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Ein Dorf in Deutschland. Sie - jung, hübsch und beruflich erfolgreich, ihr Ehemann - derb und eher schlicht. Dass er nur am Wochenende zu Hause ist, stört sie nicht. Eigentlich wäre alles perfekt, wenn dieser Untermieter nicht wäre. Am Anfang spielt sie nur mit ihm. Aber die Versuchung ist zu groß. Und plötzlich ist es ernst. Doch als sie beschließt, die Karten auf den Tisch zu legen, ist einer tot und für die Wahrheit ist es zu spät. Ein eindringlicher Roman, aus unterschiedlichen Perspektiven anhand von Rückblenden erzählt. Hart, präzise und mit der nüchternen Sprache eines Tarantino!
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Seitenzahl: 241
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Sascha Berst-Frediani
Reue
Die Geschichte eines Mordes
Reiz des Verbotenen Warm sind die Sommerwinde, die von Frankreich her hinüberwehen, und mild die Abende. Sie sitzt gern auf der Terrasse – jung, hübsch und sehr allein, weil der Ehemann in der Ferne weilt. Der junge Mieter wiederum ist ungebunden, ein wenig naiv und der attraktivste Junggeselle im Dorf. Am Anfang ist es nur ein Spiel, das sie beginnt, provoziert von ihren Freundinnen. Sie lächelt ihn ein wenig freundlicher an als nötig, grüßt ihn herzlicher und lädt ihn auf ihre Terrasse ein. Es bleibt nicht dabei. Schnell finden sie Gefallen aneinander. Eine Affäre entwickelt sich, der sich die beiden nicht entziehen können. Dabei war es keine unwiderstehliche Anziehung, die sie zusammenbrachte. Es war der Reiz des Verbotenen. Aber einmal verbunden, ist ihre Leidenschaft groß – und beide verlieren die Kontrolle. Sie beschließt, ihrem Mann alles zu beichten. Ist es für die Wahrheit bereits zu spät?
Sascha Berst-Frediani genoss seine Schulbildung in Deutschland sowie Italien. In Freiburg und Paris studierte er Germanistik und Rechtswissenschaften. Inzwischen ist der promovierte Jurist in Freiburg als Rechtsanwalt niedergelassen. Im Jahr 2013 gewann der Autor den Freiburger Krimipreis und im Mai 2015 die »Herzogenrather Handschelle«, den Krimipreis der Stadt Herzogenrath. »Reue« ist nach »Fehlurteil« sein zweiter Krimi im Gmeiner-Verlag.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Fehlurteil (2014)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © xpixel/shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-5668-8
Dinge, wie sie hier erzählt werden, geschehen. Trotzdem ist diese Geschichte erfunden. Ähnlichkeiten mit wahren Geschehnissen sind so unbeabsichtigt wie unvermeidlich.
Sie kamen im Morgengrauen. Lautlos hebelten sie die Haustür auf, verstohlen klingelten sie an der Wohnungstür. Sie öffnete ihnen verschlafen und hätte bei ihrem Anblick beinahe aufgeschrien, aber einer hielt ihr den Mund zu und bedeutete ihr, still zu sein. Sie nickte. Aus dem Schlafzimmer tönte die belegte Stimme eines Mannes: »Schatz, wer ist es denn?« Dann ging alles ganz schnell. Sie stürmten herein, einen Augenblick später hatten sie ihn. »Ihr Schweine!«, schrie er, aber mehr, weil es so dazugehörte. Kaum wehrte er sich. Sie fesselten ihm die Hände auf dem Rücken und brachten ihn hinaus. Die Frau stand im Flur und war wie versteinert. Der Polizist, der ihr den Mund zugehalten hatte, ließ los, blieb aber neben ihr stehen. Er fand sie schön, ungeachtet aller Umstände, und wandte den Blick ab. Sie hätte jetzt etwas sagen können, aber sie fand keine Worte. Sie hätte weinen mögen, aber sie konnte es nicht. Sie starrte den Abgeführten an und schlug ihre Hände vor das Gesicht. Er sah nicht zurück. Dann sank sie stumm auf die Knie. Der Polizist versuchte noch, sie zu halten, bekam sie aber nicht zu fassen. Dass sie nur ein dünnes Nachthemd trug, machte ihn unsicher. Er winkte zwei Beamtinnen herbei, die ihr aufhalfen und sie ins Wohnzimmer führten, wo sie noch einmal in sich zusammensank, das Gesicht so fahl, dass den Frauen angst wurde.
