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Religion und Macht waren lange Zeit wie zwei Seiten einer Medaille. Religion legitimierte Herrschaft und Herrschaft stützte Religion. Dies änderte sich im 18. Jahrhundert fundamental. Religion sah sich nun rivalisierenden Interessen des Staates, der Politik und gesellschaftlicher Gruppierungen gegenüber. Zeitgleich fand eine rasante Säkularisierung und Pluralisierung statt. Gerade das 19. Jahrhundert führte zur Abspaltung einer Vielzahl von Gruppierungen und Sekten. Auch Glaubensgemeinschaften, die keinerlei Bezug zum Christentum aufwiesen, traten nun vermehrt in Erscheinung, Nach den beiden Weltkriegen setzte sich dieser Trend fort. Zahlreiche Mischformen und Anachronismen keimten auf und bildeten ein außerordentlich vielschichtiges Gefüge. Horst Junginger zeigt die Wechselwirkungen zwischen Religion und Gesellschaft auf und geht den komplexen Ursachen für die charakteristischen Pluralisierungsprozesse der deutschen Religionsgeschichte der letzten 200 Jahre nach.
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Seitenzahl: 266
Herausgegeben vonKai Brodersen, Martin Kintzinger,Uwe Puschner, Volker Reinhardt
Herausgeber für den Bereich 19./20. JahrhundertUwe Puschner
Berater für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Walter Demel, Merith Niehuss, Paul Nolte
GESCHICHTE KOMPAKT
Horst Junginger
Abbildungsnachweis
S. 68: www.dbk.de/ueber-uns; S. 81: akg-images; S. 149: picture-alliance
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© 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe dieses Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Redaktion: Christina Kruschwitz, BerlinSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, HemsbachEinbandabbildung: ©picture-alliance/dpaEinbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-25811-6
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-73623-2eBook (epub): 978-3-534-73624-9
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Inhaltsverzeichnis
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Impressum
Geschichte kompakt
I. Der religiöse Wandel
1. Rückgang der Kirchenbindung
2. Unsicherheit der Religion gegenüber
II. Der wissenschaftliche Referenzrahmen
1. Die doppelte Bedeutung der Religionsgeschichte
2. Der Zusammenhang von Gegenstand und Methode
3. Religions- als Kulturwissenschaft
4. Säkularisierung und Moderne
III. Hauptlinien des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche
1. Konfessionsbildung und Verreichlichung
2. Der Kulturkampf
a) Voraussetzungen
b) Verlauf
c) Folgen
3. Das Christentum und die Arbeiterbewegung
a) Das Aufkommen der Sozialdemokratie
b) Konfessionelle Arbeiterorganisationen
c) Abwendung der Proletarier von der Religion
d) Die SPD und das Christentum
e) Atheismus in der DDR
IV. Religionsgeschichte des Christentums
1. Katholische Kirche
a) Wesen und Selbstverständnis
b) Organisatorischer Aufbau
c) Glaubensleben
d) Kirchliche Entwicklung
2. Evangelische Kirchen
a) Die reformatorische Tradition
b) Geschichtliche Entwicklung
c) Organisation und Bekenntnis
3. Andere christliche Kirchen
a) Orthodoxe Kirchen
b) Freikirchen
c) Christliche Sondergemeinschaften
V. Die nichtchristliche Religionsgeschichte Deutschlands
1. Judentum
2. Islam
3. Andere Religionen und Weltanschauungen
a) Die Religion von Einwanderern
b) Esoterik und neue Religionen
c) Freireligiöse und Humanisten
VI. Allgemeine Trends und Entwicklungslinien
1. Religionsfreiheit
2. Ambivalenz des Religiösen
3. Religionspluralismus
Auswahlbibliographie
Register
In der Geschichte, wie auch sonst, dürfen Ursachen nicht postuliert werden, man muss sie suchen. (Marc Bloch)
Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.
Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.
Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.
Kai Brodersen
Martin Kintzinger
Uwe Puschner
Volker Reinhardt
Überblick
Vorliegende Einführung in die Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne soll den dynamischen Entwicklungscharakter des religiösen Wandels deutlich machen. Der historische Blick auf die Religion lässt erkennen, dass ihre vermeintlich absolute Wahrheit relativer Natur ist. Religionen entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl nichtreligiöser Faktoren, die von außen auf sie einwirken. Die Dominanz der christlichen Kirchen zu Beginn des Kaiserreichs ist hundertfünfzig Jahre später einer weltanschaulichen Pluralität gewichen, die vom religiösen Alleinvertretungsanspruch des Christentums kaum etwas übrig gelassen hat. Um die deutsche Religionsentwicklung verstehen und die mit ihr einhergehenden Veränderungen beurteilen zu können, ist die fundierte Kenntnis der christlichen Tradition unabdingbar. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um christliche Traditionen im Plural, deren Homogenität nicht nur durch den konfessionellen Streit zwischen Katholiken und Protestanten, sondern auch durch eine wachsende Zahl nichtchristlicher Religionen in Frage gestellt wird.
Relativierung der Religion
Eine Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne zu schreiben ist einerseits reizvoll, hat andererseits aber auch etwas Anachronistisches, weil immer weniger Menschen Religion und Christentum als ein das eigene Leben bestimmendes Phänomen ernst nehmen. Sofern man heute überhaupt noch religiös ist, pflegt man seinen Glauben wie ein Hobby, dem man aus einem konkreten Anlass zu bestimmten Zeiten nachgeht. Ansonsten, das heißt im Alltagsleben und im Rest der Woche, spielt die Religion selbst für viele Kirchenmitglieder nur noch eine untergeordnete Rolle.
