Reißender Strom - Arber Shabanaj - E-Book

Reißender Strom E-Book

Arber Shabanaj

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Beschreibung

Im Mittelpunkt des ersten Tatsachenberichtes 'Das Porträt' stehen die Sorgen und Nöte einer Vertriebenenfamilie, die in Deutschland erleben muss, wie sie durch bürokratische Maßnahmen schikaniert wird, welche denjenigen imponieren, die in ihrem Herzen ein Deutschsein für sich reklamieren und die anderen abschotten wollen. Im zweiten Teil des Buches geht es darum, aufzuzeigen, wie schwer beziehungsweise unmöglich es sein kann, berechtigte Forderungen vor einem deutschen Gericht einzuklagen. Ich habe den gesamten Prozessverlauf mit den erforderlichen Hintergrundinformationen zusammengestellt, sodass der Leser einen umfassenden Eindruck gewinnen kann. Erschreckend war für mich zudem - wie im dritten Geschehnis festgehalten -, welchem Stress Kinder im Alter von vier Jahren in diesem Land ausgesetzt werden, bevor sie die Schule und den Unterricht kennenlernen konnten. Bei Kindern, die sehr wohl mit der deutschen Sprache vertraut sind, wird der sogenannte 'Sprachstand' (im Rahmen eines Deutschsprachkurses) überprüft. Die noch nicht schulpflichtigen Kinder werden somit einer Prüfungssituation ausgesetzt, der sie möglicherweise psychisch überhaupt nicht gewachsen sind. Im vierten Teil berichte ich von den Unzumutbarkeiten und Fehlern, denen ich bei der Geburt meines zweiten Sohnes in einer Klinik ausgesetzt war, ohne mich vor Ort dagegen wehren zu können. Der fünfte Tatsachenbericht 'Reißender Strom' ('Déjà-vu mit der vergangenen Zeit') befasst sich mit dem Leben und Arbeiten von Schriftstellern und trägt autobiografische Züge. Sonach muss zum Beispiel ein talentierter Schriftsteller mit 'Migrationshintergrund' als Maler und Lackierer tätig sein, während sein einheimischer Kollege als Schreiber in der Bevölkerung anerkannt ist und zu Parteiversammlungen eingeladen wird. Das ist kein Einzelschicksal, denn ein mir bekannter Ingenieur ist als Mauerhelfer tätig, ein Oberbefehlshaber sammelt jetzt als Leiharbeiter den Baustellenmüll ein und ein Mikrobiologe befindet sich mit anderen Handwerkern auf der Baustelle. Bei genauer Betrachtung muss man leider feststellen, dass nicht die 'Stärke des Rechtes', sondern das 'Recht des Stärkeren' siegt. Weiterhin wird sicher verständlich, warum ich meine Überzeugung, hier in einem Staat zu leben, in dem das Recht eines jeden Menschen Berücksichtigung findet, zumindest teilweise revidieren musste.

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JEMBITER LIBER

Biografien & Memoiren

Arber Shabanaj / Jembiter Liber

Erschienen bei BoD

Books on Demand GmbH

22848 Norderstedt

1. Auflage Juni 2024

Produced in Germany

Verfasser / Urheber:

Arber Shabanaj / jembiter liber

[email protected]

Tel.: +49 151 58 332 502

www.jembiter-liber.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Sehr geehrte Damen und Herren

Anmerkung zum Anhang

DAS PORTRÄT

DAS GERICHT DES GELOBTEN RECHTSSTAATES - DER HÖCHSTE GRAD VON UNGERECHIGKIET IST GEHEUCHELTE GERECHTIGKIET

DAS HAUS IN DER SAVANNE

DIE UNTERLASSENE HILFELEISTUNG

REIBENDER STROM

Hinweis

Vorwort

Als ich im August 1991 als Vertriebener nach Deutschland kam, ließ ich politische Anfeindungen, Ungerechtigkeiten und Demütigungen, die ich in meiner Heimat hatte erfahren müssen, hinter mir.

Direkt bei meiner Ankunft in der Bunderepublik begegneten mir als Jurist und Dichter folgende Wörter, die mir seitdem in Erinnerung geblieben sind: „Tagesschau" und „Lindau". Das waren zugleich die ersten beiden deutschen Ausdrücke, die ich in der Ankunftszeit lernte. Man möchte dazu vielleicht die Frage stellen: warum gerade diese zwei Begrijflichkeiten? Ganz einfach - weil sie sich so faszinierend reimten.

