Retroland - Valentin Groebner - E-Book

Retroland E-Book

Valentin Groebner

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Beschreibung

Kluge, federleichte Essays über die Faszination des Reisens in die Vergangenheit – denn Geschichtstourismus liegt im Trend. Aber warum eigentlich? Was suchen wir im »Retroland«? Geraniengeschmückte historische Altstädte, Kolonialidyllen auf tropischen Inseln und urtümliche Alpendörfer: Reisen an Orte, an denen die Zeit vermeintlich stehengeblieben ist, sind das Alltagsgeschäft des Fremdenverkehrs. Der bekannte Historiker Valentin Groebner erzählt von den Hotspots des Geschichtstourismus – den es verblüffenderweise schon seit 500 Jahren gibt! Er nimmt seine Leser mit ins Piemont und nach Paris, in die Berge und an malerische Strände, ins romantische Luzern und ins pittoreske Sri Lanka. Der eigentliche Rohstoff der Tourismusindustrie, so zeigt er, sind nicht Kultur, Sonne und Landschaft. Es ist das Versprechen, das Paradies zu finden, aber auch die eigenen Ursprünge, das Authentische und Unverfälschte. Doch vieles, so zeigt Valentin Groebner, ist nicht, wie es scheint und wie es der Reiseführer behauptet. Denn das sehenswerte Alte muss ständig neu hergestellt und angepasst werden, damit es den Erwartungen entspricht. Willkommen also in der Zeitmaschine, auf dem Jahrmarkt der »historischen Identitäten«: Einsteigen bitte, es geht zurück!

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Seitenzahl: 248

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Valentin Groebner

Retroland

Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Wo die Vergangenheit noch ein Erlebnis ist: Reise als ZeitreiseGebrauchsanweisungWir wollen zurückZeitstrudel: Vergangenheit vs. GeschichteErinnerungsorte des GefühlsWo finde ich das Echte?Willkommen in Banalistan2 Sacri Monti: Pilger, Humanisten und Fremdenführer in die VergangenheitPassionsgeschichte zum AnfassenGeschichte machenOptimierte Vergangenheit: Das Neue im AltenWiedergeburt als Vervielfältigung3 Eisenbahn, Fotografie, Grand HotelDie Idylle von früher, unsichtbarDas Mittelalter als pittoreskes UngeheuerDie Geburt der AltstadtWunder des OrientsHässliche Stadt, göttliche AussichtDas echte Alte mit GeranienUnterwegs mit der ZeitmaschineDie Brücke als Loch4 Geschichte wiederholen: Identität aus dem MittelalterGlaube und Kostümfilm: JubiläumsgeschichtenIdentität, historischDie Vergangenheit wiederaufführenWurzeln in der EndlosschleifeWunderbar vertraute Wahrzeichen5 In die eigenen Erinnerungen fahrenIndischer Ozean, Richtung ParadiesUnendlichkeit als Ort: Strände und heilige BergeSüßes LeidenMittelmeer, ganz authentischIn den AlpenFrische Körper6 Dieser Ort ist eine ZeitkapselInseln, Schichten, SpiegelbilderAlle Jahre wiederUrsprungserzählungen als Reden mit den TotenDas Authentische erlebenGeschichte ganz persönlichNachwortDankLiteraturAbbildungsnachweise

1 Wo die Vergangenheit noch ein Erlebnis ist: Reise als Zeitreise

»denn was mich wirklich interessiert ist weniger das woraus es gemacht wird als dass es eine sache ist die gemacht wird. damit man sie herzeigen kann.« (Ernst Jandl, 1970)

»Wir Ferienverbesserer kennen noch Paradiese«, verkündete das Werbeplakat. Darüber der Erdball, der sich in einen rundherum konsumierbaren grünen Apfel verwandelt hat – das Plakat des Reiseveranstalters Kuoni (»in allen Reisebüros«) kam 1973 als ironischer Bezug auf das biblische Buch Genesis daher. Reisen als verlockender Sündenfall? Der boomende neue Dienstleistungsbereich Tourismus wurde nicht mit Fotos von Stränden, Bergen oder glücklichen Kunden visualisiert, sondern mit einer ehrwürdig alten Bildformel. Ferien waren für die Gestalter der Werbeagentur Wirz vor 45 Jahren eine Reise zurück in die unschuldige Vergangenheit am Ursprung der Menschheit.

1

Werbeplakat der Agentur Adolf Wirz, 1973

Der Rohstoff der Dienstleistungsindustrie Tourismus sind nicht unberührte Landschaften oder der von modernen Transportmitteln verkleinerte Raum. Es ist die Zeit. Urlaub, so möchte ich in diesem Buch zeigen, ist seit mehr als 150 Jahren nicht nur das Versprechen auf intensiviertes Empfinden, sondern auf wiedergegebene Zeit: Urlaub verspricht die Reise in ein Früher, das auf magische Weise konserviert wurde und wieder zugänglich ist. Hans Magnus Enzensberger, der 1958 eine scharfzüngige und bis heute lesenswerte »Theorie des Tourismus« formuliert hat, hat den Effekt 50 Jahre später in einem Interview noch einmal auf den Punkt gebracht. Die Geschichte sei der einzige Ort, der noch exotische Qualitäten habe. »Das einzig wahre Ausland ist die Vergangenheit.«[1]

