Reiten nur mit Sitzhilfe - Brigitte Kazula - E-Book

Reiten nur mit Sitzhilfe E-Book

Brigitte Kazula

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Beschreibung

In der heutigen Reiterei spielen Zügel- und Schenkelhilfen die zentrale Rolle. Wir sehen sie als unabdingbare Notwendigkeit, auch wenn wir mehr oder weniger deutlich wahrnehmen, dass diese Reitweise das Pferd behindert und seiner Gesundheit schadet. Dieses Buch stellt das zentrale Dogma der heutigen Reitlehren in Frage und erklärt, wie Reiten nur mit Sitzhilfen funktioniert. Es führt ein breites Spektrum wissenschaftlicher Daten zusammen und beschreibt ein völlig neues dynamisches Bild der Pferdebewegung. Dadurch wird ein Weg eröffnet, als Reiter die Bewegungssymbiose mit dem Pferd bewusst zu erlernen und so Zugang zu einer direkten Körperkommunikation zu finden. Die Autorin stellt dafür die Bewegungsabläufe des Pferdes ebenso detailliert dar wie die neuronalen Abläufe von Bewegungen im menschlichen Gehirn. Reiten nur am Sitz bedeutet für sie differenzierte Kommunikation mit Körperteilen, die wir normalerweise nur unbewusst steuern. Über Jahrtausende haben Reitmeister damit gerungen, diesen Vorgang in Worte zu fassen. Keiner der historischen Reitmeister liefert eine vollständige Beschreibung, lediglich Bruchstücke. Mit dem Wissen aus der modernen Naturwissenschaft um die Biomechanik der Pferdebewegung ist es möglich, durch Schulung der eigenen Körperwahrnehmung die Fähigkeit zur differenzierten Kommunikation mit dem Reitersitz zu entwickeln. Unser bewusster Verstand muss sich dabei auf das konzentrieren, was er am besten kann – auf das Verstehen von Zusammenhängen. Dieses Buch ist keine Reitlehre im landläufigen Sinn, sondern der Schlüssel und die Grundlage zum Verstehen von Reitlehren. Es erklärt die Neurobiologie, die entscheidende Vorgänge beim Reiten in unserem Unterbewusstsein verbirgt, so dass auch die besten Reitmeister nur Fragmente der Bewegungssymbiose zwischen Reiter und Pferd beschreiben. Dieses Buch setzt die Fragmente zu einem Gesamtbild zusammen!

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Seitenzahl: 380

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DR. BRIGITTE KALUZA

REITEN NUR MIT SITZHILFE

Die wissenschaftliche Grundlageeiner fast vergessenen Kunst

(Foto: Christiane Slawik)

REITEN NUR MIT SITZHILFENbasiert auf zwei Prinzipien – der gegenseitigen Übertragung von Körperschwingungen zwischen Pferd und Reiter und der gegenseitigen, meist unterbewusst erfolgenden Körperwahrnehmung. Entsprechend wird das Reiten mit Sitzhilfen traditionell auch unterbewusst erlernt, vorzugsweise im Kindesalter durch Üben auf einem als Lehrmeister wirkenden Pferd. Die moderne Naturwissenschaft kann jedoch erklären, wie Reiten nur mit Sitzhilfen funktioniert. Wer die Biomechanik der Körperschwingungen von Pferd und Reiter versteht, kann sich die Kommunikation über Körperwahrnehmung bewusst machen und so das Reiten in Bewegungssymbiose mit dem Pferd auch bewusst erlernen.

Haftungsausschluss

Autor und Verlag haben den Inhalt dieses Buches mit großer Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen zusammengestellt. Für eventuelle Schäden an Mensch und Tier, die als Folge von Handlungen und/oder gefassten Beschlüssen aufgrund der gegebenen Informationen entstehen, kann dennoch keine Haftung übernommen werden.

Sicherheitstipps

In diesem Buch sind Reiter ohne splittersicheren Kopfschutz abgebildet. Dies ist nicht zur Nachahmung empfohlen. Achten Sie beim Reiten bitte immer auf entsprechende Sicherheitsausrüstung: Reithelm, Reitstiefel/-schuhe, Reithandschuhe und gegebenenfalls eine Sicherheitsweste.

IMPRESSUM

Copyright © 2020 Cadmos Verlag GmbH, München

Covergestaltung: Gerlinde Gröll, www.cadmos.de

Layout und Satz: DAS AGENTURHAUS Werbe und Marketing GmbH

Coverillustration: Brigitte Kaluza

Illustrationen im Innenteil, wenn nicht anders angegeben:

DAS AGENTURHAUS Werbe und Marketing GmbH

Lektorat: Agnes Trosse

Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Abdruck oder Speicherung in elektronischen Medien nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung durch den Verlag.

ISBN: 978-3-8404-1088-8

eISBN: 978-3-8404-6479-9

Sonderedition Pferdebuchdiscount:ISBN: 978-3-8404-8526-8

INHALT

VORWORT

NEURONALE STEUERUNG

Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung

Der Dirigent – das Kleinhirn

Der Komponist – die Großhirnrinde

Der Intendant – das limbische System

Teamarbeit

DIE BIOMECHANIK DES PFERDEKÖRPERS

Einfache Modelle – das Pferderücken-Skateboard

Beine: Federn und Pendel

Der Pferderücken – Hydraulik und Dominosteine

Kraftübertragung – Taumelachsen und Kardanwellen

Die Muskulatur – Motoren und Zündzeitpunkte

Gangarten

Die Rolle von Kopf und Hals in der Balance des Pferdes

Die Ganzkörperschwingung

Die Körperhaltung bestimmt den „Betriebszustand“ des Pferdes

Wendungen

Galopp und die natürliche Schiefe des Pferdes

(Foto: Christiane Slawik)

DIE BIOMECHANIK DES REITENDEN MENSCHEN

Das Grundprinzip des Reitens – Gehen zu Pferd

Eingehen auf die Pferdebewegung – dynamische Muskelspannung

Der Federungsmechanismus der menschlichen Wirbelsäule

Das Schwingungszentrum in der Körpermitte

Einwirken – das Pferderücken-Skateboard fahren

Orientierung im Raum für bewegte Reiter und der 1. Hauptsatz der Sitzhilfen

Der 2. Hauptsatz der Sitzhilfen und verschiedene Sitzweisen

Die Synchronisation des Reiters mit der Galoppbewegung

Wendungen reiten und der 3. Hauptsatz der Sitzhilfen

Sättel

Der Zaum – Kontrolle, Anlehnung oder Kommunikation?

GYMNASTIK FÜR DAS REITPFERD

Der Einfluss des Reiters auf die Ganzkörperschwingung des Pferdes

Takt und Dissoziation

Wendigkeit und Versammlung

Geraderichten und Seitengänge

REITEN UND REITLEHREN

Der Ursprung der Bewegungssymbiose: 5000 v. Chr. – 16. Jahrhundert

Die Entwicklung der Reitlehre in Europa: 16. – 18. Jahrhundert

Reittechnik und Reitsport im 19. und 20. Jahrhundert

Reiten im 21. Jahrhundert – die Zeit ist reif!

LITERATUR

(Zeichnung: Brigitte Kaluza)

VORWORT

Reiten funktioniert nach üblicher Vorstellung so, dass der Mensch auf dem Pferd sitzt und dessen Bewegungen durch Zügel- und Schenkelhilfen lenkt und kontrolliert. So wird Reiten heutzutage unterrichtet. Man kann auf diese Weise in der Tat lernen, wie man auf einem Pferd reitet. Man kann auch ein Pferd dazu ausbilden, auf Zügel- und Schenkelhilfen zu reagieren. Diese Reittechnik wird jedoch immer grobmotorisch wirken. In dieser Reitweise transportiert das Pferd den Reiter auf seinem Rücken und reagiert als dessen Befehlsempfänger.