Ich erinnere mich noch sehr genau an den Umgang der weniger befugten Körperschaften (unter ihnen Beamte, Kommissare, Gesetzeshüter, wohl auch „hoch angesehene “ Rechtsanwälte und andere) in meiner Ankunftszeit, in der ich in ständigem Kontakt mit Ämtern und Institutionen stand. Sie antworteten mir: „Ich verstehe kein Französisch", wenn ich mich auf Englisch, der hier gebräuchlichen Fremdsprache, mit ihnen unterhalten wollte. Logischerweise konnte ich die deutsche Sprache zwei, drei Monate nach meiner Anreise noch nicht für die barrierefreie Kommunikation einsetzen.

Ich war in einen Rechtsstaat gekommen, in dem die „ Würde des Menschen" als unantastbar gilt, wie es Artikel 1 des Grundgesetzes aussagt, und in dem alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Hier in meiner „neuen Heimat" würde es mir besser ergehen, so dachte ich.

Damals war ich von diesen Vorstellungen überzeugt, jedoch kamen mir im Verlauf meines Lebens in diesem Staat in einigen Fällen starke Zweifel und ich wurde mitunter sehr enttäuscht. Die Erlebnisse, die diese Zweifel und Enttäuschungen verursacht hatten, habe ich in fünf Tatsachenberichten festgehalten, die in diesem Band zusammengestellt wurden.

Im Mittelpunkt des ersten Tatsachenberichtes „Das Porträt“ stehen die Sorgen und Nöte einer Vertriebenenfamilie, die in Deutschland erleben muss, wie sie durch bürokratische Maßnahmen schikaniert wird, welche denjenigen imponieren, die in ihrem Herzen ein Deutschsein für sich reklamieren und die anderen abschotten wollen.

Im zweiten Teil des Buches geht es darum, aufzuzeigen, wie schwer beziehungsweise unmöglich es sein kann, berechtigte Forderungen vor einem deutschen Gericht einzuklagen. Ich habe den gesamten Prozessverlauf mit den erforderlichen Hintergrundinformationen zusammengestellt, sodass der Leser einen umfassenden Eindruck gewinnen kann.

Erschreckend war für mich zudem – wie im dritten Geschehnis festgehalten -, welchem Stress Kinder im Alter von vier Jahren in diesem Land ausgesetzt werden, bevor sie die Schule und den Unterricht kennenlernen konnten. Bei Kindern, die sehr wohl mit der deutschen Sprache vertraut sind, wird der sogenannte „Sprachstand“ (im Rahmen eines Deutschsprachkurses) überprüft. Die noch nicht schulpflichtigen Kinder werden somit einer Prüfungssituation ausgesetzt, der sie möglicherweise psychisch überhaupt nicht gewachsen sind.

Im vierten Teil berichte ich von den Unzumutbarkeiten und Fehlern, denen ich bei der Geburt meines zweiten Sohnes in einer Klinik ausgesetzt war, ohne mich vor Ort dagegen wehren zu können.

Der fünfte Tatsachenbericht „Reißender Strom“ („Déjà-vu mit der vergangenen Zeit“) befasst sich mit dem Leben und Arbeiten von Schriftstellern und trägt autobiografische Züge. Sonach muss zum Beispiel ein talentierter Schriftsteller mit „Migrationshintergrund“ als Maler und Lackierer tätig sein, während sein einheimischer Kollege als Schreiber in der Bevölkerung anerkannt ist und zu Parteiversammlungen eingeladen wird. Das ist kein Einzelschicksal, denn ein mir bekannter Ingenieur ist als Mauerhelfer tätig, ein Oberbefehlshaber sammelt jetzt als Leiharbeiter den Baustellenmüll ein und ein Mikrobiologe befindet sich mit anderen Handwerkern auf der Baustelle.

Bei genauer Betrachtung muss man leider feststellen, dass nicht die „Stärke des Rechtes“, sondern das „Recht des Stärkeren “ siegt. Weiterhin wird sicher verständlich, warum ich meine Überzeugung, hier in einem Staat zu leben, in dem das Recht eines jeden Menschen Berücksichtigung findet, zumindest teilweise revidieren musste.

Arber Shabanaj / Jembiter Liber

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir erlauben uns, Sie auf die zu Papier getragenen Sachverhalte aufmerksam zu machen.

Diese geschilderten Vorgänge haben unsere junge Familie schockiert und uns nachhaltig geschadet.