 

Wer Kataloge von Reiseveranstaltern aufschlägt, findet seit 150 Jahren darin das Versprechen einer solchen Fahrt zurück in die Geschichte. Das ist die Botschaft des kleinen Wortes »noch«, das im Werbeplakat von Kuoni ebenso erscheint wie in dem Slogan, mit dem 1994 das Schweizer Freilichtmuseum Ballenberg für sich warb: »Wo die Vergangenheit noch ein Erlebnis ist« – ein Versprechen auf stillgestellte oder zurückgedrehte Zeit. Es gibt keinen Reisekatalog, in dem nicht von unberührter Natur, traditioneller Alltagskultur und wunderbar erhaltenen Altstädten die Rede ist. Die Slogans klingen immer gleich: »Hier ticken die Uhren langsamer als anderswo«, »Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein« – Wahrzeichen eines ebenso geräumigen wie unklar datierten Früher, das für die Sehenswürdigkeit schlechthin steht. Eine Unterhaltungsreise in die entgegengesetzte Richtung, in die Zukunft nämlich, will kaum jemand antreten.[2]

Gebrauchsanweisung

Die Reise an entfernte Orte verspricht, auf geheimnisvolle Weise die Zeit stillzustellen, während man unterwegs ist, und eigene verlorene Lebenszeit wiederzubeschaffen. Denn diese Orte, so das Versprechen, befinden sich noch in einer paradiesischen Vergangenheit – im Gegensatz zu ihren Besuchern von auswärts, die dort (oder genauer: nur noch dort) in jene heile Welt von früher eintauchen können. Das kann Wellness im ursprünglichen Alpendorf sein, die Kolonialidylle im noblen Vintage-Hotel oder der Einkaufsbummel in der historischen Altstadt mit Busparkplatz und Tiefgarage: Das große Dienstleistungskonglomerat Tourismus hat sich in den letzten eineinhalb Jahrhunderten der Rückgewinnung – der Reproduktion im wörtlichen Sinn – der Geschichte als pittoreskem Erlebnispark verschrieben. Wie sieht das aus, wenn Monumente und Ereignisse aus der Vergangenheit als Zeugen lokaler »Identität« und Echtheit vermarktet werden?

 

Historisches Material ist für die Praktiker aus den Marketing-Abteilungen des Fremdenverkehrs eine willkommene Ressource, um Destinationen auszuflaggen und aufzuwerten. Den meisten Historikern ist diese touristische Nutzung der Vergangenheit eher unangenehm oder gar peinlich, weil sie ihnen die begrenzten Möglichkeiten ernsthafter Wissenschaft vor Augen führt. Diesen Wechselwirkungen zwischen dem wissenschaftlichen und dem kommerziellen Umgang mit den Überresten der Vergangenheit gehe ich in diesem einleitenden, ersten Kapitel nach. Für Touristen wird Geschichte zum persönlichen Erlebnis, zu etwas, das zum Vergnügen besichtigt wird. Bleibt sie davon unverändert? Was für Orte entstehen dabei?

Das zweite Kapitel schlägt dann einen großen Bogen zurück ins ausgehende Mittelalter, als in Europa zum ersten Mal historische Schauplätze – nämlich die der Passionsgeschichte – nachgebaut wurden, um von Pilgern besichtigt zu werden. Die Humanisten inszenierten im 16. Jahrhundert eine exotische christliche Antike, die ihre eigenen Bedürfnisse und die ihrer Auftraggeber erfüllte. Die »Sacri Monti« boten ihren Besuchern das biblische Geschehen lebensgroß, in Farbe und zum Anfassen: das Authentische von früher, so unmittelbar wie möglich – Paradiese und Fremdenführer inklusive.

Im 19. Jahrhundert – und darum geht es im dritten Kapitel – schufen enthusiastische Gebildete ein neues Mittelalter, das den technischen Medien und Möglichkeiten der Industrialisierung entsprach. Straßenzüge und Bauwerke, die zuvor als eng, hässlich und bedrückend wahrgenommen worden waren, verwandelten sich in pittoreske Altstädte und einzigartige Sehenswürdigkeiten; ergänzt mit nahe gelegenen komfortablen Grand Hotels und melancholischen Erzählungen von der unwiederbringlichen Zerstörung des schönen Alten.

Die großen Erzählungen von Ursprung und »historischer Identität« aus dem 19. Jahrhundert wurden im 20. umgesetzt und visualisiert in Sehenswürdigkeiten und Wahrzeichen für ein großes Besucherpublikum. Dieser Postproduktion von Geschichte ist das vierte Kapitel gewidmet: Wie werden »authentische« Stimmungskulissen und politisch instrumentalisierte Großbegriffe erzeugt? Der individuellen Reise in die Vergangenheit als Suche nach dem Authentischen von früher geht schließlich das fünfte Kapitel nach – es führt in tropische Paradiese, an die Strände des Mittelmeers und in die Alpen. Und am Schluss versuche ich, all das zusammenzupacken: Was entsteht da neu, wenn die Vergangenheit, das Verschwundene von früher, besichtigt wird, zum Vergnügen?

