genie in jungen Jahren die Alleinherrscherin, ja das Schicksal dieses größten Staates der Erde, die genialste Fürstin und das verderbteste Weib ihrer, vielleicht aller Zeiten. Nur die Meteore fallen vom Himmel; die Menschen aber entwickeln nur die Keime, die in sie gelegt sind – woher hatte sie dies alles, die riesigen Vorzüge und die gigantischen Laster? Um darauf vielleicht eine Antwort zu finden, war ich schon vor langen Jahren, noch in Wien, durch ein Gespräch mit Billroth angeregt, der Geschichte der Zerbster ein wenig nachgegangen. Man weiß – denn es ist seither auch durch seine Briefe bekannt geworden –, der große Chirurg war ein leidenschaftlicher Verfechter des Axioms: »Auch in die Geistesaristokratie kommt man nur durch Vererbung hinein.« Es klang plausibel, aber ich konnte doch nicht beistimmen; der Ausnahmen schienen mir gar zu viele; unter anderen hielt ich ihm Katharina II. vor. Sie war gewiß die größte Geistesaristokratin ihrer Zeit – woher hatte sie es nun? »Suchen Sie nur«, meinte er, »es muß auch da zu finden sein.« Ich fand es nicht; weder Vater noch Mutter bedeutende Menschen; der ganze Zweig schwächlich; auch geistig, wie ihrem Ländchen nach, richtige Duodezfürsten. Während der Hauptzweig eine Prachtgestalt wie den Alten Dessauer, einen feinen Kopf wie den Freund der Dichter und Denker seiner Zeit, den Fürsten Franz, aufzuweisen hat, ist der relativ bedeutendste Mann dieser Nebenlinie nur eben der Vater Katharinas II., Christian August, denn er war doch preußischer Generalmajor und tat zum mindesten seinen Gamaschendienst; die anderen taten überhaupt nichts. Nein, von ihren Vorfahren hat die große Kaiserin ihr Genie nicht geerbt; das fand ich auch durch diese Porträtreihe bestätigt. Aber wie ich so die Herren in gesticktem Rock und Allongeperücke – nur Christian August trägt den Küraß –, die Damen im Reifrock und mit gepudertem Haar musterte, da ward mir klar, daß Katharina doch allerdings etwas von ihnen geerbt hat, den Keim zum Laster. Von dem Begründer bis zum letzten tragen sie sämtlich im Antlitz alle Zeichen ungebändigter Sinnlichkeit, welche die Physiognomik verzeichnet: die halbgeöffneten starken Lippen, die geblähten Nüstern, das weiche, unenergische Kinn, das für die Zerbster so charakteristisch ist wie für die Wettinerin ihrer glorreichen Zeit das vorspringende harte Keilkinn. Freilich trieben's die Zerbster vielleicht nur ein wenig schlimmer als die anderen Fürsten ihrer Zeit; ins Ungeheuerliche wächst sich auch dieser Zug erst in Katharina aus.

Natürlich interessierten mich ihre Porträts am meisten. Es sind deren zwei hier. Ein Jugendbildnis, wohl noch aus der Stettiner Zeit, etwa im Alter, da sie urplötzlich auf Veranlassung Friedrich des Großen die Braut des Mannes wurde, den sie siebzehn Jahre später morden ließ; ein hübsches, fröhliches Backfischchen, im Antlitz freilich auch, nur das Kinn abgerechnet, jene Zeichen ihres Geschlechts; alles, auch Stirne und Nase, dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. »Nett, aber ein Racker«, könnte man den Eindruck trivial, aber bezeichnend zusammenfassen. Das andere ein Bild aus ihren alten Tagen, wenige Jahre vor jenem Novembertag von 1796, da sie jählings dahinschied, trotz ihrer 67 Jahre noch nicht einmal der Liebe satt, geschweige denn des Herrschens. Sichtlich ein überaus und zudem ungeschickt geschmeicheltes Bild; die Unförmlichkeit der Gestalt, die Unheimlichkeit der durchwühlten Züge, von denen die Zeitgenossen berichten, sind fast verwischt, aber ebenso der Ausdruck geistiger Größe, den sie ehrfurchtsvoll verzeichnen.

Sonst hält ihr Andenken hier nur die Wiege fest, in die sie 1729 zu Stettin gelegt wurde; eine schmucklose Wiege aus schwarzlackiertem Holz; der Herr Generalmajor waren damals recht knapp gestellt... Aber der Schlächter in Güterglück hatte mir ja außer der Wiege »so Zeugs« versprochen. Diese anderen Andenken an die Kaiserin, belehrte mich der Herr Kastellan, seien im städtischen Museum zu finden.