Einige wenige Prozent der Reiter (oft diejenigen, die es als Kleinkinder gelernt haben) reiten jedoch ganz anders, ohne Schenkel und Zügelhilfen. Diese Reiter bewegen sich gemeinsam mit ihrem Pferd. In der Art, wie sich der Rumpf des Pferdes zwischen Sitz und Oberschenkeln des Reiters bewegt, steckt die gesamte Information über seine Bewegung, Gangart, Tempo, Richtung und Biegung. Aus der Art, wie der Reiter mit seinem Sitz und seinen Oberschenkeln das Pferd „umarmt“ und die Pferdebewegung entweder zulässt, mit seiner eigenen Rumpfmuskulatur verstärkt oder blockiert, erhält das Pferd eine direkte und verständliche Information über die Bewegungswünsche des Reiters. Zügel- oder Schenkelhilfen werden bei dieser Reittechnik nur eingesetzt, falls das Pferd ungehorsam ist, aber auf diese Weise gerittene Pferde reagieren so feinfühlig auf die Körperhaltung des Menschen, dass sie sich ganz ohne Schenkel- und Zügelhilfen in die komplexesten Dressurlektionen führen lassen.

Dieses „Reiten nur am Sitz“ ist erlernbar. Eine Methode zum Erlernen dieser Reitweise ist es, in möglichst frühem Kindesalter auf einem möglichst gut ausgebildeten Pferd die Grundlagen dieser Technik zu erfühlen und sich anschließend im Erwachsenenalter mit dem Repertoire der sinnvollen Lektionen zur Gymnastizierung von Pferden vertraut zu machen. Diese Methode hat eine jahrtausendealte Tradition. Die gesamte Reitliteratur der „alten Meister“ von Xenophon (400 v. Chr.) bis Guérinière (18. Jahrhundert) basiert auf diesem Konzept und setzt voraus, dass ein Reitschüler das „Reiten am Sitz“ auf einem ausgebildeten Pferd erfühlt hat und darauf aufbauend nun sinnvolle Lektionen zur Verfeinerung seiner Fertigkeiten und zur Gymnastizierung seines Pferdes erlernen will. Der überwiegenden Mehrheit der heutigen Reiter mangelt es jedoch an der Grundvoraussetzung, denn wer lernt heute noch das Reiten als Kind auf einem Pferd, das dazu ausgebildet wurde, fein auf den Reitersitz als einzige Hilfe zu reagieren?

Als Konsequenz haben wir heute nur einige wenige Prozent „begabte“ Reiter, die das Reiten nur am Sitz beherrschen und daher Zügel- und Schenkelhilfen lediglich ergänzend zur Betonung ihrer Wünsche einsetzen. Demgegenüber steht die überwältigende Mehrheit der Reiter, die ihre Pferde buchstäblich mit Händen und Füßen bearbeiten und dennoch vergeblich nach dieser Leichtigkeit und Harmonie einer gemeinsamen Bewegung suchen. Auch Unterricht bei „begabten“ Reitern hilft wenig, denn diese können ihre Fertigkeit nicht so mit Worten erklären, dass sie für einen „Unbegabten“ nachvollziehbar wird.

Manolo Oliva (Jahrgang 1965) ist in der Doma Vaquera, der Doma Classica und der Alta Escuela zu Hause und einer der zeitgenössischen Reitmeister, die das Reiten „nur am Sitz“ beherrschen. Aus einem Interview der Zeitschrift „Feine Hilfen“ (Heft 20, Dezember 2016) sind folgende Sätze von ihm zitiert (Oliva, 2016): „Wenn man Reitern sagt, dass sie ihre Hände und Beine nicht benutzen dürfen, finden sie meist von ganz allein ihre Art zu sitzen. Man muss gar nicht mehr sagen. Können Sie mir erklären, wie man ein Fahrrad fährt? Nein, können Sie nicht. Aber jeder meint, anderen erklären zu können, wie sie die Balance auf einem Pferd finden. Das ist der zentrale Fehler. Setzt man ein Kind auf den Rücken eines netten, friedlichen Pferdes und sagt ihm, dass es weder seine Hände noch seine Beine benutzen soll, wird es eine halbe Stunde später das Pferd ohne Probleme nach links und nach rechts steuern können, ohne seine Hände zu benutzen. Warum? Weil das etwas ganz Natürliches ist. Das Kind muss nur lernen, über die Bewegungen des Pferdes seinen eigenen Körper zu spüren.“ In diesem Zitat ist bereits alles Entscheidende über das Reiten „nur am Sitz“ gesagt: Weglassen aller Zügel- und Schenkelhilfen und über die Bewegungen des Pferdes den eigenen Körper spüren. Wenn Sie allerdings zur überwiegenden Mehrheit der erwachsenen „unbegabten“ Reiter gehören, werden Sie allein mit diesem Rat nichts anfangen können und stattdessen viele Fragen haben, zum Beispiel: Wie kann man ein Pferd lenken, indem man seine Bewegungen im eigenen Körper spürt? Warum darf man dabei seine Hände und Beine nicht benutzen?

Die gute Nachricht ist – man kann mithilfe der modernen Naturwissenschaft all diese Fragen beantworten (und selbstverständlich auch erklären, wie man Fahrrad fährt). Ein Blick in die moderne Neurobiologie (Kapitel 1 dieses Buches) erklärt, warum wir unsere Hände und Beine beim Reiten möglichst nicht gebrauchen sollten und was es bedeutet, über die Bewegung des Pferdes den eigenen Körper zu spüren.

Versteht man die Biomechanik der Pferdebewegung (Kapitel 2) und deren Übertragung auf den menschlichen Körper (Kapitel 3), so versteht man auch, wie der Reiter die Bewegung des Pferdes mit seinem Körper „lesen“ und steuern kann. Dieses biomechanische Verständnis und das darauf aufbauende Körpergefühl sind dann die Grundlage einer wirklichen Gymnastizierung des Reitpferdes (Kapitel 4).

Vieles in diesen ersten vier Kapiteln wird fremdartig wirken im Vergleich zur heutigen und historischen Reitliteratur, die auf einer jahrtausendealten Kultur aufbaut. Die Reitmeister der vergangenen Jahrhunderte haben viele Zusammenhänge erfühlt, die sie mit der ihnen verfügbaren Wissenschaft noch nicht analysieren konnten. Sie haben, auf dem Wissensstand ihrer Zeit und orientiert an den damaligen Bedürfnissen, viele didaktische Meisterwerke über die Reitkunst geschaffen. Daher ist der letzte Teil dieses Buches (Kapitel 5) einer Analyse der historischen Reitlehren aus dem Blickwinkel der modernen Biologie gewidmet.

In diesem Buch wird häufig Bezug genommen auf die Körperebenen bei Mensch und Pferd.

(Illustrationen: links: shutterstock.com/BioMedical, rechts: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)

(Zeichnung: Brigitte Kaluza)

1

NEURONALE STEUERUNG

Warum ist es sinnvoll, sich mit Neurobiologie und Gehirnfunktion zu befassen, wenn man eigentlich „nur“ besser reiten will? Sehen wir uns noch einmal die Problematik an, die seit Jahrhunderten auf dem Gebiet des Reitens und der Reitlehren besteht: Kinder, die noch zu klein sind, um Erklärungen zu verstehen und bewusst zu verarbeiten, lernen Reiten automatisch, einfach durch Erfühlen auf einem kooperativen Pferd. Reitlehrer, die erklären sollen, wie Reiten funktioniert, sprechen von Schenkel- und Zügelhilfen, aber wenn sich Erwachsene beim Reitenlernen an diese Instruktionen halten, ist das Ergebnis unvollkommen. Der Weg über das bewusste Verarbeiten einer Reitinstruktion führt paradoxerweise zu einem schlechteren Resultat. Der Grund ist, dass unsere Handlungen, unsere Bewegungen und unsere Absichten nicht nur von unserem Bewusstsein gesteuert werden. Unsere Steuerzentrale ist ein Team mit mehreren Mitgliedern, von denen nur eines unser Bewusstsein (mit Sitz in der Großhirnrinde) ist. Reitlehren sprechen unseren bewussten Verstand an, aber leider funktioniert Reiten nicht primär mit denjenigen Körperteilen, die wir bewusst steuern. Daher geschieht das, was wir auch im Alltagsleben bei Teamarbeit beobachten – es kommt nichts Vernünftiges dabei heraus, wenn das Teammitglied, das am wenigsten von der Aufgabe versteht, ständig das große Wort führt.

Sehen wir uns daher zunächst einmal das Team genauer an, das unsere Handlungen steuert. Wir glauben zwar, dass wir unsere Körperbewegungen bewusst steuern können, aber in Wirklichkeit bedient unser Bewusstsein unseren Körper in etwa so, wie wir unseren Laptop oder unser Smartphone bedienen – über eine Benutzeroberfläche, hinter der viele miteinander verschaltete Prozessoren und Programme arbeiten.