 

Dieses Buch ist eine Art Reisebericht; wie jeder Reisebericht ist es eine Auswahl und deswegen unvollständig. Organisiert ist es als eine Serie von Ortsterminen. Die Schweiz spielt eine besondere Rolle, weil das kleine Land mit den schönen Bergen, Seen und Hotels bei der Entstehung der Fremdenverkehrsindustrie im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle gespielt hat. Die Schweiz ist seither nicht nur ein Land, sondern auch ein Wahrnehmungsmodus, ein geträumter Ort, an dem man das besonders echte Schöne in konzentrierter Form besichtigen kann. »Er schaute aus dem Fenster, als wäre er in der Schweiz«, heißt es in Erich Kästners »Emil und die Detektive« spöttisch über den bösen Mann mit dem steifen Hut. Die Schweiz ist das Land, in dem ich wohne und arbeite. Die Berufung auf mittelalterliche Ursprünge als politische Zeitreise zurück in vermeintlich echtes Altes ist hier im 20. und 21. Jahrhundert weiterhin sehr wirksam – und nicht nur in der Schweiz, sondern an vielen anderen Orten in Europa, von Polen bis Portugal. Das Reden über Herkunft und historische Identität nimmt dabei sehr oft die Form einer ideengeschichtlichen Kaffeefahrt oder Geisterbahn an; auch darum wird es im Folgenden gehen.

 

Ein Reisebericht muss Sprünge machen und Dinge weglassen. Ich habe vieles nur andeuten können – die Geschichte der neugierigen Reisenden im 18. und 19. Jahrhundert zum Beispiel, die Geschichte der Denkmäler und ihrer Erhaltung. Das macht einen Teil der Lust am Reisen aus: dass man manchmal nur kurz anhält und dann weiterfahren darf. Viele Lokalaugenscheine sind persönlich, das ist unter Historikern eher unüblich. Aber wenn mich interessiert, was zwischen historischen Sehenswürdigkeiten und ihren Besuchern passiert, kann ich nicht so tun, als sei ich nur als abstrakte körperlose Forschungsfrage unterwegs und nicht auch selbst als Tourist und zum Vergnügen. Und schließlich ist ziemlich viel von dem, was in den folgenden Kapiteln beschrieben wird, alltäglich, banal und ein bisschen grotesk. Es ist aber trotzdem da. Deswegen möchte ich die aufdringlichen, großspurigen Inszenierungen, Begriffe und Slogans – »Identität!« »Erleben!« »Das unverfälschte, echte Authentische!« – ernst nehmen. Ich möchte, anders gesagt, das Banale am Tourismus nicht abtun, sondern anschauen. Unberührte Natur wird durch ihre touristische Erschließung immer weniger. Vergangenheit dagegen scheint dadurch, dass sie von immer mehr Menschen besichtigt wird, offensichtlich immer größer, geräumiger und mehr zu werden.

Wir wollen zurück

Tourismus mag trivial, vielgestaltig und schwer einzuordnen sein, aber marginal war er nie, sondern ein gewichtiges Phänomen der Moderne – eine Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene und seit den 1950ern immer schneller wachsende Dienstleistungsindustrie. Die Zahl von weltweit erfassten »tourist arrivals« pro Jahr ist von 25,3 Millionen im Jahr 1950 auf 1,235 Milliarden im Jahr 2016 gestiegen. Sie hat sich innerhalb von zwei Generationen beinahe verfünfzigfacht, und dabei sind nur jene Vergnügungsreisen gezählt, die mit einer Übernachtung verbunden sind. Tourismus ist heute die drittgrößte Dienstleistungsbranche des Planeten, mit einem Anteil von zehn Prozent am globalen Bruttosozialprodukt: 2016 waren zwölf von hundert Bewohnern des Planeten – also jeder Achte – als Touristen unterwegs.[3]

 

Tourismus ist möglich durch ein ganzes Bündel von Dienstleistungen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie in ihrer Selbstdarstellung wie in der Wahrnehmung ihrer Kunden darauf beruhen, als das genaue Gegenteil von industrieller Produktion zu erscheinen. Der Tourismus in seiner modernen Erscheinungsform ist durch materielle Veränderungen möglich geworden; vor allem durch die radikale Beschleunigung und Verbilligung von Personenverkehr. Tourismus ist gleichzeitig auch eine Bildermaschine, und in diesem Sinne ist seine Entstehung eng an Medieninnovationen und neue Vervielfältigungskanäle wie illustrierte Reiseführer, Werbeplakate und Ansichtskarten gekoppelt.

 

Für einzelne Aspekte des modernen Tourismus lassen sich relativ leicht Vorläufer finden, von Pilgerfahrten und Badereisen bis zum Begriff selbst, der auf das Vorbild der »Grand Tour« verweist, der adeligen Bildungsreise des 17. und 18. Jahrhunderts. Zu all dem gibt es materialreiche historische Untersuchungen, aber so richtig erklären lässt sich der Aufstieg zur heute drittgrößten Dienstleistungsindustrie des Planeten mit dem Werkzeugkasten der historischen Forschung nicht. Hans Magnus Enzensberger hat in seiner »Theorie des Tourismus« etwas apodiktisch behauptet, vor der Moderne sei niemand zum Vergnügen gereist. Damit hat er wahrscheinlich unrecht, wie schon ein kurzer Blick in die Reisetagebücher von Michel de Montaigne lehrt, von Goethe in Italien ganz zu schweigen.