Wichtig beim Schreiben dieses Buches waren uns zwei Dinge: Zum einen war uns daran gelegen, die Grundgedanken dieses Kompendiums, das in unseren Augen eine Art Philosophie des Zusammenlebens darstellt, so einfach und klar wie möglich zu erläutern. Außerdem war es uns wichtig, die Erlebnisse und Geschehnisse durch die beigefügten Beweise so detailliert und anschaulich zu beschreiben, dass der Leser sie direkt verstehen und nachempfinden kann. Uns gelingt es in einer emphatischen Art und Weise, die Ursachen der permanenten Nuancierung darzustellen und Wege zum besseren Umgang mit leidvollen Erfahrungen aufzuzeigen.

Es ist ein erstaunliches Kuriosum, dass diverse Medien dieses Landes die vorliegenden Sachverhalte verschmähen, anstatt die feigen und brutalen Zuwiderhandlungen (gegen geltendes Recht) zu veröffentlichen. Man übt Gewalt auch dann aus, wenn man jemanden verachtet, auf ihn herabschaut oder ihn demütigt.

Darauf zu bestehen, dass unliebsame Wahrheiten nicht zu veröffentlichen sind, ist gefährlich für die Demokratie.

Hier wurden offensichtlich die Grenzen des Rechtsstaates ausgetestet. Zu welchem Zweck? Denn die Gerichte sollten uns vor der Willkür des Staates schützen. Das ist die Idee der Gewaltenteilung und daran kann man nicht rütteln. Dies ist ein Prinzip unserer Demokratie. Dahingehend sind die Gesetze nicht beliebig, nicht disponibel, sondern es braucht einen echten Gerechtigkeitswillen.

Die geschilderten Geschehnisse entbehren jeglicher Grundlage und sind eine Schande für den Rechtsstaat.

Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass unsere bewegenden Zeilen den Leidtragenden dieser Unbekümmertheit - unseren betroffenen Kindern - gewidmet sind. Wenn Menschen so offensichtlich unter Schock gesetzt werden und ihnen nachhaltig geschadet wird, dann tun sie ungewöhnliche Dinge, um sich auf diese Weise Gehör zu verschaffen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass infolge der institutionellen und der individuellen Diskriminierung ein Albanischdeutscher gesellschaftlich tot geboren wird und den Rest seines Lebens ums Überleben kämpfen muss.

Das Buchexemplar zu unseren entsetzlichen Erlebnissen sollten Sie bitte unvoreingenommen lesen, um effektiv und ehrlich darüber berichten zu können. Denn nur das macht unsere Demokratie so stark und nur das trägt dazu bei, unsere Gesellschaft nicht noch weiter auseinanderdriften zu lassen. Wir haben unseren betroffenen Kindern versprochen, dass wir mutig dem Hass widersprechen und dafür sorgen werden, dass man sie nicht vergisst. Bekanntermaßen lässt sich Demokratie nur durch Pluralität, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung verwirklichen.

Daher wenden wir uns nun hoffnungsvoll direkt an Sie und vertrauen Ihnen das Taschenbuch mit den Tatsachenberichten an. Wir sind uns sicher, dass Sie unseren Brief und die beschriebenen haarsträubenden Erlebnisse aufmerksam lesen und diese als einen maßgeblichen Kompass für Ihre alsbaldige Berichterstattung verstehen.

Im Voraus danken wir Ihnen recht herzlich für Ihre Unterstützung!

Die betroffene Familie Ermira und Arber Shabanaj

Anmerkung zum Anhang

Der Anhang wurde für den interessierten Leser zusammengestellt, der sich eingehender mit den Hintergründen der dargestellten Problematik befassen möchte.

Er besteht aus Kopien der Dokumente, die im Vorfeld und während des Prozesses eine Rolle gespielt haben: Schreiben der Anwälte, Gutachten, Fotos, Urteile und weitere Nachweise. In den angefügten Kopien wurden aus Datenschutzgründen die Namen der beteiligten Personen verändert, inhaltlich entsprechen sie aber den Originalen.

Daher habe ich hierbei, genau wie im gesamten Buch, nicht die realen, sondern Fantasienamen gewählt. Sollten Sie dennoch Ähnlichkeiten mit Ihnen bekannten Personen feststellen, sind sie rein zufällig und keinesfalls beabsichtigt.

Es ist das Anliegen des Autors, dem Leser auf diese Art einen umfassenden Eindruck der Gesamtsituation zu vermitteln.