Das Orchester – Gangmuster-Schaltzentren erzeugen die Körperbewegung

Die Fortbewegung aller Wirbeltiere wird im Rückenmark von den Gangmuster-Schaltzentren erzeugt. Sie beherrschen die von ihnen gesteuerten Muskelgruppen wie Musiker eines Orchesters ihre Instrumente.

Die eigentliche Bewegungssteuerung, die uns (oder einem Pferd) das Laufen ermöglicht, findet in Gruppen von Nervenzellen statt, die entlang unseres Rückenmarks und im Hirnstamm angeordnet sind. Menschen und Pferde sind Wirbeltiere. Die gemeinsamen Vorfahren aller Wirbeltiere lebten vor etwa 530 Millionen Jahren und sahen ungefähr so aus wie die heute noch existierenden Lampreten: fischähnliche Wesen, die sich im Wasser durch Schlängeln fortbewegen (Abb. unten).

Versteinerung von Myllokunmingia: Das erste Wirbeltier lebte vor ca. 530 Millionen Jahren.

Die heute noch lebenden Lampreten (hier ein Neunauge) ähneln im Körperbau dem Urwirbeltier.

Das Prinzip der neuronalen Bewegungssteuerung stammt vom Ur-Wirbeltier. (Fotos: links: commons.Wikimedia/Degan Shu, Northwest University, Xi’an, China, rechts: shutterstock.com/Andrei Nekrassov)

Das Grundmuster der Fortbewegung aller Wirbeltiere basiert immer noch auf Schlängelbewegungen, auch wenn wir uns nicht mehr im Wasser fortbewegen oder mit dem Bauch auf dem Boden wie eine Schlange kriechen, sondern inzwischen Beine haben. Vierbeinige Wirbeltiere (dazu zählen auch Menschen, auch wenn wir normalerweise nur noch auf den Hinterbeinen laufen) haben zwei Gruppen von Nervenzellen im Rückenmark, die die Fortbewegung steuern, eine im Bereich der Lendenwirbel (für die Hinterbeine) und eine im Halsbereich (für die Vorderbeine oder Arme). Diese Gruppen von Nervenzellen erzeugen das zentrale Bewegungsmuster und heißen daher in der wissenschaftlichen Literatur „Central Pattern Generator“ oder abgekürzt CPG, da Englisch die internationale Sprache der modernen Naturwissenschaft ist. Auf Deutsch könnte man sie als „Gangmuster-Schaltzentren“ bezeichnen (Abb. Seite 16).

Wir kennen heute die genaue Verschaltung einzelner Nervenzellen in diesen Schaltzentren und wissen daher, wie das Prinzip der Fortbewegung funktioniert (Goulding, 2009). Die Nervenzellen in diesen Schaltzentren steuern Muskelgruppen, die bei der Laufbewegung des betreffenden Wirbeltieres üblicherweise zusammen und koordiniert betätigt werden. Sie stimmen sich dabei aber auch untereinander ab wie die Musiker eines Orchesters, die nicht nur ihr jeweiliges Instrument (die Muskelgruppen) virtuos beherrschen, sondern auch gemeinsam rhythmisch musizieren.

Bei einem im Wasser schlängelnden Fisch funkt beispielsweise das Schaltzentrum rechts hinten: „Achtung, ich kontrahiere gerade die Muskeln auf meiner Seite, Schaltzentrum hinten links bitte Muskeln entspannen lassen, damit wir die Schwanzflosse nach rechts schwenken können.“ Bei Wirbeltieren, die mithilfe von Beinen auf dem Land laufen, ist das Hinterbein-Schaltzentrum dominant. Bei einem trabenden Pferd würden dort für einen Schritt gleichzeitig drei „Funksprüche“ abgesetzt, wie in der Abbildung auf Seite 16 schematisch dargestellt.

Die Steuerung der Fortbewegung im Nervensystem (Illustrationen: links: shutterstock.com/decade3d – anatomy online, rechts: shutterstock.com/CLIPAREA l Custom media)

Diese Funksprüche bewirken, dass das Pferd rechtes Hinterbein und linkes Vorderbein gleichzeitig hebt, die Lendenwirbelsäule nach rechts biegt (wodurch das Becken und damit das rechte Hinterbein nach vorne schwingen) und sich mit dem linken Hinterbein nach vorne schiebt. Für den nächsten Schritt geschieht genau dasselbe seitenverkehrt.

In den Gangmuster-Schaltzentren ist also die Steuerung von Muskelgruppen zusammengefasst, die bei der Fortbewegung gemeinsam betätigt werden. Wichtig ist, dass dabei nicht nur die Beinmuskulatur, sondern auch die zugehörige Rückenmuskulatur integriert ist: Bei allen Wirbeltieren bewirken die von den Schaltzentren erzeugten rhythmischen Bewegungen der Rumpfmuskulatur das eigentliche Gangmuster. Bereits während der Embryonalentwicklung entwickeln sich die neuronalen Kontakte für die Kommunikation zwischen den Schaltzentren, die die Koordination von vorderer und hinterer, bzw. rechter und linker Körperhälfte ermöglichen.

Die Koordination selbst muss jedoch erlernt werden. Säugetiere lernen ihre arttypischen Gangmuster nach der Geburt durch „Versuch und Irrtum“: Der Körperbau gibt die jeweiligen Bewegungsmöglichkeiten vor, aber um diese tatsächlich zu realisieren, muss die Synchronisation der Schaltzentren durch Übung perfektioniert werden. Bei einem Fohlen findet die hauptsächliche Übungsphase wenige Stunden nach der Geburt statt, das Menschenkind hat erst nach mehreren Monaten ausreichend Körperkraft für den aufrechten Gang und durchlebt daher zuvor noch eine Zeit als „Vierbeiner“.

Um den Vergleich noch einmal zu strapazieren – die Musiker (die neuronalen Schaltkreise) sind bei der Geburt bereits vorhanden, aber sie müssen noch lernen, ihre Instrumente (die zugehörigen Muskelgruppen) zu beherrschen und vernünftig miteinander zu musizieren. Bereits bei der Entstehung der Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren stellte sich heraus, dass ein größeres Orchester am besten von einem Dirigenten zu gemeinsamer Musik trainiert wird.

(Illustration: shutterstock.com/decade3d – anatomy online)

Der Dirigent – das Kleinhirn

Der Dirigent des neuronalen Orchesters der Bewegungskoordination ist das Kleinhirn (Cerebellum). Es besteht einerseits aus Nervenzellen, die ein detailliertes inneres Abbild des Körpers erzeugen und andererseits aus einem neuronalen Prozessor, der Bewegungen vorausberechnet und ständig das Ergebnis überprüft.

Das Kleinhirn ist der Dirigent. Früher dachte man, die Aufgabe des Kleinhirns sei die Herstellung der Körperbalance, da diese völlig von dessen Funktion abhängig ist. Mit den Methoden der modernen Neurobiologie zeigte sich jedoch, dass das Kleinhirn eine viel umfassendere Rolle spielt: Es ist ein Prozessor für überwachtes Lernen (supervised learning). Der Begriff „supervised learning“ ist eigentlich in der Informationstechnologie für einen Typ des maschinellen Lernens gebräuchlich, bei dem ein Rechner darauf trainiert wird, richtige Assoziationen herzustellen. Was „richtig“ ist, wird durch einen „Lehrer“ in Form eines Trainingsdatensatzes definiert. Beim Erbsensortieren muss man dem Prozessor also zunächst als Trainingsdatensatz sowohl eine Handvoll „guter“ und eine Handvoll „schlechter“ Erbsen zeigen, sodass er anhand dieser Beispiele lernt, die „guten ins Töpfchen“ zu sortieren. Ein solcher Prozessor vergleicht das Bild jeder neuen Erbse mit seinem Datensatz für „gute“ und „schlechte“ Erbsen und ordnet die neue Erbse dann der entsprechenden Kategorie zu. Gleichzeitig wird seine Datenbank immer größer, sodass er immer besser im Erbsensortieren wird.

Das Kleinhirn ist exakt so ein Prozessor. Im Kleinhirn befinden sich zum einen extrem zahlreiche Nervenzellen (die sogenannten „granule cells“ oder Granularzellen), die in Kontakt stehen mit allen Schaltzentren der Muskelzellen und so im Kleinhirn ein detailreiches Abbild des Körpers und seiner Bewegungszustände erzeugen. Diese innere Körperwahrnehmung im Kleinhirn wird auch als Propriozeption bezeichnet.