Nicht nur die individuelle, sondern auch die gesellschaftspolitische Prägekraft der christlichen Religion hat im Vergleich zu früher stark nachgelassen. Unter Verlust ihrer bis vor wenigen Jahren noch dominierenden Stellung ist sie zu einem gesellschaftlichen Einflussfaktor neben vielen anderen geworden. Überbleibsel des ehemals engen, ja symbiotischen Verhältnisses von Staat und Kirche werden heute zunehmend in Frage gestellt. Tritt das Religiöse in den Gesichtskreis der öffentlichen Aufmerksamkeit, dann eigentlich nur, wenn es irgendwo einen Skandal zu vermelden gibt, oder wenn religiöse Fundamentalisten versuchen, der Mehrheit ihre Meinung aufzuzwingen. Man kann sagen, dass die Religion in Deutschland aufgehört hat, eine Selbstverständlichkeit zu sein.
Pluralisierung der Religion
Erschienen Religion und Christentum bis in die Neuzeit hinein als nahezu identische Größen, ist seit den 1970er Jahren eine deutliche Zunahme des Interesses an nichtchristlichen und außereuropäischen Religionen zu beobachten. Im Zuge der Globalisierung des Weltgeschehens entstanden vielfältige Möglichkeiten, sich aus einem stetig wachsenden Arsenal an religiösen Traditionsbeständen das herauszusuchen, was einem als besonders attraktiv erscheint. Solche Religionsbausteine werden nach individuellen Interessen ausgewählt und in einem Akt der religiösen Selbstermächtigung nach eigenem Belieben neu zusammengesetzt. Man braucht sich nur die einschlägigen Abteilungen in den Buchhandlungen anzusehen, um zu erkennen, in welchem Umfang die zahlreichen Spielarten der Esoterik und einer kirchlich nicht mehr gebundenen religiösen Lebenshilfe zugenommen haben.
Zur Pluralisierung der Religionsverhältnisse gehört aber auch das starke Anwachsen des nichtreligiösen Teils der Bevölkerung, der sich in seiner großen Mehrheit durch die unspektakuläre Gleichgültigkeit der Religion gegenüber charakterisiert. Einer zahlenmäßig kleinen Minderheit überzeugter Atheisten gelingt es jedoch immer wieder, mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen in Erscheinung zu treten.
Nachlassende Kirchenbindung
Selbst in den Kirchen hat die Neigung zur religiösen Indifferenz und ein säkulareres Weltverständnis Platz gegriffen. Der religiöse Inhalt grundlegender Dogmen und Bekenntnisgrundsätze wird von vielen Christen nur noch ansatzweise gekannt und im praktischen Leben kaum mehr beachtet. Welche Sakramente es gibt und worin ihre religiöse Funktion besteht, ist nur noch für eine Minderheit bekennender Christen von Bedeutung. Auf Fragen nach dem christlichen Heilsgeschehen, nach der Erbsünde oder der Wesensverwandlung von Brot und Wein im evangelischen Abendmahl oder der katholischen Eucharistie kann der normale Gläubige im Allgemeinen keine theologisch zureichende Antwort mehr geben. Alles, was mit Wundern im engeren Sinn zu tun hat, wird nicht mehr als empirische Wirklichkeit aufgefasst, sondern allegorisch gedeutet. Die Hölle, der Teufel oder der Heilige Geist sind wie viele andere elementare Glaubenswahrheiten aus dem Weltbild eines Durchschnittschristen fast vollständig verschwunden.
Noch vor wenigen Jahren als selbstverständlich geltende Moralgrundsätze auf dem Gebiet der Sexualität und des ehelichen Zusammenlebens haben sich weitgehend verflüchtigt. Die veränderte Einstellung zu alleinerziehenden Müttern und Vätern, zu bireligiösen Ehen, zu „Ehen ohne Trauschein“, zu Homosexualität und anderen Formen sexueller Identität und Neigung ist ein evidentes Beispiel dafür, wie schnell sich religiös geprägte Verhaltensweisen ändern und aus dem Einflussbereich der Kirchen heraustreten können. De facto hat das für die Kirche zentrale Sakrament der Ehe aufgehört, die Lebenswirklichkeit der Deutschen zu bestimmen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten noch 96 Prozent aller Deutschen einer christlichen Konfession an. Heute ist die Kirchenmitgliedschaft dagegen auf 66 Prozent zurückgegangen. In absehbarer Zukunft wird weniger als die Hälfte der Bevölkerung Mitglied in der evangelischen oder katholischen Kirche sein. Weite Teile Deutschlands sind bereits jetzt als areligiös zu bezeichnen. Es hat lange gedauert, bis man sich der Dimension dieser Veränderung bewusst wurde und über ihre politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen nachzudenken begann. Die Frage ist dabei nicht, ob der Trend zur Entkirchlichung aufgehalten werden kann, sondern auf welchem Niveau die Kirchen ihren Status als religiöse Interessensvertretung einer mehr oder weniger großen Gruppe von Menschen halten können. Während die einen den Rückgang der Kirchenbindung bedauern und einen Niedergang der Moral und öffentlichen Ordnung voraussagen, sehen die anderen in ihm einen normalen, vielleicht sogar wünschenswerten Vorgang. Eine Zunahme der Kriminalität sei bisher nicht erfolgt und auch in Zukunft nicht zu erwarten. Solche Äußerungen über den Nutzen oder die Schädlichkeit der Religion geraten allerdings regelmäßig in weltanschauliches Fahrwasser, in dem sachliche Argumente und einfache religionssoziologische Feststellungen unterzugehen drohen.
