Resilient durch Krisen - Ariane Bentner - E-Book

Resilient durch Krisen E-Book

Ariane Bentner

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Beschreibung

Krisen gibt es zu allen Zeiten, und sie treffen Einzelne ebenso wie Gruppen und Teams. Für ihre Bewältigung ist es entscheidend, die eigene Resilienz zu entdecken, bewusst wahrzunehmen und nach Möglichkeit zu stärken. Ariane Bentner und Jan P. Jung führen zu diesem Zweck das Resilienzkonzept mit weiteren vielversprechenden interdisziplinären Ansätzen zusammen, darunter Krisenkonzepte, systemische Konflikttheorie und agile Ansätze. Auf dieser theoretischen Basis zeigen Fallbeispiele aus der Beratungspraxis, wie systemische Methoden einen lösungsfokussierten Umgang mit Krisen ermöglichen. Beratende, Coachs, Führungskräfte und Teams, die Krisen durchleben und begleiten müssen, finden hier einen leichtgewichtigen Einstieg in das Thema individuelle und organisationale Resilienz und einen verlässlichen Kompass durch die "VUKA-Welt". Die farbenfrohen Illustrationen von Jan P. Jung tragen dazu wesentlich bei und machen das Lesen auch zu einem optischen Genuss.

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Die Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Die Bücher der petrolfarbenen Reihe Beratung, Coaching, Supervision haben etwas gemeinsam: Sie beschreiben das weite Feld des »Counselling«. Sie fokussieren zwar unterschiedliche Kontexte – lebensweltliche wie arbeitsweltliche –, deren Trennung uns aber z. B. bei dem Begriff »Work-Life-Balance« schon irritieren muss. Es gibt gemeinsame Haltungen, Prinzipien und Grundlagen, Theorien und Modelle, ähnliche Interventionen und Methoden – und eben unterschiedliche Kontexte, Aufträge und Ziele. Der Sinn dieser Reihe besteht darin, innovative bis irritierende Schriften zu veröffentlichen: neue oder vertiefende Modelle von – teils internationalen – erfahrenen Autoren, aber auch von Erstautoren.

In den Kontexten von Beratung, Coaching und auch Supervision hat sich der systemische Ansatz inzwischen durchgesetzt. Drei Viertel der Weiterbildungen haben eine systemische Orientierung. Zum Dogma darf der Ansatz nicht werden. Die Reihe verfolgt deshalb eine systemisch-integrative Profilierung von Beratung, Coaching und Supervision: Humanistische Grundhaltungen (z. B. eine klare Werte-, Gefühls- und Beziehungsorientierung), analytisch-tiefenpsychologisches Verstehen (das z. B. der Bedeutung unserer Kindheit sowie der Bewusstheit von Übertragungen und Gegenübertragungen im Hier und Jetzt Rechnung trägt) wie auch die »dritte Welle« des verhaltenstherapeutischen Konzeptes (mit Stichworten wie Achtsamkeit, Akzeptanz, Metakognition und Schemata) sollen in den systemischen Ansatz integriert werden.

Wenn Counselling in der Gesellschaft etabliert werden soll, bedarf es dreierlei: der Emanzipierung von Therapie(-Schulen), der Beschreibung von konkreten Kompetenzen der Profession und der Erarbeitung von Qualitätsstandards. Psychosoziale Beratung muss in das Gesundheitsund Bildungssystem integriert werden. Vom Arbeitgeber finanziertes Coaching muss ebenso wie Team- und Fallsupervisionen zum Arbeitnehmerrecht werden (wie Urlaub und Krankengeld). Das ist die Vision – und die politische Seite dieser Reihe.

Wie Counselling die Zufriedenheit vergrößern kann, das steht in diesen Büchern; das heißt, die Bücher werden praxistauglich und praxisrelevant sein. Im Sinne der systemischen Grundhaltung des Nicht-Wissens bzw. des Nicht-Besserwissens sind sie nur zum Teil »Beratungsratgeber«. Sie sind hilfreich für die Selbstreflexion, und sie helfen Beratern, Coachs und Supervisoren dabei, hilfreich zu sein. Und nicht zuletzt laden sie alle Counsellor zum Dialog und zum Experimentieren ein.

Dr. Dirk RohrHerausgeber der Reihe »Beratung, Coaching, Supervision«

Ariane Bentner, Jan P. Jung

Resilient durch Krisen

Wie Führungskräfte und Teamsschwierige Zeiten bewältigen

Mit einem Geleitwort von Stephan Köhnlein

2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Beratung, Coaching, Supervision«

hrsg. von Dirk Rohr

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: © Artem Popov – stock.adobe.com

Illustrationen: Jan P. Jung

Redaktion: Nicola Offermanns

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0445-2 (Printversion)

ISBN 978-3-8497-8397-6 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

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Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Ich hab die Krise – ein Geleitwort

Vorwort

1Chancen und Risiken von Krise(n)

Was sind eigentlich Krisen?

Was passiert mit uns in Krisen?