Die Granularzellen sind die zahlreichsten Zellen im Gehirn, um das innere Körperbild der Propriozeption detailreich zu gestalten – ebenso wie eine gute Digitalkamera Bilder mit möglichst vielen Pixeln erzeugt. Daneben gibt es im Kleinhirn die sogenannten „Purkinje“-Zellen (nach ihrem Entdecker), von denen jede mit einer unterschiedlichen kleinen Gruppe von Granularzellen verschaltet ist. Die Purkinje-Zellen sind der eigentliche Prozessor für überwachtes Lernen. Wenn wir als Mensch einen Schritt mit dem rechten Bein nach vorne machen, aktivieren wir über unsere Gangmuster-Schaltzentren unsere Rumpf- und Beinmuskulatur, um das Bein nach vorne zu schwingen, bis es wieder Bodenkontakt hat, worauf dann das Körpergewicht auf dieses Bein verlagert wird. Bevor wir jedoch mit dieser Bewegung überhaupt beginnen, wird im Kleinhirn ein Modell davon berechnet. Nachdem wir die Bewegung vollendet haben, überprüft das Kleinhirn das Resultat. Dies lässt sich nachweisen, da die zugehörigen Purkinje-Zellen sowohl 400 Millisekunden vor als auch 100 Millisekunden nach der Bewegung aktiv werden (Popa, Hewitt, & Ebner, 2014). Bevor wir irgendeine Bewegung ausführen, hat also unser Kleinhirn bereits ein inneres Bild von dieser Bewegung, das anschließend mit der Wirklichkeit abgeglichen wird. Wir können im täglichen Leben das Kleinhirn ganz einfach bei der Arbeit beobachten – wenn wir bei unserem Schritt nach vorne übersehen haben, dass es dabei eine Stufe nach unten geht. Dann ist die 400 Millisekunden zuvor vorausberechnete Hypothese des Kleinhirns nämlich falsch, dass unser rechtes Bein an einer bestimmten Position wieder festen Bodenkontakt finden wird, wir stolpern und müssen uns notfallmäßig neu ausbalancieren.

Das Kleinhirn ist also ein Prozessor, der lernen kann, indem er Hypothesen überprüft. Das gilt ganz allgemein, nicht nur für die eigene Körperbewegung, sondern für jegliches Lernen (Wagner, Kim, Savall, Schnitzer, & Luo, 2017). Für das Reiten ist es wichtig zu wissen, dass unser Kleinhirn auch mit Bewegungshypothesen arbeiten kann, die über unseren eigenen menschlichen Körper hinausgehen. Auch dies kennen Sie bereits aus dem Alltag: Sie können zusammen mit ihrem Fahrrad die Balance halten, Sie können mit ihrem gewohnten Kraftfahrzeug problemlos eine Engstelle zwischen geparkten Autos und dem Gegenverkehr passieren, Sie können mit einer Handbewegung einen Pfeil auf einem Bildschirm steuern – es gibt unzählige Beispiele dieser Art. Wenn wir unserem Kleinhirn eine passende Hypothese anbieten, wie sich ein Pferd bewegt und wie wir als reitender Mensch von diesem Pferd bewegt werden, so kann es die gemeinsame Bewegung von Mensch und Pferd berechnen.

Das Kleinhirn bekommt seine Hypothesen aus zwei Quellen. Eine Quelle ist der Erfahrungsschatz aus dem motorischen und sensorischen Feedback des Körpers beim Ausprobieren von Bewegungen, die durch „Versuch und Irrtum“ erlernt wurden. So lernen Kinder neue Bewegungen. Das Kleinhirn eines Kindes ist noch ein relativ unbeschriebenes Blatt, was Hypothesen zum perfekten Bewegungsablauf anbelangt.

Wenn das Kleinkind laufen lernt, arbeiten die Schaltzentren im Rückenmark anfangs „irgendwie“ zusammen und das Kleinhirn registriert zunächst nur Erfolge und Misserfolge (autsch!, hingefallen). Die zweite Quelle für die Hypothesen des Kleinhirns ist unsere Großhirnrinde, der Sitz unseres Bewusstseins. Wenn das Kleinhirn unser innerer Dirigent ist, der alle Musiker in unserem Körper zu einer gemeinsamen Handlung dirigieren kann, der jeden Missklang bemerkt und mit jeder Wiederholung das Stück in perfekterer Harmonie ertönen lässt, so ist unsere Großhirnrinde unser innerer Komponist.

Der Komponist – die Großhirnrinde

Das Großhirn (Cortex) ist der Sitz des Bewusstseins. Es steuert Bewegung indirekt, indem es „die Ziele setzt“ oder die Komposition schreibt, die der Dirigent Kleinhirn mit dem Bewegungsorchester spielt. Außerdem kann es einzelne Körperteile, vor allem Hände und Füße, direkt und bewusst steuern, allerdings nicht die für das Reiten wichtige Rumpfmuskulatur.

Die Großhirnrinde (Cortex) ist das Organ unseres Bewusstseins. Wir nehmen unseren Körper bewusst wahr und können ihn bewusst steuern, wobei die bewusste Steuerung zwei Ebenen betrifft: Einerseits haben unsere Bewegungen in aller Regel ein bewusstes Ziel („da will ich hin“), andererseits können wir einzelne Körperteile bewusst und sehr geschickt steuern (beispielsweise unsere rechte Hand beim Greifen oder unseren Kehlkopf beim Sprechen). Diese beiden Funktionsebenen der bewussten Bewegungssteuerung haben unterschiedliche Mechanismen.

Die automatische Zielansteuerung

Fangen wir mit dem bewussten Ansteuern von Zielen an. Wir sehen ein Ziel (das kalte Buffet beim Stehempfang, ein Sonderangebot im Schlussverkauf …) und steuern darauf los, wobei das Fixieren des Zieles mit den Augen der wesentliche bewusste Vorgang dabei ist – die eigentliche Fortbewegung dorthin bleibt weitgehend unbewusst. Die hierfür verantwortlichen Schaltkreise waren bereits bei den Urahnen aller Wirbeltiere vor 530 Millionen Jahren angelegt (Ocana, et al., 2015): Die heute noch existierenden Lampreten, die dem Bauplan des Ur-Wirbeltieres entsprechen, haben eine „Pallium“ genannte Gruppe von Nervenzellen, die das Auge mit den motorischen Schaltzentren verbindet. Durch diese direkte Verbindung kann das Tier eine zielgerichtete Bewegung initiieren, sobald das Auge etwas sieht. Eine Lamprete, die ein attraktives Objekt (z. B. Futter) sieht, wendet den Kopf auf das Objekt zu und richtet ihre Schlängelbewegung neu aus, sodass sie auf das Objekt zuschwimmt. Ein gefährlich wirkendes Objekt löst umgekehrt Abwenden in eine Fluchtbewegung aus. Das Pallium der primitivsten Wirbeltiere dient also der Ausrichtung der Körperbewegung in die beabsichtigte Richtung. Aus dem Pallium hat sich im Laufe der Jahrmillionen die Großhirnrinde (Cortex) der Säugetiere entwickelt. Die grundlegende Funktion der Bewegungsausrichtung ist dabei erhalten geblieben – wir können auf ein Ziel zu oder vor etwas davonlaufen, ohne uns um die Neuausrichtung der Laufbewegung bewusst kümmern zu müssen.

Unser Bewusstsein hat einen Bewegungsauftrag erteilt, der von Kleinhirn und Rückenmark umgesetzt wird. Dieser Informationstransfer ist jedoch keine Einbahnstraße. Nur wenn bei der Umsetzung keine Schwierigkeiten auftreten, bleibt uns die Laufbewegung selbst unbewusst, aber wenn irgendetwas die gleichmäßige Abfolge unserer Schritte stört, erhalten wir sofort Rückmeldung ins Bewusstsein (stellen Sie sich vor, Sie gehen und treten plötzlich auf eine rutschige Stelle).

Drücken wir es so aus: Unsere Fortbewegung läuft auf einem fest installierten Programm im Unterbewusstsein. Wir können Änderungsbefehle eingeben und dann die Ausführung im Hintergrund laufen lassen, so lange bis wir eventuell eine Fehlermeldung erhalten. Beim Menschen ist im Kleinhirn das Betriebssystem „Laufen Mensch“ installiert, welches die unseren Gangmustern entsprechenden Rumpf- und Beinbewegungen steuert. Sitzen wir auf einem Pferd, wird unser Rumpf durch die Laufbewegung des Pferdes bewegt.