„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“

Albert Einstein (1879-1955)

Dieses Buch widme ich meiner Familie und all denen, die bereit und willens sind, ihre Komfortzone auf dem Weg in eine stabile Zukunft zu verlassen, um Benachteiligte zu unterstützen und dem riesigen Thema Diskriminierung entschieden entgegenzuwirken.

Meine lieben Söhne, meine wertvollen Kinder,

manche werden euch niemals mögen, weil eure inneren Geister ihre Dämonen stören.

DAS PORTRÄT

Im Stadtbüro palaverte jemand und beleidigte fortwährend den Bürgermeister höchstpersönlich. Agron Iravosok stand hinter der Tür des Bürgermeisterbüros und schaffte es mit allergrößter Mühe, sich zu beherrschen. Er wollte seinen Ohren nicht trauen, was er an diesem Julinachmittag des Jahres 2010 mitanhören musste.

Er kannte Herrn Grünewald seit Jahren. Als er erfahren hatte, dass dieser zum Bürgermeister gewählt worden war, war Agron unbeschreiblich glücklich gewesen.

Er war davon überzeugt, sollte er von Herrn Grünewald keinen geeigneten Wohnraum bekommen, müsste er noch ewig im Asylbewerberheim bleiben. Dort, wo das Abfluss- und Sanitärfahrzeug der Kommune wie so oft erst dann kam, wenn das Kanalisationsrohr bereits geplatzt war. Eine schwarze, verfaulte Flüssigkeit drang dann durch die Fugen der pilzbefallenen Bodenbretter.

Es kam, wie er es geahnt hatte: Gerade mal einen Monat war Herr Grünewald Bürgermeister, als er zusammen mit Vertretern der zuständigen Flüchtlingskommission Agron und seine Familie im Asylbewerberheim besuchte.

Der Familienvater kann sich noch heute genau daran erinnern, wie die Gruppe den eingezäunten Garten des Heimes betrat. Die vielen Rosen, die einer stolzen Meereswelle ähnelten, strahlten Lebendigkeit aus und verbreiteten ihren Duft. Hier tankten Agron, seine Ehefrau und seine Tochter fast jeden Nachmittag ein wenig Motivation und Zuversicht. Doch was nützte ihnen das, denn sobald es Abend wurde, mussten sie sich wieder in ihre Fäkalienhütte einschließen, dort, wo jeden nur die Übelkeit heimsuchen würde.

Die Hausmeisterin war gerade dabei, mit dem Hauspantoffel nach einem ihrer kleinen Findelkinder zu werfen, weil sich dieses zuvor über einigen Blumenblättern erleichtert hatte. Die Frau kam ursprünglich aus Schlesien und sprach ein sehr unattraktives Deutsch, oder vielmehr Polnisch. Sie war jedoch längst eingebürgert worden, da sogar die kleinste Laus auf ihrem schlesischen Hof deutsch gewesen war. Laut dieser Hausmeisterin, die damals in ihrer Heimat auf einem Bauernhof gedient haben soll, lag die Wiege des gesamten deutschen Stolzes und seiner Kultur in Schlesien – und zwar nur dort.

Die Autorisierten der Stadt lachten mit dem Kleinen, der versuchte, sich in ihrem Beisein nicht zu schämen und sein Urinorgan nach dem Gießen wieder zurückzustecken.

Sie schlenderten durch den Garten und tankten reichlich Luft, die vom schönen Duft der vielfältigen Blumen angereichert wurde.

Sobald sie den Raum betreten hatten, in dem Agron samt Familie lebte, musste ein Mitglied der Flüchtlingskommission dreimal hintereinander niesen. Einem weiteren, der etwas auf einem Block notierte, rutschte ein Wort heraus, er sagte: „Mist.“ Ein weiterer ...

Bei diesem Besuch fühlte sich Agron plötzlich jung und stark und nicht wie ein Mann von 50 Jahren. Oh Gott, er würde ein Zuhause bekommen! Er hatte den Eindruck, dass Worte, die fielen, und Zeichen, die zwischen den Teilnehmern der Flüchtlingskommission ausgetauscht wurden, ihn hoffen lassen könnten, dass alles gut werde.

Doch gleichzeitig überkamen ihn Ängste, es könnte jemand wie aus dem Nichts auftauchen und ihm wieder Steine in den Weg legen.