Unsicherheit, Angst und Stress

Krisen verstehen und managen

Interventionsinstrument in Krisen: Die Landkarte der Befürchtungen

Krisen in Organisationen

Typische Fehler und Risiken in Krisen

2Krisen aus systemischer Sicht – Strategien zur Konfliktbewältigung

Grundannahmen einer systemisch-konstruktivistischen Konflikttheorie

Entscheidungsfindung als Überlebensstrategie in Krisen

Charakteristika von Non-Profit-Organisationen und klassische Konfliktstoffe

Systemische Konfliktinterventionen: Konstruktiv Konfliktlösungen (er)finden

Das zirkuläre Konfliktinterview

Eine lösungsorientierte Methode zur Ergänzung: »Remember the future«

3Resilienz als menschliche Kernkompetenz in Krisen

Welche Charakteristika hat personale Resilienz?

Resilienz ist dynamisch

Resilienz ist situationsspezifisch und multidimensional

Resilienz entsteht durch positive Bewältigung

Wo liegen die Anfänge der Resilienzforschung?

Die Kauai-Studie

Resilienz als Kompetenz zur Krisenbewältigung

Resilienzreaktionen im Krisenverlauf

Was sind Risiko- und Schutzfaktoren?

Die Bedeutung von Bindung bei Erwachsenen

Exkurs: Frühe Bindung und die Entwicklung von Resilienz

Vom Bindungsstil zur Beziehungsgestaltung

Von der Forschung in die Praxis: Wie äußert sich Resilienz konkret?

Drei Quellen der Resilienz für belastete Teams

Der Resilienzkreislauf

Optimismus

Akzeptanz

Lösungsfokussierung

Überwindung der Opferperspektive

Verantwortung übernehmen

Netzwerkorientierung

Zukunftsplanung

Biografische Krisenbewältigung und Resilienz

Das systemische Modell familialer Resilienz

Resilienzförderung durch Trainings?

Das Energiefass als Übung für Gruppen und Teams

Fazit

4Resilienz in Organisationen

Das Konzept der Rationalitätsniveaus von Organisationen

Was kennzeichnet resiliente Organisationen?

Aktuelle Projekte

Gesunde und widerstandsfähige Organisationen

Die gesunde Organisation als Vision und Paradoxie zugleich

Salutogenese und positive Psychologie zur Stärkung der Resilienz in Organisationen

5Chancen und Risiken der Beschleunigung

Dimensionen sozialer Beschleunigung

Die technische Beschleunigung

Die Beschleunigung des sozialen Wandels

Die Beschleunigung des Lebenstempos

Wunderwaffe VUKA?

Grenzen des Wandels und der Unsicherheit

Selbstführung

Ganzheit

Kompliziert oder komplex?

Wie Führungskräfte im VUKA-Kontext Herausforderungen managen können

Agile und lösungsfokussierte Methoden

Dailys

Die Feedback-Matrix 1

Die Feedback-Matrix 2

In eigener Sache: Kritische Würdigung des VUKA-Konstruktes

6Zum Schluss: Strategien für ein agiles und resilientes Selbstmanagement

Literatur

Über die Autorin und den Autor

Für Jochen Schweitzer-Rothers

Ich hab die Krise – ein Geleitwort

In den rund zwei Jahren vor dem Erscheinen dieses Buches hat uns die Corona-Pandemie viel abverlangt: Das Virus traf uns unvorbereitet und erschütterte nahezu alle Bereiche unseres Lebens. Die Sorge um die Gesundheit – sei es bei Angehörigen, Freunden oder bei einem selbst – war für viele ein ständiger Begleiter. Unser Bewegungsspielraum und die Möglichkeiten für Begegnungen mit anderen waren stark eingeschränkt. Nicht selten waren wir auf uns allein gestellt. Das betraf auch unser Berufsleben, das in zentralen Punkten einen tiefgreifenden Wandel erfahren hat.

Die gute Nachricht: Wir werden die Corona-Krise früher oder später überwinden und lernen, mit dem Virus zu leben. Die schlechte Nachricht: Es gibt genug andere Krisen, die sich dann wieder in den Vordergrund schieben werden. »Ich hab die Krise«, stöhnen wir oft – und tatsächlich gibt es eigentlich immer etwas, was auf personaler, beruflicher oder gesellschaftlicher Ebene in dieses Schema passt.

Beim Schreiben dieses Geleitworts ist gerade die Ukraine-Krise zum beängstigend-beherrschenden Thema aufgestiegen. Die Klimakrise begleitet uns dagegen schon seit Jahren, und es ist nicht abzusehen, welche Konsequenzen sie für unsere Welt haben wird. Droht jetzt auch eine Energiekrise? Eine Wirtschaftskrise? Wie krisenhaft sind die Zustände im Pflege- und Gesundheitswesen? Haben wir angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen schon eine soziale Krise? Und was ist eigentlich aus der Flüchtlingskrise geworden?

Die Aufzählung der aktuellen und potenziellen Krisen ließe sich noch weiterspinnen. Womöglich verwenden wir das überwiegend negativ besetzte Wort »Krise« ja auch etwas zu inflationär. Aber Ereignisse, die uns unvorhersehbar erscheinen und zu deren Bewältigung unsere bisherigen Handlungsmöglichkeiten zunächst nicht ausreichen, gibt es genug. Und solche Situationen führen zu Stress, können im schlimmsten Fall sogar krank machen. Insofern passt ein Buch wie dieses, in dem es um ein Verständnis von Krisen, den Umgang damit sowie ihre Bewältigung geht, hervorragend in die Zeit.