Schon wollte ich aufbrechen, in dem angenehmen Bewußtsein, mir durch mein andächtiges Zuhören und die Unterlassung vorwitziger Fragen nach dem, was »nicht aufgeschrieben« war, das Wohlwollen des würdevollen Mannes erworben zu haben, als er mich noch zurückhielt, mir seine schönste Geschichte zu erzählen, und dabei hätte ich es fast mit ihm verdorben. Ich hatte schon vorher fünf Porträts gesehen: Friedrich August, den letzten Zerbster, ein dürftiges, verlebtes Männchen, das gar nichts mehr fertig brachte, nicht einmal die Fortdauer seines Geschlechts; seine Mutter, eine alte Frau mit auffallend harten, ja megärenhaften Zügen; zwei Bilder seiner ersten Gemahlin, einer hübschen sanften Dame, und zwar ein Jugendbildnis in einem rosa Kleide und ein späteres, das sie als noch jugendliche, aber gereiftere Schönheit in einem graugrünen Kleide zeigt, endlich ein Porträt seiner zweiten Gemahlin, die ihn lange überlebt hat. »Denn«, sagte der Herr Kastellan, »mit Friedrich August ist es nämlich so, daß seine erste Frau vor ihm starb und die zweite nach ihm.« Und dann erzählte er mir, die Fürstin-Mutter habe die erste Frau durch das rosa Kleid vergiftet: »Es war ein in Paris angefertigtes Giftkleid, dessen sich diese böse Schwiegermutter, indem sie es ihr nämlich schenkte, bediente, und dieses rosa Giftkleid sehen Sie hier abgemalt.« – »Herr Kastellan«, sagte ich bescheiden, aber fest, »das kann ich nicht glauben.« Er runzelte finster die Stirne. »Ich glaube«, fuhr ich begütigend fort, »daß die erste Frau vor ihm gestorben ist und die zweite nach ihm. Ich glaube auch, daß die böse Schwiegermutter die erste Frau vergiftet hat, aber nicht durch das rosa Kleid. Denn sonst hätte sich ja die Unglückliche nicht mehrere Jahre später im grünen Kleide malen lassen können. Ein so langsam wirkendes Gift gibt es ja nicht einmal in Paris!« Er schüttelte grollend das Haupt. »Dieses ist aufgeschrieben.« – »Dann will ich glauben«, gab ich noch weiter nach, »daß die Ärmste wirklich durch irgendein rosa Giftkleid gestorben ist, aber es war dann nicht dasselbe rosa Kleid, in dem sie gemalt ist.« – »Es war dasselbe«, sagte er wuchtig. »Dieses ist aufgeschrieben.« – »So will ich denn alles glauben«, beteuerte ich, aber sein Antlitz erhellte sich erst beim Händedruck, mit dem ich von ihm Abschied nahm.

Vom Schloß ging ich wieder zum Markt zurück; das städtische Museum ist im Rathaus. Leider war es geschlossen; ich habe es nicht gesehen. Sonst ein leichtfertiger Mensch, der lange nicht allen Sternen des Reisebuchs nachläuft und immer im stillen die armen Reisekulis bemitleidet, die unter dem Zwang ihrer Halb- oder Viertelbildungspflichten von einer Sehenswürdigkeit zur anderen keuchen, bedaure ich doch diesen Entgang wirklich. Schon um der Notiz willen, die der sonst bezüglich Zerbst so schweigsame Baedeker darüber gibt. Alte Drucke sind mir eine Freude; hier hätte ich ein Prachtstück sehen können: eine von Hans Lufft 1541 auf Pergament gedruckte Bibel, deren Holzschnitte kein Geringerer als Lucas Cranach der Jüngere ausgemalt hat. Noch lieber blättere ich in der vergilbten Handschrift einer Stadtchronik; hier ist eine Zerbster Chronik von 1451. Am allerliebsten aber sind mir schöne Autographen, deren hier gleichfalls aufbewahrt werden, namentlich von Humanisten und Reformatoren; ich habe, obwohl nur ein deutscher Schriftsteller, selbst manches hübsche Stück dieser Art im Kasten; darum kann ich ihrer nicht genug sehen, und – um mein schwarzes Herz ganz zu enthüllen – mit ungetrübter Freude sehe ich sie nur in öffentlichen Sammlungen an. Denn alle Sammlerei verdirbt den Charakter. Ich bin nicht ganz so schlimm wie ein verstorbener König unserer stillen Zunft, der sonst so weiche, romantische General von Radowitz, der in einem launigen Brief schreibt, er bemerke mit Vergnügen, daß sich sein Sammelgenosse X immer mehr dem stillen Suff ergebe; das lasse auf ein baldiges Delirium tremens und eine fröhliche Auktion der Sammlung hoffen. Nein, so schlimm bin ich nicht, aber schöne Briefe von Luther und Melanchthon sehe ich lieber in einem Museum an als bei einem reichen Banausen, der sie nicht einmal flüssig lesen kann.

