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„ Resilienz“. Aber was genau verbirgt sich hinter diesem Wort? Was hat es mit Schule zu tun? Und haben Lehrkräfte angesichts maroder Schulgebäude, großer Klassen und unerreichbarer Unterrichtsziele nicht schon genug zu tun? Resilienz ist ein wichtiger Schlüssel, um die derzeit stürmischen Zeiten gut zu überstehen. Sie hilft Lehrern und Lernenden gleichermaßen, mit widrigen Rahmenbedingungen und Missständen flexibel umzugehen und Schwierigkeiten zu meistern. In diesem Band lernen Sie die zentralen Resilienzbausteine Akzeptanz, Lösungsorientierung, Optimismus, Eigenverantwortungsübernahme, Zukunfts- und Beziehungsgestaltung sowie Selbstregulationsfähigkeitkennen und erfahren, wie Sie Ihre eigene Resilienz entwickeln und stärken können. Damit Sie weiterhin gern in die Schule gehen!
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Seitenzahl: 250
Burkhard Günther
Resiliente Lehrer – resiliente Schüler
Gemeinsam stärker werden
Hinweis: Der besseren Lesbarkeit halber sprechen wir meist nur von Lehrern, Schülern usw. Natürlich meinen wir damit auch die Lehrerinnen, Schülerinnen usw.
Burkhard Günther lebt gern in Berlin und arbeitet dort als Coach und Berater auf den Gebieten Gewaltprävention, Mediation, Klassenmanagement und Schulentwicklung; Hobbys: Lesen, Hören, Spielen – moderne Literatur, Blues, Jazz und Golf.
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Lektorat: omnibooks, Bielefeld
Redaktion: Kathrin Roth
Layout/Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth
Coverfoto: © Paolo Goglio – stock.adobe.com (185122249)
ISBN: 978-3-403-70598-7
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Einleitung
1 Belastungen sind genug für alle da
1.1 Was belastet Lehrer?
1.2 Was belastet Schüler?
1.3 Unser Gehirn im Stressmodus
2 Kooperieren – und gemeinsam wachsen
2.1 Lebenslanges kooperatives Lernen
2.2 Auch Schüler brauchen Resilienz – und resiliente Lehrer
2.3 Ziel: Ins innere Gleichgewicht kommen
3 Welcher Lehrer bin ich und warum?
3.1 Schule: Schicksal oder Chance?
3.2 Ihre Grundhaltung entscheidet
4 Was ist Resilienz?
4.1 Woraus besteht Resilienz?
4.2 Kraftraum Resilienz
4.3 Kurzer Resilienzcheck
4.4 Warum ist Resilienz für Lehrer und Schüler wichtig?
4.5 Resilienz als Teil des Selbstkonzepts
4.6 Wo bitte geht’s zur Resilienz?
4.7 Wie spüre ich meine Resilienz auf?
5 Sieben Bausteine der Resilienz
5.1 Akzeptanz
5.2 Lösungsorientierung
5.3 Optimismus
5.4 Eigenverantwortungsübernahme
5.5 Zukunftsgestaltung
5.6 Beziehungsgestaltung
5.7 Selbstregulationsfähigkeit
6 Werden Sie zum Resilienzmodell!
7 Wo lauern Resilienzfallen? Elf Beispiele
7.1 Eigene Persönlichkeit
7.2 Angst vor Veränderung
7.3 Sich begrenzendes Denken
7.4 Mangelhafte Kommunikationsexpertise
7.5 Unklares Rollenbild
7.6 Mangelhafte Beziehungsarbeit
7.7 Stigmatisierung
7.8 Lehrerzimmer
7.9 Pausengestaltung
7.10 Mangelnde Achtsamkeit
7.11 Gefühlsmanagement
8 Kann ich als Lehrer gesund und glücklich werden? Sieben Tipps
8.1 Entwickeln Sie Resilienz
8.2 Heißen Sie Konflikte willkommen
8.3 Agieren Sie emotional intelligent
8.4 Wechseln Sie Ihre alten Lehrerschuhe
8.5 Schulen Sie Ihre selektive Wahrnehmung
8.6 Tragen Sie für Ihre Gesundheit Sorge
8.7 Entwickeln Sie gemeinsam organisationale Resilienz
9 Zusammenfassung und Ausblick
10 Literatur
11 Bildnachweis
Copyright
Aus meiner langjährigen Arbeit als Lehrer sowie im Bereich der Fort- und Weiterbildung von Lehrern habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Kollegen die schulischen Rahmenbedingungen beklagen, unter denen sie arbeiten müssen und an denen sie leiden. Meist werden diese als unveränderbar wahrgenommen und somit als schicksalhaft gegeben akzeptiert. Man selbst fühlt sich als hilfloses Rädchen im Getriebe des Schulsystems und begibt sich damit widerstandslos und fatalistisch in die Opferrolle. Was soll ich machen, wenn Schulgebäude und Klassenzimmer marode sind, die Anzahl der Schüler in den Klassen viel zu hoch ist und die Motivation der Schüler wenig hoffnungsvoll erscheint? Und benehmen können sich die Schüler auch nicht mehr, sie sind ebenso regel- wie belehrungsresistent, haben wenig Lust auf Unterricht und wissen und behalten vom Unterricht so gut wie gar nichts.