Dieses Buch lässt sich aus mindestens zwei verschiedenen Perspektiven lesen: mit Blick auf den individuellen Umgang mit Krisen und mit Blick auf den Umgang mit Krisen in Organisationen. Für beide Sichtweisen enthält es viele wertvolle Impulse. Im Zentrum steht dabei auf beiden Ebenen der Begriff der Resilienz als Kernkompetenz in Krisen. Auch wenn die Bindung in der Kindheit ein entscheidender Faktor für die Herausbildung von Resilienz auf individueller Ebene ist, lässt sich Resilienz auch später noch fördern. Und auch Organisationen und Institutionen können ihre Resilienz trainieren.

Als Journalist, Berater und ausgebildeter Coach habe ich in den vergangenen Jahren verschiedene Medienhäuser erlebt und auch bei Change-Prozessen begleitet. Gerade das Print-Segment befindet sich in einer existenziellen Krise. Vor dem Hintergrund sinkender Abonnentenzahlen, rückläufiger Werbeeinnahmen und der Konkurrenz im Internet droht der traditionellen und lange auch lukrativen Tageszeitung ein mehr oder weniger schleichender Tod.

Mit Blick auf die Schlüsselelemente, die die Resilienz einer Organisation definieren, fehlt es nach meiner Erfahrung in vielen Medienhäusern noch an einer Vision, an klaren Zielen und Werten, die hierarchieübergreifend geteilt werden. Viel Luft nach oben ist häufig auch beim Thema Transparenz, wenn es darum geht, dass Wissen und Informationen geteilt werden.

Doch egal, ob Tageszeitungen, andere Organisationen oder die personale Ebene – der wohl wichtigste Aspekt dieses Buches und zugleich die gute Nachricht zum Schluss ist: Krisen erfordern Veränderung und ermöglichen somit Wachstum. Wir lernen neue Handlungsmöglichkeiten zu Krisenbewältigung, sind beim nächsten Mal auf solche Situationen besser vorbereitet und können womöglich sogar noch einen Transfer für ähnliche Herausforderungen leisten.

Tatsächlich hat uns auch die Corona-Pandemie schon positive Entwicklungen beschert wie zum Beispiel einen Schub bei der Digitalisierung oder neue und flexiblere Arbeitsformen, weniger (oft verlorene) Zeit beim Pendeln zur Arbeitsstätte oder anderen beruflichen Veranstaltungen und damit womöglich auch positive Folgen für die Umwelt.

Eine Krise ist so gesehen immer auch eine (wenn auch meist schmerzhafte) Chance, die eigenen Widerstandskräfte zu stärken und zu trainieren.

Darmstadt, im Februar 2022Stephan Köhnlein

Vorwort

Verschwende nie eine gute Krise.

Winston Churchill

Das Thema Resilienz beschäftigt und begleitet uns in Theorie und Praxis schon viele Jahre. Wir erinnern uns: Vor ca. zehn Jahren wurden wir als systemisch und lösungsorientiert arbeitende Unternehmensberatung erstmals von einem Infrastruktur-Dienstleister und Flughafenbetreiber beauftragt, ein Konzept zu entwickeln, das den Mitarbeitenden und Führungskräften helfen sollte, auch schwierigste Herausforderungen im beruflichen Alltag zu bewältigen, ohne in übermäßigen Stress oder unnötige Konflikte zu geraten. Agilität und der Umgang mit Komplexität und Ungewissheit war das Personal dieses Konzerns schon lange gewohnt, denn der Konzern lebt als Flughafen von seiner Kernkompetenz, schon aus Gründen der Sicherheit extrem schnell und flexibel auf relevante Umweltereignisse reagieren zu können.

Was damals fehlte, war ein deeskalierender Umgang des Personals mit sehr aggressiven Passagieren in Extremsituationen – wenn diese zum Beispiel frühmorgens nach einem langen Nachtflug aus Südamerika am Flughafen stundenlang auf ihre Koffer warten mussten und nicht wussten, warum. Informationen gab es keine, das menschliche Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle wurde dadurch massiv verletzt, der Stresslevel stieg, und es kam zu verbalen Eskalationen …

Dass das lange Warten etwas mit den Kontrollaktivitäten beim Zoll wegen möglicher Drogentransporte zu tun haben könnte, blieb eine – ebenfalls aus Sicherheitsgründen – unbestätigte Hypothese, zu der sich das Personal nicht äußern durfte, was bei den Flugreisenden verständlicherweise zu großem Verdruss führte. Es kam daher fast immer zu verbalen Eskalationen und Konflikten zwischen den völlig übermüdeten, gestressten und aufgebrachten Passagieren, die nur noch nach Hause wollten, und dem ebenfalls durch extreme Schichtarbeit belasteten Flughafenpersonal, das das Ende dieser Nachtschichten herbeisehnte und sich nicht mehr rollenadäquat verhalten konnte.

In unserem Projekt ging es also sowohl um das Entwickeln eines Konzeptes zum Selbst- und Stressmanagement des Personals in Extremsituationen als auch um das Finden angemessener Verhaltensweisen in Ausnahme- und Krisensituationen. Das Ergebnis war ein gemeinsam mit den Führungskräften entwickeltes Konzept zur Stärkung der Resilienz aller Beteiligten, das später ins mittlerweile preisgekrönte BGM-Angebot1 des Konzerns aufgenommen wurde.