Indes, auch ohne Baedeker hätte ich mir sagen können, daß diese Sammlung sicherlich das meiste enthält, was an derlei liebem, verstaubtem Kram überhaupt noch in der uralten Stadt zu finden war, daß sie sorglich behütet und musterhaft verwaltet wird. Denn sie ist der Stolz aller, und was mir begegnete, als ich mich um den Zutritt mühte, verdient erzählt zu werden, weil ich meine, man kann es nicht in vielen deutschen Städten erleben. Als ich betrübt vor der verschlossenen Türe im Korridor des Rathauses stand, kam ein Schutzmann vorbei und belehrte mich aus freien Stücken, die Sammlung sei nur wochentags 9–12 zu sehen. »Also kommen Sie übermorgen, Montag, wieder. Aber ganz gewiß! Es sind so schöne Sachen drin!« Das könnte ich leider nicht, erwiderte ich, ich müßte schon morgen abend fort. »Oh«, sagte er, »das wäre ja jammerschade, da muß es Ihnen noch heute gezeigt werden. Kommen Sie mit auf die Polizeistube; vielleicht wissen die Kameraden Rat.« Er führte mich auf die Stube, die gleichfalls im Rathaus liegt, und trat mit den drei Wachleuten, die dort saßen, zu einem Kriegsrat zusammen. Darüber waren alle einig: »Das muß der Herr sehen!« – aber wie? Die einen rieten mir, den Archivar in seiner Wohnung aufzusuchen, »es wird ihm gewiß nur eine Freude sein, mit Ihnen wieder herzukommen«; die andern schlugen vor, beim Herrn Stadtrat anzufragen, ob er nicht vielleicht auch einen Schlüssel habe. Er hatte keinen, ermunterte mich aber auf das liebenswürdigste, den Archivar darum zu ersuchen. Auch gab er mir einen Schutzmann mit, der mir den Weg erklären sollte. Und dies alles, ohne daß ich meinen Stand und Namen genannt hätte! Aber was nun kommt, ist das hübscheste. Als mir der Schutzmann an der nächsten Straßenecke den Weg zum Archivar zeigte, kam ein ältlicher Mann vorbei, eine Gemüsebutte auf dem Rücken, blieb stehen und erbot sich dann, mich hinzuführen; es sei für ihn nur ein kleiner Umweg. Ich nahm zögernd an; bei der Hitze, die Butte auf dem Rücken, sei schon dies eine große Mühe. »Tut nichts«, erwiderte er. »Als Fremder geht man ja wie ein verlaufenes Schaf durch die Stadt, sieht und hört nichts, das weiß ich, ich war schon selbst in Magdeburg. Dort habe ich freilich nichts dabei verloren, aber unser Zerbst ist ja die schönste und älteste Stadt weit und breit.« Er war ein Gemüsebauer vom Ankuhn, wie das Stadtviertel der Gärtner heißt, und muß wohl tatsächlich wiederholt im Museum gewesen sein, denn er wußte annähernd Bescheid, natürlich in seiner Art; er sprach von der »luftigen Bibel«, der »schönsten der Welt«, und ließ seinen seligen Mitbürger Peter Becker die Stadtchronik bereits »vor zweitausend Jahren« abgefaßt haben. Über Katharina II. äußerte er sich leider mit einer Anspielung auf die beiden großen Kasernen der Stadt in höchst despektierlicher Weise. »Was geht sie uns an?! Zerbst hat einmal eine große Insel im Meer gehabt, die hat sie verkauft!« Seltsam, so lebt im Volk die Tatsache fort, daß die Zerbster Fürsten einst auch durch Erbschaft die Herrschaft Jever besaßen, die dann als Kunkellehen an Katharina fiel; freilich hat nicht sie, sondern erst Alexander I. das Ländchen (ich glaube an Holland) verhandelt. Um so wärmer sprach der Mann von seiner Vaterstadt. »Wir können uns vor jedem sehen lassen, und gar mit den Dessauern nehmen wir's noch lange auf! Und die haben doch den Hof und die reichen Leute, und wir stehen im Winkel!« Überhaupt klang der eifersüchtige Groll gegen Dessau in den Reden aller Zerbster, die ich sprach, deutlich durch; vor mehr als hundert Jahren hat die ältere Residenz zugunsten der jüngeren abdanken müssen, und noch ist's unvergessen – oh, in Zerbst vergißt man überhaupt nicht. Als wir vor dem Wohnhaus des Archivars standen, faßte ich mir ein Herz und fragte den Mann, ob er nicht ein Glas Bier auf das Wohl seiner Stadt trinken wolle. Er lehnte entschieden, aber liebenswürdig ab. »Das geschieht schon auch, wenn ich's selbst bezahle. Nein, nicht deshalb habe ich's getan, sondern weil ich will, daß Sie wissen, was unser Zerbst ist. Der Herr Dr. Siebert ist ein Studierter, der kann Ihnen alles erklären.« Der Archivar war leider nicht zu Hause; ich mußte auf das Museum endgiltig verzichten... Aber wie merkwürdig ist dies alles! Man denke: einige Schutzleute und ein Gemüsebauer mit der Butte auf dem Rücken! Ist andern derlei schon oft in Deutschland begegnet? Mir hierzulande nicht, wohl aber in Italien, zum Beispiel ganz ähnliches in Ferrara.