 

Vergnügen als Reiselust mit all ihren Erscheinungsformen ist aber methodisch gar nicht so einfach in den Griff zu kriegen. Immerhin lassen sich in der Geschichte des Tourismus in Europa grob drei Typen unterscheiden: erstens die Reise zu historischen Sehenswürdigkeiten, zu den Überresten großer Vergangenheiten, die nach dem Vorbild der »Grand Tour« des 17. und 18. Jahrhunderts entstand, nur eben verdichtet und beschleunigt wurde. Das Reisen wurde – zweitens – rasch durch Landschaftssensationen erweitert und so zur Suche nach dem ursprünglichen Schönen. Eine dritte Variante ist die Suche nach wohltuenden physischen Effekten zur Wiederherstellung (oder Verbesserung) des eigenen Körpers – von der Reise in Badeorte mit Heilquellen, die seit dem ausgehenden Mittelalter vielfach belegt und detailliert beschrieben worden sind, zu den Reisen in die Alpen und ans Meer aus gesundheitlichen Gründen im 18. und 19. Jahrhundert, im 20. dann ergänzt durch Skifahren, Strand, Ayurveda und Ähnliches. Diese drei, hier stark vereinfachten Formen des Reisens sind in einer Reihe schöner Bücher beschrieben worden. Sie wurden schon im 18. Jahrhundert oft kombiniert und vermischt, und seither überlagern sie einander, bis zum heutigen Wellness-Hotel mit Alpen-, Dschungel- oder Meerblick und historischem Ambiente.[4]

 

Die dort verbrachten »kostbarsten Wochen des Jahres«, wie es ein in den Alltagssprachgebrauch eingegangener Werbeslogan der 1960er Jahre formuliert hat, sind immer mit einem besonderen Versprechen aufgeladen. Der moderne Tourismus ist eine Zeitwiederbeschaffungsmaschine, eine Agentur des Wieder-Holens. In den Ferien – und zwar nur dort – soll einem die Zeit wiedergegeben werden, die man anderswo nicht hatte oder wenn, dann mit Unlust verbracht hat. Dabei wird unverhüllt darauf hingewiesen, man solle sich beeilen; denn das, was am Reiseziel besonders echt und kostbar sei, sei im Verschwinden begriffen, man solle es nicht versäumen. Eine 2010 gestartete Buchreihe namens »Smart Travelling« wirbt selbstbewusst mit diesem Zeitdruck und verspricht im Umschlagtext, die Suche nach dem wirklich Wichtigen zu vereinfachen: »Buch kaufen, Flug buchen, und ein perfektes Wochenende in Florenz erleben. Nicht lange suchen, sondern einfach von einem Lieblingsplatz zum nächsten spazieren … Nicht alles und jedes, sondern nur das wirklich Authentische und Besondere.«

 

Ist vom wirklich Authentischen genug für alle da? Es ist erstaunlich, wie oft im Namen der letzten Dinge gesprochen wird, wenn es um Vergnügungsreisen geht. »Thousand Places to See before You Die« heißt ein amerikanischer Reiseführer von 2003, der sich so gut verkauft hat, dass er mittlerweile auch auf Deutsch, Italienisch und in vielen anderen Sprachen lieferbar ist. Wie der Führer ins perfekte Wochenende suggeriert auch dieses Buch seinen Lesern, man sei der einzige Käufer, und die darin beschriebenen Attraktionen – »Geheimtipp«, »exklusiv«, »unberührt« – würden sich nicht mehr verändern: Auf immer echt und unmittelbar »von früher« würden sie auf einen warten.

»Unsere Conquista« hat der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk den Tourismus genannt – schon wieder ein historischer Begriff. Die Vergnügungsreise, vermutet er, bezieht sich nicht auf fremde oder unbekannte Dinge. »Sie versucht nur das zurückzubekommen, was uns vorenthalten wurde durch eine Laune der Geschichte, weggenommen, bevor wir es hatten.«[5] Der Verweis auf die begrenzte Lebenszeit jedes Reisenden (»… before you die«) lässt dabei ein ziemlich strenges Über-Ich auftreten. Die Wirksamkeit dieser Forderungen – man muss diese Orte gesehen haben, und zwar nur die wirklich wichtigen, authentischen – beruht vermutlich darauf, dass sie unerfüllbar sind. So genau man den Führer fürs perfekte Wochenende auch liest, man wird etwas vermasseln. So fleißig man auch reist, es wird einem nicht gelingen, alle diese einzigartigen Sehenswürdigkeiten zu besuchen, die nur noch jetzt sichtbar sind und die man sehen muss, bevor sie verschwinden oder man selber nicht mehr ist. Das Erlebnis der »noch« sichtbaren Vergangenheit, dem man nachreist, ist gerahmt mit stillen, aber umso wirksameren Drohungen von Versäumen und Verschwinden. Was für eine Rolle spielt dabei die Anrufung des »Authentischen« von früher in diesen Erzählungen?

Zeitstrudel: Vergangenheit vs. Geschichte

»Manifestos for History« hieß das Buch, das 2007 antrat, die Situation der Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert neu zu bestimmen. Einer der Autoren, David Lowenthal, erzählt darin die Anekdote von einer Historikerin, die in der Sainte-Chapelle in Paris von einer englischsprachigen Touristin angesprochen wird. Was das für ein Ort sei?