In der Folge ging es bei unserer Beratungsarbeit immer wieder darum, wie Menschen in herausfordernden Situationen und Krisen handlungs- und arbeitsfähig bleiben können und was Unternehmen oder Organisationen dazu beitragen können. Insbesondere die besonders belasteten Berufsgruppen aus den helfenden und psychosozial beratenden Berufen, aber auch das Gesundheitspersonal steht bei diesem Thema seither im Zentrum unserer Fortbildungs- und Beratungstätigkeit.

Dabei herrscht ja an Krisen kein Mangel: Finanzkrise, Terrorismus, Klimawandel und Umwelt, Corona – nach der Krise ist vor der Krise, so scheint es. Was genau bedeutet Krise eigentlich? Im Griechischen bedeutet krisis so viel wie »Beurteilung«, »Zuspitzung« oder »Entscheidung«. Im Lateinischen wurde daraus crisis, was bei uns vor allem medizinisch konnotiert ist und sich etwa übersetzen lässt mit

»Wende- oder Höhepunkt einer bis dahin kontinuierlich verlaufenden Entwicklung. […] In ihren ursprünglichen Bedeutungen ist die Krise also ein Zeitpunkt oder eine nicht besonders lang anhaltende Phase der Entscheidung mit ungewissem Ausgang: Nach der Krise kann es besser oder schlechter werden« (Urner 2021, S. 20).

Auch uns selbst hatte die Corona-Krise zu Beginn kalt erwischt: Persönliche Krisen haben wir ebenso durchlebt wie viele andere Menschen auch. Wir mussten plötzlich lernen, Krisenmanagement für uns selbst zu betreiben, Beratung von analog auf remote umzustellen, um als kleines Unternehmen zu überleben. Das war sehr anstrengend und hat zunächst viele Widerstände ausgelöst. Kurz nach dem ersten Lockdown im März 2020 hatten wir vorsichtig mit dem Schreiben begonnen – damals noch ohne genaues Ziel. Irgendwann nahmen wir die Pandemie einfach als »Begleitmusik« und Gelegenheit, um unsere Erfahrungen, Konzepte und Methoden zum Umgang mit Krisen in der Arbeitswelt hier mit unseren interessierten Lesern und Leserinnen zu reflektieren und zu teilen, uns durch die Arbeit an diesem Buch auf sinnvolle Weise zu beschäftigen und Geduld und Zuversicht zu lernen.

Dabei wollen wir hier für ein etwas anderes Verständnis von Krise werben: Durch die Globalisierungsfolgen, die Beschleunigung unseres Lebenstempos, den Klimawandel, gestiegene Anforderungen in Ausbildung und Beruf, Vereinbarkeitsproblematiken, Fluch und Segen der neuen Homeoffice-Arbeitswelt, den permanenten Veränderungsdruck in Organisationen usw. hat das Erleben von Krisen – auch jenseits von Pandemien – eine gewisse Normalität angenommen, so unser Befund. Diese Normalität mag nicht schön sein und sie macht auch häufig wenig Spaß, aber wir müssen sie so hinnehmen und schauen, wie wir so gut und so gesund wie möglich mit ihr umgehen können. Unser Gehirn bietet uns die Voraussetzungen dafür – so viel sei vorab schon verraten.

Wir wollen ein anregendes Fachbuch für Menschen vorlegen, die sich professionell mit dem Management von Krisen befassen und die dabei einen Mix von theoretischen Hintergrundkonzepten, Fallbeispielen aus unserer Beratungspraxis und praktischen Methoden zum Handling von Krisen schätzen. Der Fokus dieses Buches liegt klar auf der Resilienz in Krisen im Kontext von Führung und Teams in Organisationen. Der systemische Ansatz in seinen vielen Facetten zieht sich als roter Faden durch das Buch, auch wenn wir hie und da interdisziplinäre Abstecher in andere wissenschaftliche Gefilde unternommen haben.

Die Illustrationen von Jan P. Jung sollen für Abwechslung sorgen und das Lesen zu einem optischen Genuss machen.

Wir haben uns dem Thema Resilient durch Krisen aus verschiedensten Richtungen angenähert:

Kapitel 1 widmet sich zunächst den »Chancen und Risiken von Krise(n)«. Hier erfolgt eine erste Hinführung zum Thema, eine neurowissenschaftliche Selbstaufklärung darüber, was Krisen bei uns Menschen (und in Organisationen) an Gefühlen, Impulsen und Verhaltensweisen auslösen können, systemische Sichtweise(n) auf Krisen als evolutionäre »Normalfälle«, Ermutigungen zum Rückgriff auf verfügbare Ressourcen als Handlungsstrategie in Krisen, Dos und Don’ts für Menschen in Organisationen und natürlich auch – mit der aus der Tiefenpsychologie Fritz Riemanns entlehnten »Landkarte der Befürchtungen« – ein erstes Interventionsinstrument, das sich auch in die systemische Beratungspraxis gut integrieren lässt. Ein Exkurs ins Gebiet der Stressforschung darf hier natürlich nicht fehlen, damit bestimmte Verhaltensweisen in der Krise besser verstehbar werden.