Vielleicht ist dies kein Zufall; ein gewisser Parallelismus läßt sich ja in Geschick und Physiognomie beider Städte nachweisen. Hier wie dort ein riesiges, nun längst verödetes Residenzschloß; hier wie dort eine uralte Stadt, in der einem auf Schritt und Tritt die Spuren längst erblichenen höfischen Glanzes, wenn auch nun arg verstaubt, ins Auge fallen; hier wie dort eine leidenschaftliche, eifersüchtige Liebe zur ehrwürdigen Heimatstadt. Und hier wie dort hat diese starke Empfindung dieselben Wurzeln: im Gebildeten den bewußten, im Mann der Brägenwurst und des Gemüses den instinktiven Stolz auf eine uralte Kultur, gepaart mit der schmerzlichen, aber nicht abzuweisenden Erkenntnis, daß die Gegenwart leider nicht so schön ist wie die Vergangenheit oder doch mindestens gewiß nicht schön genug, um über ihr die Vergangenheit zu vergessen. Gewiß, für jeden Menschen, der diesen Namen verdient, ist die Heimatstadt mehr als ein Haufe Häuser, in dem er mit vielen anderen haust; er liebt sie, auch wenn es eine ganz junge Mittelstadt ist oder eine alte, nun aber mit ungeheurer Raschheit zur Riesin emporgewachsene Großstadt. Aber die Liebe ist eine andere, eine minder starke, als die in »verschollenen Fürstenstädten« ihren stillen, verklärenden Zauber übt. Schon aus einem äußeren Grunde: in solchen alten Städten, mögen sie nun zurückgehen oder stillstehen oder nur ganz langsam vorwärts kommen, ändert sich im Laufe eines Menschenlebens wenig oder nichts; der Blick des Greises sieht genau dieselben Türme, Mauern und Fassaden wie einst der des Knaben; wie anders spricht ein solches Stadtbild zum Gemüt seiner Bewohner, um wieviel inniger verwächst es mit ihrem eigenen tiefsten Leben als an Orten, wo alles neu ist und das Alte kaum noch zu erkennen! Es ist unmöglich, daß der Kattowitzer oder Oberhausener dasselbe für seine Heimatstadt empfindet wie der Zerbster, und dem Berliner oder Leipziger ist dies auch nicht möglich. Aber, wird man mir einwenden, Liebe zur Vaterstadt bedeutet doch nicht allein Pietät für ihre Vergangenheit; mindestens gleich schön oder noch schöner erweist sie sich im rüstigen Erschaffen einer besseren Zukunft, und neben der sentimentalen Liebe, die das Tote erhalten möchte, gibt es gottlob auch eine fröhliche, die neues Leben schafft. Ja, erwidere ich, gottlob, die gibt es. Wie aber, wo es mit dem Erschaffen des Neuen nur langsam vorwärts geht wie in Zerbst oder gar nicht wie in Ferrara? Da erschöpft sich eben die Sorge um die Zukunft in der Erhaltung der Vergangenheit; ist nicht viel neuer Glanz zu gewinnen, so soll doch der alte nicht verbleichen. Und inniger als die fröhliche ist die leidvolle Liebe, das gilt nicht bloß von der Liebe der Menschen zueinander, sondern auch von der zu ihrer Heimat. Wer dies recht erkennen will, gehe nach Städten wie Ferrara oder Zerbst; der Besuch wird ihn, und sei er noch so sehr für die »fröhliche Liebe«, nachdenklich stimmen und nicht schlechter noch oberflächlicher machen.

Indes, ich möchte den Vergleich zwischen der gewaltigen, verödenden Stadt am Po und unserem lieben, alten, engen Nest an der Nuthe nicht allzuweit ausspannen. Vieles stimmt, aber noch mehr stimmt nicht. Auch Zerbst war einst mehr als heute, durch lange, lange Jahrhunderte mehr als Berlin, aber so viel für Deutschland wie Ferrara für Italien war es niemals. Es ist eine uralte, wie der Name erweist, von den Wenden begründete Siedelung, schon im 10. Jahrhundert ansehnlich, im 12. gewiß bereits eine bedeutende Stadt. Es kam empor, weil ihm zunächst die beiden Mächte hold waren, die das Schicksal einer Stadt bestimmen: die günstige Lage inmitten einer fruchtbaren Ebene am Knotenpunkt wichtiger Straßenzüge und die Art seiner Beherrscher; diese ersten »edlen Herren von Zerbst« (aus Alsleben) hatten eine starke Hand. Aber wichtiger als die Lage ist die Tüchtigkeit der Fürsten; das hat Berlin zu seinem Besten erfahren und Zerbst zum Gegenteil. Solange über beide (über Zerbst seit 1307) Askanier herrschten, wenn auch aus verschiedenen Zweigen, blieb Berlin dürftig und Zerbst eine stattliche Stadt, die aber doch zu keiner solchen Entwickelung gedieh, wie ihre Anfänge hatten erwarten lassen; es war seit dem 14. Jahrhundert die Residenz eines Zweiges der anhaltinischen Askanier, wuchs langsam, wenn dieser Zweig seinen Besitz durch Erbschaft mehrte, kam ins Stocken, wenn er ihn durch Erbteilung zersplitterte. Ich möchte mich nicht in den unberechtigten Ruf besonderer Gelehrsamkeit in anhaltinischer Geschichte bringen; ich entnehme die Tatsachen einer kleinen Geschichte des Herzogtums, die ich mir gestern hier kaufte, um selbst einigermaßen orientiert zu sein. Der gutgesinnte Verfasser lobt alle Fürsten; immerhin scheinen nach dem, was er von ihnen anführt, diese älteren Zerbster von anderem Schlag gewesen zu sein als die jüngeren des 17. und 18. Jahrhunderts. Sie waren fromm, hielten Frieden und machten aus ihren Halb- und Ganzwenden Deutsche; erst 1316 wurde in Zerbst die wendische Sprache vor Gericht abgeschafft; aus Klosterschule und Kirche wurde sie erst weit später verbannt. Aber auch unter diesen tüchtigeren Zerbstern war keiner, der über das Mittelmaß an Charakter, Geist und Kraft hinausgereicht hätte. Ich mußte, während ich die ebenso trockene wie servile Geschichtssalbaderei überlas, immer nur an eines denken: Zerbst gehörte kirchlich zu Brandenburg; es hing im Lauf der Zeiten oft genug an einem Haar, daß es auch politisch dazu gehörte – wie hätte sich dann das Schicksal von Berlin und Zerbst gestaltet?! Dann hätten die starken Begründer der Hohenzollernschen Hausmacht an Zerbst gefunden, was sie so dringend brauchten und sich erst an Berlin schaffen mußten, eine größere, stattliche, wohlhabende, relativ kultivierte Stadt als Haupt- und Residenzstadt, dann wäre Zerbst mit den Zollern groß geworden, und dann hätte ich vielleicht meine erste Station auf meiner Flucht aus der qualmenden Riesenstadt an der Nuthe in dem kleinen Kölln an der Spree gemacht. Ich meine das nicht ganz im Ernst, aber doch auch nicht ganz im Spaß; es hätte sehr wohl so kommen können. Das werden nur diejenigen für lächerlich halten, die nicht begreifen, daß das Gewordene einst immer ein Werdendes war und daß ungeheure Schicksale der Städte und Staaten oft durch die winzigsten Fügungen entschieden worden sind.

