Remix Almanya - Murat Güngör - E-Book

Remix Almanya E-Book

Murat Güngör

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Beschreibung

Vom Gastarbeiter zum Gangsta-Rapper Remix Almanya schreibt die Geschichte von HipHop neu. Murat Güngör und Hannes Loh begraben "Deutschrap" und untersuchen die größte Popkultur des Landes als erstes postmigrantisches Phänomen, das Deutschland für immer verändert hat. Mit Gespür für die Szene und kritischem Blick auf Politik und Gesellschaft zeichnen sie zusammen mit Musikjournalist Uh-Young Kim die erstaunliche Entwicklung vom sogenannten Gastarbeiter zum Rapstar nach – entlang von historischen Umbrüchen, Rassismus und Empowerment gegen alle Widerstände. Wichtige Stimmen aus migrantischen, Schwarzen und transnationalen Communities rücken dabei erstmals in den Mittelpunkt und kommen selbst zu Wort – u.a. die Rap Artists Xatar, Eko Fresh, Apsilon, Ebow, Megaloh oder die Anadolu-Rock-Band ENGIN, Filmemacher Cem Kaya, Schriftsteller Dinçer Güçyeter, Podcasterin und Moderatorin Miriam Davoudvandi, sowie HipHop-Forscherin Dr. Heidi Süß und Migrationsexpertin Prof. Dr. Naika Foroutan. »Dieses Buch verändert den Blick auf HipHop in Deutschland.« Eko Fresh Die Rap-Historie in Almanya ist untrennbar mit der Geschichte der Migration und politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen verknüpft. HipHop in Deutschland zeichnet sich nicht durch die lineare Kontinuität einer nationalen Erzählung aus, wie Deutschrap-Dokus, -Bücher und -Podcasts immer wieder behaupten. Diese Geschichte ist vielmehr von Brüchen, Hindernissen und Kulturtechniken durchzogen, deren Kämpfe bis in die Zeit der ersten Anwerbeabkommen zurückreichen. »Das ist alles an mir vorbeigegangen. Wahnsinn! Das hätten wir alle wissen müssen, als wir mit Rap angefangen haben.« Xatar Die ersten migrantischen Musiker:innen und die HipHop-Pionier:innen der Old School haben Rassismus und Ausgrenzung in eigne Ausdrucksformen von ungeahnter kreativen Power verwandelt. Heute sind Rapper:innen mit türkischen, kurdischen, arabischen oder afrikanischen Wurzeln die neuen Stars der deutschen Jugend. Die Sprache der Chabos und Babos hat die Schulhöfe erobert und von dort die hintersten Winkel der Republik erreicht. Und auch wenn der Terroranschlag von Hanau, die Wahlerfolge rechtsradikaler Parteien und die täglichen Nadelstriche des strukturellen Rassismus das alles zunichtemachen wollen – die postmigrantische Gesellschaft ist längst real, und Rap ein zentraler Treiber für den gesellschaftlichen Wandel. »Rap steht explizit für migrantische Selbstermächtigung.« Prof. Dr. Naika Froutan Für REMIX ALMANYA haben sich Murat Güngör und Hannes Loh nach ihrem szenekritischen Standardwerk Fear Of A Kanak Planet (2002) und der Chronologie 35 Jahre HipHop (2025) mit Popkultur-Experte Uh-Young Kim als Co-Autor (u.a. Spex, Cosmo) zusammengetan. Gemeinsam fächern sie die ganze Vielfalt von HipHop auf. Sie verknüpfen postmigrantische mit feministischen Sichtweisen, hinterfragen das nationale Narrativ von "Deutschrap" und laden zu Exkursen in Literatur, Städtebau, Journalismus und Bildungssystem ein. Dieses Buch mixt die Perspektiven neu und legt den Blick auf ein hybrides Almanya frei.

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Impressum

Deutsche Erstausgabe 2024

© 2024 by

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN: 978-3-85445-778-7

Auch als Buch erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-777-0

Coverdesign: Kels Design & Partner, Dirk Kels

Buchgestaltung, Produktion und Satz: bw-works.com, Michael Bergmeister

© Fotos:

Seite 6: Autoren © Jeanette Petri, Co-Autor © Arto Süss

Interviews:

Seite 126: Xatar © 2022 Massoud Magholi

Seite 135: Naika Foroutan © Rasmus Tanck

Seite 141: Apsilon © Rob Luethje

Seite 148: Miriam Davoudvandi © Bahar Kaygusuz

Seite 157: Megaloh © Frederic Blindow

Seite 167: Ebow © Tansu Kayaalp

Seite 173: Heidi Süß © Matthias Gephart

Seite 185: Eko Fresh © 2024 Ben Hammer

Seite 188: Necla und Metin Türköz @ Alpin Harrenkamp

Seite 195: Cem Kaya © Tan Kurttekin

Seite 203: Afrob © Robert Zemichiel

Seite 208: Melissa Kolukisagil © Marie Konrad

Seite 213: Engin © Bulatagram

Seite 217: Dincer Güçyeter © palagrafie

Seite 221: Jeannette Petri © Silvia Wolf

Seite 224: Julia Rieger © Kirstin Rieger

Seite 227: Tice © Tino Flad

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Die Autoren haben sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Printed in Germany

Für unsere Familien

Die Autoren

Murat Güngör, * 1969 (rechts) ist Mitbegründer des antirassistischen Netzwerks Kanak Attak und hat u.a. eine internationale Konferenz zu Gangsta- und Queerrap kuratiert. Anfang der 1990er Jahre war er an der Entstehung von Rap in türkischer Sprache beteiligt. Mit Hannes Loh verfasste er das Sachbuch „Fear of a Kanak Planet – HipHop zwischen Weltkultur und Nazi­rap“. Er ist Lehrer und pädagogischer Mitarbeiter der Goethe-Universität Frankfurt.

Hannes Loh, * 1971 (links) beschäftigt sich als Autor und Journalist mit der Entwicklung der globalen HipHop-Kultur und legt dabei einen Schwerpunkt auf Migration, Empowerment und Didaktik. Zu diesen Themen hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Mit seiner Band Anarchist Academy war er in den 1990er Jahren als Rapper aktiv. Hannes Loh ist Gesamtschullehrer und Systemischer Berater. Er lebt in Köln.

www.muratundhannes.de

www.remixalmanya.de

@muratundhannes

Der CO-Autor

Uh-Young Kim (* 1975) ist Journalist und Autor an der Schnittstelle von Popkultur und Diversität. Er war der erste deutsch-koreanische Rapper, hat als ­Redakteur bei SPEX gearbeitet, internationale Ausstellungen für das Goethe-Institut kuratiert und begeistert sich als DJ für Clubmusik aus der Diaspora. Uh-Young Kim ist Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk und lebt mit seiner Familie in Köln.

Inhalt

Impressum

Für unsere Familien

Die Autoren

Intro

These Are The Breaks

#01 REMIX PIONIER:INNEN

Vom Gastarbeiter zum Rapstar

Unsichtbare Skills der ersten Generation

#02 REMIX HIPHOP HISTORY

BREAK I: DER DRITTE RAUM 1982–1992

HipHop als Sternentor in den postmigrantischen Raum

BREAK II: ALMANISIERUNG 1992–2000

Deutschland einig Deutschrapland

BREAK III: Die AGGRO-ÄRA 2000–2010

Ende der Dialogkultur

BREAK IV: STRASSENRAP 2.0 2010–2024

Rückkehr des postmigrantischen Möglichkeitsraums

#03 REMIX Interviews

Xatar

­Coole Kanaks, Anerkennung und Vielfalt

Naika Foroutan

Postmigrantische Dimensionen

Apsilon

Wut, Message und sein Baba

Miriam Davoudvandi

HipHop, Herkunft und Heilung

Megaloh

Wahrheit und Selbstermächtigung

Ebow

Trauma, Prada und das Neue in der Kunst

Heidi Süß

HipHop als Allround-Tool

Eko Fresh

Der German Dream ist real

Metin Türköz

Rassismus bei Ford und der Sound der Rebellion

Cem Kaya

Brüche, Opfer und Gutmenschen

Afrob

Heimat und Gegenliebe

Melissa Kolukisagil

Kollektive und Korrektive

Engin

Späte Idole und eine neue Bewegung

Dinçer Güçyeter

Lyrisches Ich und Rapper-Ego

Jeannette Petri

Intersektionale HipHop-Stories

Julia Rieger

Straßenrap im Jugendhaus

Tice

Befreiung aus der Fremdbestimmung

#04 REMIX Communitys

Fear of a Black Germany

Fragmente einer ­Schwarzen HipHop-Geschichte in ­Deutschland

Import-Export

Die Geschichte von Rap auf Türkisch  

„Immigrant, Herkunft ­Kurdistan“

Rap aus der kurdischen Diaspora

Der Drache aus Anatolien

Comeback von Anadolu Rock

#05 REMIX Kontroverse

Die Shisha Bar in Hanau

Das Kontinuum rassistischer Gewalt in Almanya

Hinterhofjargon

Der Kampf um Sprache im postmigrantischen Raum

Kanak Sprak im Unterricht

Migration und Rassismus im Schulbuch

Der Verrat an Baha Targün

Wie der Türküola-Chef den Kölner Ford-Streikführer hinter Gitter brachte

Schwarze Musik und weißeSchreiber

HipHop-Journalismus in einer postmigrantischen Gesellschaft

Rap-Journalismus vs. Rap-Forschung

Über ein kompliziertes Verhältnis in noch komplizierteren Zeiten

#06 REMIX Reviews

Dokus, Filme, Serien und Podcasts

#07 REMIX Utopia

Postmigrantische Perspektiven

Outro

Bigger Than HipHop

Shout-Outs

Literatur

Index

Intro

These Are The Breaks

Vor über zwanzig Jahren crashten wir mit unserem ersten Buch über HipHop in Almanya die „Deutschrap“-Party. In „Fear of a Kanak Planet“ (2002) machten wir auf alarmierende Entwicklungen am rechten Rand aufmerksam. Zum anderen ließen wir jene Menschen zu Wort kommen, die nicht auf die Party eingeladen waren, und die man aus der weißen, bürgerlichen „Deutschrap“-Erzählung entfernt hatte. In der Szene und im bürgerlichen Feuilleton war man darüber not amused und empfand solche Kritik als Nestbeschmutzung. Unsere Perspektive passte nicht zur nationalen Erfolgsgeschichte. Weil wir außerdem die in Teilen rassistischen, homophoben und sexistischen Metaphern der neuen Battle-Kultur problematisierten, galten wir auch in der aufstrebenden Berliner Szene als Spielverderber.