Er schwankte zwischen Hoffen und Bangen, mal fühlte er sich jung, dann wieder alt. „Eh, wie der Mensch ist“, dachte er, „mal Löwe, mal Hase.“

Und recht hatte er, es wurde von allen Seiten viel gesprochen, es gab nichts, über das nicht geredet wurde. Für ein Apartment, ausgestattet mit einem Raum und einer Küche, würde er sehr viel Geld ausgeben müssen, für eines mit zwei Räumen und einer Küche noch mehr. Doch was sollte er geben, das Ungeziefer aus dem Keller?

Er hatte weder das Recht noch die Mittel, seinen einzigen Verwandten in knapp zwanzig Kilometern Entfernung mal zu besuchen, weil dafür regelmäßig eine Besuchserlaubnis nötig war, um den Landkreis verlassen zu dürfen! Seit 16 Jahren lebte er mittlerweile in Deutschland, und seine Jahre schmolzen dahin. Trotz seines Potenzials, fehlerfreies Deutsch und Englisch zu artikulieren, besaß er bis heute noch keinen Aufenthaltstitel.

Der frühere Bürgermeister war nicht gut gewesen, sein Nachfolger nicht besser.

Es lagen Jahre hinter Agron, in denen er gehofft hatte, man kümmere sich um eine Wohnung für ihn und seine Familie. Jahre, in denen Versprechungen gemacht worden waren, ihm ein Apartment mit einem separaten Eingang zu gewähren. Jahre, in denen sie mit ihm und seiner Familie Katz und Maus gespielt hatten. Geschehen aber war nichts.

Und während die Zeit verging, spürte er, wie auch seine Tochter, eine junge aufstrebende Frau auf der Suche nach Verantwortung und Glück, keine Chance hatte, ihr Leben selbstständig zu gestalten, und sich mit der Situation abfinden musste.

„Blumen verblühen, Menschen sterben“, dachte Agron bei sich und zitterte. Er spürte den Schmerz darüber in seinem Herzen, auch jetzt, als er sich daran erinnerte.

Nun saß er zusammen mit seiner erkrankten Frau auf den Stühlen des Rathauses, wartete und musste die endlosen Beleidigungen des Stadtmenschen mitanhören. Dabei war er schockiert, was einem normalen Bürger dieses Landes gewährt wird – demjenigen, der der deutschen Sprache nicht einmal ausreichend mächtig ist, demjenigen, der mehr besoffen als nüchtern vorzufinden ist, demjenigen, der es wagt, den Bürgermeister persönlich zu beleidigen.

Aber er, Agron Iravosok, der seine gesamte Wut bisher innerlich festgehalten hatte und allen Grund zum Abladen dieser Last gehabt hätte, blieb stets ruhig und schwieg. Er war sein Leben lang ein fleißiger Arbeiter gewesen, lebte schon 16 Jahre lang isoliert in demselben Raum, während andere neue Wohnungen bekamen, sich breitmachen durften und sogar separate Kinderzimmer und wer weiß was noch alles hatten.

Er selbst hatte noch nie jemanden beleidigt, mit dem Staat geriet er nie in Konfrontation: 16 Jahre Asylbewerber, er und seine Familie waren nicht einmal im Besitz einer Arbeitserlaubnis.

Den Landkreis wollte er wegen der bereits bekannten Gründe kaum verlassen. Außerdem sprach er ein exzellentes Deutsch, worum ihn unzählige längst eingebürgerte Protagonisten, die meisten von ihnen slawischer Herkunft, sehr beneideten, wenn sie ihn sprechen hörten.

Als diplomierter Jurist lebte Agron von „Gutschein-Karten“. Als das Sozialamt von ihm verlangt hatte, einem „Ein-Euro-Job“ nachzugehen, war er vergangenes Jahr, während er für die Stadt arbeitete, aus sechs Metern Höhe gestürzt und hatte sich dabei schwer verletzt.

Seine Ehefrau musste, ohne jemals krank gewesen zu sein, wegen der erlebten Metamorphosen und Odysseen regelmäßig zum Neuropsychiater. Denn nur dank des Gutachtens eines Fachmannes verringerte die Ausländerbehörde den Druck, war gnädig und bewilligte eine weitere dreimonatige Aufenthaltsverlängerung.

Der Tochter, die das Gymnasium mit besten Noten abgeschlossen hatte, wurde ein Stipendium für ein Studium versprochen.

Inzwischen bewegte sich auch etwas in Sachen Wohnungssuche. Agron hoffte, dass sich dies bewahrheiten würde, denn er wünschte sich nichts sehnlicher.