Mangelndes Wissen über die Religion
Unabhängig davon, welche weltanschaulichen Grundsatzpositionen jemand vertritt, sollte er oder sie den eigenen Standpunkt fundiert begründen können. Was die Religion betrifft, scheint das aber nicht mehr so ohne weiteres gegeben zu sein. Vielmehr hat sich ein neues Un- oder Halbwissen breitgemacht. Ins Auge springende Äußerlichkeiten werden unangemessen pauschalisiert, strukturelle Gegebenheiten hingegen notorisch ausgeblendet. Um dem entgegenzuwirken und um zu verhindern, dass sich der religiöse Streit gefährlich zuspitzt, ist es einerseits notwendig, Religionen in ihrer Binnenlogik zu verstehen, andererseits aber auch, sie in größere religionshistorische Zusammenhänge einordnen zu können.
In dem Maße, wie in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften die Religion ihre Fähigkeit verliert, ein übergreifendes, alle Bereiche gleichermaßen durchdringendes Erklärungsmuster zur Verfügung zu stellen, sie vielmehr selbst zu einem Teilbereich neben vielen anderen wird, scheint der religiösen Auseinandersetzung die existentielle Dimension genommen zu sein. Gleichzeitig wird dabei die Frage virulent, ob sich dadurch eine von wem und wie auch immer zu füllende Leere auftut. Bedarf es in ethisch-moralischer Hinsicht und vor allem bei Fragen von Leben und Tod nicht doch der Religion? Und wenn ja, welcher? Gibt es so etwas wie eine religiöse Essenz, die sich aus allen Religionen gleichermaßen herausdestillieren lassen würde?
Verflüchtigung religiöser Gewissheiten
Die Eindeutigkeit, mit der diese drei Fragen früher mit ja, das Christentum, und nein, es gibt nur eine religiöse Wahrheit, beantwortet wurden, ist gänzlich verschwunden. Stattdessen sind wir in eine Situation der religiösen Unübersichtlichkeit eingetreten. Die Religionsverhältnisse sind in Fluss geraten, und Glaubensgewissheiten, die bis vor kurzem noch als unumstößlich galten, haben ihre Bedeutung eingebüßt.
Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass weniger die Individuen als staatliche Instanzen Probleme damit haben, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Ihre religionspolitischen Maßnahmen offenbaren eine spürbare Unsicherheit bei der Frage, wie man mit religiösen Problemen umgehen und bei einer gestiegenen Zahl religiöser Ansprüche die unangemessenen von den angemessenen unterscheiden soll. Anstatt eine aktive und selbstbewusste Religionspolitik zu betreiben, suchen die Repräsentanten des Staates deshalb am Althergebrachten festzuhalten und die etablierten Aushandlungsprozesse zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen in gewohnter Weise fortzuführen. Das kann unter den Bedingungen des Religionspluralismus und bei Religionsgemeinschaften, die anders organisiert sind als die Kirchen, nur bedingt funktionieren.
Geschichtliche Bedeutung des Christentums
Ungeachtet aller tagespolitischen Auseinandersetzungen um den Rückgang der Kirchenbindung sollte nicht vergessen werden, dass es sich bei der christlichen Religion um eine geschichtliche Erscheinung von großer Bedeutung handelt. Die Entwicklung Europas wurde durch das Christentum maßgeblich bestimmt, und auch die deutsche Geschichte lässt sich nicht verstehen, wenn man seinen Anteil an ihr nicht kennt. Eine methodisch geschulte Vertrautheit mit der eigenen religiösen Tradition gehört deshalb zu den unabdingbaren Voraussetzungen, um sich ein fundiertes Urteil über die Vergangenheit bilden und richtige Schlussfolgerungen für die Gegenwart ziehen zu können.
Auf einen Blick
Wie alle Religionen unterliegt auch das Christentum dem Zwang, sich an veränderte äußere Gegebenheiten anzupassen. Entgegen der Annahme von den ewigen Werten der Religion sind diese kontextabhängig und in der gleichen Weise wie nichtreligiöse Phänomene in den Fluss der geschichtlichen Entwicklung eingebunden. So wie die Religion in ihren unterschiedlichen Ausprägungen Teil der allgemeinen Geschichte ist, bildet auch die Religionsforschung eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft. Dass alle Religionen überhistorische und empirisch nicht nachprüfbare Wahrheitsansprüche erheben, macht den Reiz, aber auch die besondere Schwierigkeit aus, sich wissenschaftlich auf sie einzulassen. Die religionswissenschaftliche Beschäftigung mit der Welt der Religionen fördert zutage, wie vielschichtig sich das Beziehungsgefüge zwischen der Religion auf der einen und dem Staat, der Politik und der Gesellschaft auf der anderen Seite gestaltete und durch welche Dynamik die Religionsentwicklung Deutschlands in den letzten hundertfünfzig Jahren geprägt war.