Zeiten ändern sich. Heute ist „Fear of a Kanak Planet“ unverzichtbar in der HipHop-Literatur von Almanya und wird regelmäßig zitiert. Die Auseinandersetzung mit Rap und Rassismus ist zu einem eigenen Arbeitsfeld der HipHop-Forschung geworden und Vielfalt zum Modewort in der Werbung. Kritik an gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist selbst im Rap-Journalismus keine Ausnahme mehr und führt dazu, dass nicht alle Äußerungen hingenommen werden.

Warum also ein neues Buch? Wir sind seit 2003 mit unserer Lecture in Almanya unterwegs. In dieser Zeit haben wir viel gelernt. Wir haben Thesen korrigiert, unseren Blick geweitet und sind von anderen Menschen inspiriert worden. Auf unzähligen Lesungen wurden wir immer wieder kritisch von unserem Publikum herausgefordert. Und in den letzten Jahren haben wir HipHop in Almanya noch einmal in einer umfassenden, historischen Dimension neu verstanden.

Die Geschichte von Rap in Deutschland wurde bisher als Geschichte der Konstanz und Kontinuität erzählt. Unser Remix ist eine Geschichte der Brüche und Barrieren. Dieser Raum entfaltet sich vor dem Hintergrund bedeutender gesellschaftlicher Kämpfe, die in der Arena einer postmigrantischen Gesellschaft ausgefochten werden. Unsere Perspektive weist weit über den Tellerrand der Szene hinaus. Dies ist auch der Grund, warum wir unser Buch REMIX ALMANYA nennen. Denn wir verstehen Kultur und Identität als globale, hybride und fragmentierte Gebilde, die sich vor allem in Einwanderungsgesellschaften durch Praktiken der Gegenüberstellung und Rekombination neu formieren. Wir sind überzeugt, dass dieser Remix Deutschland sprachlich, kulturell und auch politisch in den letzten 60 Jahren maßgeblich verändert hat, so dass wir hier von Almanya anstatt Deutschland sprechen möchten. Unser Almanya ist eine wilde, überraschende und wunderschöne Collage in ständiger Bewegung und Veränderung. HipHop war die erste postmigrantische Jugendkultur in Westdeutschland und trägt bis heute ein unberechenbares transnationales und multilinguales Potenzial in sich, das diese Gesellschaft herausfordert und mitgestaltet.

Mit REMIX ALMANYA schlagen wir hierfür u.a. eine historische Periodisierung vor und teilen die HipHop-Geschichte in Almanya in vier Abschnitte ein. Die Abschnitte sind jeweils durch einen entscheidenden gesellschaftlichen Break voneinander getrennt: HipHop landet zu Beginn der 1980er Jahre als afro-diasporisches Stargate in einer Gesellschaft der verschlossenen Türen und öffnet überraschend einen Raum der postmigrantischen Begegnung. Mit der Weißwaschung von HipHop im Zuge der Wiedervereinigung wird dieser Raum verschlossen und weicht dem nationalen Erfolgsprodukt „Deutschrap“. Nach dem Ausbleiben der blühenden Landschaften tritt Aggro Berlin als migrantische Antithese und Abrissbirne auf den Plan. Erst die Renaissance von Straßenrap ab 2010 öffnet erneut die Tür zum dritten Raum. Diese vierte Phase schließt die postmigrantische Klammer und löst die antithetische Verkeilung auf:

Unsere Periodisierung stellt die Wechselwirkung zwischen (post-)migrantischem Empowerment und den Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft in den Mittelpunkt, da wir der Überzeugung sind, dass diese Dynamik die besondere Entwicklung von HipHop in Almanya am besten erklärt. Uns ist bewusst: Ein solcher Fokus blendet andere spannende Phänomene aus. Die Geschichte von Rap in der ehemaligen DDR sowie die Entstehung verschiedener Subgenres werden in diesem Buch nicht besprochen. Auch ist uns klar, dass es über unsere Fokussierung auf Schwarze, türkeistämmige und deutsch-kurdische Musikgeschichten hinaus weitere relevante Rapströmungen gibt. Ob es der italienische oder osteuropäische Einfluss auf HipHop in Almanya ist oder die asiatisch-deutschen Geschichten, die noch unerzählt sind – sie alle verdienen es, in Zukunft eigenständig behandelt zu werden.

In REMIX ALMANYA zeigen wir, dass HipHop-Kulturtechniken schon in der ersten Generation so genannter Gastarbeiter:innen genutzt wurden. Wir lassen Stimmen aus Communitys zu Wort kommen, die HipHop hier maßgeblich geprägt und weiterentwickelt haben, die aber zum Teil aus den vorherrschenden Narrativen herausgestrichen wurden. Wir zeigen, wie an vielen Stellen die Bedeutung von Frauen in der HipHop-History verschwiegen wurde – und wie sie heute die Kultur verändern. Dabei schauen wir explizit von den Rändern her auf das Zentrum. Wenn wir von „Schwarz“ und „weiß“ sprechen, meinen wir keine Hautfarben, sondern soziokulturelle (Eigen-)Bezeichnungen, in denen sich Machtverhältnisse spiegeln. Wir verwenden die Begriffe „Rap“ und „HipHop“ synonym. Wenn wir uns auf HipHop als kulturelles System beziehen, benennen wir das im Text.

Mit REMIX ALMANYA verabschieden wir uns von einer glatten Geschichte des Erfolgs und der Kontinuität, wie sie in der aktuellen Welle der Rap-Historisierung erzählt wird. HipHop ist ein Motor der postmigrantischen Gesellschaft. Vierzig Prozent der Jugendlichen haben heute einen internationalen Hintergrund. Hybride, grenzüberschreitende, multilinguale Biografien sind 2024 in Almanya eher die Regel als die Ausnahme. Homogene Alman-Partys auf Sylt dagegen sind Minderheitenphänomene nicht-integrationswilliger Randgruppen.

Murat und Hannes

Vom Gastarbeiter zum Rapstar

Unsichtbare Skills der ersten Generation

Als wir anfingen, uns mit Rap-History zu beschäftigen, wollten wir die Entwicklung von HipHop mit der Migrationsgeschichte in Almanya verbinden. Uns fiel auf: Es waren viele Kinder der so genannten Gastarbeiter:innen, die sich in den 1980er Jahren zu Rap und Breakdance hingezogen fühlten, und die wesentlich dazu beitrugen, dass sich in Deutschland eine postmigrantische HipHop-Szene entwickelte. Doch in den Texten und den Erinnerungen dieser jungen Künstler:innen waren die Kämpfe, der Struggle und die Errungenschaften der Elterngeneration überhaupt nicht präsent. Gruppen wie Kanak Attak hatten dieses Wissen schon Ende der 1990er Jahre aus den Kellerarchiven der Mehrheitsgesellschaft geborgen und als postmigrantisches Erbe sichtbar gemacht. Die Häuserkämpfe in Frankfurt, der Ford-Streik in Köln, die Arbeitskämpfe in Pierburg und viele andere Aktionen, an denen maßgeblich auch Migrant:innen beteiligt waren, ließen die erste Generation in einem neuen Licht erscheinen.

Wir wollten die Entstehung der transnationalen HipHop-Kultur in eine historische Kontinuität mit diesen Kämpfen stellen. Unsere These lautete: Die erste Generation empowerte sich vor allem über die dringenden Probleme des sozialen und ökonomischen Alltags, also Wohnen und Arbeit. Die zweite Generation hingegen drängte auch auf das Feld der kulturellen Teilhabe, äußerte sich über Musik, Kunst und politische Lyrics. Mit diesem Narrativ waren wir ziemlich zufrieden. Auf unzähligen Lesungen verbreiteten wir diese Geschichte. Das änderte sich erst 2013. In diesem Jahr erschien auf dem Label Trikont die CD „Songs of Gastarbeiter“, eine Compilation von Liedern, die die Berliner Imran Ayata und Bülent Kullukcu zusammengestellt hatten. Auf ihrer Homepage schreiben die beiden Künstler und Autoren:

„Mit unserer Compilation dokumentierten wir die Musik unserer Eltern, die zum Alltag von Millionen Menschen in diesem Land gehörte, in der deutschen Öffentlichkeit aber völlig unbekannt war. (…) Unser Blick auf die erste Generation ist häufig noch immer geprägt von Vorurteilen und Klischees. (…)Wir richten den Blick auf diese Pioniere, die mit ihrer Musik ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen thematisierten, sich nicht nur leidend, sondern auch kämpferisch und ironisch gaben und scharfsinnige Beobachter der deutschen Gesellschaft und Politik waren – oder einfach nur eine Party feiern wollten.“

Das Intro Magazin bezeichnete „Songs of Gastarbeiter Vol. 1“ als „popmusikarchäologische Sensation des Jahres“. Für uns war es weit mehr als das. Wir mussten anerkennen, dass unser Empowerment-Narrativ nicht stimmig war. Die Compilation veränderte unseren Blick auf die erste Generation grundsätzlich. Die erste Generation war kulturell nämlich höchst produktiv. Die Musiker:innen der 1960er und 1970er Jahre äußerten sich in ihren Lyrics politisch selbstbewusst, sie thematisierten den Rassismus der deutschen Gesellschaft, sie waren witzig und ironisch. Was wir heute Consciousness- oder Party-Rap nennen – all das gab es schon bei den Gastarbeiterliedern. Aber nicht nur das. Patchworktechniken, Multilingo, hybride Sprache – das waren übliche Methoden der Musiker:innen der ersten Generation.

Mit „Songs of Gastarbeiter“ begann für uns eine neue Reise. Wir machten einen Deep Dive in die musikalische Welt der ersten Generation und uns wurde klar: Viele Kulturtechniken des HipHop tauchen schon hier auf. Viele Empowermentstrategien sind bereits angelegt. MCs wie Tachi von Fresh Familee, Advanced Chemistry, Haftbefehl, Celo & Abdi oder SXTN stehen in der Tradition dieser Künstler:innen. Nur: Sie wissen es in den seltensten Fällen. Die Überlieferungskette ist zerschlagen. Man muss sich auf die Suche machen und die versunkenen Schätze heben, sie neu entdecken und als Teil einer postmigrantischen History in einem neuen Kanon der Kulturgeschichte in Almanya sichtbar machen. Xatar erzählte uns im Gespräch, wie wichtig es für seine Generation gewesen wäre, früher von diesem kulturellen Reichtum zu erfahren:

„Das ist alles an mir vorbeigegangen. Wahnsinn! Das hätten wir alle wissen müssen, als wir mit Rap angefangen haben. Dann hätten wir andere Beats gehabt, wir hätten andere Samples gepickt. Wir haben uns so oft abgefuckt darüber, dass wir nichts zum Samplen haben, das aus unserer Migrationskultur stammt.“

Aber wer weiß, was passieren wird, wenn sich das kollektive Gedächtnis erweitert? In einer Kulturgeschichte, die allen gehört, steht eine Sängerin wie Yüksel Özkasap gleichberechtigt neben einer Katja Ebstein und ein Cem Karaca neben einem Udo Lindenberg – ein postmigrantisches Kontinuum, innerhalb dessen sich Generationen von Musiker:innen inspirieren und Techniken, Strategien und Sounds überliefern und weiterentwickeln.