Diese am Mangel orientierte Sichtweise vieler Kollegen betont die eigene Macht- und Hilflosigkeit und rechtfertigt damit die mangelnde pädagogische Selbstwirksamkeit. Eine solche unbewusste Haltung und ein solches berufliches Selbstverständnis schaden nicht nur Ihrer Gesundheit, sie wirken sich auch demotivierend auf das Kollegium und vor allem die Schüler aus.
Weil Konflikte häufig den Schulalltag dominieren, viele Unterrichtsstunden nicht wie geplant verlaufen, angestrebte Unterrichtsziele nicht erreicht werden und immense Zeit für das Konfliktmanagement draufgeht, erleben Lehrer die Schule als anstrengend und kräfteraubend. Viele ergeben sich in ihr Schicksal, scheuen Konflikte und erleben zunehmend schwindende Selbstwirksamkeit und die Schule als quälenden und an Psyche und Physis nagenden Energieräuber. Kaum ein Berufsstand leidet so überdurchschnittlich an psychischen Störungen wie die Lehrer. Viele sind kurz vor dem Burn-out.
Aber leiden nur die Lehrer? Wie geht es den Schülern? Auch sie leiden und haben Stress, auch sie brennen aus. Enorm viele Schüler erleben die Schule ebenfalls als Stressor und leiden still oder auch etwas lauter vor sich hin. Die Zahl schuldistanzierter Kinder wächst. Wie sieht ihre Zukunft aus, wenn sie schon während der Schulzeit psychische Probleme haben? Eigentlich soll die Schule sie doch stärken und für ihr weiteres Leben fit machen.
Gibt es eine Möglichkeit, den von vielen Beteiligten häufig als äußerst fordernden und belastend erlebten Schulalltag auch als Chance zu sehen, um persönlich daran zu wachsen? Gibt es die Möglichkeit, das hohe Konfliktpotenzial in Klassenzimmern zu nutzen, um gestärkt daraus hervorzugehen? Gibt es einen Weg, den Schule trotz aller Widrigkeiten allen Beteiligten bietet, Motivation und Energie daraus zu ziehen? Gibt es diese Möglichkeiten gleichermaßen für Lehrer und Schüler?
Dieses Buch zeigt auf, wie jeder einzelne Lehrer dazu beitragen kann, sich aus allen Stolpersteinen, die Schule heute bietet, etwas zu bauen, das ihn persönlich stärkt. Aufgezeigt werden Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung, wie sich die Schule zusammen mit den Lehrern verändert, ohne dass sich das System Schule verändern muss, und wie Sie damit die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, sodass Ihre Schüler davon profitieren können.
Wie Sie sich auf den Weg machen können, in welche Richtung der Weg gehen könnte und wie er am besten zu bewältigen ist, das erfahren Sie in den einzelnen Kapiteln dieses Buches. Ich wünsche Ihnen viel Spaß auf Ihrer nun beginnenden spannenden Reise zur Resilienz und vor allem beim Abbiegen in diese oder jene lohnenswerte Richtung.
Ihr Burkhard Günther
Schule als Belastung zu empfinden, ist kein Privileg von Lehrern. Auch Schüler empfinden Schule oft als belastend. Beide Gruppen setzen sich täglich gleichermaßen diversen Stressoren aus, die ihre Spuren hinterlassen. Nicht nur Lehrer leiden also oder brennen aus, Schüler leider auch.
Warum? Weil beide nicht zwangsläufig dasselbe wollen, dieselben Ziele verfolgen. Weil oft kein Konsens darüber herrscht, was beide Gruppen anstreben. In vielen Schüler- und Lehrerköpfen gibt es weder ein neurobiologisch begründetes Bündnis noch eine verabredete Zielvereinbarung gemeinsamen Tuns.
Dieses Thema kommt aber meist nicht explizit auf den Tisch des (Schul-)Hauses, es wird zu wenig bis gar nicht thematisiert. Hier braucht es Gespräche mit Schülern (und Eltern), Verträge, die gemeinsam ausgehandelt werden müssen, damit Einigkeit darüber besteht, was Schüler in der Schule erwartet, was in der Schule passieren soll, ein Bündnis über Regeln und Verhaltensnormen sowie entsprechende Sanktionierung bei Nichteinhaltung und mit welchem konkreten Bildungsziel jeder einzelne Schüler an den Start geht. Auch weil in diesen Bereichen häufig keine verbindliche Einigkeit besteht, ist Schule für alle Akteure anstrengend. Weil zu häufig auf demselben Schiff versucht wird, in verschiedene Richtungen zu segeln.
Wer sich zudem manche Schulgebäude nur von außen anschaut, braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, wie es drinnen ausschaut und was da geschieht. Wenn man eine Schule betritt, kann man bereits ahnen, welche Atmosphäre dort herrscht. Die wenigsten Schule gleichen heute Wellnessoasen oder laden gar ein, dort den Ganztag zu verbringen. Wer verrottete Verhältnisse vorfindet, wird die Schule entsprechend behandeln und sich entsprechend verhalten – ganz im Sinne der Broken-Windows-Theorie von James Wilson und George Kelling. Von einer Einladungskultur sind viele Schulgebäude allein durch ihren baulichen oder hygienischen Zustand meilenweit entfernt.