In Kapitel 2 geht es um »Krisen aus systemischer Sicht – Strategien zur Konfliktbewältigung«. Das Feld der Konfliktarbeit wird bisher in Theorie und Praxis überwiegend von anderen – eher interdisziplinär aufgestellten – Konzepten wie der Mediation bestellt. Fritz B. Simon (2018) hat Grundzüge einer systemischen Konflikttheorie erarbeitet, die wir hier vorstellen und methodisch garnieren wollen. Unser Praxisfokus liegt hier bei Fallbeispielen aus dem Non-Profit-Bereich, weil dieser für bestimmte Konfliktkonstellationen aufgrund ihrer strukturellen Verfasstheit besonders anfällig zu sein scheint. Die Konflikt-Matrix und andere systemisch-lösungsfokussierte Methoden runden das Kapitel ab.

Im Kapitel 3 »Resilienz als menschliche Kernkompetenz in Krisen« haben wir versucht, den aktuellen Forschungsstand zu diesem immer bedeutsamer werdenden Thema aufzubereiten. Hier geht es um eine Hinführung zur Entstehung von Resilienz als Paradigma menschlicher Ressourcen – weg von der Sicht auf Fehler und Defizite hin zum Bewusstsein von Resilienz als Widerstands- und Überlebenskraft gerade in Krisen. Risiko- und Schutzfaktoren werden analysiert, Methoden zum Resilienztraining für Menschen in Organisationen oder im klinischen Bereich werden vorgestellt.

Kapitel 4 »Resilienz in Organisationen« widmet sich der durch die aktuellen Krisen virulenter und drängender gewordenen Frage, wie Organisationen ihre Resilienz stärken und ihr Personal gesund halten können.

Im letzten, Kapitel 5 gehen wir schließlich der Frage nach, wie wir mit den »Chancen und Risiken der Beschleunigung« – wie wir sie u. a. aktuell unter dem Stichwort Digitalisierung erleben – umgehen können, was das für Führungskräfte und Teams bedeutet und wie auch große und alte Organisationen ihre Agilität trainieren können. Dazu stellen wir Ihnen entsprechende methodische Häppchen vor.

Dieses Buch hätten wir trotz aller Lockdowns bei laufendem Geschäftsbetrieb nicht ohne die Unterstützung und wissenschaftliche Mitarbeit unserer Kolleg:innen schreiben können. Unser großer Dank dafür geht Dank an Melisa Dippel, Manuel Gros, Carolin Koch, Lea Sahm und Tatjana Rexroth für ihre wissenschaftliche Mitarbeit, viele Anregungen und ideenreiche Impulse.

Viele Menschen haben die Arbeit an diesem Buch mit großem Interesse und viel Anteilnahme verfolgt. Daher gilt unser herzlicher Dank unseren Kund:innen, Kolleg:innen, Freund:innen und Familien, die uns mit viel Geduld, Neugier, konstruktiver Kritik und nützlichen Hinweisen auf unserem manchmal auch einsamen Schreibprozess durch die Pandemie begleitet haben. Zum Abschluss dieses Prozesses ist uns mit den Entwicklungen der aktuellen weltpolitischen Lage schmerzlich klar geworden, dass nach der Krise vor der (nächsten) Krise zu sein scheint – oder, wie Steve de Shazer einmal sinngemäß gesagt hat: Das ganze Leben ist nichts anderes als ein verdammtes Ding nach dem anderen.

Besonders danken möchten wir dem Carl-Auer Verlag, der uns unaufgeregt, ruhig und professionell mit sehr viel Humor und lustigen Reframings bei unserer Arbeit an diesem Buch bestärkt und transparent durch alle Phasen der Produktion geführt hat. Insbesondere unserer Lektorin Nicola Offermanns gilt ein herzliches Dankeschön für ihre Geduld und starken Nerven im Lektoratsprozess.

Darmstadt, im März 2022Ariane Bentner & Jan Jung

1BGM: betriebliches Gesundheitsmanagement.

1Chancen und Risiken von Krise(n)

Uncertainty is the only certainty there is.

John Allan Paulos

Was sind eigentlich Krisen?

Krisen gehören zu unserem Leben dazu, und gleichzeitig stören sie massiv. Krisen lassen sich getrost als Notfallsituationen bezeichnen, wobei es unterschiedliche Schweregrade und unterschiedliche Komplexität zu unterscheiden gilt.

Psychosozial betrachtet bedeutet Krise (griech. krisis) eine »schwierige Lage«, medizinisch »gefährliche Entwicklung« oder auch »Zuspitzung«. Das Schwierige und oftmals Charakteristische an der Krise ist, dass es sich dabei um Ereignisse handelt, die für uns unvorhersehbar erscheinen und zu deren Bewältigung unsere bisherigen Handlungsmöglichkeiten meist (noch) nicht ausreichen. Die eintretenden kritischen Ereignisse erscheinen ähnlich einem traumatischen Ereignis unkontrollierbar und lösen aufgrund ihrer Unbekanntheit starke Verunsicherung und teilweise massive Ängste aus. Kurz gesagt: Krisen überwältigen uns und lassen uns zunächst ohnmächtig und handlungsunfähig zurück.