Eine Kirche, antwortet die Historikerin, gebaut vom heiligen Ludwig.

»Heiliger Ludwig?«, fragt die Besucherin.

»Ja, ein französischer König, der auf Kreuzzug ging.«

»Kreuzzug?«

»Ja, er ging auf eine Reise übers Mittelmeer und brachte eine Reliquie zurück, die Dornenkrone …«

»Dornenkrone?«, fragt die Touristin wieder zurück, noch verwirrter.

An diesem Punkt gibt die Erzählerin auf. Sie fühlt sich außerstande, die Bedeutung der Kirche jemandem zu erklären, der als Tourist in Paris unterwegs ist, aber von historischen Grundlagen nicht die geringste Ahnung hat.[6] Wer sich professionell mit Geschichte beschäftigt, hat vielleicht schon ähnliche Erlebnisse gehabt; und viele Historikerinnen und Historiker würden in Lowenthals pessimistische Diagnose einstimmen, dass der Bezug zur Geschichte vom touristischen Infotainment, der Unterhaltungsindustrie und den digitalen Welten unmittelbar bedroht sei.

 

Aber so vertraut das klingt, stimmt es eigentlich? Tatsächlich hat das, was man am Beginn des 21. Jahrhunderts in der Sainte-Chapelle in Paris sieht, mit der ursprünglichen, Mitte des 13. Jahrhunderts gebauten Kirche nur indirekt zu tun. Im 17. Jahrhundert brannte die Kirche aus und wurde nur teilweise wieder instandgesetzt. Ein großer Teil der heute sichtbaren Bausubstanz und der Glasfenster stammt deshalb nicht aus dem Mittelalter, sondern aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Kirche komplett restauriert wurde.[7] Was die Touristin heute sieht, geht deshalb nur teilweise auf einen französischen König des 13. Jahrhunderts, auf Kreuzzug und Reliquien zurück. Es hat ebenso viel mit der Reaktion des 19. Jahrhunderts auf die Verwüstungen der Französischen Revolution zu tun, mit der Klassifizierung der Kirche als historisches Monument und schließlich mit dem modernen Massentourismus des 20. Jahrhunderts. Mit ihm wurde aus der Sainte-Chapelle statt eines für die Vermittlung religiöser Dienstleistungen bestimmten Baus eine touristische Sehenswürdigkeit voller fotografierender Menschen – und das ist etwas völlig anderes. Und was macht eigentlich unsere Berichterstatterin, die genervte Historikerkollegin, in der Sainte-Chapelle? Forschen?

 

Das Adjektiv, das ich die ganze Zeit benutzt habe, »historisch«, steht für ein Paradox. Ist Geschichte etwas, das jetzt vorhanden und greifbar ist? Kaum. Aber so richtig weg ist sie auch nicht. Der alltägliche Sprachgebrauch legt nahe, dass Geschichte zwar vergangen ist. Gleichzeitig aber erscheint sie als etwas, das eine Person, eine Institution, ein Gegenstand oder ein Gebäude ›hat‹, als etwas, das immer noch gegenwärtig ist und in das man (etwa beim Besuch einer alten Stadt oder einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert) ›eintauchen‹ kann. Dieser Sprachgebrauch – praktisch, aber widersprüchlich – beruht darauf, dass er eine grundsätzliche Unterscheidung verschwinden lässt, nämlich die zwischen Vergangenheit und Geschichte.

 

Beide Begriffe werden häufig als Synonyme verwendet, bezeichnen aber sehr Verschiedenes. Denn Vergangenheit ist unwiderruflich vorbei. Egal ob sie mehrere Jahrhunderte, Jahre oder nur Wochen zurückliegt: Sie ist zwar vom Standpunkt des Sprechers unterschiedlich weit weg, aber gleich unerreichbar, ein für immer unzugänglicher Zeitbezirk. Geschichte dagegen ist die Darstellung dieses Abwesenden. Sie muss erzählt und präsentiert werden, und deswegen hat sie (auch und gerade dann, wenn sie die Geschichte weit zurückliegender Epochen ist) ziemlich lebendige Protagonisten. Geschichte spielt sich immer in der Gegenwart ihrer Erzähler und ihres Publikums ab.

 

Die Unterscheidung mag auf den ersten Blick umständlich wirken oder banal; sie hat aber für das, was Touristen und Historiker tun, eine Reihe von Konsequenzen. Im Rohzustand, also jenseits der ordnenden Erzählungen, ist Vergangenheit nur als lückenhafter, heterogener und mehrdeutiger Bestand an Überresten greifbar. Die vermeintlich selbstbewusste Rede von einer ›eigenen‹ oder ›unserer‹ Vergangenheit in der ersten Person vermittelt vor allem eine gewisse Hilflosigkeit angesichts dieser unerreichbaren Zone: Vergangenheit kann nicht mehr verändert, verbessert oder repariert werden, und sie weiß auch nichts von allen späteren Anstrengungen, sie zu kommentieren. Es sei denn, man verwandelt sie in Geschichte, und das heißt, in form-, knet- und veränderbare Erzählungen mit Rückkopplungsschleife, in der auch die Erzähler des Vergangenen und ihr Publikum einen Platz finden können, nachträglich.