Nun, Zerbst kam nicht an Brandenburg, und die Zerbster Fürsten waren keine Hohenzollern an Kraft und Kühnheit, und womöglich noch weniger glichen sie den Este, die Ferrara groß gemacht haben, auch im Reiche des Geistes. Daraus ist ihnen aber billigerweise kein Vorwurf zu machen, denn wohl gehört auch Talent zum Mäzenatentum, wie es die Este übten, aber ohne Dichter wie Tasso und Ariost hätte den Fürsten von Ferrara dies Talent nichts genützt. Zerbst hat im geistigen Leben des deutschen Volkes keine größere Rolle gespielt; es stand nur eben brav in Reih und Glied; die Reformation wirkte auch hier anregend, und im einstigen Augustinerkloster, das heute Hospital ist, hat auch Luther gepredigt; die Schulen waren immer tüchtig, aber meines Erinnerns ist kein bedeutenderer Dichtername mit dem dieser Stadt verknüpft, weder durch die Geburt noch durch das Schaffen, und sich Hofpoeten zu halten oder dann, als es wieder eine Literatur in Deutschland gab, mit den Großen des 18. Jahrhunderts Fühlung zu suchen wie der Dessauer Franz, kam den Christian August und Friedrich August nicht in den Sinn. Vom Hofe aber ging damals fast überall und nun erst hier überhaupt nahezu alles aus; darum wird wohl die Zeit von 1570–1586, wo Zerbst die Hauptstadt des ganzen, damals ungeteilten Anhalt war, auch seine Blütezeit gewesen sein. Man lebte vom Hofe oder vom Gemüsebau, von Brägenwurst und Bitterbier, und dann, als es keinen Hof mehr gab, von diesen allein, und gar so viel anders ist es auch heute nicht. Aber man lebte und lebt gut davon; die Stadt macht den Eindruck bescheidener Behäbigkeit. Daß Millionäre hier wohnen, bezweifle ich, aber Bettler habe ich nicht gesehen, und selbst in den ältesten und dürftigsten Vierteln ist alles sauber, was man wahrhaftig nicht oft sagen kann, auch von vielen deutschen Städten nicht, die in der Sonne des Erfolges stehen. Schon dies deutet auf eine gewisse Tüchtigkeit der Bewohner; es stimmt dazu, daß die Stadt jetzt wenigstens aufwärts klimmt. Von den mehr als 100 000 Einwohnern, die Ferrara unter den Este zählte, fehlt heute manches Tausend, ja manches Zehntausend; Zerbst aber wird, nach seinem Umfang zu schließen, einst auch in seinen berühmtesten Zeiten sicherlich nicht mehr Einwohner gehabt haben als 1895, wo es rund 17 000 Seelen zählte; jetzt sind's um etwa 1 000 mehr, die in rund 2 000 Häusern wohnen. (Ich entnehme diese Ziffern dem Zerbster Adreßbuch, dem einzigen zerbstischen Quellenwerk, das ich einsehen konnte. Merkwürdig aber bleibt mir unter diesen Umständen, daß ich in Zerbst keinen einzigen Neubau sah; freilich fand ich auch keine einzige leerstehende Wohnung angekündigt.) Das wären neun Köpfe aufs Haus, und mindestens die Hälfte der Häuser sind recht stattlich; man sieht, hier leben die Leute nicht zusammengepfercht, sondern hübsch geräumig. Nun ist aber noch obendrein in diese Seelen- und Häuserziffer die starke Garnison mit ihren beiden Kasernen inbegriffen; wie mag sich da erst in Wahrheit dies Verhältnis stellen! Freilich ist derlei bloß in sanitärer Beziehung erfreulich, und in der Tat können in Zerbst nur sieben Zivilärzte leben (wäre Brot für mehr, sie wären gewiß zur Stelle); materiell bedeutet es immer das Fehlen des Reichtums, der ja heutzutage ohne größere Betriebe und überfüllte Arbeiterhäuser in einer Stadt nicht mehr denkbar ist. Aber, sagt ich schon, auch die Armut fehlt. »Wir leben«, sagte mir ein wackerer Sattlermeister am Frauentorplatz, »vom Handwerk, von der Wurst, von dem Bier; unsere Gurken sind auf dreißig Meilen berühmt; von unseren Kartoffeln, lieber Herr, müßten Sie eigentlich auch schon gehört haben, und wenn die von Calbe nicht wären, so wären wir auch in Zwiebeln die Größten.« Auf die von Calbe war er darum fast ebenso schlecht zu sprechen wie auf die Dessauer, und als ich darüber erstaunt war, da ihn als Sattler doch die Zwiebeln nichts angingen, erwiderte er: »Aber unser Zerbst geht mich an; es ist doch wegen der Stadt!« Und dies lenkt mich auf den Punkt, wo die Tüchtigkeit der Zerbster am stärksten zutage tritt: ihren Gemeinsinn, ihre werktätige opferfreudige Pietät. Wie wahren diese Handwerker und Gemüsebauer die alten Zierden ihres Weichbildes, wie eifrig sind sie nach ihren bescheidenen Mitteln darauf aus, neuen Schmuck hinzuzufügen, und vor allem, wie pflegt hier jeder sein eigenes Haus. Derlei trifft man äußerst selten, auch auf hundert Meilen in der Runde nicht; das glaube man einem, der auf seinen Vortrags- und Erholungsreisen immerhin an die zweihundert deutsche Städte gesehen hat.