Überblick
Im Kontext dieser Überblicksdarstellung ist es wichtig, sich die zweifache Bedeutung des Begriffs „Religionsgeschichte“ klarzumachen. Zum einen beschreibt er den Gegenstandsbereich religiöser Phänomene, der im Unterschied zur konfessionellen Kirchengeschichte alle Religionsformen, seien sie christlich oder nichtchristlich geprägt, umschließt. Zum andern bezeichnet der Ausdruck Religionsgeschichte auch einen wissenschaftlichen Ansatz eigener Art. Aufgrund ihrer nichtreligiösen Außenperspektive entwickelte die Religionsgeschichte ein eigenes Methodenspektrum und eine besondere religionswissenschaftliche Systematik, deren wichtigstes Kennzeichen die Ausklammerung der religiösen Wahrheitsfrage ist.
Religionsgeschichte als Gegenstandsbereich
Im Gegensatz zur christlichen Kirchengeschichte hat die vergleichende oder allgemeine Religionsgeschichte eine in mehrerer Hinsicht weiter gefasste Perspektive. Zum einen ist ihr Gegenstandsbereich umfassender. Er umschließt neben den christlichen Konfessionen, Freikirchen und Sondergemeinschaften die ganze Bandbreite der nichtchristlichen Religionen. Dazu gehören heute neben einer großen Zahl an Gruppen, die der Esoterik und dem New Age zuzurechnen sind, auch Gemeinschaften im Übergangsbereich zu nichtreligiösen Sinndeutungen und Lebensentwürfen. Anthroposophie und Theosophie, der Spiritismus und Okkultismus, Yoga und Feng Shui oder Systeme, die eine Psychologisierung des menschlichen Zusammenlebens religiös überhöhen, können hier als Beispiele genannt werden. Solche Phänomene sind in ihrem religiösen Gehalt nicht leicht zu fassen. Sie illustrieren das weite Feld der allgemeinen Religionsgeschichte und tragen dazu bei, die Spezifik einer religiösen Welterklärung besser zu verstehen. Wollte man sie einem herkömmlichen Kirchenbegriff unterwerfen, ginge das an der Wirklichkeit vorbei. Viele der neuen religiösen Bewegungen treten mit dem ausdrücklichen Anspruch auf, keine Kirche oder Heilsanstalt nach christlichem Muster zu sein.
Religionsgeschichte als Wissenschaft
Der Ausdruck Religionsgeschichte bezeichnet aber nicht nur den Gegenstandsbereich der religionswissenschaftlichen Forschung, sondern auch einen eigenständigen methodischen Ansatz. Dieser ist durch das Absehen von religiösen Glaubensaussagen, den religionsgeschichtlichen Vergleich und die Art der wissenschaftlichen Systematisierung charakterisiert. Indem die Religionsgeschichte alle Religionen grundsätzlich gleich behandelt, verbietet es sich für sie, aus der Vielzahl religiöser Wahrheitsansprüche einzelne herauszugreifen und sie anders als die anderen zu beurteilen. Aus religionsgeschichtlicher Perspektive sind alle Religionen gleich gut oder gleich schlecht. Sind bestimmte Religionsformen zu kritisieren, etwa wenn individuelle Freiheitsrechte unterdrückt oder Gewalthandlungen religiös legitimiert werden, geschieht das nicht aus religiösen Gründen, sondern anhand innerweltlicher Maßstäbe, die auch sonst für die Bewertung menschlichen Verhaltens gelten.
Wenn man den Anspruch erhebt, sich mit allen Religionen der Welt gleichermaßen zu befassen, wäre es verheerend, würde man eine oder einige bevorzugen und ihnen ein höheres Maß an Authentizität oder größere Nähe zum „Göttlichen“ zugestehen als anderen. Die Seriosität der religionsgeschichtlichen Arbeit hängt entscheidend davon ab, dass sie nicht durch religiöse Vorannahmen präjudiziert wird und dass alle Religionen in gleicher, wissenschaftlich neutraler Weise untersucht werden. Dem Bemühen um eine sachgerechte Objektivierung des Religiösen wäre der Boden entzogen, wenn es durch religiöse Interessen oder subjektive Glaubenswahrheiten geleitet würde. So wie es dem religiösen Religionsvergleich darum geht, die besondere Bedeutung des eigenen Glaubens herauszustellen, geht es dem religionsgeschichtlichen Vergleich um die Erkenntnis von Zusammenhängen und systematischen Strukturen.
Religiöse Wahrheit
Ob das in einer Religion Geglaubte wahr ist oder nicht, stellt den Dreh- und Angelpunkt für ihre Anhänger dar. Ohne den Glauben an die Wiederauferstehung Jesu nach seinem in der Bibel überlieferten Tod am Kreuz von Golgatha kann man nicht Christ und redlicher Weise auch nicht Theologe oder Kirchenhistoriker sein. Für die Religionsgeschichte bleibt dagegen die Frage nach dem Wahrheitsgehalt religiöser Überlieferungen und Lehrsätze auf die Vermittlung durch den Glauben daran beschränkt. Transzendente Inhalte sind Glaubenswahrheiten und empirisch nicht erforschbar. Nur der auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebrachte Glaube an Gott, Götter, Engel, Geister, Dämonen und andere übernatürliche Wesenheiten lässt sich wissenschaftlich untersuchen, nicht aber ihr supranaturaler Gehalt. Im Unterschied zu einem theologischen Ansatz sind religiöse Offenbarungen, göttliche Prophezeiungen, mystische Visionen, Gebete oder für heilig erachtete Schriften keine Erkenntnisquellen, sondern gehören in ihrer historischen Ausprägung zum Gegenstandsbereich der religionsgeschichtlichen Forschung. Glaubensaussagen lassen sich nur subjektiv begründen und führen auf dieser Grundlage oft zu folgenschweren Konflikten. Vor allem aus praktischen Gründen wurde deswegen das Konzept der Epoché entwickelt. Es soll verhindern, dass die Religionswissenschaft in den Streit der Religionen hineingezogen wird.