Denn schon Metin Türköz, Yusuf, Ozan Ata Canani und viele andere haben sich gegen den Widerstand der Mehrheitsgesellschaft die deutsche Sprache als Musik-, Kunst- und Kultursprache angeeignet. Sie haben ihr eigenes, postmigrantisches Deutsch daraus geformt, ein Deutsch, das in vielen Punkten moderner und zeitgemäßer war als der steife Alman-Talk, der noch tief im Wirtschaftwunder-Sprech der 1950er Jahre steckte. Diese sprachliche Flexibilität, Hybridität und Raffinesse werden im Kontext der HipHop-Kultur fortgesetzt und verfeinert bis zu dem Punkt, da sich das Verhältnis umkehrt und die deutschen Jugendlichen den Sprachspielen migrantischer Rap-Stars hinterherlaufen. Und die Irritationen gleichen sich: So wollte der Journalist Michael Pilz von der Tageszeitung Die Welt nicht glauben, dass die Texte von Aykut Anhan tatsächlich das Deutsch der Jugend auf der Straße widerspiegeln und entgegnet skeptisch: „So spricht doch niemand, in diesem künstlichen Kreol.“ Darauf Haftbefehl: „Doch. Ich habe die Wörter ja von der Straße. Manche habe ich auch selbst erfunden und hinausgeschickt auf die Straße, um sie wieder einzusammeln.“ Liedermacher der ersten Generation wie Yusuf und Haftbefehl sprechen beide „Kanakisch“, und sie verwirren damit ihre Zuhörer:innen. Der Unterschied ist, dass Sprachzauberer wie Haftbefehl oder Xatar mit ihren Worten die jungen Leute hypnotisieren, dass diese ihnen nachpilgern wie einst die Hamelner Kinder dem zerlumpten Flötenspieler.

Kanaken im Fernsehgarten

2016 führte der Schriftsteller und Journalist Moritz von Uslar ein Interview mit den beiden Rapstars Xatar und Haftbefehl. Dort behauptete der Offenbacher Haftbefehl: „Deutschland hat sich verändert. In der deutschen Geschichte kommen jetzt auch Kanaken vor.“ Stimmt das? Aus der Perspektive von Aykut Anhan ist die Aussage nachvollziehbar. Seine Generation ist ohne ein Wissen über die postmigrantische deutsche Geschichte aufgewachsen. Haftbefehl hätte sich ein kleines Video auf YouTube anschauen können, in der eine Band vorgestellt wird, die 1981 zu Gast im ZDF-Fernsehgarten war. Dort sieht man einen schnauzbärtigen Moderator, der auf einer Wiese steht. Er fragt den Leadsänger der Band: „Ich begrüße Sie als Gruppenmitglied der Kanaken. Was für ein Lied hören wir?“ Cem Karaca, der ebenfalls schnauzbäurtige Sänger und Gitarrist der Band, antwortet: „Von Kanaken werden wir jetzt einen Song spielen mit dem Namen ‚Gülişan‘.“ Zufrieden wendet sich der Moderator an sein Publikum: „Okay, liebe Zuschauer. Die Wiese frei für die Gruppe Kanaken mit ‚Gülişan‘.“

Der ZDF-Fernsehgarten war und ist das Zentralorgan des Deutschen Schlagers. Die Ausstrahlung der Sendung erreichte in den 1980er Jahren Millionen von Zuschauer:innen. Man kann also mit Fug und Recht behaupten: Kanaken kamen mindestens 35 Jahre vor Haftbefehls Statement in der deutschen Geschichte vor. Aber was hatte dort eine Gruppe zu suchen, die sich „Die Kanaken“ nennt? Und wieso performen sie einen Song mit einem türkischen Titel? Wer dieser Frage nachgeht, landet im aufregenden Rabbit Hole der postmigrantischen Musikkultur aus der ersten Einwanderergeneration.

Metin Türköz – Haftbefehl der Ford-Werke

Im Januar 2019 rief Murat mich an: „Brudi, ich habe die Adresse von Metin Türköz im Telefonbuch gefunden. Der wohnt in Rodenkirchen in Köln. Wir müssen den besuchen und ein Interview mit ihm machen.“ Am Telefon meldete sich Metin Türköz’ Frau Necla. Sie freute sich über unsere Anfrage und an einem verregneten Nachmittag im Januar standen wir vor dem Reihenhaus der Familie Türköz. Wir, zwei neugierige Fremde, wurden von Necla Türköz mit großer Herzlichkeit empfangen und bewirtet. Sie wusste, dass ihr Mann selbst im hohen Alter noch etwas zu sagen hatte, das erzählt werden musste. Ihr haben wir ein wunderbares Interview zu verdanken, das wir Anfang 2019 mit Metin Türköz führen durften.

Als wir an den reich gedeckten Tisch der Familie Türköz gebeten wurden, saß Metin Türköz noch auf dem Sofa. Er wirkte alt und abwesend. Doch als wir begannen, Fragen zu stellen und ihn baten, von seiner großen Zeit als Musiker und Sänger zu erzählen, passierte etwas Erstaunliches. Der Schleier der Müdigkeit fiel von ihm ab, und es kam ein vitaler, gewitzter Mann zum Vorschein, der uns auf eine außergewöhnliche Reise mitnahm. Wir erfuhren von der Sehnsucht der Ford-Arbeiter:innen nach Liedern, die ihr Leben und ihre Gefühle besangen, von dem wundersamen Aufstieg des Musiklabels Türküola und von Metins Karriere als Aşık, als Sänger, dem viele Menschen in ganz Europa zuhörten. Türköz erzählte von dem ungeliebten deutschen Vorarbeiter, den er „Mayistero“ nannte, und der alle immer nur zur Arbeit antrieb.

Metin Türköz startete seine Karriere als Musiker schon in den 1960er Jahren und war einer der erfolgreichsten Künstler der ersten Generation. Er war der erste, der das so genannte Gastarbeiter-Deutsch als Stilmittel in seinen Liedern benutzte. „Metin Türköz ist für mich sowohl von der Attitude als auch von der Herangehensweise der erste HipHopper“, sagt Imran Ayata. „Zum einen, weil er seine Musik sehr collagenhaft arrangiert hat, ähnlich wie das später im Sampling stattfindet, zum anderen, weil er immer wieder mit einem deutsch-türkischen Sprachmix experimentiert hat.“ Häufig kommt die Figur des deutschen Vorarbeiters, des „Mayistero“, in seinen Liedern vor, den er augenzwinkernd aufs Glatteis führt. In einem seiner Songs spricht Metin Türköz seinen Vorarbeiter direkt an:

Guten Morgen, Mayistero

Heute ich bin sehr müde, morgen vielleicht nicht mehr so

Heute für mich schöne Tag, morgen meine Geburtstag

Guten Morgen, Mayistero

Ich arbeite nicht für geringen Lohn

Dabei pendelt er zwischen gebrochenem Deutsch und Türkisch hin und her, so dass dem angesprochenen Vorarbeiter nicht klar sein kann, ob er von Türköz vorgeführt wird. Die türkischen Kolleg:innen allerdings wissen genau, worum es geht. Der fröhliche und leichte Song animiert eher zum Tanzen als zur Akkordarbeit und unterläuft so auch musikalisch das Klischee des fleißigen und unterwürfigen Türken.

Im Interview erzählte uns Metin Türköz, wie der Song „Mayistero“ entstanden ist: Nachdem der Vorabeiter ihn und seine Kollegen mal wieder angeschrien hatte, meldete sich Metin zum Toilettengang ab. Er hatte die Schnauze voll von dem arroganten und unverschämten Ton des „Mayistero“. Auf der Toilette schnappte er sich ein paar Lagen Klopapier, nahm seinen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb sich den Frust von der Seele. Direkt am nächsten Tag nahm er den Song „Mayistero“ im Türküola-Studio auf. „Dieses Lied war sehr beliebt“, verrät uns Metin Türköz lächelnd. „Ich habe ein Lied gemacht, in dem ich in diesem Sprachmix auch etwas Schlechtes über den Meister gesagt habe. Das konnten alle türkischen Kollegen verstehen.“ In einem anderen Lied, in dem es auch um den Vorarbeiter geht, singt Türköz:

Du sollst malochen wie ein Schwein

Wenn dir das nicht passt, dann mach, dass du nach Hause kommst

hol’ dir die Papiere

Im nächsten Vers wechselt Türköz die Sprache und singt auf Türkisch weiter (Übersetzung):

Ach ja? Das wollen wir ja mal sehen

Ich bin für das Abenteuer gekommen

Geld bedeutet mir nichts

Du ungehobelter Deutscher, nicht einmal deine Frau hört dir zu

Der deutsch-türkische Regisseur, Musiker und Autor Nedim Hazar nennt Metin Türköz „die Stimme der türkischen Arbeiter in Deutschland“. Türköz spielt geschickt mit Ironie, Mehrsprachigkeit und Neuwortschöpfungen in seinen Liedern, um so Machtverhältnisse in den Betrieben zu unterlaufen. Er füllte die kulturelle Leerstelle der Menschen in den Gastarbeiter-Wohnheimen und verlieh den Ungleichheiten, die sie in den Betrieben erlebten, ein Ventil. Lange bevor das Wort Empowerment zur Modevokabel wurde, bot Metin Türköz seinen Kolleg:innen kluge Strategien zur Selbstermächtigung an.