Sofern wir auf die richtige Art auf dem Pferd sitzen (mehr zu den biomechanischen Voraussetzungen in den nächsten Kapiteln), ähnelt die durch die Pferdebewegung induzierte passive Bewegung unseres Rumpfes so sehr derjenigen unserer eigenen Laufbewegung, dass sie durch das menschliche Kleinhirn interpretiert werden kann. Das Programm „Laufen Pferd“ (oder eher „Laufen mit Pferd“) läuft sozusagen auf dem Betriebssystem des menschlichen Kleinhirns. Dasselbe gilt umgekehrt auch für das Pferd, denn auch Pferde sind Säugetiere mit einem hoch entwickelten Gehirn. Ein Pferd kann die Körperausrichtung seines Reiters spüren, sofern dieser eine geeignete Haltung einnimmt und einen geeigneten Sattel verwendet. Natürlich hat das Pferd eine fünf- bis zehnfach größere Körpermasse, aber dennoch kann es deutlich fühlen, ob sein Reiter die Schlängelbewegung des Pferderumpfes „umarmend“ begleitet oder ob der menschliche Körper diese Bewegung bremst, blockiert oder umzuleiten versucht. Das Pferd kann also fühlen, wenn der Reiter ein Ziel mit dem Auge fixiert und seine Körperachse neu danach ausrichtet. Ein kooperatives Pferd wird dem folgen. Stellen Sie sich den Vorgang so vor – wenn Sie ein Kleinkind auf ihren Schultern tragen und so über den Jahrmarkt gehen, werden Sie auch sofort bemerken, dass das Kind zu dem Stand mit den Luftballons will.

Die meisten Reiter reiten allerdings jahrelang, ohne dass sie jemals diese Kopplung mit der Pferdebewegung gespürt haben. Wenn ein Kind reiten lernt, wird das Programm „Laufen mit Pferd“ problemlos installiert, aber Erwachsene werden durch etwas daran gehindert.

Die bewusste Steuerung einzelner Körperteile

Die Ursache liegt in der zweiten Aufgabe der Großhirnrinde, der isolierten Steuerung einzelner Körperteile. Die Fähigkeit hierzu ist bei landlebenden Wirbeltieren entstanden, denn es ist von offensichtlichem Vorteil, wenn man seine vier Beine nicht nur zusammen in einem Standard-Gangmuster zur Fortbewegung nutzen, sondern auch mal ein einzelnes Bein gezielt und separat bewegen kann, um etwa einem Loch auszuweichen oder nach etwas Essbarem zu greifen.

Um diese Funktion zu erfüllen, haben sich im Laufe der Evolution direkte Nervenbahnen von der Großhirnrinde vor allem zu den Extremitäten, zum Kehlkopf und zur Zunge entwickelt. Diese Nervenbahnen laufen nicht über die Gangmuster-Schaltzentren, sondern daran vorbei, denn sie sind dazu geschaffen, dem Bewusstsein einen direkten motorischen (steuernden) und sensorischen (fühlenden) Zugang zu all denjenigen Körperteilen zu verschaffen, die wir häufig bewusst, isoliert und mit großer Geschicklichkeit bewegen oder an denen wir detailreiche Information erfühlen wollen. Die Regionen der Großhirnrinde, von denen diese Nervenbahnen ihren Ausgang nehmen, heißen in ihrer Gesamtheit „Motorcortex“. Wir haben im Motorcortex eine bewusste Wahrnehmung unseres Körpers, aber diese ist stark verzerrt. Würde man den menschlichen Körper in denjenigen Proportionen darstellen, in denen seine Teile im Motorcortex repräsentiert sind, kämen zwei recht erheiternde Abbildungen heraus (Penfield & Boldrey, 1937), von denen die eine den „motorischen“ Homunculus (in den Proportionen der Steuerbarkeit) und die andere den „sensorischen“ Homunculus (in den Proportionen der Gefühlswahrnehmung) darstellt (Abb. oben). Völlig analog gilt dies im Übrigen auch für das Pferd – die Darstellungen eines motorischen und sensorischen „Hippunculus“ hätten Ähnlichkeit mit Jolly Jumper (dem Pferd des Cartoon-Helden Lucky Luke), also riesige Hufe und ein gigantisches Maul mit gewaltiger Zunge.

Die Skulptur des sensorischen Homunculus stellt den menschlichen Körper in denjenigen Proportionen dar, mit denen er in der Großhirnrinde wahrgenommen wird.

(Foto: https://en.wikipedia.org/wiki/File:Front_of_Sensory_Homunculus.gif#metadata)

Wir Menschen können demzufolge bewusst und direkt vor allem Mund und Kehlkopf (zum Sprechen und für die selektive Nahrungsaufnahme), die Hände (zum Greifen, Schreiben, Handwerken) und die Füße bedienen, nicht jedoch den Rumpf, denn das „Schlängeln“ und die Grundmuster der Fortbewegung werden von den Gangmuster-Schaltzentren im Rückenmark kontrolliert und vom Kleinhirn dirigiert – hier steuert das Bewusstsein nur indirekt als „Auftraggeber“. Wir haben also eigentlich zwei Systeme zur Steuerung unserer Hände und Füße – die bewusste, direkte Einzelsteuerung über den Motorcortex und die unbewusste, indirekte Steuerung bei koordinierten Laufbewegungen über Kleinhirn und Gangmuster-Schaltzentren. Wenn der Motorcortex einen Befehl zur Einzelsteuerung an eine Hand oder einen Fuß sendet, berechnet das Kleinhirn sofort, wie sich die Körperbalance während der Ausführung mit den übrigen Gliedmaßen halten lässt. Während der bewussten Bewegung einer Extremität wird daher die unbewusste Schlängelbewegung des Rumpfes fixiert. Sie können das leicht beobachten, indem Sie beispielsweise beim Joggen mit der Hand das Telefon bedienen oder den Reißverschluss der Jacke einfädeln – die bewusste Einzelsteuerung ihrer Hände blockiert die Schlängelbewegung des Rumpfes und die Laufbewegung wird dabei sofort steifer und anstrengender.

Das Beispiel illustriert auch, dass unsere bewusste Bewegungssteuerung im Motorcortex in Wirklichkeit nicht ausreicht, um unsere Bewegungen tatsächlich zu steuern. Es funktioniert nur, wenn die Übrigen im Team mitarbeiten – wenn der Komponist in der Großhirnrinde ein Stück für Solisten und Orchester schreibt, muss das Kleinhirn dieses Stück dirigieren, sodass die Schaltzentren der Muskelgruppen als Musiker im Orchester wissen, wer gerade als Solist und wer die Begleitung spielen soll.

Diese Art der Verkabelung unserer bewussten Körperwahrnehmung ist auch der Grund dafür, weshalb die Reitliteratur voll von Zügel- und Schenkelhilfen ist: Die Verfasser dieser Reitliteratur waren selbst meist begnadete Reiter (in deren Kleinhirn das Programm „Laufen mit Pferd“ installiert war), aber sie hatten naturgemäß kaum bewusste Wahrnehmung von ihren dabei stattfindenden Rumpfbewegungen und von der Art, wie sie durch Neuausrichtung ihrer Körperachse auf die Pferdebewegung Einfluss nahmen. Daher beobachteten und beschrieben sie stattdessen, wo sich ihre Hände und Füße bei den einzelnen Lektionen befanden und wie sich Hände und Füße dabei bewegten, obwohl diese Bewegungen eigentlich unwesentlich sind. So lange ihre Reitschüler jung genug durch Üben auf gut ausgebildeten, kooperativen Pferden ebenfalls bereits das Programm „Laufen mit Pferd“ installiert hatten, war dies kein Problem. Das Dilemma beginnt dort, wo ein Mensch ohne diese Programminstallation Reiten lernen will, indem er versucht, die Instruktionen bewusst umzusetzen – sein Motorcortex steuert die Bewegung eines Schenkels oder einer Hand für die entsprechende Hilfe, während sein Kleinhirn dabei die Schlängelbewegung des Rumpfes fixiert. Allein die bewusste Konzentration auf unsere Hände oder Beine bewirkt, dass der Motorcortex die Kontrolle übernimmt, denn das Betriebssystem in unserem Kleinhirn ist so programmiert, dass die bewusste Steuerung immer Priorität hat (Artoni, et al., 2017). Ein solcher Reiter kann daher das Pferd nicht mehr fühlen, geschweige denn mit seiner Rumpfbewegung gezielt beeinflussen. Die Befolgung der Instruktionen für Hände und Füße verhindert, dass das Programm „Laufen mit Pferd“ jemals in seinem Kleinhirn installiert wird.