Stichwort
Epoché
Der Begriff Epoché stammt aus der griechischen Philosophie und ist ein wichtiger Bestandteil des antiken Skeptizismus. Er verlangt, sich eines Urteils zu enthalten, wenn man im Streit der philosophischen Systeme keiner der beteiligten Parteien recht geben kann. Als religionswissenschaftliches Prinzip postuliert das Epoché-Konzept die Urteilsenthaltung bei religiösen Wahrheitsfragen.
Religionsgeschichte und Religionswissenschaft
Lautete der Name für die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etablierende nichtkonfessionelle Religionsforschung zunächst „allgemeine“ oder „vergleichende“ Religionsgeschichte, kam später aufgrund der quantitativen und qualitativen Ausdehnung des religionsgeschichtlichen Arbeitsfeldes das Wort Religionswissenschaft in Gebrauch. Es trägt dem Umstand Rechnung, dass die religionsgeschichtliche Komparatistik wie jede empirische Wissenschaft der erkenntnistheoretischen und methodischen Reflexion bedarf. Mit der Religionsgeschichte im Zentrum der religionswissenschaftlichen Arbeit kommen in der Religionswissenschaft verschiedene Theorien und Methoden zur Anwendung, die dem Zweck dienen, bestimmte Aspekte von Religion genauer in den Blick zu nehmen.
Quellen und Methoden
Für die Zeit vor dem Aufkommen der Schriftlichkeit stehen der religionsgeschichtlichen Forschung in erster Linie archäologische Funde, Artefakte und bildliche Darstellungen zur Verfügung. Deren Interpretation ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Schriftliche Zeugnisse bieten eine wesentlich günstigere Handhabe, um religiöse Traditionen besser verstehen und einordnen zu können. Je weiter die Kulturentwicklung fortschreitet, desto umfangreicher wird die Bandbreite des religionsgeschichtlichen Quellenmaterials. Mit dem Entstehen moderner Gesellschaften fächerten sich der Objektbereich und sekundär auch das Methodenspektrum der Religionswissenschaft weiter auf. Je mannigfaltiger sich Religionen ausprägen, desto anspruchsvoller und komplexer werden auch die wissenschaftlichen Zugriffsweisen. Die religionsgeschichtliche Methodik folgt dabei den Fußstapfen der religiösen Überlieferung.
Dienten früher in Stein geritzte Zeichen, beschriebene Orakelknochen oder Palmblattmanuskripte der Verbreitung religiöser Aussagen, so sind heute elektronische Kommunikationsmittel dabei, die gedruckte Papierform heiliger Schriften zu ersetzen. Aber auch die mündliche Tradierung von Mythen, die Rezitation von Gebeten, religiöse Lieder, der sakrale Tanz, religiöse Bilder, Symbole, Rituale und Kultpraktiken der vielfältigsten Art stellen das empirische Material bereit, mit dem Religionshistoriker arbeiten. Mit jeder technischen Innovation vergrößert sich das Spektrum religiöser Ausdrucksmöglichkeiten. Begannen in den 1920er Jahren Rundfunkansprachen für die Übertragung religiöser Botschaften wichtig zu werden, diskutieren Religionswissenschaftler heute, ob das Internet eine eigene religionsprägende Kraft entwickelt oder ob es lediglich Offlineformen von Religion online abbildet. Weil niemand gleichermaßen Experte auf dem Gebiet der europäischen und außereuropäischen Philologien, der ethnologischen Feldforschung, der Soziologie und empirischen Sozialforschung, der Kunstgeschichte, der Religionspsychologie oder der Geschichts-, Literatur- und Musikwissenschaft sein kann, bedarf es neben der religionswissenschaftlichen Systematisierung auch der fachlichen Spezialisierung, um den Einfluss der Religion auf den Menschen adäquat zu erfassen.
Separierung von Religion und Wissenschaft
Religion und Wissenschaft treten in der Moderne auseinander und bilden zwei Bereiche, die unabhängig voneinander existieren. Während sich die naturwissenschaftlichen und medizinischen Fächer bereits früher von der Religion abgekoppelt haben, wurde die Religion später auch aus den im 19. Jahrhundert entstandenen Geisteswissenschaften ausgelagert und zu einem eigenständigen Forschungsgegenstand. Religiöse Einmischungen in die Wissenschaft werden nicht mehr toleriert, und niemand erwartet mehr von der Religion, dass sie Antworten auf fachwissenschaftliche Fragen geben könnte. Die Religion wird selbst erklärungsbedürftig. Hat man in ihr früher eine übergeordnete Größe gesehen, auf die hin sich Geschichte, Kultur und Wissenschaft ausrichten, werden nun umgekehrt Geschichte, Kultur und Wissenschaft zum äußeren Referenzrahmen der Religion. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Christentum und seiner nichtchristlichen Umwelt kehrt sich um.