Tachi, MC bei der Old-School Formation Fresh Familee, erzählt in der arte-Dokumentation „We Wear The Crown“, wie der legendäre Rap-Track „Ahmet Gündüz“ entstanden ist. Tachi arbeitete 1989 in einem Supermarkt zur Aushilfe. An einem Tag wurde er Zeuge, wie ein türkeistämmiger Kollege vom deutschen Vorarbeiter gegängelt und als „Kanake“ beschimpft wurde. Dieses Erlebnis nahm Tachi als Folie für sein Intro von „Ahmet Gündüz“ und lässt den Kollegen die rassistische Beleidigung mit einem türkischen Schimpfwort kontern. Wie bei Metin Türköz’ „Mayistero“ entstand „Ahmet Gündüz“ am Arbeitsplatz und aus einer Wut über den rassistischen Vorarbeiter. Beide Songs empowern ihre Leute mit einem gewitzten Sprachmix, der die deutschen Vorgesetzten alt aussehen lässt. Man kann noch weiter gehen und behaupten: Alles, was das deutsche Feuilleton heute an einem Rapstar wie Haftbefehl bewundert, ist bei Metin Türköz schon angelegt: ein postmigrantischer, artifizieller Sprachmix, eine multilinguale Semantik und ein selbstbewusstes Aufbegehren. Außerdem erinnern diese sprachlich-musikalischen Empowerment-Spiele an Henry Louis Gates’ Theorie vom Signifying Monkey: Die Sprache wird zum verwirrenden Spiel, in dem sich Bedeutungen verschieben; die rassistische Mehrheitsgesellschaft wird hinters Licht geführt, weil sie die Täuschungen und Provokationen nicht erkennt. Auch wenn eine Übertragung dieses Konzeptes auf die postmigrantische Bundesrepublik schwierig ist – es ist bemerkenswert, wie zielsicher sich die erste Generation der deutschen Sprache als Mittel der Selbstbehauptung bedient – einer Sprache, die sich die „Gastarbeiter:innen“ in wenigen Jahren mühsam selbst aneignen mussten.

Metin Türköz war in der Zeit, als er für das Plattenlabel Türküola von Yılmaz Asöcal arbeitete, einer der erfolgreichsten postmigrantischen Künstler in Almanya. 1967 erschien Türköz’ erste Single „Turist/Almanya Destani“. Während seiner Karriere als Liedermacher veröffentlichte er 13 Alben und 72 Singles, auf denen er die Sehnsucht und das Heimweh der ersten „Gastarbeiter:innen“-Generation besingt, den Arbeitsalltag darstellt und die Bedingungen, unter denen die Ford-Arbeiter:innen ihr Geld verdienen müssen. Allerdings erreichten seine Texte fast ausschließlich Menschen der migrantischen Communitys. Die Almans schafften es, von all dem nichts mitzubekommen. Und wenn wir ehrlich sind: Sie taten auch nicht viel dafür.

Yüksel Özkasap – die Nachtigall von Köln

Wenn über die Pioniere in der Geschichte der Migration gesprochen wird, stehen meist männliche Erzählungen im Vordergrund. Dabei waren Frauen in der Musik oft erfolgreicher als Männer. Metin Türköz war ohne Zweifel ein sprachlich gewitzter Sänger, aber die Herzen der so genannten Gastarbeiter:innen erreichte Yüksel Özkasap, die als „Nachtigall von Köln“ bekannt wurde. Sie verkaufte beim Musiklabel Türküola die meisten Tonträger und wurde auch in der Türkei zum Star. Als ich, Murat, meine Mutter fragte, ob sie Metin Türköz kenne, verneinte sie. Doch die Songs von Yüksel Özkasap hörte sie gerne. Özkasaps Themen waren nicht die Arbeit, nicht das Soziale und auch nicht der Rassismus, sondern der Schmerz über den Verlust der geliebten Heimat. Sie gab der Sehnsucht, der Zerrissenheit und dem Schmerz in der Fremde eine Stimme. Dies war der Erkenntnis geschuldet, dass man sich in der Fremde veränderte. Und auch die alte Heimat war nicht mehr dieselbe. In dem Buch „Fremde Heimat – Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei“, 1989 herausgegeben von Aytaç Eryilmaz und Mathilda Jamin, beschreibt Özkasap ihre Innenperspektive:

„Ich bin unglücklich in Deutschland, war hier nie glücklich. Es konnte meine Heimat nicht ersetzen. Aber ich fahre hin und kann auch dort nicht glücklich sein, auch dort fühle ich mich fremd. Alles, was ich in Malatya zurückgelassen habe, ist anders geworden. Die Stätten meiner frühen Erinnerung haben sich völlig verwandelt.“

Özkasap kam aus Malatya, einer Provinzstadt im Südosten der Türkei mit einer ursprünglich christlich-armenischen Prägung. Aus Malatya stammen u. a. der bekannte armenische Journalist Hrant Dink, der kurdische Sänger Ahmet Kaya, die deutsch-türkische Autorin Emine Sevgi Özdamar und mein Lieblingsschauspieler Kemal Sunal. Yüksel Özkasaps ursprünglicher Künstlername war Malatyalı Yüksel Özkasap, was so viel bedeutet wie die aus Malatya stammende Yüksel Özkasap. Den Bezug zur eigenen Stadt brachten nicht erst Straßenrapper ins Spiel, er ist in der Türkei weit verbreitet. Eine der ersten Fragen, die man in der Türkei Fremden stellt, lautet: Nerelisin? Woher kommst du? Diese Frage hat mit der fragilen nationalen Identität in einem Vielvölkerstaat zu tun, bei der die lokale Herkunft eine übergeordnete Kategorie darstellt. Man will keine Andersartigkeiten feststellen, sondern Gemeinsamkeiten herstellen und das Gegenüber einordnen.

Özkasap kam 1965 wie viele Frauen eigenständig nach Almanya, um ihre Familien in der Türkei zu versorgen. Zu jener Zeit war die gängige Frauenrolle in Almanya noch die der Hausfrau. Für die Migrant:innen war dies ein emanzipatorischer Akt Zugang zu Kapital zu erlangen und darüber zu entscheiden. Özkasaps Weg führte sie in die Nähe von Wuppertal, wo sie in einer Metallfabrik für drei Monate arbeitete. In Almanya lernte sie den aufstrebenden jungen Yılmaz Asöcal kennen, der später das Label Türküola gründete. Die beiden wurden ein Paar und bekamen zwei Kinder. Im Gespräch mit dem türkischen Journalisten Doğan Pürsün erzählt er die Entstehungsgeschichte der Musikkarriere seiner Frau. Seine Frau sang zuhause stets sehnsuchtsvolle Lieder über die Heimat, auch hatte sie ein Herz für Lyrik und Literatur. Daraufhin schrieb Asöcal ihr das Lied „Nasıl Oldu Yolum Düştü Köln’e“ – „Wie kam es, dass mein Weg mich nach Köln führte“. Asöcal erzählte, dass er seine Frau bekniete, den Song aufzunehmen. Er erkannte, dass diese Sehnsucht nicht nur seine Frau umtrieb, sondern ein Bedürfnis der „Gastarbeiter:innen“ stillte. Ganz Geschäftsmann sah er, dass ein solches Lied Hitpotenzial hatte. So sang Yüksel Özkasap (Auszug mit Übersetzung):

Nasıl oldu yolum düştü Köln’e

Bir alman kızına gönlümü verdim

Bir sarışın mavi gözlü geline

Ağlayı ağlayı bitmiyor derdim

Wie kam es, dass mein Weg mich nach Köln führte

Ich habe mein Herz an ein deutsches Mädchen vergeben

Eine Braut mit blonden Haaren und blauen Augen

Weine und weine, doch meine Sorgen enden nicht

Der Schmerz darüber, nicht mehr dazuzugehören und keine Heimat zu haben, saß tief. Traurig besang Yüksel Özkasap die Entscheidung, nach Almanya gekommen zu sein. Ursprünglich war der Aufenthalt nur für eine kurze Zeit gedacht. Heimat wird hier über die Imagination hergestellt. Die verblassten Erinnerungen vermengen sich mit Nostalgie. Die Sehnsucht nach der Heimat ist bis heute ein wiederkehrendes Motiv in Songtexten von postmigrantischen Künstler:innen. Auch in Raptexten wie bei Celo & Abdis Song „Diaspora“ (2017) wird dieses Gefühl verarbeitet:

Daimler-Benz in weiß, von der Heimat weit

999.000 Kilometer Verschleiß

Ach, sogar der Tacho hat kein’ Bock

Und es geht wieder von vorn, alles ist auf Null, Zero, O

Bis zur Rente Arbeit, hier bin ich Mensch, hier darf ich sein

Diaspora, Diaspora, Diaspora-a-a

Mit Familie vereint, sechs Wochen Urlaub, wieder bye bye

Diaspora, Diaspora, Diaspora-a-a

Auch der Rapper Kurdo greift die Sehnsucht nach der Diaspora auf. So rappt er auf dem Song „Heimweh“ von 2014:

Ja genau, ich hab jetzt Sachen, die sind wertvoll

Doch ich hab nicht vergessen, wo ich herkomm

Ich weiß, irgendwann werd ich wieder da sein

Denn irgendwann steht hier mein Grabstein

Ich hab’s gesagt, ja ich bleib dabei man

Denn die Hälfte von mei’m Herz bleibt in der Heimat

Kann dich nicht vergessen, von dir hab ich die Narben

Ich träume von dir, dass ich wieder da bin

Fühl mich fremd hier, ich seh das in ihr’n Augen

Ich fühl mich wie ein kleines Kind, als hätt ich mich verlaufen

(…) Ich wünsche mir, ich könnte an der Zeit dreh’n

Es ist lange her, ich hab Heimweh

Musikalisch begann Özkasap mit dem Genre Gurbet Türküleri, das zu den türkischen Volksliedern zählt und von Gesang, Saz und der Blechtrommel Darbuka geprägt ist. Später wechselte sie zum Arabesk, dem beliebtesten Genre aus den 1970er und 80er Jahren in der Türkei. Arabesk ist ein Remix aus arabischen Rhythmen, türkischen Musikstrukturen und westlicher Popmusik. Es ist der Sound der Binnenmigration, der von Stars wie Orhan Gencebay, Müslüm Gürses, Ferdi Tayfur oder İbrahim Tatlıses geprägt wurde. Die Songs handeln von unerfüllter Liebe, Weltschmerz und der Sehnsucht nach der ländlichen Heimat. Özkasap knüpfte damit an einen neuen Sound an, den sie inhaltlich mit der Situation in Almanya kurzschloss. Und musikalisch experimentierte sie damit weiter, als sie z.B. 1967 das Chanson „Merci Cherie“ von Udo Jürgens coverte.