Typisch für Krisen ist auch, dass es keine einfachen Lösungen gibt: Unser bisheriges Wissen, unsere Ressourcen und Handlungsroutinen reichen in der Krise meist nicht zur Bewältigung aus. Möglicherweise haben wir andere/ähnliche und aus unserer Sicht sogar vergleichbare Krisen im Leben schon erfolgreich überstanden und bewältigt. Die nächste Krise belehrt uns oft eines anderen: dass nämlich unsere früheren/bisherigen Strategien zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen nicht ausreichen. Der Umgang mit heftigen Krisen wie der Corona-Pandemie (zumindest im seit Langem mit Seuchen nicht mehr vertrauten Europa) glich oft einem Wettlauf zwischen Hase und Igel – der Hase hat immer die Nase vorn.

Zusammengefasst können wir festhalten: Krise ist in der westlichen Welt heutzutage tendenziell negativ konnotiert. Krisen wirken bedrohlich und lösen Stress und Unsicherheit aus. Sie bilden Zündstoff für Konflikte. Sie bedrohen unsere Handlungsroutinen, Ziele und Entscheidungen. Und, ganz wichtig: Krisen limitieren die Zeit, die uns zur Reaktion auf sie bleibt (Urner 2021, S. 20).

Die Sache mit der Krise ist also komplex. Das bedeutet, dass wir sie nicht völlig durchschauen und ganz verstehen können, solange wir noch keine explizite Krisenkompetenz erlernt haben. Und selbst wenn wir zum Beispiel aus der Finanzkrise ab 2007 etwas gelernt hätten, heißt das nicht, dass wir für die nächste Krise gut aufgestellt sind.

Was passiert mit uns in Krisen?

Ich habe mir die Krisen nicht ausgedacht.

Angela Merkel

Neurowissenschaftlich betrachtet werden in Krisen unsere basalen menschlichen Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Bindung sowie nach Orientierung und Kontrolle massiv verletzt. Das ist für uns Menschen, besonders in der westlichen Welt, schwer auszuhalten. In der Corona-Krise kam in der Lockdown-Zeit die Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit sowie unserer Freiheitsrechte dazu. Diese Häufung der Verletzung unserer Grundbedürfnisse dürfte nicht zuletzt Gruppierungen wie Corona-Leugner:innen, Querdenkende und andere Blüten von Verschwörungstheorien auf den Plan gerufen haben. Dabei wird oft vergessen, dass Krisen im Grunde genommen in der Evolution eher den Normalfall als die Ausnahme darstellen:

»Man vergegenwärtige sich die Lebenssituation unserer Vorfahren bis vor kurzem, also bis vor kaum mehr als einem Jahrhundert. Nahrung war knapp und ungleich verteilt. Viele hungerten, nur wenige schlemmten. Das Leben war viel kürzer, und wer heute von ›prekärer Existenz‹ redet, hat vergessen, dass sehr viele früher ›prekär‹ lebten – in unsicheren Lebensverhältnissen. Und in grauer Vorzeit war die Existenz vollkommen vom Kampf gegen wilde Tiere, den Hunger und den mörderischen Nachbarstamm geprägt« (Horx 2020, S. 49).

Auch entwicklungspsychologisch lässt sich unser menschliches Leben durchaus als eine Aneinanderreihung von Krisen betrachten:

»Geburt ist eine Krise, und zwar eine richtig heftige. Kindheit ist eine einzige Krise aus Hinfallen – Aufstehen – Strahlen – Weiterlaufen – Stärker werden – richtig Hinfallen … Und noch mal von vorn. Pubertät ist eine Krise, in der sich unser Gehirn, unser Körper, unsere Gefühle und Bindungen, ja, eigentlich alles umformt in einem geradezu chaotischen Prozess. Erwachsenwerden ist eine Krise, in der wir vieles erobern und auf vieles verzichten müssen. Und dabei doch vieles gewinnen können. […] Altern ist eine Krise, in der sich entscheidet, ob wir verbittern und vereinsamen oder unser Leuchten an die Nachgeborenen weitergeben« (ebd., S. 38).

Bei Menschen in und außerhalb von Organisationen lassen sich oft Bewältigungsstrategien beobachten, die häufig im systemischen Sinne als Lösungsversuch anerkannt werden können, jedoch meist mit den falschen Mitteln. Vielfach handelt es sich bei diesen Strategien um ein »mehr vom Gleichen«. Was im Alltag noch halbwegs funktioniert haben mag, funktioniert jedoch in der Krise nicht zwingend auch. Dies ist besonders wichtig für die Arbeit mit Führungskräften, Gruppen und Teams.

Unsicherheit, Angst und Stress

In Krisen werden wir schmerzlich mit der evolutionsbiologischen Rückständigkeit unseres Gehirns konfrontiert, denn: Unser Gehirn ist einerseits ein Gewohnheitstier. Andererseits ist es aber auch ein hoch flexibles, dynamisches und lernfähiges Organ.

Im Normalfall geht unser Gehirn seiner »Lieblingsbeschäftigung« (Urner 2021, S. 106) nach: dem Treffen von Prognosen, mit dem Ziel, Ungewissheit zu minimieren. Unsere Tendenz zu Routinehandlungen und Gewohnheiten zeugen davon. Schätzungsweise bestehen 90 bis 95 % unserer Handlungen aus Gewohnheiten, unser Gehirn geht gerne den Weg des geringsten Widerstandes. Das spart Energie, die wir anderweitig nutzen können, und sichert unser Überleben, denn:

»Das, was wir bisher getan haben, hat uns am Leben gehalten. […] Warum sollten wir unsere Gewohnheiten hinterfragen, geschweige denn ändern? Vor allem, wenn [wie in Krisen, Anm. d. A.] eine Änderung des Altbekannten mit großem Aufwand inklusive Ungewissheit und Unsicherheit einhergeht?« (ebd., S. 96 f.).