Perspektivwechsel
Die Entstehung einer nichtreligiösen Religionsforschung gehört zu den Folgen der Separierung von Religion und Wissenschaft. Damit verband sich ein Wechsel der Perspektive von innen nach außen – mit der Konsequenz, dass heilige Dinge zu profanen Objekten der religionsgeschichtlichen Forschung wurden. Der externe Blickwinkel verlagerte den Fokus von der jeder Religion eigenen Selbstreferentialität auf die von außen auf sie einwirkenden Bestimmungsfaktoren. Fragen, die sich auf theologische Lehrinhalte und religiöse Dogmen beziehen, verloren an Bedeutung. Das religionsgeschichtliche Erkenntnisinteresse richtete sich weg von der binnenreligiösen Diskussion um die Wahrheit und Durchsetzungsfähigkeit von Glaubensaussagen. Stattdessen wurde die Einbindung der Religion in ihre äußere Umwelt in den Blick genommen.
Vorwurf des Reduktionismus
Der Wechsel von der religiösen Binnen- zur nichtreligiösen Außenperspektive zeitigte die auf den ersten Blick befremdliche Konsequenz, dass sich eine säkulare Religionswissenschaft herausbildete, für die das Nichtreligiöse wichtiger zu sein schien als das Religiöse selbst. Können Religionen in ihrer Eigengesetzlichkeit überhaupt verstanden werden, wenn man sie auf diese Weise kontextualisiert und von geschichtlichen Entwicklungen, sozialen Prozessen und psychologischen Mechanismen abhängig macht? Wird dabei Religion nicht auf Nichtreligiöses reduziert und ihres eigentlichen Inhalts beraubt?
Sieht man jedoch genauer hin, verliert der von religiöser Seite oft vorgebrachte Vorwurf des Reduktionismus seine Plausibilität, denn er setzt etwas voraus, das nur für den Gläubigen existiert. Ihm liegt ein vormodernes Begründungsschema von Religion zugrunde, in dem das religiöse und wissenschaftliche Wissen noch der gleichen Kategorie angehörten und eine synthetische Einheit bildeten. Würde man dem Argument des Reduktionismus folgen, könnten Religionen nur aus sich selbst heraus verstanden werden. Konsequenterweise dürften die Vertreter einer Religion dann auch nur über ihre eigene und nicht über andere Religionen urteilen. Wie will man auf der Basis subjektiven Glaubens zu einem objektiven Urteil kommen, wie den Anspruch auf wissenschaftliche Geltung einlösen und die Forderung nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit erfüllen?
Stichwort
Reduktionismus
Die wissenschaftstheoretisch notwendige Rückführung komplexer Fragestellungen auf einfachere Prinzipien und Sachverhalte. Der religiöse Antireduktionismus behauptet dagegen nur eine Kausalitätsbeziehung, die den vorherigen Glauben an Gott oder einen anderen überempirischen Beweggrund voraussetzt. Sein Kategorienfehler besteht im vermeintlich wissenschaftlichen Gebrauch eines religiösen Arguments.
Anthropologisierung der Religion
Die religiöse Kritik am „Szientismus“ der nichtreligiösen Religionsforschung ist insofern berechtigt, als sie anerkennt, dass es sich dabei um ein rein wissenschaftliches Unternehmen handelt. Die Religion ist der Gegenstand, die Wissenschaft die Methode seiner Erforschung. Für die Religionswissenschaft sind Religionen anthropologische Größen, die auf den Menschen als Urheber und Gestalter zurückgehen. Dass sich dahinter göttliche Wesen verbergen, gehört zu den Grundannahmen jeder Religion, die deswegen ebenso wie die damit in Verbindung gebrachte Kausalordnung einen wichtigen Bestandteil der religionswissenschaftlichen Forschung bilden. Durch die Anthropologisierung der Religion wird diese zu einem weltlichen Gegenstand und die Religionswissenschaft zu einem gewöhnlichen Universitätsfach, das sich einem bestimmten Aspekt des Menschseins zuwendet.
Doppelter Wahrheitsbegriff
Dadurch dass sich die Religionswissenschaft allein mit der menschlichen Seite der Religion befasst, vermeidet sie die in wissenschaftlicher Hinsicht verhängnisvolle Zweiteilung in einen der empirischen Forschung zugänglichen äußeren und einen ihr entzogenen inneren Bereich der Religion. Jede religiöse Religionsforschung ist dagegen zu einem doppelten Wahrheitsbegriff verurteilt. Diesem zufolge kann nur die äußere Erscheinungswelt der Religion mit den Methoden der Wissenschaft untersucht werden. Nur dort gelten ihre Gesetze, die im inneren Kernbereich der Religion außer Kraft gesetzt seien. Um zu dem vorzudringen, was die Religion ihrem innersten Wesen nach ausmacht, bedürfe es der religiösen Empathie und nicht der wissenschaftlichen Rationalität. Eine nur wissenschaftliche Erklärung von Religion erscheint in dieser Logik als defizitär und weit davon entfernt, ihren inneren Sinn erfassen zu können. Die analytische Differenzierung der Religionswissenschaft wird durch eine organische Synthese ersetzt, die das eigentliche Wesen der Religion zum Ausdruck bringe. Trotz seiner erkenntnistheoretischen Unzulänglichkeit ist dieser Ansatz weit verbreitet und die Grundlage fast aller Versuche, die eigenen religiösen und wissenschaftlichen Interessen miteinander zu verbinden.
