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René Pollesch – Regisseur, Autor und Intendant der Berliner Volksbühne verstarb unerwartet am 26. Februar 2024. Seine Arbeiten prägten eine ganze Theatergeneration. Anlässlich dieses plötzlichen Abschieds werden in diesem Buch fünf Gespräche und Interviews zusammengestellt, die der Publizist und Theaterwissenschaftler Thomas Irmer zwischen 2001 und 2021 führte. Er begleitete den Regisseur seit Beginn seiner Karriere. Ausgehend von Polleschs Arbeit an Heidi Hoh, www-slums und Stadt als Beute, in denen er eine künstlerische Antwort auf die kapitalistische Ausbeutung des Subjekts entwarf und stetig weiterentwickelte, bilden die beiden Schlagworte "Brecht" und "Cinema" gedankliche Achsen dieser Gespräche. René Pollesch spricht nicht nur über seine künstlerischen Arbeiten, sondern reflektiert auch über die strukturellen Aspekte eines kollaborativen Theaterschaffens. Darüber hinaus äußert er sich zu seinem Weg zurück an die Berliner Volksbühne und seinem Antritt als Intendant dieses renommierten Berliner Theaters im Jahr 2019. Dieses Interview erscheint erstmals in deutscher Sprache.
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Seitenzahl: 80
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Impressum
Thomas Irmer
René Pollesch
Arbeit. Brecht. Cinema.
Interviews und Gespräche
© 2024 by Theater der Zeit
Texte und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich im Urheberrechts-Gesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany
www.tdz.de
Korrektur: Sophie-Margarete Schuster und Nathalie Eckstein
Gestaltung: Gudrun Hommers
Printed in Germany
ISBN 978-3-95749-519-8 (Paperback)
ISBN 978-3-95749-528-0 (ePDF)
ISBN 978-3-95749-529-7 (EPUB)
Thomas Irmer
Interviews und Gespräche
Vorwort
Verkaufe Dein Subjekt!
Am Ende der Schleichwege
Liebe, Schreiben, Popmusik
Den Regisseur komplett in Frage stellen
Arbeit, Brecht, Cinema
Nachweise
René Pollesch, Foto: picture alliance/dpa | Daniel Karmann
Bekanntlich spielte bei vielen Inszenierungen von René Pollesch schon eine Musik vor der Vorstellung, bevor es auf der Bühne richtig losging. Das war häufig 1960er-Jahre-Pop wie von den Beach Boys, Shangri-Las oder Ähnliches, jedenfalls beschwingt und hell, nie düster oder depressiv.
Für dieses Buch mit fünf Gesprächen aus rund 20 Jahren müsste es auch so eine Intro-Musik geben. Zur Einstimmung in einen Sound zwischen leicht erzählt und dann doch zahlreichen überraschenden Referenzen, Widersprüchlichkeiten und vielen Auskünften über das Arbeiten am Theater – wie es anders sein sollte und hoffentlich einmal anders sein wird. Und natürlich, um eine solche Musik mit der anhaltenden Trauer über seinen frühen Tod zu mischen. Sucht eine aus!
Die fünf Gespräche – zwei davon tatsächlich Interviews – entstanden aus sehr verschiedenen Anlässen und für verschiedene Medien. Sie jetzt hier zusammenzuführen, ist auch dem Umstand geschuldet, dass es keine weiteren Gespräche geben wird. Ursprünglich war einmal ein größeres Buchprojekt geplant. Für den mittleren Buchstaben des ABC – B wie Brecht – wollte René sein Vademecum des Kleinen Organon schreiben, mit dem Titel Das kleine Oregano. Wir werden es für immer vermissen.
Als Gesprächspartner war René sehr, sehr angenehm, zugewandt, immer dabei, Gedanken aus dem Probenprozess weiterzuentwickeln – auszuprobieren. Um sich mit ihm zu verabreden, war Letzteres genau das Problem, denn es gab immer nur das kleine Zeitfenster zwischen zwei Inszenierungen, und das musste man erwischen.