In der Türkei wurde Yüksel Özkasap anders als Metin Türköz wahrgenommen. In der auflagenstärksten Musikzeitschrift Hey konnte man von ihren Verkaufsrekorden lesen, die sie in ganz Europa und vor allem in der Türkei mit insgesamt 4,5 Millionen Tonträgern erzielte. Man erfuhr Details aus ihrem Privatleben, und dass sie über den Journalisten des WDR Ausländerprogamms, Mustafa Örsan Öymen, das Lied „Ay dolana dolana“ im WDR Programm singen durfte, woraufhin Asöcal auf sie aufmerksam wurde. Ähnlich wie Jahrzehnte später die Rapgruppe Cartel wurde Yüksel Özkasap über den Umweg Almanya zum Star in der Türkei. Im Unterschied zur Rapgruppe Cartel wurde Yüksel Özkasap weder missverstanden noch nationalistisch instrumentalisiert. Denn sie knüpfte mit ihrem Sound und ihren Texten an eine Musiktradition an, die in der Türkei anschlussfähig war und auch von dort stammte. Ebenfalls brachte sie Glamour in den tristen Arbeiteralltag in Almanya.

Yusuf – „Ich türkisch Mann, nix Deutsch sprechen kann“

Als Murat und ich den Song „Türkisch Mann“ des Singersongwriters Yusuf aus dem Jahr 1977 hören, waren wir sofort begeistert. Zum einen wegen der Musik. Der hypnotische Gitarrenloop könnte die Grundlage für einen Wu-Tang-Track sein. Aber noch mehr beeindruckte uns der Text. In einem klischeehaft gebrochenen Deutsch dekliniert Yusuf stoisch alle rassistischen Stereotype durch, die die Mehrheitsgesellschaft für die türkischen Gastarbeiter bereit hält:

Ich türkisch Mann, nix deutsch sprechen kann

Kümmel, Knoblauch, Paprika ess ich auch

Mir sagen Leute: du nix Knoblauch heute

Ich türkisch Mann, nur türkisch essen kann

Ich kommen Deutschland, arbeiten am Fließband

Viel viel gesparen, danach Türkei fahren

Ich türkisch Mann, viel Arbeit kann

Kollegen haben Bier, fragen „Du trinken auch mit mir?“

Ich sagen „Nein, nein, nein, Allah sehr böse sein“

Ich türkisch Mann, nix Bier trinken kann

Wir Kinder lieben, ich habe schon sieben

Achtes kommt bald auf Welt, dann geben mehr Kindergeld

Ich türkisch Mann, viel Kinder lieben kann

Dieser Song von Yusuf findet sich auch auf der ersten „Songs of Gastarbeiter“-Compilation wieder. Als Imran Ayata und Bülent Kullukcu diesen irritierenden Sprechgesang zum ersten Mal hörten, waren sie unsicher. Imran Ayata erinnert sich: „Bei Yusuf waren wir uns nicht sicher, ob es sich da nicht um einen Fake handelt, einen Karnevalssong, der von Deutschen verfasst wurde, um sich über die anatolischen Gastarbeiter zu amüsieren.“ Auch wir hatten Fragen. War das gebrochene Deutsch von Yusuf ein Stilmittel? Was war seine Motivation, diesen Song zu schreiben? Also machten wir uns auf die Suche nach einer Telefonnummer. Schließlich erreichten wir Yusuf, der schon seit langer Zeit in Süddeutschland am Kaiserstuhl wohnt. Yusuf war schon früh gewerkschaftlich aktiv und in diesem Kontext auch viel als Musiker unterwegs. In bestem Hochdeutsch mit leicht badischem Akzent erzählt er uns, was es mit „Türkisch Mann“ auf sich hat: Es ging ihm darum, alle Vorurteile der Almans über „Gastarbeiter:innen“ in einem Song zu bündeln und der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Das gebrochene Deutsch war ein Stilmittel und imitierte das Stereotyp, das Deutsche von so genanntem Gastarbeiterdeutsch haben – also der Sprachduktus, in den Almans verfallen, wenn sie anderen Menschen mitteilen wollen, dass diese Deutsch nur unzureichend beherrschen.

Yusuf nimmt in „Türkisch Mann“ einige Dinge vorweg, die später in der HipHop-Kultur wieder auftauchen. Sein gebrochenes Deutsch findet man 1990 bei Tachis „Ahmet Gündüz“ wieder. Nura von SXTN nutzt 2016 eine ähnliche Strategie: Sie konfrontiert die weiße Mehrheitsgesellschaft mit ihren Klischees über Schwarze Menschen und zeigt damit die Absurdität einer rassistischen Weltsicht. Bei Nura heißt es nicht „Türkisch Mann“, sondern „Ich bin schwarz“:

Ich bin schwarz, ich bin schwarz

Ich bin nie leise, schreie laut rum

Hab’ ’ne junge, reine Haut

Ich rauch’ Gras

Ich fick’ deine Bitch, hab’ ’nen Heidenspaß

Und jetzt hab’ ich einen deutschen Pass

Ich fahr’ schwarz

Is’ kein Spaß, ich bin schwarz

Bin musikalisch und beherrsch’ den Bass

Und du siehst mich twerken mit meinem fetten Arsch

Ich bin schwarz

Ich hab Arsch, ich bin schwarz

Hab’ ich schon erwähnt, dass ich nur Chicken mag?

Der gleichnamige Song des Rappers Ah Nice, der ein Jahr später erscheint, kombiniert den Spiegeleffekt eines Yusuf mit der ironisch-verschmitzten Haltung eines Metin Türköz und der Poesie einer May Ayim, jener afrodeutschen Dichterin, die das Schwarze Bewusstsein in Almanya maßgeblich geprägt hat:

Ihr wisst Bescheid, ich komm’ aus Afrika

„Kannst du Afrikanisch?“ „Nein!“, „Alles klar!“

Ich hab ’ne große Nase, ich habe dicke Lippen

Ich bin so stark wie ein Gorilla

Hab’ ne helle Handfläche – „Das ist wahr“‚

Bei mir gibt’s keine Schwäche (wuff wuff aaaaah)

Ich habe Superkräfte, auch wenn du es nicht glaubst

Check das – Mach das Licht aus (Shit, man sieht den nicht)

Nenn’ mich unsichtbar

Unzählige andere Rap-Artists bedienen sich heute dieser Strategie. Sie stehen auf den Schultern einer Generation, die ihre kulturellen Empowermentstrategien unter völlig anderen Bedingungen realisieren musste. Metin Türköz oder Yusuf hatten keine Zugänge zu den deutschen Leitmedien. Sie hatten kaum eine Chance, für ein deutsches Publikum sichtbar zu werden. Und trotzdem haben sie ihre Gefühle durch Musik ausgedrückt und die Erlebnisse in Almanya in Songs verarbeitet, die wenig an Aktualität eingebüßt haben.

Ozan Ata Canani – unsere deutschen Freunde

Ozan Ata Cananigehört zu einer Zwischengeneration. Er ist 1963 in der Türkei geboren und kommt 1975 als 12-Jähriger nach Deutschland. Er fängt früh an, Musik zu komponieren, und als er an den Häuserwänden immer häufiger die Parole „Ausländer raus!“ las, beschloss er, sich gegen den rassistischen Hass zu wehren. Er schreibt im Alter von 15 Jahren das Lied „Deutsche Freunde“. Der Song ist mitreißend und spricht die deutsche Gesellschaft unverblümt an. Ozan Ata Canani stellt Fragen, und er begründet mit seinem Text eine Tradition der Oral History postmigrantischer Geschichte:

Arbeitskräfte wurde gerufen

Aber Menschen sind gekommen

Nicht Maschinen sondern Menschen

Unsere deutsche Freunde

Sie haben am Leben Freude

Aus Türkei, aus Italien

Aus Portugal, Spanien

Griechenland, Jugoslawien

Kamen die Menschen hierher

Unsere deutsche Freunde

Freunde, Freunde

Sie haben am Leben Freude

Als Schweißer, als Hilfsarbeiter

Als Drecks- und Müllarbeiter

Stahlbau und Bandarbeiter

Sie nennen uns Gastarbeiter

1979 wird Ozan Ata Canani in die Aktuelle Stunde vom WDR eingeladen und performt dort den Song gemeinsam mit seiner Band. Später tritt er auch bei Alfred Biolek im Fernsehen auf. Canani schildert lakonisch die Ausbeutungs- und Ausgrenzungserfahrungen ausländischer Arbeiter:innen und richtet sich im Refrain mit feinem Spott an seine einheimischen Mitbürger:innen: „Unsere deutschen Freunde, sie haben am Leben Freude.“ In der letzten Strophe thematisiert er die Frage, die für die zweite Generation entscheidend wird. Die zentrale Metapher der multikulturellen Erzählung der 1980er Jahre klingt hier bereits an: Wo gehören sie hin, die Kinder der „Gastarbeiter:innen“ zwischen den zwei Stühlen? Das Spannende bei Ozan Ata Canani ist, dass er diese Frage an seine „deutschen Freunde“ richtet und von ihnen eine Entscheidung fordert. Dadurch lässt er sich nicht, wie das in den 1980er und 1990er Jahren passieren wird, zum Adressaten und damit zum Objekt eines paternalistischen Diskurses um kulturelle Zerrissenheit machen:

Und die Kinder dieser Menschen

Sind geteilt ins zwei Welten

Ich bin Ata und frage euch

Wo wir jetzt hingehören

Unsere deutsche Freunde

Ich bin Ata und frage euch

Wo wir jetzt hingehören

Unsere deutsche Freunde

Freunde, Freunde

Sie haben am Leben Freude

Ozan Ata Canani ist auch auf einer musikalischen Ebene interessant: Er kombiniert Elemente türkischer Volksmusik mit Rock. Seine Stimme setzt er – ähnlich wie viele postmigrantische Rapper nach 2010 – als Stilmittel ein und lässt in seine Betonungen Sprachmuster und Klangvariationen seiner Muttersprache sowie Gesangstechniken des Arabesk einfließen. Seinen Auftritt in der Aktuellen Stunde kann man sich auf YouTube anschauen. Die Energie und die Präsenz sind beeindruckend, und man bekommt eine Ahnung davon, was für eine musikalische Innovation und textliche Provokation dieser Auftritt 1979 in der Bundesrepublik gewesen sein muss – und das von einem Teenager mit gerade mal 16 Jahren. Umso bezeichnender ist es, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich dazu entschied, nicht weiter auf Ozan Ata Canani einzugehen. Weder bekam der junge Kölner einen Plattenvertrag, noch wurde er in weitere Shows oder auf große Konzerte eingeladen.