Wenn aber schon die Gebäude und deren Außenwirkung nicht einladend sind, mit welcher Energie kommt man dann als Lehrer und Schüler zur Arbeit? Weil niemand von heute auf morgen an der Verrottung vieler Schulen etwas ändern wird, müssen alle mit dem, was da ist, auf kreative Weise zurechtkommen.
Insofern gilt es für alle schulischen Akteure, sich mit der Thematik Resilienz auseinanderzusetzen. Denn beide Gruppen, Schüler wie Lehrer, haben in diesem Bereich einen gewaltigen Nachholbedarf. Und die Schule bildet, gerade weil sie keine idealen bau-, raum- und ausstattungstechnischen Voraussetzungen vorweisen kann, ein wunderbares Spiel- und Lernfeld, um gemeinsam Resilienz zu entwickeln. Denn resilient sein bedeutet, mit Widerständen und Unannehmlichkeiten, mit widrigen Rahmenbedingungen und den sich daraus ergebenden Folgen und Missständen umgehen zu lernen, sogar an ihnen persönlich wachsen zu können.
In Schulen könnte, gerade weil viele in- und externe Missstände nicht kurzerhand beseitigt werden können, neben konkreten internen Zielvereinbarungen über das gemeinsame Zusammenleben und Zusammenarbeiten ein Solidarpakt zur gemeinsamen Resilienzentwicklung geschlossen werden, der allen Akteuren zugutekäme.
Weil sich inzwischen auch die Öffentlichkeit an der Demontage des Berufsstandes der Lehrer allzu gerne beteiligt und Reformen nach politischem Belieben alibihaft für das Versagen der Bildungspolitiker über die Schulen gegossen werden wie Löschwasser, stockt es mit nachhaltiger Schulentwicklung seit Jahrzehnten. Viele Lehrer zeigen sich hin- und hergerissen zwischen einem immer noch kaiserzeitlichen Unterrichtsstil und geforderter Methodenvielfalt. Besonders Lehrer, die bei einem immer höher werdenden Anforderungsvolumen ein unklares Rollenbild oder hohe Ideale haben, zerreiben sich zwischen den Fronten.
Christine Born empfiehlt, weil von zuständigen Ministern und Behörden nichts wirklich Belebendes an Unterstützung für Lehrer erwartet werden kann, dass Lehrer endlich Erwartungen an andere schulische Player ebenso wie Altlasten aus der eigenen Kindheit loslassen: Retten Sie sich selbst! Entlassen Sie Ihre Qual, Ihren Ärger und Ihre Sorgen ins All! Packen Sie an, was geht, und verändern Sie das eigene Lehrerbild. Denn das auf Macht basierende hierarchische Schulsystem werden Sie nicht verändern können. Lassen Sie Erwartungen ebenso los wie die Meinung, für alles Verantwortung zu tragen, und nutzen Sie die damit gewonnene Energie, um Ihre Seele und persönliche Ressourcen zu schützen, und motivieren Sie sich selbst. Denn die Essenz von Schule ist die Persönlichkeit des Lehrers (Born, S. 5 ff.).
Für eine Vielzahl von Lehrern ist der Arbeitsplatz Schule zu einer starken psychischen und auch physischen Belastung geworden. Die Zahl der Stressoren ist immens gewachsen. Vielen Lehrern schwinden dabei Energie und Kräfte. Weil viele Lehrer Schule als Kampfplatz erleben, da sie jeden Tag gegen diverse Widerstände unterrichten sollen, vielen die Überzeugung vom eigenen Tun dabei schwindet, weil sie ständig zwischen dem eigenen pädagogischen Anspruch und den als kontraproduktiv empfundenen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit schwanken und dabei den festen Boden für ihre pädagogische Arbeit unter den Füßen verlieren, geht es ihnen bei ihrer Arbeit schlecht. Viele sind in hohem Maße verunsichert, wie sie ihre Rolle interpretieren sollen, und wissen nicht mehr, wie sie ihre Schüler weiter erreichen sollen.
Falsche Ideale erzeugen Stress!
Weil sich die Erwartungen und Vorstellungen vieler Lehrer in Form pädagogischer Ideale von Schule größtenteils nicht mehr erfüllen lassen, sie diesen ständig hinterherlaufen oder nachtrauern und sie aus ihrer Sicht so gut wie nichts mehr bei den Schülern bewirken, befinden sie sich im permanenten Stressmodus. Das zieht ihnen immense Kräfte und enorm viel Energie ab. Sie wollten alles geben, aber am Ende kommt nicht das heraus, was sie sich einst wünschten. Viel Einsatz, wenig Ertrag, lautet das desaströse Fazit und die einstige Freude am Beruf ist dahin.