 

Das vertrackte Verhältnis zwischen der unzugänglichen und endgültig verschwundenen Vergangenheit (samt ihren widerspenstigen und widersprüchlichen Überresten) und der Geschichtserzählung (samt ihrer genießerischen Neigung zum Erzählen, Erklären und Ausschmücken) hat die Theorie der Geschichtswissenschaft in den letzten 150 Jahren intensiv beschäftigt.[8] Walter Benjamin hat 1931 für diese schwer fassbaren und in dauernder Bewegung und Veränderung begriffenen Erscheinungsformen der Ereignisse von früher ein schönes Bild gefunden. Das Historische, überlegt er, könne nicht als gerichteter Strom in einem Flussbett beschrieben werden, sondern nur als Strudel, in dem sich Zeiten mischen. »In solchem Strudel kreist das Früher und Später – die Vor- und Nachgeschichte eines Geschehens oder besser noch eines Status um diesen.«[9]

 

Dieser bewegliche Strudel kann nur durch Erzählen organisiert werden. Erzählen klingt wie eine selbstverständliche harmlose Tätigkeit, aber sie ist nie neutral. Jede Erzählung verändert das Material, das sie präsentiert. Damit die Erzählung des Strudels, also der undarstellbar großen, gemischten, vielfältigen und dauernd bewegten Vergangenheit, überhaupt gelingen kann, muss das Ergebnis – die Geschichte nämlich – kohärent sein und einen logischen und zusammenhängenden Ablauf aufweisen, der den strudelnden Ereignisketten der Vergangenheit gewöhnlich fehlt. Damit eine solche Geschichte erfolgreich ist, muss sie außerdem Fremdheit reduzieren. Sie muss inhaltliche Entsprechungen organisieren und Ähnlichkeiten auftauchen lassen, Motive, die das Publikum bereits kennt und die es wiedererkennen kann.[10]

 

Schließlich muss Geschichte als Erzählung temporale Zugehörigkeit schaffen: Sie muss lange, vermeintlich ohne Unterbrechungen tief in die Zeit zurückreichende und bedeutungsstabile Überlieferung erzeugen. Das ferne Ereignis von damals – der Bau einer Kirche durch einen französischen König vor 700 Jahren, in unserem Beispiel – muss mit dem jeweiligen Heute verbunden werden, in dem sich das Publikum befindet. (Die restaurierte Sainte-Chapelle wurde 2015 feierlich wiedereröffnet, finanziert durch private Sponsoren und die Kulturstiftung einer dänischen Fensterfabrik.) Die Arbeit dieses Verknüpfens, des Aneinanderheftens vom Alten ans Neue, ist das, was wir gewöhnlich als »Tradition« bezeichnen. Tradition ist, anders gesagt, nicht ein Möbel, das immer schon da war, in der Ecke steht und still von sich selbst kündet. Sie ist keine Dekoration oder Atmosphäre, sondern Arbeit; etwas, was jemand tut.

 

Diese beiden Techniken – die Organisation von Wiedererkennungseffekten und das nachträgliche Herstellen von Kontinuitäten – sind die Klebstoffe der historischen Erzählung, mit denen Geschichten, Bilder und Artefakte aus der Vergangenheit an die Gegenwart geheftet werden. Als Beleg für diese angeblichen Analogien und Überlieferungsketten kann aber – denn das verlangt die Ökonomie der Darstellung – nur ihr genaues Gegenteil präsentiert werden, nämlich Beispiele, Schnipsel und Clips. Geschichte unterscheidet sich dadurch von der Vergangenheit, dass sie ihrem Publikum so wenig Zeit wie möglich abfordert. Sie ist kurz, knapp und eingängig, nach dem Lustprinzip organisiert. Deswegen mögen wir es so gern, wenn etwas fast, aber noch nicht ganz verschwunden ist. Auch dafür steht das kleine Wort »noch«, für das Vergnügen am pittoresken, aber rasch überschaubaren Rest.

Erinnerungsorte des Gefühls

Goltzstraße, Berlin-Schöneberg: Hier findet man Geschäfte für besonders feine Schokolade, für besonders feinen Biowein und besonders geschmackvolle Secondhand-Kleider. Ein paar Schritte weiter: »Das Alte Büro« (Adjektiv großgeschrieben – ein Laden für Büroeinrichtungen aus den 1930ern bis 1970ern), und die »Berliner Geschichtswerkstatt e.V.« – für besonders authentische und bodenständige Geschichte? Direkt nebenan befindet sich ein Reisebüro: Es bietet offensichtlich besonders empfindsame und literarisch wirkungsstarke Reisen an, denn es ist nach dem britischen Schriftsteller Bruce Chatwin benannt.