Natürlich gingen die Gespräche weiter, wenn das Aufnahmegerät wieder aus war. Das konnte gar nicht anders sein bei René. Es gab, das hat mich im Nachhinein nicht losgelassen, ein einziges Thema, das nicht mit Theater und seiner Arbeit zu tun hatte, aber wohl doch sehr mit seinem Leben. Er konnte ausführlichst über Balkonbewässerungsanlagen sprechen. Welche er schon ausprobiert habe, fragte dann, ob es eigene Erfahrungsauswertungen gebe. Balkonbewässerungsanlagen mit Vorratsbehälter, Zeitschalter und unterschiedlichen Begießungsvorrichtungen. Ein großes Thema. Er war ja immer so viel unterwegs und lange weg. Jetzt für immer –
Thomas Irmer
Christine Groß in Heidi Hoh 3 – die Interessen der Firma können nicht die Interessen sein, die Heidi Hoh hat von René Pollesch im Podewil 2001. Regie René Pollesch, Bühne und Kostüme Janina Audick, Foto: David Baltzer/bildbuehne.de
Nachdem René Pollesch mit Beginn der Spielzeit 2001/02 in den Prater der Berliner Volksbühne eingezogen war, konnte er seine Arbeit kontinuierlich an einem und für einen Ort entwickeln. Die Heidi Hoh-Trilogie hatte seiner Arbeit eine besondere Aufmerksamkeit beschert, vor allem aber ein Verstehen seiner Themen wie die auf neue Weise entfremdete Arbeitswelt von Heidi Hoh und die nun mit der Wohnfront-Serie weiter entwickelten Fragen von Selbstausbeutung als vermeintlicher Selbstverwirklichung und der Ortlosigkeit von Zuhause. Das Gespräch fand Anfang November 2001 in der benachbarten Prater-Gaststätte statt und erschien in der Dezember-Ausgabe von Theater der Zeit als Auftakt eines Schwerpunkts zu neuen Arbeitswelten.
Lieber René Pollesch, wie kaum ein anderer Theatermacher bist du schon seit einigen Jahren an dem Thema der neuen Arbeitswelten dran, und zwar in einer eigenen Theaterform, in der das Verwischen aller Grenzen und Orte in der Dienstleistungsarbeit immer wieder behandelt wird. Warum wurde das zu deinem Thema?
Das trifft vor allem auf die Heidi-Hoh-Serie zu, jetzt gerade auf „Menschen in Scheiß-Hotels“, und hat zuallererst mit mir und der Situation der Schauspieler zu tun, mit denen ich zusammenarbeite. Wie sehen unsere Lebensund Arbeitsverhältnisse aus, warum bin ich so viel unterwegs, inwieweit fühlen wir uns aufgefordert, uns zu vermarkten – Theater machen besitzt ja bekanntlich einen hohen Grad an Selbstausbeutung, die mit bestimmten Images vom Künstler zu tun hat und mit Vorstellungen von Selbstverwirklichung in Verbindung mit Arbeit. Angefangen hat es damit, dass ich mit Heidi Hoh produktiv machen konnte, warum ich Stücke nicht verorten will oder zum Beispiel das britische ‚one-room-flat‘ lächerlich finde. Nach Heidi Hoh sind aber gerade alle Stücke von mir nach Orten benannt: www-slums bis zu Stadt als Beute oder smarthouse. Der Ort ist das Problem. Und die Orientierung dort wird zur Aufgabe. Wir wollten darüber nachdenken, was die Orte ausmacht, an denen Menschen nicht mehr wissen, ob sie zu Hause sind oder im Betrieb. Mit Heidi Hoh I befand ich mich zum ersten Mal nicht in einem Theaterraum, sondern im Café des Berliner Podewil. Das war für mich ziemlich neu. Und dann fingen wir da drin an, über Zuhause und Betrieb zu reden. Bert Neumanns Wohnbühne jetzt im Prater wird zum Beispiel als Hotel angesprochen, in dem Zuhause realisiert werden muss. Der Realismus liegt darin, das Zuhause als Fabrik zu bespielen. Dieses Problem der Verortung hat selbst mit dem Thema schon viel zu tun – im Gegensatz zu dem Theater, in dem die Globalisierung immer noch traditionell am Küchentisch abgehandelt wird. Das funktioniert für mich aber nicht. Worum soll es da gehen? Und warum haben sie vor allem kein Wohnproblem, sondern Probleme mit der Globalisierung?
Leute mit einer Arbeitsbiografie in den neuen Dienstleistungsjobs empfinden deine Inszenierungen als absolut realistisch, während andere Zuschauer, die das nicht kennen, sie für hysterisch und übertrieben halten.
Oder für Kindergarten. Es gibt verschiedene Scheren in der Aufnahme meiner Arbeiten. Bei Frau unter Einfluss ist es die Mann-Frau-Schere. Männer wussten oft gar nicht, worum der Abend geht. Oder wo da das Problem sein soll. Da ist dann politisch, dass sie nicht oft was vorgesetzt bekommen, was sie nicht verstehen. Das ist ein kulturelles Problem, das nichts mit Bildung oder sowas zu tun hat.