Schon ein so stattliches, schönes, prächtig erhaltenes Rathaus haben sehr wenige Klein- und Mittelstädte Deutschlands. Wie eine rechte deutsche Bürgerburg, wie ein Wahrzeichen, daß diese Stadt, vom Schicksal an Stillstand und Niederlage eines schwächlichen Fürstengeschlechts gekettet, immer auch eigene Kraft besaß, blinkt es dem Beschauer entgegen, gewaltig hoch und tief und gewaltig breit, eine ganze Seite des großen Häuserrechtecks, des Marktes, ausfüllend, aber bei aller Massigkeit zugleich schön, weil fein und gefällig gegliedert. Es ist an achthundert Jahre alt, aber in währendem Zeitenlauf immer wieder umgestaltet, erweitert, nach Zerstörungen durch Feuersbrunst wiederhergestellt worden, zuletzt erst 1892, als im Jahre zuvor ein Brand den Hintertrakt nach der Nikolaikirche zu vernichtete. Also wahrlich kein einheitlicher Bau, im Gegenteil fast eine Musterkarte deutscher Baustile, und dennoch schön. Denn die Zerbster haben Glück gehabt, sie fanden immer Baumeister, die alt und neu trefflich zu verschmelzen wußten. Aber »Glück«? – nein! Die Zerbster haben ein prächtiges Rathaus, weil ihnen dafür gute Meister und gutes Material nie zu teuer waren. Von dem ältesten Teil, aus dem 12. Jahrhundert, sind nur am linken Seitentrakt Reste zu gewahren, plumpes, zyklopisches Mauerwerk, wie hier am Glockenturm oder an den Regensburger »Streittürmen«. Der eigentliche Bau stammt im Kern aus dem 15. Jahrhundert (um 1480), wurde aber zu Beginn des 17. (1616) umgestaltet, namentlich die dreigiebelige Fassade, ein schönes Stück deutscher Renaissance. Einzelnes an dem Bau mahnt noch heute daran, daß er ursprünglich in deutscher Backsteingotik hergestellt war; die Rückseite, der neue Trakt, zeigt wieder starke Anklänge an den gotischen Stil in seiner modernen Prägung. Diese bewegte Baugeschichte tut, wiederhole ich, der Gesamtwirkung keinen Abbruch; zudem ist ja die Fassade ganz einheitlich.

Vor dem Rathaus stehen zwei Wahrzeichen Zerbsts: der Roland von 1415, also nur elf Jahre jünger als der von Bremen, aber so vortrefflich erhalten wie meines Wissens kein anderer, bekanntlich das Sinnbild der städtischen »Freiheit« (Gerichtsbarkeit), und die goldene Butterjungfer, die mir schon der Wurstgreis in Güterglück verheißen hatte, eine kaum meterhohe weibliche Figur, die etwas Beckenähnliches im Arm hält, zwar in Wahrheit nur aus Messing, aber wohl noch älter als der Roland und ein Sinnbild – ja wessen? Als ich mir, den Kopf im Nacken, den Feldstecher vor den Augen, das seltsame Ding besah – denn die Butterjungfer ist auf einen Zahnstocher gespießt, eine sehr hohe, sehr dünne, sehr häßliche Holzsäule –, trat ein Schutzmann an mich heran und erläuterte: »Dieses ist eine alte heidnische Göttin, welche bedeutet, daß hier schon damals auf den Märkten eine gute Ordnung war.« Also eine marktpolizeiliche Göttin. Der Gemüsebauer hingegen meinte: »Diese ist eine Prinzessin, welche immer nur Zerbster Butter gegessen hat, weil es keine bessere auf der Welt gibt.« Aber ich glaube, hier gilt in Wahrheit das Wort des Herrn Kastellans: »Dieses ist nicht aufgeschrieben.« Und da selbst Baedeker meint, die Bedeutung sei ungewiß, so ist auch Raum für den Flügelschlag meiner eigenen Hypothese. Ich also glaube, die Butterjungfer ist ein Gedenkzeichen der vermutlich wie überall so auch hier nicht leicht errungenen Markt- und Messefreiheit der Stadt. Solche Gedenkzeichen finden sich wenigstens in süddeutschen alten Städten, wenn auch in anderer Gestalt. Ein drittes uraltes Wahrzeichen, das mir alle zu besichtigen empfahlen, habe ich leider übersehen, aber das ist nicht meine, sondern Hänschens und Ernstchens Schuld. Vor dem Rathaus erwischten sie in mir wieder ihre Augenweide, und teils weil ich die stolze Freude, als Sehenswürdigkeit zu gelten, sonst nie genossen habe, teils weil man das Unabänderliche doch mindestens benützen soll, nahm ich sie als Führer auf, aber die Brüderkreuze haben sie mir nicht gezeigt; vermutlich balgten sie sich eben. Es sollen drei Kreuze an der Stadtmauer sein, wo die bekannten drei feindlichen Brüder begraben liegen, die sich gegenseitig ganz und gar umgebrungen haben. Denn die Sage ist sehr verbreitet, nur der Gegenstand des Streites wechselt; dort ist's ein schönes Weib und anderwärts ein vergrabener Schatz, hier aber nur ein Kümmelbrot. Wenn es doch wenigstens eine Brägenwurst wäre!