 

Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde den Historikern klar, dass sich die Art, wie Bilder, Ursprungserzählungen und Monumente aus der Vergangenheit in der Gegenwart praktisch genutzt wurden, zu verändern begonnen hatte – langsam, aber unwiderruflich. Wenn von Geschichte – oder noch stärker: »unserer Geschichte« – die Rede war, ging es nicht mehr um die alten nationalstaatlichen, parteipolitischen und religiösen Identifikationen, die bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts das Reden über Herkunft dominiert hatten, sondern um neue Dienstleistungssektoren. Geschichte war immer weniger ein moralisches Pflichtenheft und Exempel für kollektive Zugehörigkeit, sondern ein Materialreservoir für mitreißende Geschichten und private Erlebnisse.[11] Damit erschienen neue Formen von Identifikationsangeboten und emotional aufgeladenen Inszenierungen der Welten von früher. Historische Erinnerung und soziales Gedächtnis, so wurde deutlich, waren höchst bewegliche Aggregate und dauernd im Umbau.

 

Diese Diagnose wurde von manchen Wissenschaftlern in Deutschland mit optimistischen Einschätzungen verbunden. Von der »Pluralisierung« und der Vielsprachigkeit der Geschichtserzählungen war viel die Rede, von der Überwindung der engen nationalen und konfessionellen Zugehörigkeiten. Andere sahen das düsterer. Die kritische wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit, warnten deswegen die Autoren der bereits erwähnten »Manifestos for History«, drohe, von der Unterhaltungsindustrie, die das historische Material für ihre Zwecke plündere und verkitsche, und den Simulationen digitaler Welten aufgelöst zu werden.[12] Sehr viel pragmatischer (»Was sollen wir tun, um unsere Besucher bei Laune zu halten?«) wurden diese Phänomene in der Literatur zur Geschichtsvermittlung und zur Präsentation von Geschichte in Museen und Gedenkstätten diskutiert, gewöhnlich unter den Schlagworten der »living history« und des Re-enactments.[13]

 

Die akademische Geschichtswissenschaft im deutschen Sprachraum hat die vielfältigen Formen, in denen Geschichte für ein breites Publikum aufbereitet und ausgeschlachtet wurde, lange ignoriert. Das änderte sich an der Wende zum 21. Jahrhundert gründlich: Opern, Filme und Kinderbücher wurden jetzt auf ihre Beziehungen zu Erinnerungspolitik und Geschichtsbildern hin ebenso befragt und untersucht wie TV-Serien, Comics und Computerspiele. Vom Tourismus wollte die Erinnerungsgeschichte lange nichts wissen. In den großen Synthesen zur Geschichtskultur sucht man Hinweise auf Tourismus in seinen verschiedenen Formen vergeblich.[14] Bei den Theoretikern historischen Erzählens erschienen Romane und Träume, Fotografie und Kinofilme als Medien der Vorstellung und Darstellung von Geschichte, aber keine Touristen, obwohl die Geschichte des Reisens von der »Grand Tour« bis zum Pauschaltourismus der 1970er Jahre eingehend erforscht worden war. Auch in den kritischen Analysen nationaler Vergangenheitskonstruktionen kam der Fremdenverkehr nicht vor.[15] Wenn sich Historiker mit der Vergegenwärtigung der Vergangenheit beschäftigten, war Tourismus sehr lange kein Thema – zu alltäglich, kommerziell und banal.

 

Auf den zweiten Blick aber ist der Tourismus in der gelehrten Analyse der Geschichtskultur nicht völlig abwesend, sondern durchaus präsent: als unscharfe, aber negative Kontrastfolie. In seinem Essay über den Erinnerungsort Oberammergau zitiert etwa Etienne François einen 1980 erschienenen Zeitungsartikel als Beleg für die jahrhundertealte Identifikation der Bevölkerung mit dem Passionsspiel: »Wäre dieses Passionsspiel nur ein Produkt des Zynismus und der touristischen Interessen«, so der Journalist, »und nicht auch ein vielleicht absonderliches Dokument des Glaubens – so kämen bald auch keine Touristen mehr.« Und im Artikel über Verdun in der französischen Ausgabe der »Lieux de mémoire« dient die halbe Million Touristen, die heute jährlich die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs besuche, dem Autor als Beleg dafür, dass nach dem Versterben der überlebenden Veteranen das Gedächtnis nun kommerziell organisiert werden müsse. »Und so tritt die Historie an die Stelle eines intensiven Gefühls.«[16]

 

Haben Touristen keine intensiven Gefühle? Der französische Historiker Marc Bloch hat am Beginn der 1940er Jahre in seiner »Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers« geschildert, wie er Jahrzehnte zuvor seinen berühmten Mediävistenkollegen Henri Pirenne auf eine Tagung nach Stockholm begleitete. Kaum angekommen, habe Pirenne gefragt: »Was sehen wir uns als erstes an? Angeblich gibt es hier ein sehenswertes neu erbautes Rathaus. Fangen wir damit an.« Und als wolle er dem Erstaunen seines Freundes zuvorkommen, so Bloch, habe er hinzugefügt: »Wenn ich Antiquitätenhändler wäre, hätte ich nur Augen für die alten Sachen. Aber ich bin Historiker. Deswegen liebe ich das Leben.«[17]

 

Das Stockholmer Rathaus, das die beiden Mediävisten besichtigen wollten, ist auch heute eine Touristenattraktion. Es wurde 1923 fertiggestellt; ein monumentales Backsteingebäude mit großem Turm im Stil der funktionalistischen Moderne. Das Gebäude sollte an ein 1697 zerstörtes königliches Schloss erinnern und mit seinem überwölbten Bürgerhof und den mit Mosaiken geschmückten Hallen gleichzeitig an Venedig, schrieb sein Architekt Ragner Östberg. Der »Goldene Saal« wurde ausdrücklich nach byzantinischen Vorbildern dekoriert. Eine besondere Attraktion ist bis heute eines der Tore, das Huvudportal: Die schwarzen Eichenbalken, aus denen es besteht, stammen vom Wrack des im 17. Jahrhundert gesunkenen Flaggschiffs »Riksäpplet« (Reichsapfel), das dafür 1921 in 15 Metern Tiefe gesprengt worden war.