Wesensbegriff der Religion
Im Zuge des „Cultural turn“ in den Geisteswissenschaften distanzierte sich die Religionswissenschaft nicht nur von der Theologie, sondern auch von solchen Ansätzen, die einen religiösen Universalismus behaupten, dessen amorphe Wahrheit in allen Religionen gleichermaßen enthalten sei. Die Religion wird dabei auf ein allgemeines religiöses Wesen zurückgeführt, das sich dem Menschen nur unterschiedlich offenbare. Zu seinem Träger wird der homo religiosus, der religiöse Mensch an sich erklärt, der sich erst sekundär einem konkreten Glauben zuwendet.
Dass bei einer solchen Sichtweise die äußeren Umstände und geschichtlichen Ausprägungen einer Religion in den Hintergrund treten, leuchtet ein. Was vor allem zählt, ist die religiöse Ergriffenheit des Individuums und seine unmittelbare Begegnung mit dem Göttlichen. Der entscheidende Fehler eines solchen Essentialismus besteht darin, dass ein wahres und eigentliches Wesen der Religion behauptet wird, das von ihrer äußerlichen Gestaltwerdung abgespalten und zu einer nicht mehr hinterfragbaren Größe gemacht wird. Nimmt man dem Religiösen aber seine geschichtliche Konkretion, bleibt nichts übrig.
Stichwort
Essentialismus
Die Annahme eines inneren Wesens der Religion, das im Gegensatz zur sichtbaren äußerlichen Hülle ihren eigentlichen Wahrheitskern ausmacht. Essentialistische Religionsdeutungen ermöglichen die Zuschreibung von Wesenseigenschaften, die sowohl positiv als auch negativ sein können. Sie brauchen keine wissenschaftliche Begründung und rechtfertigen Urteile auf der Grundlage des Meinens. Fakten, die dem Essentialismus entgegenstehen, werden als eine die Regel bestätigende Ausnahme wahrgenommen.
Religions- als Kulturwissenschaft
Wie in der Geschichtswissenschaft gewann nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der Religionswissenschaft ein neues Kulturverständnis Oberhand, das eine intensive Beschäftigung mit der Gesellschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte nach sich zog. Die explizite Verortung der Religion in diesen Bezügen öffnete den Blick für die Dynamik religiöser Anpassungsprozesse, deren theologische Begründungsmuster nun verstärkt daraufhin, das heißt im Hinblick auf ihre Anpassungsleistung, untersucht wurden. Ohne die historischkritische Auseinandersetzung mit den heiligen Schriften der europäischen und außereuropäischen Religionen aufzugeben, ließ ein kulturgeschichtlich erweitertes Textverständnis andere Aspekte stärker in den Vordergrund treten. Mit der Erkenntnis, dass sich auch symbolische, körperliche und performative Repräsentationsformen in das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft einschreiben, wurde die Funktion der religiösen Vermittlung wichtiger als ihre äußere Form. In diesem kulturwissenschaftlichen Sinn lassen sich Religionen als kulturspezifische Symbolsysteme verstehen und auf der Grundlage eines höheren Abstraktionsgrades besser miteinander vergleichen. Die soziale Verbindlichkeit und der Transzendenzbezug als überempirischer focus imaginarius (Immanuel Kant) bleiben jedoch die beiden Grundvoraussetzungen, ohne die sinnvollerweise nicht von Religion gesprochen werden kann.
Das Problem der Terminologie
Wenn man in der religionsgeschichtlichen Arbeit die Wahrheitsfrage ausklammert, stellt sich das Problem der kommunikativen Vermittlung religiöser Inhalte auf andere Weise. Die religiöse Fachsprache dient der Steigerung des Glaubens, die der Religionswissenschaft der Steigerung des Wissens. Die Binnenterminologie einer Religion ist alles andere als universal. Sie ist an ihre historische Tradition gebunden und kann schwerlich auf Religionen angewendet werden, die in einem völlig anderen geographischen und geschichtlichen Zusammenhang entstanden. Oft gebrauchen die Vertreter einer Religion pejorative Wendungen, um andere Glaubensweisen als falsch, minderwertig oder schädlich zu diskreditieren. Dem eigenen Wahrheitsanspruch wird der Aberglaube der anderen gegenübergestellt. Häretiker sind Menschen, die etwas Falsches glauben, und Ketzer eine Gefahr für das Glaubensverständnis der Mehrheit. Bei solchen Zuschreibungen handelt es sich um relationale Begriffe, deren Gebrauch auf ein feindliches Gegenüber abzielt.
Weil die Sprachentwicklung Europas in hohem Maße durch das Christentum beeinflusst wurde, konnte es nicht ausbleiben, dass in unseren Sprachgebrauch auch religiöse Werturteile Eingang fanden. Sie können selbst dann noch mitschwingen, wenn sich die Sprechenden ihrer Herkunft nicht mehr bewusst sind. Zentrale heilsgeschichtliche Begriffe wie Erlösung, Gnade, Heil, Sünde usw. haben eine spezifisch christliche Wurzel und können aus diesem Grund nicht ohne weiteres verallgemeinert und auf andere Kontexte übertragen werden. Würde man mit ihnen die Ahnenvorstellung des Shintoismus, das alles durchwaltende Lebensgesetz des Hinduismus, die Leidvermeidungsstrategie des Buddhismus, die Harmonielehre des Konfuzianismus, den islamischen Schicksalsgedanken oder die jüdische Ethik beschreiben wollen, müsste das notwendigerweise zu Missverständnissen führen.