Viel schlimmer noch: Menschen, die emotionalem Stress über längere Zeit ausgesetzt sind, riskieren ihre Gesundheit. Darüber hinaus verlieren sie auch zum Teil die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Damit ist es ihnen schwerer möglich, sich weiterhin kooperativ zu verhalten. Länger anhaltende, starke Erregungszustände schalten im Gehirn den Bereich aus, der unter normalen Umständen diese Fähigkeit möglich macht. Ohne Entspannung ist kein kooperatives Verhalten möglich (Holdt/Schönherr, S. 65). Das hat fatale Folgen gerade für Lehrer, die im Stressmodus in vielerlei Hinsicht zu Verlierern werden: Sie verlieren ihren pädagogischen Zugriff auf die Schüler, ihre Selbstwirksamkeit, ihr Standing, den Spaß am (Berufs-)Leben und langfristig ihre Gesundheit.
Auch Stress ist erlernt!
Wer stetig gegen den Widerstand anderer arbeitet, braucht Ausdauer, Nerven, viel Energie sowie die Überzeugung, dass die Arbeit trotzdem lohnt. Es braucht dafür eine bestimmte Haltung und Einstellung. Diese können Sie erlernen, um Stressgefühle zu vermeiden oder anders mit Stressoren umzugehen, denn immer vermeiden lassen sie sich nicht. Es braucht dazu vor allem die Einstellung, dass Sie als Lehrer sich verändern müssen und nicht die anderen, denn den Gefallen werden die Ihnen nicht auf Knopfdruck tun. Viele Lehrer könnten ad hoc sagen, welche Veränderungen sie sich an und in der Schule wünschen würden. Nur wenige Lehrer aber könnten sagen, was und wie sie sich selbst am besten verändern könnten.
Viele Stressoren bilden das Lehrergift!
Weil Lehrer zudem immer noch größtenteils Einzelkämpfer sind, leiden sie still vor sich hin und sind auch nur selten willens, sich professionelle Unterstützung in Form von Supervision oder Rat von anderen zu holen. Sich Kollegen anzuvertrauen und um Hilfe zu bitten, ist keine sehr verbreitete Option. In Pausen beschwert man sich vielleicht im Lehrerzimmer und trifft auf Gleichfühlende, die einem den kümmerlichen Rest der eigenen Energie nehmen, weil sie ebenso am Liebesentzug ihrer Schüler und an eigenen Perfektionismusansprüchen leiden. So bekommen Lehrer in Pausen keine neue Energie – im Gegenteil: In Lehrerzimmern wird der Rest des Tanks schnell völlig leer gefahren. Dafür darf man in der gewohnten Opferrolle verharren. Die aber tut weh und frisst sich langsam durch den gesamten Lehr(er)körper.
Eine mangelhaft ausgebildete Anerkennungskultur in Form von Wertschätzung für die geleistete Arbeit setzt dann dem leeren Fass den Deckel drauf. Denn meist wird in der Schule nur angesprochen, was nicht funktioniert. Was funktioniert, wird häufig ausgeblendet und scheint nicht erwähnenswert. Eine ungute Fehlerkultur hat sich in Schulen eingenistet und so regiert der Rotstift leider auch in vielen Köpfen.
Empfundener Zeitmangel begleitet Lehrer zudem über einen Schultag hinweg. Man könnte in diesem Beruf immer noch mehr tun, gewiss, aber die eigene Grenze zu kennen und zu ziehen, professionelle Distanz zu wagen, fällt vielen Lehrern schwer. Insofern gibt es an Schulen weder Richtlinien noch nachhaltigen Umgang mit den eigenen Gesundheitsressourcen. Nur die ständigen Vertretungsstunden sind ein lästiges Indiz dafür, dass irgendetwas aus der Balance gekommen ist, denn der Krankenstand ist relativ hoch.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Schule viele Gesundheitsrisiken für Lehrer bereithält. Nur gibt es für Lehrer keinen bereitliegenden Beipackzettel, der alle Nebenwirkungen auflistet und beschreibt. Und auch über einen aufklärenden, hauseigenen Arzt verfügt Schule nicht.
Um Ihren individuellen Stressoren auf die Spur zu kommen, sie zu identifizieren, fragen Sie sich:
Was belastet mich in der Schule am meisten?Was kostet mich die meiste Kraft/Energie?Was sind meine Stressoren in der Schule?Was würde sich verändern, wenn ich meine Stressoren reduziere?Welcher Stressor ist für mich aktuell der schlimmste?In welchen Bereichen meiner Arbeit spüre ich Widerstände in mir?Welche Gefühle erzeugen diese Widerstände?Wie würde Schule sich anfühlen, wenn es bestimmte Energie- und Krafträuber nicht gäbe?Wie könnte ich bestimmte Stressoren reduzieren?Möglicherweise hilft es, sich anhand einer selbst kreierten Stressampel zu orientieren. Die einzelnen Stressoren können nach ihrer Heftigkeit mit Rot und Gelb gekennzeichnet werden, um eine Hierarchie festzustellen. Mit Grün sollten Sie alles versehen, was Ihnen in der Schule Kraft und Energie gibt.
Es wird viel über die Belastung von Lehrern diskutiert und geschrieben. Wie aber steht es um die Belastung der Schüler? Sind sie weniger oder gar nicht belastet?