An Denkmälern aus neuerer Zeit besitzt die Stadt eine hübsche Erzbüste Moltkes auf granitnem Sockel in der Breiten Straße; das Werk eines mir unbekannt gebliebenen Meisters, dessen sich auch eine weit größere Stadt nicht zu schämen brauchte, nur frappiert das Jugendliche des Kopfs; Moltke und Kaiser Wilhelm gehören ja zu den Gestalten, die sich die Phantasie freiwillig nie jung vorstellt; mit Bismarck ist es anders. Hingegen ist das Kriegerdenkmal von 1872 in den Anlagen nur eben die übliche, mit den Namen der Gefallenen bedeckte Sandsteinsäule; auch die Inschrift: »Den Toten zur Ehre, der Nachwelt zur Lehre« findet sich nicht hier allein. Schlicht ist auch die Granittafel an einem Haus gegenüber dem Rathaus (Markt 2): »In diesem Hause wohnte der Sänger und Held der Freiheitskriege Theodor Körner * 23. IX. 1791 † 26. VIII. 1813«, aber sie erscheint mir rührend und für den Geist dieser Stadt bezeichnend. Ich habe ja kein Buch hier, in dem ich nachschlagen könnte, aber meines Erinnerns hat Körner nie in Zerbst gelebt; es ist vielleicht kein Zufall, daß das Datum seines Aufenthalts auf der Tafel fehlt; er war wohl nur sehr kurz hier. Aber gleichviel, daß ein Dichter hier war, haben sie nicht vergessen und dankbar geehrt. Man sieht, in Zerbst könnte auch ein Dichter von mittlerem Wuchs eines Denkmals gewiß sein, er brauchte hier nur geboren zu werden, aber, sagt ich schon, es ist bisher kein irgend nennenswerter Poet so schlau gewesen, und der einzige Lyriker, der nach meinen Erfahrungen als Redakteur gegenwärtig hier die Lyra zwickt, verdient kein Denkmal, sondern daß man ihm tue wie er seiner Lyra.

Von den Kirchen der Stadt habe ich nur St. Trinitatis von innen gesehen, aber der Bau (von 1591) lohnt nur äußerlich den Blick, auch dies nicht allzusehr. Das gleiche gilt von der Nikolaikirche, die ein Jahrhundert älter ist; hier aber wäre mir das Innere interessanter gewesen; der Altar ist mit einem schönen Bild aus Dürers Werkstatt geschmückt. Sonderbar genug war auch hier nur der Turm zugänglich; auch hier stellte man mir »die schönste Landschaft« in Aussicht; auch hier wurde mir der frühere Herr Kreisdirektor als Beispiel vorgehalten; das scheint ja ein sehr rüstiger Beamter von weitem Horizont gewesen zu sein. Aber wenn auch eine Vogelschau immer hübsch ist, so widersteht doch ein erfahrener und wohlbeleibter Mann im Hochsommer leicht der Versuchung, zumal ein solcher Blick nur in einer größeren Stadt zum Verständnis des Stadtbilds unentbehrlich ist. So flüchtete ich lieber in die kühlen Kreuzgänge des alten Barfüßerklosters, wo jetzt das Francisceum, das Gymnasium der Stadt, untergebracht ist, und schwelgte dort nicht bloß in Kühle und architektonischen Freuden – die Kreuzgänge sind wirklich trefflich erhalten –, sondern auch in Jugenderinnerungen; in einer solchen Klosterschule habe ich meine ersten Schülerjahre verbracht. Oh, was waren meine Patres Dominikaner für gestrenge Herren, und auf welchem Umweg suchten sie unsere Geistes- und Herzensbildung zu fördern, denn der Körperteil, auf den sie am emsigsten einwirkten, liegt von Herz und Hirn ziemlich weit ab. Und dennoch, wie ich so durch die ewig dämmerigen Gänge schritt und in die Klassenzimmer guckte – genau solche hatten wir auch –, schien mir diese Zeit die schönste meines Lebens. Es ist doch gut für uns beladene Menschenkinder eingerichtet, daß unserem Gemüt im Rückblick auf die Vergangenheit alle Schatten erbleichen und nur das Sonnige bleibt.