 

Die Gegenwärtigkeit, die diese Sehenswürdigkeit für Henri Pirenne verkörpert hat, war sehr modern, aber aus ehrwürdig alten Versatzstücken zusammengesetzt. Dazu kann man natürlich »Leben« sagen, wie Pirenne es in Blochs Erinnerung tut, aber »Wiederbelebung« wäre mindestens ebenso passend. Wenn ein Ort zum Erinnerungsort wird, geht es immer um eine solche Verwandlung. Er wird damit ins Futur II verschoben: Er muss nicht nur von der Vergangenheit künden, sondern auch Informationen darüber enthalten, was ihn in Zukunft zum historischen Ort gemacht haben wird.

 

Das Monument kündet also von etwas, das einmal da war, dann verschwunden, aber jetzt für den Betrachter wieder sichtbar gemacht worden ist. In Anlehnung an Walter Benjamins Bild vom Strudel des Historischen könnte man hier von einem kleinen Zeitstrudel sprechen – aber Strudel nicht verstanden als Wirbel, in dem die Strömung sich um sich selbst dreht und fortwährend einsaugt und ausspeit, sondern als Süßspeise: übereinandergelegte Vergangenheiten verschiedener Herkunft, aufgerollt und dann in einem einzigen gut dekorierten Objekt konzentriert. Mit Puderzucker.

 

Solche Zeitstrudel sind relativ häufig. In Heidelberg kann man deswegen heute ein 1976 erbautes Parkhaus besichtigen, auf dem eine Tafel verkündet, hier habe sich die Wohnung des Philosophieprofessors Georg Wilhelm Friedrich Hegel befunden. Neben der Lieferanteneinfahrt eines Einkaufszentrums in der Münchner Innenstadt informiert eine ähnliche Bronzetafel, dass hier 1864 der Komponist Richard Strauss geboren worden sei. In der Furrengasse in Luzern, einer schmalen Gasse mit Häusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert, verspricht ein chinesisches Restaurant »exclusive Asian dining«. Daneben ist in Stuck an der Fassade die Jahreszahl 1734 sichtbar. Über dem Eingang prangt eine große Messingtafel: »Stammlokal Richard Wagners« – der wohnte von 1866 an fünf Jahre bei Luzern.

 

Besichtigt werden können so mehrere Zeitebenen gleichzeitig: Das macht die Konzentration, denn das süße Dessert Strudel ist ja nie sehr groß. Die Vergangenheit, das unübersichtliche, weitläufige und auf immer unbetretbare Land, kann auf diese Weise an einem Ort als Geschichtsextrakt präsentiert werden. Wie das Stockholmer Rathaus 1923 seinen Besuchern die Retroaktivierung von abgebrannten Schlössern und untergegangenen Flaggschiffen ermöglicht (wohl nicht zufällig aus verschiedenen Epochen schwedischer Großmachtspolitik), so lässt sich die Präsenz, oder genauer: das einmal Dagewesen-, dann Verschwunden-, dann wieder Sichtbar-gemacht-worden-Sein berühmter Philosophen und Komponisten problemlos in urbanen Betonkisten und pittoresken Chinarestaurants beschwören. »Hier war es!« als Schlachtruf.

Wo finde ich das Echte?

Der Ich-Erzähler in dem Roman hat viele Sorgen, aber keine davon hat mit Geld zu tun. Er hat einen Unfall gehabt, eine große Operation und einen noch größeren Schadenersatz bekommen, aber sein Gedächtnis verloren. Jetzt versucht er sich zu erinnern. Er will zurück. Zurück an jenen Ort – ein altes Haus in einem Londoner Stadtviertel –, von dem er überzeugt ist, dass sich damals und dort alles unmittelbarer angefühlt habe, vor allem er selbst. »Plötzlich war mir vollkommen klar, was ich mit meinem Geld machen wollte. Ich wollte diesen Ort rekonstruieren und ihn betreten, damit ich wieder das Gefühl haben konnte, echt zu sein, wirklich.«

Tom McCarthys »8½ Millionen«, 2006 als ›Remainder‹ auf Englisch erschienen, ist eine smarte Parabel über Erinnerung, Nostalgie und ihre Dienstleister. Der Ich-Erzähler, ein etwas begriffsstutziger und zynischer Nachfahre von Rilkes Romanheld Malte Laurids Brigge, beauftragt schließlich eine Firma, den Ort seiner wahren Empfindung nachzubauen und mit dem passenden Personal neu zu bespielen. Die Firma trägt einen sprechenden Namen – »Time Control«. In der Erzählung zeigen sich besondere Konstellationen im Umgang mit etwas Verschwundenem als Sehnsuchtsziel, denen schon Hans Magnus Enzensberger 1958