Und bei den auf das Thema Arbeit bezogenen Inszenierungen ist es die Generationenschere?
Das habe ich bislang so nicht beobachtet. Es unterscheidet sich darin, was und wie einer arbeitet, und auch, wie seine Arbeit bewertet wird.
Bei Heidi Hoh beziehst du dich auf einen Film aus dem Jahre 1979, Norma Rae, in dem eine junge amerikanische Fabrikarbeiterin für die Ziele der Gewerkschaft politisiert wird. Der Film funktioniert als Melodram mit der für Hollywood immerhin ungewöhnlichen Botschaft, sich für eine Änderung der Arbeitsbedingungen einzusetzen. Was ist deine Sicht auf diese Norma Rae im Vergleich zu Heidi Hoh?
Der Film ist einigermaßen verlogen und beutet als Melodram die Problematik aus. Es geht schon damit los, dass ein Mann aus der Großstadt in die Provinz reist und dort diese Frau erzieht und politisiert. Dass der Mann der Unterweiser ist, finde ich merkwürdig, und genau das haben wir in Heidi Hoh aufgegriffen. Der Mann, der die Freiheit kennt, bringt sie vermeintlich zu diesen rechtlosen Frauen. Ein ganz großer Unterschied zwischen Norma Rae und Heidi Hoh ist der, dass diese Fabrikarbeiterin als ganzes Subjekt behauptet wird, während Heidi Hoh sich aufgefordert fühlt, ihre Subjektivität auszubeuten. Von daher ist es eben nicht mehr möglich, sich mit einem Gewerkschaftsschild auf einen Webstuhl zu stellen. Obwohl ich mir beim Schreiben nicht immer so bewusst bin, genau das zu erzählen, scheint dieses Schild und all das, wofür es als Konflikt steht, nach innen gewandert zu sein.
Befindet sich Heidi Hoh nun in einer gesellschaftlichen Misere oder bloß in den unangemessenen Projektionen von Selbstverwirklichung ihrer Generation?
Die Frage ist, woher kommt diese willentliche Anerkennung von Selbstausbeutung, wie sie eher für künstlerische Berufe typisch war. Und wer beaufsichtigt die? Man ist sein eigener Unternehmer und Einpeitscher. Und deshalb gibt es in Heidi Hoh auch nicht mehr dieses engagierte und politisierte Subjekt, das auf den Webstuhl steigt. In Stadt als Beute sagen wir, es gibt diese „Durchsagen in mir“ – im Unterschied zu den Fabriken und der Kontrollgesellschaft und ihren klaren Hierarchien herrscht heute eine flüssige, allgegenwärtige Machttechnologie. Die Fabrik hat sich in uns verflüssigt, Marketing ist zu unserer zweiten Natur geworden.
Die letzte Kolonisierung richtet sich nach innen, bis ins Unterbewusste. Hast du so etwas wie einen theoretischen Rahmen für deine Arbeit?
Bei Stadt als Beute gibt es ein Buch als Vorlage, von Spacelab, aber eigentlich ist die Vorlage ein Text, in dem die Autoren ihr eigenes Buch in Frage stellen. Diese Position ist interessant, denn die Autoren suchen darin nicht nur das revolutionäre Potential im Alltag, sondern beschäftigen sich auch damit, dass sie lediglich an einer Problemkultur des Alltags mitarbeiten. Gerade das schließt die Frage nicht aus, wie der Sprung auf den Webstuhl von Norma Rae heute aussehen könnte.
Die Arbeitsweisen von Künstlern wandern heute in Unternehmen ein, weil diese sich der Strategien von Künstlern bemächtigen wollen, um ihre Ziele zu erreichen.
Nicht allein das. Carl Hegemann, der sich stark mit dem Thema beschäftigt, gab mir gerade ein Buch Das revolutionäre Unternehmen, in dem der Jargon von Marx und Engels zur Ausstattung von Unternehmensberatern gehört …
… wie Das Kapital vor allem von Kapitalisten mit Gewinn gelesen wurde.
Und das hat sich wahrscheinlich noch potenziert. Die einzig mögliche Revolution ist das Unternehmen, das die Wandlung der Individuen betreibt. Die Revolution als Angebot von Unternehmen. Hier kommt dann auch Heidi Hoh wieder vor. Sie wird aufgefordert, ihre Subjektivität zu vernutzen, wie ein romantisches Image vom Künstler, für den Leben und Werk in eins fallen.
Würdest du dennoch den Begriff der Entfremdung für diese Verhältnisse verwenden?