Aber dies tröstliche Gesetz der Menschennatur gilt nicht bloß von der eigenen Vergangenheit, und gewiß steckt darin mit ein Stück des Zaubers, den alte Städte üben. Aber nicht darin allein, wenigstens hier nicht. Man soll große Namen nicht eitel nennen; Nürnberg ist an Kunstschätzen und, soweit das Alte noch vorhanden ist, auch im Straßenbild einzig; Rothenburg wirkt wie ein schöner Traum aus den Tagen der Renaissance, aber auch das verschollene, von niemand besuchte Zerbst bietet in seiner Art Unvergeßliches: das wohlerhaltene, fast durchaus einheitliche Gesamtbild einer Stadt aus einer allerdings weit dürftigeren Zeit, etwa der zwischen dem Beginn des Dreißigjährigen und dem des Siebenjährigen Krieges, aber eben ein Gesamtbild, wie ich wenigstens es noch nirgendwo gesehen habe. Von mancher Zerbster Sehenswürdigkeit habe ich schon erzählt, die größte bleibt doch die Stadt selbst. Schon ein Rundgang um die innere Seite der lückenlos erhaltenen Stadtmauer bringt Bilder von malerischem und noch mehr von kulturhistorischem Reiz; zur einen Hand immer die graue, gewaltige, mit Pfeilern und turmartigen Anbauten besetzte, von Schießscharten unterbrochene Mauer, zur andern Hand freilich hier, am Rande des Weichbilds, nur kleine, dürftige Häuser, aber wenige jünger als zweihundert bis dreihundert Jahre, manches auch nur noch ein mühselig gepflegter, durch ein neues Stelzbein auf den Füßen erhaltener Invalide, manche wieder, als wären sie vor zehn Jahren erbaut. Dieser Reiz aber wächst, wenn man den Straßenzügen folgt, die im Innern von einem Tor zum andern oder zum Marktplatz führen – ich nenne nur die Heide, die Alte Brücke, die Breite Straße, die Kirchgasse, obenan aber steht natürlich als Prachtstück der Markt –, und sich in das Gewirre der Gäßchen dazwischen verliert, wie in der Gegend des Klosterhofs oder der Jüdenstraße. Schon das geruhige Leben und Treiben der Menschen lenkt von der Gegenwart ab; ein Blick in die Werkstätten mit offenstehenden Türen, wo Meister, Gesell und Lehrling behaglich schaffen, der Meister seine Kanne Bitterbier neben sich, der Gesell sein Kännchen, während der Lehrling, um bei der Hitze auch seine Erfrischung zu haben, bald von dem einen, bald von dem andern bei den Ohren erwischt wird – oder ein Lugen in die Wohnstuben, wo Urväterhausrat steht: riesige Schränke, breite behagliche Kommoden, die wie freundliche dicke Tanten anmuten, und Kanapees mit unmöglich hoher und steifer Rückenlehne. Sind aber die Fenster verhangen, so sind sie's mit Filetgardinen, wirklichen, wahrhaftigen, mit der Hand gearbeiteten Filetgardinen; die scheinen jetzt in Zerbst das Modernste; wenn nicht der Leser, so wird doch die Leserin durch dieses einzige Detail daran erinnert sein, wo wir sind. Wo? In einer hübschen friedlichen, freundlichen Mittelstadt um das Jahr des Heils – sagen wir – 1683, als der schlimme Türke die Kaiserstadt Wien berannte, und zwar wohlgemerkt in einer deutschen, echt deutschen Stadt. Und dagegen spricht doch wahrlich auch die Zahl der vielen kleinen Wirtschaften nicht, richtiger die Unzahl, über die noch ein Wort zu sagen sein wird... Aber am meisten reißt doch das Straßenbild, die Bauart der Häuser den Wanderer aus dieser lärmvollen Zeit um zwei Jahrhunderte zurück. Große, monumentale Bauten aus den Tagen der Renaissance und des Zopfstils kann man ja oft genug sehen, sogar gewiß größere und schönere als hier, aber wie damals die Bürgerhäuser aussahen, wie eine Straße und wie eine Stadt, das lehrt uns Zerbst wie sehr wenige Orte in Deutschland. Da findet sich noch ab und zu, etwa ähnlich wie in den alten Ostseestädten, ein Ziegel- oder Fachwerkbau, der als Typus der Gotik in ihrer eigentümlichen Ausbildung für norddeutsche Profanbauten gelten kann, dann aus den Tagen der Renaissance ganze Zeilen von Giebelhäusern; viele mit hohem, den Dachfirst weit überragendem Giebel, einige mit polychromem, leider zumeist verblaßtem Schmuck; endlich Fachwerk, das mit jeder Etage mehr vorneigt oder zurückfliegt. Kurz, man kann mehrere Minuten lang dahinwandeln, ohne aus der Täuschung gerissen zu sein, man sei in Nürnberg oder Rothenburg, bis sich Häuser dazwischenschieben, wie man sie dort nicht findet: Barockbauten, meist hübsch und stattlich, Spuren höfischen Glanzes, kleine Palais, die dem Adel oder einem hohen Ministerio als Wohnstätte dienten, soweit die Herrschaften nicht, wie die Damen an der Schloßfreiheit, durch ihr Hofamt an die nächste Nachbarschaft des Schlosses gebunden waren. Namentlich nachdem die Sonne gesunken war, als alle Fenster sich öffneten, die Bürger vor ihre Häuser traten und miteinander plauderten, ward mir wieder zumut wie einige Stunden zuvor im Schloßpark. Ich horchte absichtlich nicht auf, als ein dicker Mann ärgerlich eine Standrede hielt und andere wieder sich freuten; so konnte ich glauben, der Dicke eifere gegen den türkischen Erbfeind und die anderen jubelten über die Entsetzung Wiens durch den tapferen Sobieski. Der Ärger wird wohl den Agrariern gegolten haben und die Freude dem morgigen Vogelschießen, aber gleichviel, wer hier nicht wenigstens auf Minuten sein 20. Jahrhundert ganz los würde, müßte ein Mensch ohne Phantasie und Stimmungsfähigkeit sein...