Natürlich sind auch viele Schüler stark belastet, fühlen sich durch die Schule, eine ambitionierte Freizeitgestaltung und/oder durchdigitalisierte „freie“ Zeit in Anspruch genommen und gestresst. Sie leiden unter diversen Faktoren, wie einem sehr hohen Anspruch oder mangelnder Unterstützung der Eltern. Dadurch importieren sie bereits viele Stressoren in die Schule. Überforderung, Leistungs- und Zensurendruck, Hausaufgaben, mangelnde Akzeptanz und Unterstützung oder Ausgrenzung bis hin zum Mobbing sind weitere Stressoren, welche die kindliche Entwicklung sowie die Gesundheit der Schüler beeinträchtigen können. Druck der Peergroup, psychische Disbalance durch die Pubertät, zu wenig Zeit für Hobbys, zu wenig Bewegung und zu wenig Zeit für Freunde kommen als Stressoren hinzu. All diese Faktoren kosten die Schüler immens viel Kraft und Energie.
Wenn die kindliche Psyche bereits solchen Druck empfindet, wenn der in der Entwicklung begriffene Organismus derart belastet und viel zu wenig entlastet wird, dann muss dieser Druck natürlicherweise kanalisiert werden, um eine Explosion zu verhindern. Ein verbreitetes Ventil dafür ist Mobbing, das ein zunehmend großes Problem aller Schulen ist. Mobbingfreie Schulen sind heutzutage eine Fiktion. Im Mobbing entlädt sich vieles, was Kinder in sich hineinfressen. Die digitale Ausstattung vieler Jugendlicher erlaubt es zudem, Mobbing weitreichend und anonym zu streuen, ohne in die Verantwortung dafür genommen zu werden. So benutzen viele Schüler andere, um ihren eigenen Narzissmus zu pflegen und um das eigene, als schwach empfundene jugendliche Ich an den vermeintlichen Schwächen anderer aufzuladen. Druck erzeugt immer Gegendruck, insofern ist Mobbing an vielen Schulen ein hausgemachtes Phänomen.
Die Ängste der Eltern vibrieren in den Taschen der Kinder.
Zudem sind viele Kinder heutzutage permanent überwacht und kontrolliert. Helikoptereltern perfektionieren via Smartphone die Überwachung ihrer Kinder, die so die Ängste der Eltern in ihren Taschen mit sich herumtragen. Kinder, die ständig erreichbar sein müssen, werden von den Eltern frühzeitig in das Muster der ständigen Erreichbarkeit gezwängt. Das macht natürlich etwas mit den Kindern. In der Schule setzt sich die Kontrolle fort. Auch hier ist freies Bewegen zumindest im Unterricht verpönt. Selbst in Pausen werden Schüler beaufsichtigt, für freies, selbstorganisiertes Spiel bleibt kaum Raum. Wenn die Kinder schon ständig auf das Display schauen, weil sie mit dem Anruf der Eltern rechnen müssen, dann sind das zusätzliche Stressoren.
Wenn bereits Kinder im Grundschulalter über körperliche Signale wie Bauchschmerzen, Schlafstörungen oder Appetitlosigkeit klagen, gilt es, Schüler für den Umgang mit Stress möglichst früh fit zu machen, denn Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die unter Dauerstress stehen, diesen als Jugendliche und dann als Erwachsene noch intensiver empfinden. Martin Korte merkt an, dass die Stresskompetenz eines Erwachsenen mehr oder weniger eine Folge seines emotionalen Haushalts in der Kindheit ist, denn fehlende Bindung, mangelhafte Zuwendung und Unterstützung haben negativen Einfluss auf die Selektion der Synapsen in den gefühls- und stressregulierenden Arealen des Gehirns. Kritisch wird es, wenn Schüler Schule oder Lehrer als ständige Bedrohung wahrnehmen. Die Folgen sind Anfälligkeit für Krankheiten sowie negative Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung. Deshalb weist Korte auf die Wichtigkeit der Erfahrungen hin, die Kinder in der Bewältigung oder eben Nichtbewältigung von Stress gemacht haben.
Schüler brauchen Herausforderungen und Freude.
Optimal für die eigene Entwicklung ist es, wenn der Schüler glaubt, mit einer gewissen Situation fertigwerden zu können. Dann wird die Belastung eher zu einer Herausforderung, die sogar Freude bereiten kann. Deshalb lohnt es, gemeinsam mit Lehrern die Bewertung einer Stresssituation zu trainieren, um dann zukünftig besser mit Stress umgehen zu können. Das Vermeiden von Stresssituationen ist demgegenüber für die Entwicklung hinderlich, weil der Schüler daran gehindert wird, an seine Leistungsgrenzen zu gehen, sein Potenzial auszuschöpfen und Selbstvertrauen zu bilden (Korte, S. 143 ff.). Nichts hilft dem Schüler also besser, als Herausforderungen anzunehmen, sie zu meistern und Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten zu gewinnen. So wird Stress nur dann gefährlich, wenn eine Situation als aussichtlos und nicht bewältigbar angesehen wird. Da Stressbewältigung nur situationsorientiert zusammen mit anderen geübt und entwickelt werden kann, bietet die Schule ein hervorragendes Feld für das Training.