Nun sollte es danach gehen, wie es geheißen hatte, dass für eine Wohnung so und so viel nötig wäre - Unsinn! Nicht einmal Kaffee hatten die von der Kommission getrunken, als sie ihn in seinem Ambiente besucht hatten, und auch kein einziges gutes Wort hatten sie für ihn übrig gehabt.

Eines Tages wurde davon gesprochen, dass er eine Wohnung in der neuen Siedlung, genau im Stadtzentrum, bekommen würde. Alles drehte sich nun um diese zukünftige Wohnung. Mal kam ihm das ganz normal vor, ganz selbstverständlich, dann aber wieder außergewöhnlich.

„Letzten Endes“, sagte er eines Tages zu seiner Ehefrau, Teuta, „habe ich es mir verdient. All die Jahre habe ich weder dem Staat noch dem Amt das Herz gebrochen, ich habe sie nie enttäuscht. Dem ,Ein-Euro-Job‘ bin ich ebenfalls regelmäßig nachgekommen. Nie habe ich schwarzgearbeitet. Einer normalen Arbeit durfte ich die gesamten Jahre über nicht nachgehen, mangels Arbeitserlaubnis. Warum einem wie mir dann eine Wohnung verwehren?“

Wer stand auf der Straße überhaupt schlechter da als er? Und wer brachte überhaupt ein einziges Argument hervor, um schlecht über ihn zu reden?

„Hör auf mich, Agron“, empfahl sein Arbeitskollege ihm eines Tages, während er der Stadt für einen Euro diente, „spar etwas Geld und mache dem Bürgermeister ein Geschenk. Das tun sie alle ...“

Doch Agron gab nicht auf. Außer an einem Abend – etwa gegen Mai, als er an einem See angelte. Zuvor war ihm der Satz „Zum Teufel mit dem Schlaf" in den Kopf gekommen, woraufhin er sich die Angelausrüstung seines Freundes ausgeliehen hatte. Nun sah er, wie eine Forelle wild an der Wasseroberfläche zappelte, und er schaffte es, den gut vier Handbreit großen Fisch einzuholen.

Sehr schüchtern und mit Angst im Herzen brachte er sie am kommenden frühen Morgen dem Bürgermeister vorbei. Dessen Sekretärin tat so, als würde sie Agron Iravosok nicht kennen. Das irritierte ihn. Er wusste nicht, wie er es ihr sagen sollte, und als ob seine Sätze von einem Krampf heimgesucht worden wären, blieben sie ihm in der Kehle stecken.

Doch die Sekretärin, leise und nett, steckte den Finger in die Forelle wie den Haken der Angelschnur, mit dem Agron die knallroten Futtermembranen der Forelle durchquert hatte, um sie zu überprüfen.

Ohne „Herzlichen Dank für Ihre Mühe“ zu sagen oder ihm wenigstens eine Tasse Kaffee anzubieten, neigte sie den Kopf leicht, um so etwas wie ein gedachtes Dankeschön auszudrücken. Anschließend knallte sie ihm die Tür beinahe vor der Nase zu.

Eine große Unruhe überkam Agron, als er an die Bürotür des Bürgermeisters klopfte und ihm die berühmte Forelle überreichte, doch noch stärker wurde sie, als er sich wieder von dessen Büro entfernte.

„Oh Gott“, dachte er, „was ist, wenn der Bürgermeister Grünewald den Asylantrag und das Attest des Neuropsychiaters für meine Ehegattin nicht anerkennen würde? Was ist, wenn ...?“

Natürlich rührte sich nichts, während Agron vor der Tür des Amtes wartete, um die Bestätigung über die neue Wohnung ausgehändigt zu bekommen. Dass er eine neue Wohnung bekommen würde, das war allerdings hundertprozentig sicher.

Die Ernennung des Bürgermeisters Grünewald und die Versammlung mit den Zuständigen hatten dazu beigetragen, dass Mann und Frau zusammenleben konnten. Doch diese separate Einladung beim Amt schien Agron ein wenig zu verletzen.

Fast Tag für Tag gingen sie hin, um das neue Haus zu bestaunen, dort, wo die Maler dabei waren, den letzten Anstrich anzubringen. Hier ist das Wohnzimmer, hier die Kochnische. Zugleich ist das hier das Schlafzimmer. Die dritte Etage. Sehr anziehend. Im Sommer endlich mal frische Luft und sauberes Wasser, ganz ohne Fäkalien!