Unser Gehirn ist zunächst einmal darauf gepolt, Abweichungen von der Routine, der Gewohnheit, Probleme und Defizite stärker zu gewichten als potenzielle Gewinne:

»Forschungsergebnisse mit kleinen bis mittleren Geldsummen zeigen, dass wir Verluste im Schnitt doppelt so stark gewichten wie Gewinne. Ein möglicher Verlust von 50 Euro wird von uns also genauso stark bewertet wie ein möglicher Gewinn von 100 Euro. […] Unsere Tendenz, uns an den aktuellen Zustand zu klammern, bestimmt unser Leben in vielerlei Hinsicht« (ebd.).

In Krisenzeiten steigert sich die Unsicherheit, die Angst nimmt zu. Was passiert in unserem Gehirn? Abweichungen von der Routine, aber auch krisenhafte Herausforderungen erzeugen im Organismus das Erleben von Stress. Dabei kommt es zu einer Aktivierung des sympathischen Nervensystems mit verstärkter Katecholaminausschüttung und Mobilisierung von Energiereserven. Dies führt im Gehirn zu erhöhter Aufmerksamkeit: Etwas Dopamin und Endorphin werden ausgeschüttet und wirken zunächst euphorisierend – wir fühlen uns leicht high (»angeschickert«) und haben sogar ein kurzes Erfolgserlebnis!

»Weil die verstärkte Ausschüttung von Dopamin gleichzeitig auch noch zur Bahnung und Verstärkung der zur Lösung des Problems aktivierten neuronalen Verschaltungen führt, wird man bei der Bearbeitung solcher und ähnlicher Herausforderungen auch noch immer besser. Aus den anfänglich noch sehr schwachen Verknüpfungen werden, je häufiger ein Problem auf die gleiche Weise gelöst wird, allmählich immer besser nutzbare Nervenwege, dann Straßen und am Ende sogar Autobahnen. Und von diesen kommt man später oft nur schwer wieder herunter. Dann versucht man es immer wieder auf die gleiche, eingefahrene Weise, und wenn sich irgendwann das Problem verändert und eine neue, innovative Lösungsstrategie gefunden werden müsste, sitzt man fest, fällt immer wieder in die alten Muster zurück. […] Dann gerät man sehr leicht in Angst und Panik, dann erlebt man eine Krise« (Hüther 2010, S. 15).

Aufgrund der Unbekanntheit der neuen Anforderungen geraten wir schnell unter Druck. Bisherige neuronale Erfolgsbahnen funktionieren nicht mehr. Es entsteht Angst als Reaktion (s. Abb. 1). Im Gehirn werden jetzt sog. archaische Notfallmuster aktiviert. Als Auslöser von Angst reicht schon die Vorstellung der befürchteten oder erlebten negativen Reaktion anderer Menschen auf das eigene Verhalten, es muss gar nicht ein reales Ereignis sein. Diese Übererregung findet im komplexesten Teil unseres (Frontal-)Hirns statt:

»Unter diesen Umständen ist aus den komplexen neuronalen Netzwerken des Frontalhirns kein ›vernünftiges‹ handlungsleitendes Muster mehr aktivierbar. Das Verhalten, auch das Fühlen und die Reaktion des Körpers werden jetzt von den tiefer liegenden, früher herausgeformten und stabileren neuronalen Netzwerken bestimmt« (ebd., S. 16).

Abb. 1: Angst

Wir werden also vegetativ gesteuert von unserem Cocktail an Stresshormonen. Dann bleiben uns nur noch die drei bekannten archaischen Verhaltensmuster Angriff – Flucht – Totstellreflex: Es leuchtet ein, dass wir unter diesen Umständen nicht mehr vernünftig denken können und uns auch nicht mehr empathisch in andere Menschen hineinversetzen, vernünftige Handlungen planen oder die Folgen von Handlungen abschätzen. Wir befinden uns also im Stressmodus.

Stress ist ein archaisches Notfallprogramm unseres Körpers, das bei allen Säugetieren ähnlich abläuft. Stress dient der Überlebenssicherung. Seine Kennzeichen sind u. a.: Unsere Stimmung wird schlechter – und auch die Stimme unfreundlicher –, Stresshormone werden ausgeschüttet, der Herzschlag beschleunigt sich, die Pupillen weiten sich, Energie wird bereitgestellt, die Extremitäten werden mehr, die inneren Organe weniger durchblutet, wir spüren eine Zeit lang keine Schmerzen, damit unser Körper kämpfen oder flüchten kann. Das Stressprogramm läuft heute noch so ab wie vor vielen Millionen Jahren bei unseren Vorfahren. Es hat sich in der Evolution so herausgebildet, dass es unser Überleben in einer gefährlichen Umwelt sichert. Wir können es nicht willentlich beeinflussen, sondern nur wahrnehmen, dass es abläuft und entsprechende Maßnahmen ergreifen, die uns helfen, wieder ruhiger zu werden (Peters 2018).