Als Erwachsene sind wir, zumindest in unserem heutigen Kulturkreis, weitestgehend Verstandesmenschen. Wir können nicht mehr mit der Unbefangenheit eines Kleinkindes Reiten lernen, zumal wir als Erwachsene ein geschärftes Risikobewusstsein haben und daher von Anfang an auch die Kontrolle behalten wollen. Unser bewusster Verstand in der Großhirnrinde ist der Komponist, der im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angibt, das Teammitglied, welches gerne das große Wort führt. Das Kleinhirn, unser innerer Dirigent, wird versuchen, jegliche Komposition mit dem Orchester einzustudieren. Wenn wir es daher versäumt haben, das Reiten als Kinder zu erlernen, müssen wir mit unserem bewussten Verstand eine Komposition erschaffen, die nicht nur von unserem Kleinhirn in die Bewegung eines reitenden Menschen umgesetzt werden kann, sondern auch vom Kleinhirn unseres Pferdes verstanden werden kann. Auch beim Pferd funktioniert das neuronale Steuerungsteam in völlig analoger Weise wie beim Menschen. Ein isolierter Druck einer Schenkel- oder Zügelhilfe auf einen Punkt des Pferdekörpers läuft als sensorische Meldung in der Großhirnrinde des Pferdes ein, wird dort verstanden (oder auch nicht) und in eine Komposition für den Pferdekörper umgesetzt. Selbst wenn das Pferd gelernt hat, was das Klopfen und Zupfen bedeuten soll – es ist in derselben Situation wie der Jogger, der beim Laufen sein Mobiltelefon bedienen muss: Das Verstehen, Verarbeiten und Umsetzen eines Einzelsteuerbefehles blockiert die rhythmische Schlängelbewegung der Gangmuster-Schaltzentren. Daher wirkt das Reiten mit Schenkel- und Zügelhilfen immer hölzern und grobmotorisch. Eine synchrone Bewegung mit dem Pferd ist nur dann möglich, wenn die beiden Dirigenten direkt über die unterbewusste Propriozeption zusammenarbeiten, wenn also Mensch und Pferd ihre Rumpfbewegungen koppeln.

Die Synchronisation mit der Pferdebewegung verbessert sich daher, wenn der Reiter lernt, die Dominanz seiner Großhirnrinde bei der Bewegungssteuerung bewusst zu unterdrücken. Eine Methode, dies zu erreichen, hängt mit der Fokussierung des Blickes zusammen: Seit der Zeit der Urwirbeltiere reißt unser Großhirn sofort die Kontrolle an sich, sobald wir etwas mit dem Blick fixieren. Umgekehrt hält es sich zurück, wenn wir unseren Blick nicht auf ein bestimmtes Objekt fokussieren, sondern bewusst unser gesamtes, auch peripheres Blickfeld wahrnehmen. In einigen Reitlehren, beispielsweise dem „Reiten aus der Körpermitte“ von Sally Swift spielt daher der „weiche“ Blick eine wichtige Rolle (Swift, 1989).

Der Intendant – das limbische System

Das limbische System erzeugt die Empfindungen und ist daher für die Lernfähigkeit entscheidend, da es allem Erlebten einen Sinn verleiht. Schenkel- und Zügelhilfen werden vom Pferd durch Konditionierung erlernt und bewusst über die Großhirnrinde verarbeitet. Daneben existiert die Kommunikation über Körperwahrnehmung, die auch und mitunter vollständig unbewusst erfolgen kann.

In der Philharmonie der neuronalen Steuerung gibt es den Komponisten (die Großhirnrinde), den Dirigenten (das Kleinhirn) und das Orchester, in dem die Musiker (die Gangmuster-Schaltzentren) virtuos ihre Instrumente (die einzelnen Muskelgruppen) bedienen – und es gibt einen Intendanten, der den Spielplan macht. Dieser Intendant ist das sogenannte limbische System, ein Gehirnteil, der ebenfalls bereits bei den primitivsten Wirbeltieren angelegt ist. Hier (und nicht mit unserem Verstand) entscheiden wir und alle anderen Wirbeltiere, was wir als gut oder schlecht empfinden und welche Ereignisse in unserem Gedächtnis abgespeichert werden. Zwei Strukturen im limbischen System sind hierfür zuständig: Die als Amygdala („Mandelkern“ nach der anatomischen Form) bezeichnete Gehirnregion ist der Sitz von Emotionen und Motivation, hier wird jedes im Gehirn als „neu“ oder „wichtig“ registrierte Ereignis dahingehend bewertet, ob es angenehm oder unangenehm ist. Auffällige Ereignisse werden zusammen mit dieser Bewertung von der Amygdala an eine Gehirnstruktur weitergeleitet, die als Hippocampus bezeichnet wird (der Name leitet sich ab von „Seepferdchen“, da diese Gehirnstruktur eine ähnliche Form aufweist). Der Hippocampus hat die Funktion eines Archivars: Hier wird entschieden, welche Inhalte im Gedächtnis gespeichert werden, wo diese Inhalte abgelegt werden und wie sie wieder abgerufen werden können. Das Gedächtnis funktioniert im Prinzip wie ein Puzzle – alle Eindrücke, Bilder, Geräusche oder Gerüche, die gleichzeitig bei einem als „wichtig“ bewerteten Ereignis registriert wurden, werden in der jeweils dafür zuständigen Gehirnregion abgelegt. Nehmen wir auch nur einen dieser Eindrücke erneut wahr, wird durch die Tätigkeit des Hippocampus erneut das ganze Bild aus den Puzzlestücken zusammengesetzt. Wir riechen zum Beispiel Zimt und erinnern uns an das Weihnachtsfest bei unseren Großeltern. Diese Fähigkeit, beliebige Eindrücke zu verknüpfen, zu bewerten und im Gedächtnis abzuspeichern, macht das limbische System mit Amygdala und Hippocampus zu derjenigen Gehirnregion, die bei allen Wirbeltieren das Lernen neuer Zusammenhänge ermöglicht.

Lernen durch Konditionierung

Wenn es darum geht, dass ein Pferd etwas lernen soll, wird meist das Lernmodell der Konditionierung herangezogen. Unsere Zügel- und Schenkelhilfen sind Signale, die einem Pferd zunächst nichts sagen. Damit ein Pferd auf einen Schenkeldruck gegen seine Brustkorbwand vorwärtsgeht, muss im Pferdehirn eine Assoziation hergestellt werden zwischen einer spontanen Aktivität (Vorwärtsgehen), einem Signal (Schenkeldruck) und einer positiven (Lob, Futter) oder negativen Verstärkung (Aufhören des hoffentlich nicht allzu schmerzhaften Schenkeldruckes). Durch die positive oder negative Verstärkung gewinnt das Signal so viel Bedeutung für das Pferd, dass es im Gedächtnis zusammen mit den assoziierten Eindrücken gespeichert wird. Um in der Pferdeausbildung nicht allzu lang auf ein gewünschtes spontanes Verhalten warten zu müssen, wird das „Vorwärtsgehen“ anfangs meist durch einen Stimulus ausgelöst, der beim Fluchttier Pferd natürlicherweise diese Reaktion hervorruft (ein Wedeln mit einer Gerte, einem Seil oder Ähnlichem). Das erste Training der Schenkelhilfe bei einem jungen Pferd erfolgt dann, indem der natürliche Stimulus des Fluchtverhaltens (wedelnde Gerte) und der Reiterschenkel gleichzeitig eingesetzt werden, so lange bis das Pferd die Assoziation verstanden hat und die Puzzlestücke der treibenden Hilfen zusammengesetzt sind: „Berührung an der Brustkorbwand bedeutet, dass ich (schneller) vorwärtsgehen soll, wenn ich es sofort tue, gibt das Alien auf meinem Rücken Ruhe, wenn ich es nicht tue, wird das Alien ungeduldig und nimmt auch noch die Gerte dazu.“