Erst 2013 organisierten Bülent Kullukcu und Imran Ayata einen Studiotermin mit der Kölner Gruppe Electro Hafiz und sorgten dafür, dass „Deutsche Freunde“ aufgenommen wurde. Dem ging eine lange Suche nach dem Künstler voraus. Dabei entpuppte sich der Musiker als Phantom in Almanya. Über Facebook wurde eine letzte Anfrage gestellt, und Ozan Ata Canani antwortete prompt zurück. Ayata und Kullukcu waren glücklich und dachten, dass sie nun vom Musiker ein Masterband bekämen. Nur: Ozan Ata Canani hatte kein Masterband. Das war bei seiner Ex-Frau, zu der er keinen Kontakt mehr hatte. Kurzerhand entschlossen sich die beiden, den Song nochmal professionell im Studio aufzunehmen. Mit dieser Compilation bekam Ozan Ata Canani die Aufmerksamkeit in Almanya, die ihm jahrzehntelang verwehrt wurde.

Cem Karaca – von „Baba“ bis Apsilon

Die Türkei wurde 1971 und 1980 von Militärputschen erschüttert, die maßgeblich dafür sorgten, dass politische Aktivist:innen das Land verließen. Die Repression betraf auch Musiker:innen, besonders jene, die in der Tradition der Aşık standen. Das waren Bard:innen und Volkssänger:innen, die Bezug nahmen auf gesellschaftliche und politische Themen. Viele türkische, alevitische und kurdische Musiker:innen verließen deshalb die Türkei, um für einige Jahre im Kölner Transit zu leben, darunter auch Künstler wie Cem Karaca.

Auch wurde Cem Karaca 1983 während seines Aufenthaltes in Almanya ausgebürgert und von der türkischen Polizei per Haftbefehl gesucht. In Köln vernetzte er sich schnell mit anderen Exilant:innen, aber auch mit der linken Szene der Stadt. Anfangs arbeitete Karaca auch mit Türküola zusammen. Seine wichtigste Platte im Exil – „Die Kanaken“ – entstand jedoch in Zusammenarbeit mit dem linken Dortmunder Label Pläne. Lange bevor Rapper in den späten 1990ern und 2000ern sich mit dem Begriff „Kanake“, dem Lieblingsschmähwort der Deutschen, beschäftigten, unternahm Karaca den Versuch, diese rassistische Zuschreibung zu untergraben. Für das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel entstand 1984 ein Musical, das Karaca auch für ein deutsches Publikum sichtbar machte, wie der Musikethnologe Martin Greve in seinem Buch „Die Musik der imaginären Türkei“ 2003 betont. Das Musical hieß wie das Album: „Die Kanaken“. Karaca wurde hierbei zur Stimme der „Gastarbeiter:innen“, obwohl er als Intellektueller eine ganz andere Geschichte hatte. Aber er kannte ihre Geschichten. Cem Karaca hat bis heute eine enorme Bedeutung für die türkeistämmige Musikkultur. Junge Bands wie Engin fühlen sich von ihm inspiriert. Er vereinte musikalisches Talent und politisches Bewusstsein. Sein Herz schlug links und dementsprechend sang er gegen soziale Ungerechtigkeiten an, thematisierte aber auch persönliche Konflikte.

Als ich, Murat, zum ersten Mal „Baba“ von Apsilon hörte, berührte mich dieser Song direkt. Apsilon setzt sich warmherzig mit einer Vater-Sohn-Beziehung auseinander. Er rappt darüber, dass Väter nicht über Emotionen sprechen können – das kannte ich auch von meinem Vater. Auch Cem Karaca schrieb einen Song über seinen Baba, in dem er das Nicht-Sprechen-Können zwischen den Generationen thematisiert. In dem Song beklagt Karaca, dass so viele Songs für Mütter geschrieben wurden, doch nicht für Väter. Im Rap ist es heute nicht anders: Es gibt unzählige Songs für die Mutter; der Vater bleibt eine Leerstelle. Erstaunlich ist dies vor allem im Rap, da die Inszenierug von Männlichkeit eine zentrale Rolle spielt. Karaca singt in seinem Song (Auszug mit Übersetzung):

Ellerinle anlatır, dilinle söylerdin

Gözlerinle sever, belli etmezdin

Biliyor ve inanıyorum şimdi yukarda

Koruyor ve gözetiyorsun beni hâlâ

Bir dolu şey söylendi analar için

Bu da benim ağıtım olsun ardından baba

Mit deinen Händen hast du erklärt, mit deiner Zunge gesprochen

Du liebtest mit deinen Augen, ohne dass es andere bemerkten

Weiß es und glaube daran, nun bist du oben

Beschützt und beobachtest mich noch immer

Es sind so viele Sachen zu Müttern gesagt worden

Dies soll nun mein Klagelied an dich sein, Baba

Nedim Hazar – Widerstand und Solidarität

Neben Cem Karacakam auch der Musiker und Schauspieler Nedim Hazar – der Vater von Eko Fresh – als Exilant nach Köln und fand schnell Anschluss in der Domstadt. Mit Geo Schaller gründete er die Band Yarınistan, die sich gut mit der lokalen Musikszene vernetzte. Stefan Brings spielte anfangs bei ihnen Bassgitarre. Nedim Hazar beschäftigte sich in seinen Texten mit der Situation der Arbeitsmigrant:innen in Deutschland und warb für ein multikulturelles Miteinander. Karaca, Hazar und andere Exilant:innen brachten wichtige Themen der deutsch-türkischen Gastarbeiter:innen auf die Agenda, obwohl sie andere migrationsbiografische Erfahrungen hatten. Als Intellektuelle und Künstler:innen waren sie von den dringendsten Themen der migrantischen Malocher:innen nicht betroffen: Sie arbeiteten nicht in Fabriken, hatten Zeit, sich die deutsche Sprache anzueignen und bewegten sich in Kreisen, in denen sie weniger Anfeindungen aufgrund ihrer Herkunft ausgesetzt waren.

Aber als politische Künstler:innen, als Aşık, griffen sie die Themen auf, die sie in ihrer Umgebung vorfanden. Und das war im Deutschland der 1980er Jahre vor allem der wachsende Rassismus gegenüber den Arbeitsmigrant:innen. „Die Türküola-Künstler haben sich damals bewusst an ein türkisches Publikum gewandt“, erklärt Kutlu Yurtseven, Musiker, Aktivist und Mitbegründer der Initiative Keupstraße ist überall. „Es waren die politischen Exilanten, die zum ersten Mal die deutsche Bevölkerung angesprochen und ganz bewusst auf Deutsch getextet haben.“ Damit übernahm die Gruppe der Exilant:innen eine wichtige Brückenfunktion zwischen „Gastarbeiter:innen“ und einem breiten Bündnis aus Kirchen, Gewerkschaften und alternativen Bewegungen, die in den 1980er Jahren Widerstand gegen die „geistig-moralische Wende“ unter Bundeskanzler Helmut Kohl leisteten.

Yılmaz Asöcal – Türküola, das erste Independent-Label in Almanya

Dies ist keine klassische Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Story. Yılmaz Asöcal stand nie in der Spülküche, er ist auch kein Gastarbeiter, der nach Almanya kam, um in der Schwerindustrie oder auf dem Bau zu arbeiten. Seine Geschichte begann lange vor dem deutsch-türkischen Anwerbeabkommen. Er kam 1955 als junger Mann, um in Köln Philologie zu studieren. Bis er die Chance erkannte, ins Musikgeschäft einzusteigen. Asöcal baute als Erster in Deutschland umfangreiche Independent-Strukturen auf. Doch sein Name und sein Label Türküola werden nicht erwähnt, wenn es um die Historisierung unabhängiger Musiklabels in Almanya geht. Dies kritisiert der Kulturwissenschaftler Holger Lund in seinem Aufsatz „The hidden history of Turkish independent labels in Germany from the 1960s to the 1980s“ (2021). Denn nach Lund werden gemeinhin David Volksmund Produktion (1971) oder Trikont (1972) als erste Independent Gründungen in Almanya genannt. Doch die Geschichte beginnt richtigerweise mit Türküola (1964) in Köln.

Dabei erschuf Asöcal einen eigenen Sound und war ungemein erfolgreich. Der Musikethnologe Martin Greve und Holger Lund betonen, dass Asöcal keinen Zugang zu den etablierten Vertriebsstrukturen hatte und deshalb eigene aufbauen musste – mit Gemüsegeschäften als Plattenläden und türkischen Zeitungen als Werbeflächen. Denn zu jener Zeit teilten sich die großen internationalen Plattenfirmen den Musikmarkt in Almanya auf.

Seine Lebensgeschichte beschreibt Yılmaz Asöcal eindrucksvoll in dem Buch „Nasıl Kazandilar“ („Wie haben Sie gewonnen?“) von Doğan Pürsün. Um sein Studium zu finanzieren, war er als Dolmetscher für deutsche Arbeitgeber:innen tätig und lernte dabei das Leben und die Bedürfnisse der so genannten Gastarbeiter:innen aus der Nähe kennen. Und anders als deutsche Unternehmer:innen sah er das riesige ökonomische Potenzial dieser Bevölkerungsgruppe. Und so gründete er 1964 sein erstes Unternehmen: „Türkisch-Deutsch-Export“, die Blaupause für die zahllosen Import-Export-Läden in deutschen Städten, deren Warenangebot sich vorwiegend an Migrant:innen richteten. Als er schließlich eine Genehmigung zur alleinigen Unternehmensgründung erhielt – für Migranten:innen wie ihn eine Ausnahme –, schuf er innerhalb von wenigen Jahren ein musikalisches Imperium. Seine Kölner Firma Türküola wurde zum wichtigsten Label für migrantische Musik in Europa und Asöcal zu einem erfolgreichen Unternehmer, der mehrere Millionen Tonträger verkaufte.

Er machte Künstler:innen aus der Türkei wie İbrahim Tatlıses, Zeki Müren, Emel Sayin oder Barış Manço in Almanya zu Stars. Seine Plattenveröffentlichungen wurden von großen Werbekampagnen in türkischen Zeitungen begleitet. Menschen wie Asöcal haben nicht darauf gewartet, dass ihnen die Zivilgesellschaft eine Plattform anbot. Er hat eigenständig die Initiative ergriffen und Köln zum Epizentrum für Migranten:innen-Musik gemacht, die Stadt, die durch das Fordwerk eine große türkische Community und durch die türkischsprachige Sendung Köln Radyosu (Das Kölner Radio) vom WDR eine enorm wichtige Bedeutung für Einwanderer:innen als Schaufenster in die Heimat hatte. Die Zuhörer:innen wünschten sich hier täglich den Türkuola-Song „Beyaz Atlı“ („Der mit dem weißen Pferd“) von Yüksel Özkasap und machten ihn zum Bestseller bei Türküola mit knapp 800.000 verkauften Tonträgern.