Weil ein großer Teil der Lebenswelt von Schülern heute digital daherkommt, gleichen viele Kinderzimmer einem gut ausgestatteten digitalen Gefängnis. Naturerlebnisse, freies und unkontrolliertes Spielen mit Freunden gibt es kaum noch, für viele Stadtkinder gar nicht mehr. So sind Kinder heute vielfach weitgehend abgeschnitten von wirklichen Lern- und Erholungsorten wie Clique, Wald oder Park. Manfred Spitzer verweist darauf, dass vor einer Generation noch fast die Hälfte der Kinder regelmäßig draußen frei und ohne Aufsicht in der Natur spielte, heute sind es nur noch 10 % (Spitzer, S. 102). Je mehr Freizeit ein Schüler mit digitalen Medien verbringt, desto schlechter sind seine Schulleistungen, umso gefährdeter ist seine physische wie psychische Gesundheit.
Raus aus dem digitalen Gefängnis!
Immer mehr Studien belegen inzwischen, dass Kinder und Jugendliche, die einen Großteil ihrer Zeit mit dem Smartphone oder anderen digitalen Medien verbringen und darüber ihre Sozialkontakte pflegen, erhebliche Lern- und Kompetenzdefizite haben. Der Ersatz von realen, analogen sozialen Begegnungen durch Bildschirme und Touchscreens im Ausmaß von mehreren Stunden pro Tag führt bei Kindern und Jugendlichen zu nachweislichen Störungen in der gesunden Entwicklung ihrer sozialen Fähigkeiten mit erheblichen negativen Auswirkungen für die Gesundheit und diversen sozialen Nebenwirkungen (Spitzer, S. 39 ff.).
Beispielsweise sind mangelhaft ausgebildete Empathie, zunehmender Egoismus und Singularisierung, abnehmende Beziehungsqualität und eine zunehmende Infantilisierung der Gesellschaft erschreckende Abfallprodukte der digitalen Spaßkultur. Leider aber kreiert dieser Spaß Millionen Opfer. Kinder und Jugendliche sind dabei am meisten gefährdet, denn sie durchblicken die perfiden wirtschaftlichen Interessen nicht, die hinter der digitalen Industrie stecken. Deshalb muss es Aufgabe der Schule sein, Schüler stark zu machen, ihnen die Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaffen, ihre eigene Resilienz zu entwickeln.
Ein Pro der analogen Schule!
Spitzer verweist darauf, dass es nicht nur schulische Aufgabe ist, Kindern Alternativen einer sinnvollen Freizeitgestaltung zu zeigen und sie dabei auch anzuleiten, denn es gilt, ihre Entwicklung zu fördern und nicht zu be- oder zu verhindern. Dafür braucht es die Ausbildung von Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Toleranz, Rücksichtnahme, Kooperationsfähigkeit und zahlreiche andere für ihr Leben sinnvolle positive Eigenschaften. Menschen sind Gemeinschaftswesen und unser Gehirn ist so konstruiert, dass wir nur in der Gemeinschaft glücklich werden können (Spitzer, S. 216).
Wie können Lehrer Schüler kritikfähig machen in Bezug auf Medienkonsum? Wo und wie regenerieren Kinder heute? Wie laden sie ihre persönlichen Akkus wieder auf? Wo docken sie an, wenn ihr Tank leer ist? Vor dem Fernseher, in enger Gesellschaft mit dem Stressor Smartphone, dem Tablet, der Spielkonsole? Welche persönliche Tankstelle ist für Schüler eine Energiequelle?
Eingesperrt in mit digitalen Geräten voll ausgestatteten Cyberkinderzimmern erlernen Schüler keine fundamentalen Lebenskompetenzen. Auch Kinder müssen mit den Widrigkeiten des Lebens umgehen lernen, müssen sich behaupten und auseinandersetzen lernen, müssen soziale Kompetenzen durch eigene Erfahrungen ausbilden und resilient werden. Resilienz aber kann man nicht lehren oder unterrichten, die kann man nur durch selbst gemachte Erfahrungen erwerben. Dafür braucht es Herausforderungen, an denen die Kinder Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen üben und so Vertrauen in sich und ihre Fähigkeiten gewinnen können. Dafür braucht es resiliente Lehrer.
Auch Kinder kommen aus dem Gleichgewicht!
Wenn der Körper seinem natürlichen Bewegungsdrang nicht mehr nachkommen kann, wenn das kindliche Gehirn durch eine ungesteuerte Informationsflut und ständige Erreichbarkeit aus seinem natürlichen Gleichgewicht gebracht und permanent überfordert wird, dann erzeugen die verantwortlichen Erwachsenen zusätzliche Stressoren für den kindlichen Organismus und seine Psyche.