Unter den Bedingungen weltanschaulicher Pluralität wird das auf einer religiösen Normativität beruhende Sprechen über Religion zum Problem. Jede übergreifende Terminologie mit allgemeinem Geltungsanspruch muss deswegen in der Lage sein, vom Wahrheitsgehalt religiöser Aussagen zu abstrahieren. Das gilt insbesondere für die Religionswissenschaft, deren Aufgabe darin besteht, religiöse in wissenschaftliche Begriffe zu übersetzen (s. Quelle). Da Sprache aber historisch gegeben ist und die Erfindung neuer Worte in aller Regel zu keinem guten Ergebnis führt, hängt die Qualität der religionswissenschaftlichen Arbeit entscheidend davon ab, inwieweit es ihr gelingt, den Unterschied zwischen der innerreligiösen Objektsprache und der Metaebene der wissenschaftlichen Reflexion deutlich zu machen. Bei vielen religiösen Fachtermini wären relativierende Anführungszeichen nötig, die zumindest mitzudenken sind, auch wenn Begriffe wie Aberglaube, Heidentum, Heilsgeschichte, Sünde, Schuld und Erlösung gewohnheitshalber ohne sie gebraucht werden. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus hat immerhin dazu geführt, dass Redewendungen aus dem Arsenal der christlichen Judenfeindschaft nicht mehr öffentlich benutzt werden können, ohne Widerspruch auszulösen.
Quelle
Die Sätze der Religion und die Sätze der Religionswissenschaft
Aus: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1988, S. 22.
Die Sätze der Religionswissenschaft beziehen sich – im Unterschied zu religiösen Sätzen – immer auf (a) empirisch gegebene Sachverhalte (Gegenstände; Personen, Handlungen; Zeichen, Texte, Laute) oder auf (b) die rationale Analyse der Beschreibungen der genannten Sachverhalte und ihre Verbindung mit anderen Gebieten der Human-, Gesellschafts- und Kulturwissenschaften.
Sätze der Religionswissenschaft sind nicht selbst religiöse Sätze, sondern diese sind ihr Gegenstand.
Säkularisierung als Verweltlichung
Die Säkularisierung gilt gemeinhin als zentrales Moment der Religionsentwicklung in der Moderne. Es wird angenommen, dass sie sich durch einen auf die Aufklärung zurückgehenden Prozess der Verweltlichung und Entchristlichung, durch die Autonomie der Vernunft, den Siegeszug allgemeiner Bildung und die Ausprägung eines individuellen Rechtsdenkens kennzeichnet. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt habe nicht nur eine Steigerung der Wirtschaftsproduktion und die von Landflucht begleitete Entstehung städtischer Industriezentren bewirkt, sondern auch zu neuen gesellschaftlichen Strukturen und einer neuen sozialen Differenzierung geführt.
Sosehr diese Kennzeichnung des neuzeitlichen Nationalstaats für das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich zutrifft, gilt es dabei jedoch zu berücksichtigen, dass es sich beim Topos der säkularen Moderne nicht um eine geschichtlich vorgegebene oder auf ein festgelegtes Ziel hin ausgerichtete Entwicklung handelt. Das Wesen der Moderne kann weder über ein teleologisches Schema des gesellschaftlichen Fortschritts erfasst noch so ohne weiteres von einer angenommenen Vormoderne als ihrem überwundenen Gegenstück abgegrenzt werden. Das gilt auch für die Religionsgeschichte, bei der sich progressive und retardierende Momente gegenseitig durchdringen. Weder ist die Religion in der Moderne zum Absterben verurteilt noch hat sie eine Garantie, ihre traditionelle Gestalt bewahren zu können.
Kategoriale Begriffe wie Moderne und Säkularisierung sind heuristische Annahmen, die zu analytischen Zwecken formuliert werden. Sie erhalten ihre Bestätigung erst durch die empirischen Befunde, die mit ihrer Hilfe gewonnen werden.
Säkularisierung als Metanarrativ
Je mehr sich die Säkularisierungsdebatte von konkreten religionsgeschichtlichen Fragestellungen entfernte und in ein übergreifendes Metanarrativ einmündete, desto geringer wurde ihr Erkenntnisgewinn. Mittlerweile sinkt sie oftmals zu einem Podium für ideenpolitische Gemeinplätze herab und beflügelt weniger den wissenschaftlichen Diskurs als den weltanschaulichen Streit. Das trifft allerdings auch auf die religionsapologetische „Widerlegung“ des Säkularisierungsparadigmas zu. Die in diesem Zusammenhang vorgebrachte Behauptung einer Rückkehr „der“ Religion bleibt dem Säkularisierungsdenken insoweit verhaftet, als sie eine zeitweilige Abwesenheit von Religion voraussetzt, die nun aber zu einem Ende gekommen sei. Eine Welt ohne Religion scheint für manche so wenig denkbar, wie eine Welt mit ihr bei anderen Ängste auslöst.
Hier kann es nützlich sein, sich den alten Streit um den Liberalismus in Erinnerung zu rufen, der ebenfalls zwischen der Furcht vor zu viel bzw. zu wenig Religion stattfand. Fast alles, was gegenwärtig der Säkularisierung zugeschrieben wird, wurde im 19. Jahrhundert unter dem Oberbegriff des Liberalismus diskutiert. Mit Ausnahme einiger religiöser Fundamentalisten wüsste heute aber niemand mehr zu sagen, inwiefern der Liberalismus eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder den Fortbestand des Staates sein könnte. Man hat gelernt zu differenzieren und unterscheidet Aspekte liberalen Denkens, die sich in unterschiedlichen Konstellationen unterschiedlich auswirken können.
Auf einen Blick