Vom geplatzten Multikulti-Traum zum HipHop-Klartext

Die Künstler:innen von Türküola richteten sich mit ihren Songs an die erste Generation von Arbeitsmigrant:innen. Als die ersten politischen Exilant:innen aus der Türkei wie Cem Karaca oder Nedim Hazar eintrafen, machten sie die Probleme der „Gastarbeiter:innen“-Familien in Deutschland für ein hiesiges Publikum sichtbar und verbanden ihre antirassistische Kritik mit einer multikulturellen Vision. Diese war auch für die Kinder der so genannten Gastarbeiter:innen attraktiv, die in der damaligen Bundesrepublik pauschal als „Ausländer“ bezeichnet wurden, und für die die Mehrheitsgesellschaft keinen Ort vorgesehen hatte. Es war die zweite Generation, die mit großer Vehemenz einen gleichberechtigten Platz in der deutschen Gesellschaft einforderte. Sie knüpften selbstbewusst an die Frage an, die der Kölner Liedermacher Ozan Ata Canani in seinem Song „Deutsche Freunde“ 1979 formuliert hatte: „Und die Kinder dieser Menschen sind geteilt in zwei Welten, ich bin Ata und frage euch, wo wir jetzt hingehören?“ Die zweite Generation schlug einen anderen Ton an. Sie fanden im Rap ihre Ausdrucksform und sprachen Klartext, wenn sie Themen wie gesellschaftliche Teilhabe, Staatsbürgerschaft und Rassismus neu verhandelten.  

Als zu Beginn der 1990er Jahre der multikulturelle Traum in den Flammen von Rostock, Mölln und Solingen verkohlte, knüpften junge Rapper:innen an die Erzählungen der ersten Generation an. „Mölln und Solingen, das waren Ereignisse, die meine Eltern lähmten und schockierten“, erinnert sich der Kölner Rapper Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia. „Für uns hingegen war es das Signal: Jetzt erst recht! Jetzt sind wir dran!“ Auch Türküola-Artists wie die experimentelle Disco-Folkgruppe Derdiyoklar bezogen Stellung zum zunehmenden Rassismus der 1980er und 90er Jahre mit Songs wie „Hop Hop Dazlaklar“ („Halt! Ihr Skinheads“) und „Liebe Gabi“. In diesen Liedern geht es um neonazistische Skinheads und die geistigen Brandstifter: „Helmut Kohl und auch Strauß wollen Ausländer raus. Sind wir keine Menschen, liebe Gabi?“ Die Wut über die brennenden Häuser und die Ermordeten brachte auch ein Interesse an der Geschichte der eigenen Eltern mit. So schrieb Yurtseven 2002 für seinen Vater den Song „Denkmal“, in dem er dessen Migrationsbiografie erzählt und die Arbeitskämpfe der ersten Generation sichtbar macht wie etwa den großen Kölner Ford-Streik 1973. 

Auch Nedim Hazars Sohn widmet der Migrationsgeschichte seiner Familie einen Song. Der Kölner Rapper und Schauspieler Eko Fresh erzählt in „Der Gastarbeiter“ von der Familie seiner Mutter, die im Alter von 15 Jahren nach Deutschland kam. In seiner Biografie kreuzen sich die beiden wichtigen Strömungen der Migration türkeistämmiger Menschen: Sein Vater gehört zu den politischen Exilant:innen, die Familie seiner Mutter kam im Zuge der Anwerbeabkommen mit der Türkei nach Deutschland. „Der Gastarbeiter“ war der Startschuss für eine beeindruckende Reihe von Songs, in denen sich Eko bis heute mit den Themen Integration, Rassismus und Repräsentation auf innovative, mal humoristische und immer optimistische Weise auseinandersetzt. Auch die neue Generation postmigrantischer Artists hat das Thema auf dem Schirm. Künstler wie Apsilon schreiben die orale Erinnerungskultur der Migrationsgeschichte in Almanya fort. Und sie schlagen neue Töne an. Selbstbewusst sprechen sie die kühl kalkulierte Ausbeutung der migrantischen Arbeiter:innen durch deutsche Industrielle an, die noch wenige Jahre zuvor Zwangsarbeiter:innen aus Osteuropa in ihren Firmen schuften ließen. Ausgrenzung und Rassismus entlarven sie als kapitalistische Strategie der Spaltung und bringen die soziale Frage mit einem postmigrantischen Ausrufezeichen auf die Agenda.

Brüche und Lücken in der Geschichtsschreibung

Dieser historische Längsschnitt derpostmigrantischen Musikszene ist nur ein Puzzleteil einer großen Erzählung. Die griechischen, spanischen, italienischen, osteuropäischen oder koreanischen Einwanderungsgruppen haben nicht weniger spannende Geschichten zu erzählen und Lieder zu singen. Und auch die Menschen, die in den 1980er Jahren aus Iran, Irak oder Libanon geflohen sind, die Geflüchteten aus Syrien, Nordafrika, Afghanistan oder der Ukraine, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland kamen — sie alle bringen ihre Kultur, ihr Wissen, ihre Lieder und Erfahrungen mit und beeinflussen und verändern dadurch die Gesellschaft.

Die Kulturgeschichte der ersten Einwanderungsgeneration ist voller Brüche und Lücken. Dagegen wurde die History von Rap in Deutschland bisher als Geschichte der Konstanz und Kontinuität erzählt. Wir sind der Überzeugung: Es sind auch hier die Breaks, die HipHop in Almanya ihren Stempel aufgedrückt haben. Wer die seltsamen Wendungen dieser ersten postmigrantischen Jugendkultur verstehen möchte, darf den rassistischen Puls der Mehrheitsgesellschaft, die nationalistische Welle der Wiedervereinigung und den rechten Terror gegen die postmigrantischen Communitys nicht ausblenden. Wie schon die erste Generation hat auch HipHop von Beginn an auf diese Ereignisse reagiert und war immer mit dem Herzschlag der Migration verbunden. Die Wechselwirkungen mit den sozialen und politischen Entwicklungen der Bundesrepublik erklären die Besonderheiten der Entwicklung der HipHop-Kultur in Almanya. Sie helfen auch zu verstehen, warum sich Rap in postkolonialen Gesellschaften wie Frankreich oder Großbritannien anders entwickelt hat. Im folgenden Abschnitt erzählen wir die Geschichte der HipHop-Kultur in Deutschland entlang von vier Brüchen.

Apsilon: Köfte

Opa für drei Groschen am Tag malochert

Jeden Monat bis zur Ohnmacht für den Tagelohn, ah

Kohlenstaub geschluckt für euren Nachkriegswohlstand

Minusgrade draußen, Minusgrad im Torax

Einsame Kanaken in ’ner Arbeiterbaracke, ah

Tag für Tag am Ackern für das Kapital in Taschen vom

Gleichen Pack, das dreißig Jahre vorher ohne

Wimpernzucken Menschen in die Gaskammern verfrachtet hatte

Und während Molotows auf die Unterkünfte prasseln

Auf der Arbeit und beim Amt immer lachen, immer lachen

Und der Enkel kriegt kein’ Job und keine Wohnung wegen des Namens

Bei den Enkeln der Fabrikbesitzer, die die Großeltern damals ausgebeutet hab’n

Und sie fragen, und sie fragen

„Warum ticken Kanaks Päckchen und renn’ weg vor der Police?“

„Warum suchen Kanaks Action und sind immer aggressiv?“

„Warum tun sie schon mit 16 auf Mafioso und Bandit?“

„Warum häng’n sie in der Spielo, im Café und auf der Street

Statt die Zeit und Energie in die Zukunft zu investier’n?“

Unverständnis in der Presse und beim Familienessen

Keiner will es checken, aber keiner hält die Fresse und sie fragen

„Warum könn’ denn deine Großeltern kein Deutsch

nach fünfzig Jahr’n in diesem Land?“ Ja

Schon ziemlich enttäuschend

Leitkultur, oh, Leitkultur, ich weiß nicht, was sie woll’n

Leitkultur in Hanau, Leitkultur, „Wir sind das Volk“

Sie seh’n Einzeltäter oder Psychos mit ’nem Colt

Ich seh’ nur, wie es leibt und lebt, euer schönes Schwarz-Rot-Gold, ah

Man kann doch ein braver Deutscher sein, wenn man nur möchte

Doch ich möchte nicht, nein, danke, trinke Çay und esse Köfte, ist man gewohnt, ja

Von Prosperität noch nichts geseh’n, niedriger Lohn ist man gewohnt

Gossengehege, Normalität, Kanaks sind broke, ist man gewohnt

Mutter Problem, Immigration, ist man gewohnt, ja, ja

Ist man gewohnt, ja

Da, wo ich wohn, ja

Ich brauchte 23 Jahre, bis ich merkte, dass ich statt zweien

Keine Heimat habe, außer meine eigene Straße und den Kiez, in dem wir war’n, ja

Die Beats, auf die ich sprach, nein

Keine Heimat eins und auch keine Heimat zwei, nur der

Streit mit dem, was sich in beiden Ländern so rumtreibt

Ich hab’ mein Herz am rechten Fleck, aber Deutschland rechter Fleck

Ganz Europa rechter Fleck, ganze Welt ein rechter Fleck

Seit Corona Zunge taub, aber weiß, wie Hetze schmeckt

Immer noch down, ja, mit meiner Squad

Immer noch da, wo du nicht guckst

Immer noch laut, auch wenn du nichts sagst

Immer noch klar, auch wenn du stutzt

Deutsch steht auf unserem Pass

Doch wenn’s ihn’ passt, ja, sind wir nur Schmutz

Ich bin nicht enttäuscht, ich hab nix erwartet

Ich bin nicht Deutsch, wenn du mich fragst

Ich integrier’ mich nicht in einen Markt

Man kann doch ein braver Deutscher sein, wenn man nur möchte

Doch ich möchte nicht, nein, danke, trinke Çay und esse Köfte

Ich esse Köfte

Ich trinke Çay und esse Köfte, esse Köfte

BREAK I: DER DRITTE RAUM 1982–1992

HipHop als Sternentor in den postmigrantischen Raum

Der deutsche Regisseur Ilker Çatak, dessen Film „Das Lehrerzimmer“ als bester internationaler Beitrag bei den Oscars nominiert wurde, stellt im Februar 2024 in einem Beitrag für die Zeit ernüchtert fest: „Es geht um ein größeres Problem, ein strukturelles Problem. Es geht darum, wie Menschen mit Migrationsgeschichte vernachlässigt und ignoriert werden.“ Çatak gehört zur dritten Generation so genannter Gastarbeiter:innen. Ihm und vielen anderen, die in Almanya als nicht-weiße oder zugewanderte Menschen gelesen werden, weht der faule Wind einer alten, aber wirkmächtigen Tradition ins Gesicht: „Über die nächsten vier Jahre wird es notwendig sein, die Zahl der Türken um 50% zu reduzieren. (…) Die Türken in ihrer gegenwärtigen Zahl zu assimilieren“, sei unmöglich, da diese eine „sehr andersartige Kultur“ hätten.