Leider ruft die moderne Schule inzwischen auch nach Digitalisierung des Unterrichts. Dabei wäre das altmodische Schreiben mit der Hand genau das Richtige für eine heranwachsende Generation, die einfach zu häufig auf Handys und Computern tippt, wischt und klickt. Andere Fähigkeiten wie das Ausschneiden, Kneten, Schleifenbinden, Knöpfeknöpfen und Schuhebinden sind für viele Kinder inzwischen zu einer sie überfordernden Herausforderung geworden. Studien zufolge können nur noch 40 % der Schüler 30 Minuten oder länger schmerzfrei mit der Hand schreiben. Das ist bitter, denn es ist ebenso erwiesen, dass bei dieser Betätigung ein Dutzend Areale im Gehirn aktiviert werden. Mit der Hand schreiben macht demzufolge schlau.
Ebenso wie Lehrer benötigen auch Schüler immens viel Energie und Power, denn ihr Organismus arbeitet nach denselben Regeln und Mechanismen und benötigt dieselben Quellen, um im natürlichen Gleichgewicht bleiben zu können. Weil Schüler noch jung und in der Entwicklung sind, benötigen sie dazu besonders viel Kraft.
Leider spielt Bewegung in Schule nur eine untergeordnete Rolle, dabei ist sie ein wichtiges Lebenselixier. Denn unsere Körper sind nicht zum Sitzen gemacht, sondern fürs Laufen und Bewegen. Aber die Sportstunden im Stundenplan sind gezählt. Noch in den 1960er-Jahren, also zu meiner Schulzeit, konnten sich Kinder Studien zufolge in einem Radius von mehreren Kilometern frei und unbeaufsichtigt von Eltern bewegen. Heute dürfen nur noch 52 % der Grundschüler unbeaufsichtigt in der direkten Nachbarschaft spielen, 66 % dürfen nicht alleine in den Park gehen und 45 % nicht alleine Bahn oder Bus fahren.
Gehirne von Lehrern und Schülern sind baugleich!
Um Kinder zu mündigen und lebensfähigen Individuen zu bilden, braucht es die Entwicklung der Resilienzfaktoren. Letztlich sind die Gehirne von Pädagogen und Schülern baugleich, der restliche Schülerkörper ist darüber hinaus noch in der Entwicklung, was bedeutet, dass alle im selben Boot sitzen und nur gemeinsam sicher über die stürmische See Schule kommen können. Je eher Schüler Resilienz entwickeln können, desto besser sind sie geschützt. Denn im Laufe der Schulzeit geht jeder Schüler durch Krisen, spürt Widerstände, die sein Lernen und seine persönliche Entwicklung begleiten.
Stolpersteine sind wichtige Elemente der eigenen Entwicklung. Lehrer und Schüler sollten im Steinbruch Schule gemeinsam ans Werk gehen. Lehrern muss bewusst sein und Schülern bewusst gemacht werden, welche Möglichkeiten des persönlichen Wachstums in vielen schulischen Prozessen und Rahmenbedingungen liegen, die häufig subjektiv als negativ erlebt werden, und welche pädagogisch wertvollen Optionen gerade im Konfliktpotenzial einer Schulgemeinschaft liegen, wenn man sie denn nutzt.
Um Schülern Last, Druck und Ängste zu nehmen, die allesamt starke Stressoren sind, braucht es unterstützende, resiliente Lehrer. Lehrer also, die gemeinsam mit den Schülern Strategien für den Umgang mit belastenden Situationen entwickeln, die es ihnen ermöglichen, gestärkt für ihr weiteres Leben aus der Schule entlassen zu werden.
Ein Leben ohne Stress ist langweilig und ungesund, denn Stress ist eine sinnvolle psychische wie physische Reaktion des Körpers auf normale Anforderungen auch des Berufsalltags, argumentiert Dieter Sommer. Die Frage ist nur, wie Sie ihn auf ein normales und gesundes Maß beschränken, sodass Sie in stressfreien Phasen wieder Kraft und Energie gewinnen können. Denn kurzfristiges Stressempfinden macht nicht gleich krank, chronische Stressbelastung hingegen schon. Insofern entscheidet die richtige Dosis, ob Stress positive oder negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat (Sommer1, S. 41).
Die Stressdosis macht das Gift!
Nicht jeder Stress führt in den Burn-out, denn dafür braucht es einen längeren Stressmodus, der immer mit Symptomen von Verunsicherung, anhaltendem Ärger, Frustration und Enttäuschungen beginnt, also Signalen, die es zu beachten und zu deuten gilt. Typisch für Burn-out sind Verdrängungstendenzen psychischer wie physischer Signale. Wenn im Körper die Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt werden, dann ist höchste Alarmstufe angesagt. Lehrer, die ständig im Alarmbereitschaftsmodus sind, reagieren häufiger instinktiv, weniger rational. Unser limbisches System im Gehirn ist für die Steuerung unserer Reaktionen unter Stress verantwortlich. Es reagiert sehr viel schneller, als wir es durch Bewusstwerdung schaffen, auf Gefahren die richtige Antwort zu geben.
Das limbische System interpretiert deshalb Gefahrenquellen für uns und entscheidet über die Art der Reaktion (Flucht, Vermeidung oder Angriff). Das macht Sinn, wenn es um Leben und Tod geht. Aber in der Schule ist das kaum der Fall und trotzdem reagieren wir, wenn wir unbewusst Stress empfinden, häufig noch immer im Neandertalermodus.