Wir können mit Geduld und geschickt aufgebautem Training beliebige Signale mit den erwünschten oder unerwünschten Aktivitäten eines Pferdes assoziieren. Die Parade als verhaltende Zügelhilfe hat in allen Reitweisen ihren Ursprung im Anbindetraining des jungen Pferdes, das dabei lernt, dass Zug oder Druck am Kopf „hierbleiben“ bedeutet und dass Widerstand dagegen zwecklos oder sogar schmerzhaft ist. Wir brauchen diese konditionierten Signale, um mit einem Tier, das uns an Körperkraft zehnfach überlegen ist, sicher umgehen zu können. Zügel- und Schenkelhilfen als konditionierte Signale sind Anweisungen an das Pferd, eine bestimmte Aktivität zu tun oder zu lassen. Wie alle Anweisungen sollten sie jedoch nicht ständig wiederholt werden. Sie sind daher nicht dazu geeignet, einem Pferd zu erklären, wie es sich synchron mit seinem Reiter bewegen soll. Fragen Sie sich selbst, wie und wann Anweisungen angebracht sind: Würden Sie gerne mit einem Vorgesetzten zusammenarbeiten, der ihnen jeden einzelnen Buchstaben diktiert und dabei vielleicht noch ungeduldig hinter ihnen steht und jeden Tippfehler moniert? Oder lieber mit einem Vorgesetzten, der ihnen nur einfach den Auftrag gibt, ein Mahnschreiben an die Firma Spät zu schicken, die mit der Lieferung in Verzug ist? Oder vielleicht noch lieber mit einem Vorgesetzten, der Sie nur dann an das Mahnschreiben erinnert, wenn Sie es tatsächlich einmal vergessen haben? Pferde, die ständig mit Zügel- und Schenkelhilfen geritten werden, haben alle den ersten Typ Vorgesetzten. Wenn dieser Reiter oder Vorgesetzte auch noch zu Ungeduld neigt, besteht ein hohes Risiko, dass das Pferd oder der Mitarbeiter das Krankheitsbild einer Depression entwickelt, welches im menschlichen Berufsleben heutzutage auch als „Burn-out“ bezeichnet wird. „Erlernte Hilflosigkeit“, also die Unmöglichkeit, eine unangenehme Einwirkung durch eigenes Handeln zu beenden, ist einer der stärksten bekannten Auslöser für die Entwicklung depressiver Erkrankungen.

Wir brauchen Anweisungen oder Befehle in Form konditionierter Hilfen, um als Menschen mit einem Pferd auch dann eindeutig kommunizieren zu können, wenn das Pferd abgelenkt, aufgeregt oder an anderen Dingen interessiert ist. Befehle sind aber kein Ersatz für Kommunikation. Daher stellt sich die Frage, wie Kommunikation zwischen zwei Wirbeltieren ganz grundlegend funktioniert.

Kommunikation

Dazu muss man zunächst die Frage stellen, wie die Kommunikation im Körper eines Wirbeltieres erfolgt. Die Amygdala im limbischen System eines Säugetiergehirns beurteilt ständig, was gut oder schlecht ist, was Freude macht oder Angst einjagt, was schmeckt oder Ekel erregt. Die Informationen dazu kommen aus allen anderen Gehirnteilen und damit aus allen Körperregionen und Sinnesorganen. Das limbische System gibt aber auch ständig Rückmeldung über seine Bewertungen an den gesamten Körper: Unser Auge vergleicht die Zahlen der Lottoziehung mit denjenigen auf unserem Tippschein, unsere Großhirnrinde weiß, dass hohe Übereinstimmung viel Geld bedeutet, unser Kleinhirn erkennt und meldet die Übereinstimmung an das limbische System, das limbische System bewertet die Situation mit „große Freude“ – und sofort hüpft unser Körper, unsere Mimik zeigt ein Lachen und unsere Stimme jubelt.

Kommunikation ist also primär und ursprünglich etwas, das innerhalb eines Körpers stattfindet, im inneren Team der neuronalen Steuerkreise. Im Laufe der Evolution zeigte sich jedoch rasch, dass es einen enormen Überlebensvorteil bietet, wenn man nicht nur selbst weiß, was gut oder gefährlich ist, sondern auch die Eindrücke anderer wahrnehmen kann. So können etwa Fische ihr Verhalten gegenseitig beobachten und abstimmen, sodass sie als Schwarm zusammenbleiben und gemeinsam bei Gefahr abwenden und flüchten können. Das Beobachten der Körpersprache informiert darüber, was andere Individuen derselben Art denken und fühlen. Körpersprache ist die ursprünglichste Form der Kommunikation. Nur wenige Tierarten haben wie wir Menschen einen so differenziert beweglichen Stimmapparat, dass eine detailreiche Kommunikation über Lautäußerungen möglich wird. Obwohl wir Menschen meist akustisch über Sprache kommunizieren, besitzen wir nach wie vor die Fähigkeit der Körpersprache.

Wir verstehen Stummfilme und Pantomimen und entwickeln erstaunliche Talente, wenn wir uns im Ausland verständlich machen müssen, ohne die lokale Sprache zu sprechen. Wir Menschen können untereinander Körpersprache aber nicht nur durch Beobachtung verstehen, sondern auch erfühlen. Unsere Paartänze sind die ritualisierte Übung dieser Fähigkeit – wir Menschen (zumindest manche von uns) finden es interessant und unterhaltsam, gefühlte Körpersprache zu lesen und darauf zu reagieren, also paarweise synchron mit gekoppelten Rumpfbewegungen über das Parkett zu gleiten.

Pferde kommunizieren fast ausschließlich über Körpersprache. Als hoch soziale Wesen können sie sich körpersprachlich nicht nur sehr differenziert ausdrücken (Neugebauer & Neugebauer, 2011), sondern sind auch ausgezeichnete Beobachter von Körpersprache. Wir Menschen können lernen, die Körpersprache von Pferden zu verstehen – Pferde verstehen die menschliche Körpersprache mindestens ebenso gut, wenn sie regelmäßig Umgang mit uns „Aliens“ haben. Pferde können daher lernen, unsere Körpersprache auch dann zu lesen, wenn wir auf ihnen sitzen und sie uns nicht sehen, sondern nur fühlen können. Wenn wir als Reiter in der Lage sind, unsere Rumpfbewegungen so zu kontrollieren, dass sie für das Pferd verständlich werden, gehen Pferde gerne auf das Kommunikationsangebot ein. Das Pferd ist die einzige Tierart, die zusammen mit (manchen) Menschen die Fertigkeit eines Paartanzes entwickelt.

Teamarbeit

Kommunikation über erlernte Signale (etwa Schenkel- oder Zügelhilfen) wird bei Reiter und Pferd über die Großhirnrinde verarbeitet. Dieser Prozess blockiert eine gleichzeitig ablaufende Körperwahrnehmung.

Die neuronale Steuerung bei Säugetieren arbeitet also wie ein Team, in dem jedes Mitglied auf seine Aufgabe spezialisiert ist, dabei aber mit allen anderen in Kontakt steht. Die meisten Tätigkeiten und Sportarten erfordern ein abgestimmtes Handeln aller Teammitglieder. Die größte Schwierigkeit beim Reiten ist die ungewöhnliche Aufgabenverteilung zwischen bewusstem Handeln (Motorcortex), unbewusster Balancesteuerung (Kleinhirn) und Rumpfbewegung (Gangmuster-Schaltzentren). Es gibt durchaus Sportarten, bei denen Menschen Objekte mit ihrer Rumpfbewegung steuern und kontrollieren. Hierzu gehören beispielsweise Fahrrad, Motorrad, Ski, Surfbrett und viele mehr. Bei all diesen Sportarten lernt unser Kleinhirn gemeinsam mit den Gangmuster-Schaltzentren, die Balance auf dem externen Objekt zu halten und es zu kontrollieren. Unsere Rumpfmuskulatur ist dabei nicht nur für die aktive Kontrolle des Sportgerätes verantwortlich, sondern fungiert über die propriozeptiven Neuronen der Gangmuster-Schaltzentren auch als der wichtigste Sensor zum Bewegungszustand. Fahrrad- oder Motorradfahren funktioniert über die Schlängelbewegung unseres Rumpfes! Ein Pferd ist jedoch kein von Menschenhand geschaffenes Sportgerät, das auf vorhersagbare Weise reagiert. Ein Pferd ist ein Lebewesen, mit körperlichen Asymmetrien, Intelligenz und eigenem Willen. Ein Pferd reagiert auf eine Reiterbewegung nicht immer exakt gleich. Ein Sportgerät können wir mit unseren unbewussten Rumpfbewegungen kontrollieren, ein Pferd müssen wir fragen, seine Antwort verstehen und angemessen darauf reagieren. Reiten nur am Sitz bedeutet differenzierte Kommunikation mit Körperteilen, die wir normalerweise nur unbewusst steuern. Über Jahrtausende haben Reitmeister damit gerungen, diesen Vorgang in Worte zu fassen. Keiner der historischen Reitmeister liefert eine vollständige Beschreibung, lediglich Bruchstücke – ähnlich wie in der Fabel von den blinden Weisen, die durch Abtasten eine Vorstellung von einem Elefanten zu erlangen versuchen. Jedes Bruchstück der Wahrnehmung ist zwar in sich richtig, aber das Gesamtbild lässt sich nur mit zusätzlicher Information zusammenfügen.