Diese sehr konkreten „Re-Migrationspläne“ wurden nicht von Björn Höcke oder Alice Weidel von der AfD erdacht, sondern von Helmut Kohl. Sie stammen aus dem Herbst des Jahres 1982. Kohl war zu diesem Zeitpunkt seit 27 Tagen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und teilte diese Ansichten seiner britischen Amtskollegin Margaret Thatcher mit. Kohl ergänzte gegenüber Thatcher, er könne über dieses Vorhaben zurzeit noch nicht öffentlich sprechen. Reporter des Wochenmagazins Der Spiegel waren 2001 in Besitz des geheimen Protokolls gekommen und veröffentlichten Kohls Aussagen. Als Reaktion auf diese Enthüllung gab das Büro des Altkanzlers zu Protokoll, dass die „im britischen Papier insoweit korrekt wiedergegebene Position (…) Teil einer hinreichend und breit geführten Debatte zur Ausländerpolitik“ in Deutschland gewesen sei.

Vier Monate vor Kohls Amtsantritt rief die 25-jährige Semra Ertan aus Hamburg beim NDR an. Sie las ihr Gedicht „Mein Name ist Ausländer“ vor und kündigte für den nächsten Tag ihren Suizid als Protest gegen den steigenden Rassismus in Almanya an. Am nächsten Tag, dem 24. Mai, setzte sich Semra Ertan an der Kreuzung Simon-von-Utrecht-Straße/­Detlev-Bremer-Straße im Hamburger Stadtteil St. Pauli selbst in Brand. Sie verstarb zwei Tage später im Krankenhaus.

Ignoranz und Rassismus waren nicht nur unter Helmut Kohl die beiden wichtigsten Antworten der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf die Frage: Wie lässt sich eine moderne Einwanderungsgesellschaft gestalten? „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ – diese Fehleinschätzung stand dann auch 1983 in der Koalitionsvereinbarung von Union und FDP. Obwohl zu diesem Zeitpunkt schon seit mindestens zehn Jahren klar war: Almanya ist nicht nur ein Einwanderungsland, Almanya ist auf dem Weg in eine postmigrantische Gesellschaft. Ein Blick in die Schulen, die Fußballvereine, die Firmenbelegschaften, die Fußgängerzonen hätte genügt, um diese parteipolitische Propaganda der schwarz-gelben Koalition als Lüge zu entlarven. Die zweite Generation der so genannten Gastarbeiter:innen wuchs in Almanya auf, aber Deutschland tat alles, um diese Menschen unsichtbar zu halten oder zu stigmatisieren.

Old School schafft Räume

Erst die HipHop-Kultur zeigte unmissverständlich: Helmut Kohl hatte gelogen. HipHop machte zu Beginn der 1980er Jahre gesellschaftliche Umbrüche sichtbar, die von der Politik und von den Medien bis dahin ignoriert und geleugnet worden waren. Mit der HipHop-Kultur entstanden neue Sozialräume in der Öffentlichkeit, in denen sich erste Ansätze einer postmigrantischen Gesellschaft abzeichneten. HipHop ab den frühen 1980er Jahren – in der so genannten Old School – war der erste gesellschaftlich relevante postmigrantische Kulturraum nach 1945. Er wurde maßgeblich mitgestaltet und geformt von den Kindern der so genannten Gastarbeiter:innen, aber auch von Schwarzen Jugendlichen. In diesem neuen Möglichkeitsraum trafen sich weiße Jugendliche aus bürgerlichen oder proletarischen Milieus mit Jugendlichen aus Familien, die erst vor vergleichsweise kurzer Zeit nach Almanya eingewandert waren. Sie kamen an öffentlichen Plätzen zusammen, in Jugendzentren oder Clubs und Diskotheken. Sie wurden an manchen Orten stark beeinflusst von amerikanischen G.I.s und traten mit ihnen in Kontakt. Manchmal führten diese Begegnungen zu einem transatlantischen Kulturaustausch und zu lebenslangen Freundschaften.

HipHop in den 1980er Jahren war das postmigrantische Stargate inmitten einer Gesellschaft der verschlossenen Türen. Es öffnete Zugänge zu Kultur- und Sozialräumen, in denen sich Jugendliche mit sehr unterschiedlichen Biografien plötzlich treffen konnten. Jugendliche, die in Kohls Anti-Einwanderungsland eigentlich nicht zusammenkommen sollten und bisher durch ökonomische und rassistische Strukturen weitgehend getrennt voneinander lebten. HipHop bot diesen Jugendlichen einen neuen, völlig überraschenden Identifikationsmoment: Eine transnationale, hybride, Schwarze Jugendkultur, in der es darum geht, durch Übung und Training verschiedene Kunstfertigkeiten zu vervollkommnen und im öffentlichen Raum zu performen. HipHop stand außerhalb einer westlichen, bürgerlichen Kulturtradition und versprach den Aktivist:innen eine aktive Deutungshoheit über ihre neue Leidenschaft. Das führte schon in den frühen 1980er Jahren dazu, dass sich HipHop-affine Jugendliche in Deutschland als Teil einer transnationalen Kultur begriffen, die ihren Ursprung in New York hatte. Die Autorin Issa Franke zitiert in ihrem lesenswerten Buch „HipHop – die vergessene Generation Westberlins“ den Regisseur Charlie Ahearn, der 1983 im Rahmen der Erstaufführung seines legendären HipHop-Films „Wild Style“ in Berlin dem Laut Magazin ein Interview gab:

„Als ich in Berlin war, traf ich durch Zufall eine Gruppe Teenager, Türken. Ich habe sehr lange mit ihnen geredet. Woher zum Teufel wissen diese Typen eigentlich so gut Bescheid? Wo haben sie diese Sophistication her? Die wissen mehr darüber, was in den letzten zwei Monaten in New York los war, als ich. Und ich habe gesagt: Verdammt noch mal, ihr Typen seid junge Türken, 13 oder 14 seid ihr, wo habt ihr die Informationen her (…)? Und ich frage mich auch, warum sie mit dieser Bewegung, die sich in der Bronx abspielt, so mächtig viel zu tun haben wollen. Wo liegt der Zusammenhang?“

Was Ahearn schon 1983 auffällt, wird in späteren Schilderungen bestätigt: HipHop in Almanya ist besonders attraktiv für Jugendliche, für die in der BRD der 1980er Jahre kulturell kein Platz vorgesehen ist, und die sich regelmäßig mit strukturellem Rassismus und sozialer Ausgrenzung auseinandersetzen müssen. Die früheste Beschreibung einer typischen Old-School-Jam stammt von dem Hamburger Intellektuellen Günther Jacob und geht in eine ähnliche Richtung. 1989 besuchte Jacob eine Jam in Hamburg-Barmbek und fasste seine Beobachtung für sein Buch „Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer“ 1992 zusammen. Jacob beschreibt die Veranstaltung als eine selbstgenügsame Talent-Show mit einem hohen Grad an Partizipation und einem starken Bewusstsein dafür, Teil einer globalen Jugendkultur zu sein:

„Der Anteil junger Immigranten und von Leuten mit wenigstens einem Elternteil aus Afrika, Asien oder Südeuropa ist auffallend hoch. Das und auch die internationalen Kontakte zu anderen europäischen Rapszenen und zu US-Rappern lässt diese Posses angenehm weltoffen wirken. Man macht einfach, was man liebt, und betrachtet es eher als Zufall, in Germany zu leben. An einen ‚deutschen HipHop‘ denkt dabei niemand.“

Nicht nur Außenstehende beschreiben die frühen Jahre der HipHop-Kultur in Almanya als postmigrantischen Raum. Für unsere vergangenen Bücher haben wir viele Protagonist:innen der Old School interviewt und immer wieder gehört: HipHop wurde häufig aufgegriffen von Jugendlichen, die am Rand der Gesellschaft standen, und für die eine Partizipation im herkömmlichen Kulturbetrieb nicht vorgesehen war. Auch deshalb schilderten uns viele Rapper:innen oder B-Boys und B-Girls den ersten Kontakt mit HipHop als ein für sie einschneidendes Erlebnis. Als Murat und ich mit dem Frankfurter Rapper D-Flame für unser erstes Buch sprachen, erzählte er uns in Hinblick auf Ahearns Kultfilm „Wild Style“: „Da war es sofort klar, dass sich die Türken mit den Puertoricanern und die Afrodeutschen mit den Schwarzen identifizieren.“

Nachdem 1985 der große mediale Hype um Breakdance vorbei war, schrumpfte der Kreis der HipHop-Begeisterten auf eine überschaubare Zahl. Es gibt hierzu keine Daten, aber es ist wahrscheinlich, dass die Epoche der so genannten Old School mit nur wenigen Tausend Aktivist:innen startete. Diese Jugendlichen saßen alleine irgendwo zuhause, sie organisierten sich in Graffiti-Crews oder trafen sich an zentralen öffentlichen Plätzen, in Jugendzentren oder in Clubs, die Black Music spielten. Die anfangs noch verstreuten HipHop-Crews vernetzten sich in den Jahren 1987/88 immer mehr, so dass man bald von einer gemeinsamen Szene sprechen konnte, die innerhalb von Almanya vernetzt war, aber auch mit vielen Aktivist:innen in Europa und in den USA in Kontakt stand.

Perfekt wie ein Kreis

Die zentrale Gestalt der Old School ist der Kreis. Sein Rand symbolisiert die Gemeinschaft der Aktivist:innen, seine Mitte das Battle, den unermüdlichen Motor der Kultur. Darin ist alles enthalten, was die Old School in Almanya in den Jahren zwischen 1985 bis 1992 ausmacht. Oder mit den Worten von Torch