Mit unbewusstem Denken kreieren wir uns viel Stress, den wir, wenn wir bewusster denken würden, vermeiden könnten. Von Kritik oder Disziplinlosigkeit anderer sterben wir nicht gleich. Erst wenn wir solches Verhalten als persönlichen Angriff oder Kränkung interpretieren, kreieren wir uns Stressoren. Eigene Denk- und Handlungsspielräume zu entwickeln, hilft uns, Stress zu vermeiden. Dafür müssen wir uns dieser Spielräume aber erst einmal bewusst werden.
Allein das Gefühl, diese Handlungsspielräume zu haben, ist wichtig, denn es reduziert das Stressempfinden erheblich. Scheinbare Ausweglosigkeit hingegen fördert das Stressempfinden. Sommer weist darauf hin, dass das Gefühl, er nennt es die Befindlichkeitsstörung eigener Hilflosigkeit, als Muster erlernt wird. Eine solche gewohnheitsmäßige Wahrnehmung verführt zu einer defensiven Herangehensweise an Problemstellungen. Gerade in der Schule können solche Widerstände durch streng curriculares Denken, also die Fokussierung auf reinen Fachunterricht, verstärkt werden. Nur eine sehr offene, kreative und nicht strukturgebundene Haltung kann zu Veränderungen im pädagogischen Alltagshandeln führen (Sommer1, S. 56 f.).
Also kreieren wir uns unseren Stress selbst. Durch zu hohe Ansprüche an uns und andere, durch falsche Ideale, uns fesselnde, unelastische alte Glaubenssätze und Überzeugungen, durch falschen Ehrgeiz, ein unscharfes Rollenbild, mangelnde berufliche Qualifikationen, Unkenntnis unserer wirklichen Bedürfnisse, fehlende professionelle Distanz, ständige Erreichbarkeit, ungesunde Pausengestaltung, Ignorieren von körperlichen Signalen usw. – letztlich durch eine vorwiegend unbewusste Lebens- und Arbeitshaltung. Die Schule bietet täglich einen riesengroßen Teller an Stressoren. Wer sich bedienen will, findet genügend schädliche Nahrung.
Stressoren sind Energieräuber!
Alle Stressoren sind immense Energieräuber, die an unseren Kräften nagen und unseren Tank mit der Zeit leerlaufen lassen. Wenn wir nicht bewusst dagegenhalten, uns Zeit und Räume für Ressourcen schaffen, um wieder Energie aufzufüllen, geraten wir in große Gefahr, krank zu werden oder auszubrennen. Wenn es uns nicht gelingt, persönliche Strategien zu entwickeln und Stärke zu gewinnen, um Stress zu vermeiden oder ihn wenigstens in gesunde Bahnen zu lenken, bewegen wir uns in einem selbst kreierten Hamsterrad von unbeherrschbaren Stressoren.
Mitunter fühlen wir uns gestresst und identifizieren die Auslöser erst viel später. Denn unserem Gehirn gelingt es erst nach einer Stresssituation, langsam darüber nachzudenken und uns unsere Reaktion bewusst zu machen. Wir fühlen zwar die steigende Pulsfrequenz, den Anstieg des Blutdrucks, unsere verspannten Muskeln und eine wachsende eigene Aggressionsbereitschaft, trotzdem ist uns der Auslöser für diese Signale häufig nicht sofort bekannt. In solchen Situationen sagen wir dann: Ich war außer mir, stand völlig neben mir, war nicht mehr ich selbst. Diese Sätze zeigen, dass wir die Kontrolle über uns verloren hatten und unser biologisch angelegtes Notfallprogramm angesprungen ist. Natürlich sind solche Reaktionen in der Schule nicht tauglich und nicht angebracht. Ein Lehrer, der außer sich ist, der sich von Schülern auf die Palme bringen lässt, ist kein gutes Vorbild. So etwas darf einem Lehrer nicht passieren, es sei denn, er wird körperlich bedroht, angegriffen und muss um sein Leben fürchten.
Eine weitere Möglichkeit der Stressreaktion ist die Freeze-Reaktion, also die des Einfrierens. In Situationen von chronischer Ohnmacht, von lang anhaltender Unzufriedenheit und ungelösten Konflikten erhöhen wir den Stresspegel. Insofern ist die Freeze-Reaktion die größte Stressbelastung für uns. Freeze-Antworten deuten auf ungelöste, nicht bearbeitete Konflikte hin und belasten den gesamten Organismus.
Stressempfinden ist immer hausgemacht!
Sommer weist auf einen wichtigen Aspekt der Selbstfürsorge hin: den kognitiven Aspekt von Stress. Es hängt wesentlich mit der Art und Weise zusammen, wie wir Situationen erleben, vor allem aber, wie wir sie bewerten. Deshalb sollten wir unseren Stressverschärfern nicht auf den Leim gehen, sondern besser auf unsere inneren Stimmen bzw. Kritiker hören, die uns unseren Stress größtenteils bescheren (Sommer1, S. 46). Wer immer perfekt sein und alles richtig machen will, wer starren Idealen folgt und nicht loslassen kann, der läuft blind in die Stressfalle, denn wir alle sind Menschen, die Fehler machen dürfen und müssen.