Dabei lassen sich drei Formen von Stress unterscheiden (s. Abb. 2): Guter Stress gibt uns einen Kick, regt uns an und auf, hält eher nur kurz an und fällt dann von uns ab: Körpereigene Opiate werden dafür bereitgestellt – z. B., wenn wir Lampenfieber haben, verliebt sind oder Sport machen.

Abb. 2: Drei Formen von Stress

Tolerierbarer Stress kann auch mit einschneidenden kritischen Lebensereignissen einhergehen, z. B. chronischen Erkrankungen, Lebenskrisen und lösbaren Konflikten (Heirat, Geburt, Umzug, Trennung, Job-Verlust usw.). Hier können wir perspektivisch lernen, damit so umzugehen, dass wir diesen Stress tolerieren, das bedeutet, damit gut umgehen lernen, sodass wir stabil werden bzw. bleiben.

Toxischer Stress: Gefährlich wird es, wenn wir über längere Zeit und wiederholt in kritischen oder konflikthaften Situationen bleiben, die uns schaden und die Unsicherheit auslösen, die wir nicht bewältigen können. Dazu zählen z. B. chronische Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft, Dauerkonflikte, Mobbing, Schlafstörungen oder eben das Verharren im Krisenmodus. Wenn unser Stresslevel dauerhaft erhöht ist und wir nicht gegensteuern, »vergiften« wir unseren Organismus damit und können lebensbedrohlich krank werden. Es wird deutlich, dass die Gefahr in Krisen besonders groß ist, in toxischen Stress zu geraten.

Das transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus zeigt, wie wir uns diesen Prozess genau vorstellen können (s. Abb. 3) (Lazarus a. Folkmann 1984).

Abb. 3: Stressmodell nach Lazarus

Das Modell zeigt menschliches Stress-Erleben als komplexen und stark wechselwirksamen Prozess mit der Umwelt und ist in diesem Falle von oben nach unten zu betrachten. Im Unterschied zu anderen Stresstheorien geht Lazarus davon aus, dass das Erleben von Stressreaktionen weniger durch äußere, »objektive« Situationen oder Reize ausgelöst wird, sondern mehr durch unsere subjektiven Konstruktionen und Bewertungen: Was für die eine Person ein hochgradiger Stressauslöser ist, kann eine andere Person fast kalt lassen. Damit ist das Modell von Lazarus konzeptionell sehr gut an ein systemisches Stressmanagement anschlussfähig.

Als Individuen werden wir von unserer Umwelt mit einer Fülle von Reizen konfrontiert. Diese können ganz unterschiedlicher Natur sein und zeigen sich ganz »objektiv«: So können etwa der Geruch von gutem Essen, ein Sommermeeting ohne Klimaanlage, eine genervte Tonlage im Gespräch mit der Kollegin, ein bevorstehender Wechsel in einen neuen Job, ein anstehender Workshop, Hungergefühle und natürlich Krisenerleben Stress auslösen.

Diese zunächst mehr oder weniger »neutralen« Umweltreize wirken auf uns ein. Hier existiert ein in der Regel gut funktionierender Filter unserer Wahrnehmung. Dieser Filter schützt uns und selektiert meist unbewusst bereits im ersten Schritt viele Reize aus, die sich als subjektiv nicht relevant erweisen. Wir benötigen diese Form der gerichteten Aufmerksamkeit, um nicht von der Masse an existenten Reizen überfordert zu werden. Dieser Mechanismus hilft uns, einen Aufmerksamkeitsfokus zu setzen und mit bewussten Handlungen reagieren zu können.

Diejenigen Reize, die durch unseren Wahrnehmungsfilter durchgekommen sind, werden nun von unserem Gehirn in drei Kategorien bewertet:

•positiv: Beispielsweise nehme ich den Geruch von Essen bewusst wahr und freue mich auf die bevorstehende Mittagspause. Ich habe genug Kleingeld dabei und weiß, dass die Kantine geöffnet ist. Diese sogenannte primäre Bewertung löst in mir Freude aus, ich bleibe entspannt.

•irrelevant: Beispielsweise nehme ich den genervten Unterton einer Kollegin in einem Meeting wahr, kann aber ziemlich valide deuten, dass dieser sich nicht auf meine Person oder meine Handlungen bezieht, sondern wahrscheinlich auf die Ansagen der Führungskraft bezogen ist. In diesem Fall ist die Wahrnehmung für mich nicht primär relevant und löst keine Stressreaktion aus, auch hier kann ich entspannt bleiben.

•gefährlich: Jetzt wird es aus stresstheoretischer Sicht interessant. Beispielsweise erhalte ich eine Mail von meiner Führungskraft. Ich soll kurzfristig einspringen und einen Workshop zu einem mir nur teilweise bekannten Thema leiten. Der eintreffende Reiz löst in der ersten Bewertung etwas Bedrohliches in mir aus, ich bekomme Angst: Im Gehirn werden die archaischen Muster aktiviert, der berühmte Säbelzahntiger tigert vor meiner sprichwörtlichen Höhle vorbei, und in meinem Kopf entstehen explosiv mehrere Horrorszenarien: »Bei einem schlechten Workshop verliere ich Ansehen bei den Kolleg:innen«; »Wenn ich das gegen Wand fahre, ist meine geplante Beförderung dahin«.