Die moderne Naturwissenschaft ist heute in der Lage, die Pferdebewegung exakt zu beschreiben, einschließlich der Asymmetrien des Pferdekörpers. Damit steht die Zusatzinformation zur Verfügung, die man benötigt, um die Bruchstücke der Wahrnehmung zusammenzufügen. Wir können heute beschreiben, welchen Bewegungen ein Reiter auf einem Pferd in den verschiedenen Gangarten ausgesetzt ist, was in einer Wendung mit dem Körpergleichgewicht geschieht und wie Geraderichten funktioniert. Mit diesem Wissen ist es möglich, durch Schulung der eigenen Körperwahrnehmung die Fähigkeit zur differenzierten Kommunikation mit dem Reitersitz zu entwickeln. Allerdings existiert eine weitere Hürde auf diesem Weg – der menschliche Verstand ist so organisiert, dass ein Mehr an theoretischem Wissen das Erlernen einer körperlichen Fähigkeit eher behindert. Der Grund hierfür ist die unterschiedliche Spezialisierung der beiden menschlichen Gehirnhälften.

Spiel und Ziel – die unterschiedlichen Begabungen der menschlichen Gehirnhälften

Kinder erlernen die gemeinsame Bewegung mit dem Pferd vor allem deshalb so leicht, weil sie es spielerisch tun, nur im Moment lebend und aus Freude an der Bewegung. Erwachsene dagegen haben in der Regel einen Plan, wie sie mit dem Pferd umgehen wollen. Kinder setzen beim Reiten vorrangig ihre rechte Gehirnhälfte ein, Erwachsene ihre linke.

Auf den ersten Blick sind die beiden Hälften des Gehirns funktionsäquivalent – jede Gehirnhälfte steuert eine Körperhälfte, wobei wegen der Überkreuzung der Nervenbahnen die linke Hirnhälfte die rechte Körperhälfte steuert und umgekehrt. Bei Affen lässt sich jedoch beobachten, dass die linke Hand (gesteuert von der rechten Hirnhälfte) bevorzugt zum Fangen bewegter Objekte genutzt wird, während die rechte Hand (gelenkt von der linken Hirnhälfte) bevorzugt zum Festhalten an einem Objekt dient (Rogers, 2009). Vor etwa 2,5 Millionen Jahren begannen die Vorfahren des Menschen jedoch, sich mehr und mehr im Gebrauch von Werkzeugen zu üben und verwendeten hierzu bevorzugt ihre rechte Hand, denn ein Werkzeug muss man gut festhalten. So trainierten sie gleichzeitig die zugehörige linke Gehirnhälfte für diese Aufgabe. Machen wir uns kurz bewusst, was die Aufgabe „Werkzeuggebrauch“ beinhaltet: Man muss ein Ziel haben, was man mit dem Werkzeug erreichen will, eine Vorstellung, wie das Werkzeug dafür einzusetzen ist, und einen Plan, welche Bewegungen und Handgriffe nacheinander auszuführen sind. Die hoch entwickelte menschliche Intelligenz ist eng verknüpft mit diesem „Begreifen“ und der logischen Aneinanderreihung verschiedener „Begriffe“. Unsere Sprache und unsere schriftliche Überlieferung basieren auf der Abfolge von Begriffen, Zeichen und Symbolen. Sprache wird von unserer linken Hirnhälfte erzeugt. Entsprechend ist unsere linke Gehirnhälfte durch Evolution und ständiges Training hoch spezialisiert, einen Plan zum zielgerichteten Handeln zu entwickeln, zu verstehen und umzusetzen – und diese Erfahrung anderen mitzuteilen.

Die menschliche Intelligenz kommt jedoch durch das Zusammenwirken beider Gehirnhälften zustande. Einen einzigartigen Einblick in deren unterschiedliche Funktionen gibt die Hirnforscherin Jill B. Taylor, die ihren eigenen Schlaganfall überlebte und die damit verbundenen Erfahrungen in einem Buch beschrieben hat (Taylor, Mit einem Schlag, 2008) (Taylor, 2006). Während Blutgerinnsel ihre linke Gehirnhälfte ausschalteten, erlebte sie die Welt aus der Sicht ihrer rechten Gehirnhälfte – eine sprachlose Welt, in der Raum und Zeit eins wurden. In einem jahrelangen Prozess der Rekonvaleszenz erlangte sie jedoch wieder die Fähigkeit zu sprechen und zu schreiben und konnte so von dieser Erfahrung berichten. Ihr Buch bietet einen einzigartigen Einblick, wie das Zusammenspiel der beiden Hirnhälften die Facetten der menschlichen Persönlichkeit formt:

In der rechten Hirnhälfte geht es nur um das Hier und Jetzt, sie empfindet das Glück und die Freude des Augenblicks. Sie denkt in Bildern und nimmt den eigenen Körper ohne Grenzen als Bestandteil des Universums wahr. Sie versteht die unterschwelligen Hinweise der Sprache, wie etwa Gesichtsausdruck und Körpersprache, sie betrachtet das Gesamtbild der Kommunikation und bewertet die Übereinstimmung des Ganzen. Die rechte Hirnhälfte erzeugt in unserem Bewusstsein Empathie, Mitgefühl und Intuition.

Die linke Hirnhälfte versteht die Details, sie versteht die Buchstaben und wie sie zusammen Wörter ergeben, die aneinandergereiht eine komplexe Botschaft übermitteln. Die linke Hirnhälfte denkt in Sprache, in Form einer inneren Stimme, die sagen kann „ich bin“, wodurch wir in unserem Bewusstsein zu unabhängigen Wesen werden, einzigartige feste Körper, getrennt vom Ganzen. Die linke Hirnhälfte erzeugt in unserem Bewusstsein das Ichgefühl und die Fähigkeit zu logischem Denken. Sie ist ehrgeizig, vergleicht sich ständig mit anderen und möchte die gesteckten Ziele erreichen.

Beide Hirnhälften arbeiten zusammen: Die linke Hirnhälfte reiht die von der rechten Hirnhälfte geschaffenen Bilder eines Momentes in zeitlicher Abfolge auf und vergleicht die Details dieses Momentes mit denen des letzten. Dadurch entstehen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die linke Hirnhälfte macht uns die Ausmaße unseres Körpers bewusst, während die rechte Hirnhälfte uns hilft, ihn dort zu platzieren, wo wir ihn hinbewegen möchten.

Je nach Situation und individueller Persönlichkeit kann die dominante Rolle von der linken oder der rechten Hirnhälfte übernommen werden. Durch die Erziehung zum Lesen, Schreiben und planvollen Strukturieren des Tagesablaufes wird bei Menschen der modernen Kulturen meist spätestens im Erwachsenenalter die linke Hirnhälfte dominant.

Für die Kommunikation mit einem Pferd ist es jedoch nicht ideal, wenn unsere linke Hirnhälfte dominiert. Pferde haben in der Evolution weder den Gebrauch von Werkzeugen noch die Kommunikation über Symbolabfolgen oder Worte entwickelt. Pferde kommunizieren untereinander fast ausschließlich über Körpersprache. Wir dürfen daher annehmen, dass ihre „Pferdsönlichkeit“ eher unserer intuitiven Persönlichkeit ähnelt, die vom Einfluss der rechten Hirnhälfte erzeugt wird. Reiten mit Sitzhilfen wird auch aus diesem Grund von Pferden weitaus besser verstanden als Reiten über erlernte Abfolgen von Zügel- oder Schenkelhilfen!