»Der Arzt! Wir brauchen den Arzt«, rief die jüngere von ihnen so lange, bis ein bulliger Mann in orangefarbenem Anorak und weißen Hosen im Türrahmen erschien und nickte, um zu zeigen, dass er da war und die Verantwortung übernahm. Er maß den Puls und den Blutdruck der Halbbewusstlosen und legte mit schnellen Griffen eine Infusion. »War ein bisschen viel für das Mädchen«, sagte er lapidar zu den Polizistinnen, die wie gebannt neben ihm standen und ihren Blick nicht von der Frau lösen konnten. Es waren erfahrene Beamtinnen. Die Arbeit bei der Polizei und der Umgang mit den Männern hatte sie hart gemacht. Trotzdem empfanden sie einen Augenblick Mitleid mit ihrer Schwester, zumindest so lange, bis nicht der Gedanke in ihnen erstand, dass sie letztlich selbst schuld war an dem ganzen Unglück.
Draußen auf der Straße warteten die Nachbarn. Im Dorf stand man früh auf. Der Einsatz blieb nicht verborgen. Unter ihren Augen wurde er noch im Schlafanzug in den Transportwagen gesetzt und angekettet. Sie ahnten, was das zu bedeuten hatte, und schwiegen. Eine der Frauen begann zu weinen und drehte sich zu ihrem Mann, der sie unbeholfen in den Arm nahm. Sie hatten sich lange nicht berührt.
Währenddessen suchte die ältere Polizistin mit geübtem Griff ein paar Kleidungsstücke und die nötigen Toilettenartikel zusammen und verstaute sie in einem Seesack, den sie schnell nach unten in den Transportwagen brachte. Der Einsatzleiter zog die Fahrzeugtür zu und gab das Zeichen zum Aufbruch. Wie Nebel sich im Sonnenlicht auflöst, waren sie keine fünf Minuten später verschwunden. Die Nachbarn standen alleine da. Der Schreck löste ihre Zungen: Sie waren entsetzt. Sie hatten es kommen sehen. Sie verstanden es nicht. Sie hatten Angst, was man jetzt sagen würde über ihr Dorf. Der Junge tat ihnen leid, allen. Die Frau auch, manchen.
Noch ehe er erwachte, roch er ihren Duft. Er war überall: im Kissen, im Bettbezug, an seinen Händen und in seinen Haaren. Ein Duft nach … Er wusste nicht, wie er ihn beschreiben sollte. Nach Zitrone vielleicht, nach Zitronen, ja, und nach Mai. Er hätte es früher nicht für möglich gehalten, dass ein Duft nach einem Monat riechen konnte, aber jetzt hätte er keinen passenderen Ausdruck dafür finden können. Ein Duft nach Mai. Er war so intensiv, dass er meinte, sie läge noch neben ihm, als müsste er nur die Hand nach ihr ausstrecken, um sie an sich zu ziehen. Aber sie war ohnehin nicht weit. Nie war sie weit.
Er hielt die Augen geschlossen, um noch ein wenig zu träumen, sie herbeizuträumen, wie sie gestern hier gewesen war, damit sie ihn wieder küsste, wieder berührte, wieder begehrte, so sehr, dass sie unter dem Hauch seines Atems leicht erbebte, dass sich die Härchen an ihren Armen aufrichteten, wenn er sie nur ansah. Dass auch eine Frau so empfinden konnte, wusste er erst, seit er sie kannte, seit sie es ihm gezeigt und mit ihm geteilt hatte. Früher dachte er, das Begehren sei dem Mann vorbehalten, sein Vorzug und manchmal sein Fluch, während die Frau den Mann nur mehr oder minder erdulde. Die Mädchen, mit denen er vor ihr zusammen gewesen war, hatten ihm stets das Gefühl gegeben, dass sie ihm ein Geschenk machten, für das er sich brav bedanken musste, wenn sie mit ihm schliefen. Dass auch Frauen so etwas wie Verlangen empfinden konnten, hatte er gehört und glaubte er wohl auch. Sie hatten es behauptet, und er hatte keinen Grund zu zweifeln, aber es schien klein zu sein neben dem, was er empfand, neben diesem Strom, der ihn so mitreißen konnte, dass ihn nichts mehr hielt.
Bei ihr war das anders, ganz anders. Fast so … Er wagte kaum, den Gedanken zu fassen, der ihm da kam, und er würde ihn auch nie mit jemandem teilen … fast so, also, als wäre sie selbst wie ein Mann, als wäre sie ebenso ergriffen wie er; bat ihn, das zu tun und das, und seufzte, wenn er es tat. Nannte ihn ihren Engel dabei, ihren Liebling, nannte ihn schön, wundervoll, einzigartig, nannte ihn duftend … Ausgerechnet ihn, der doch meist nur nach seinem Motorrad roch, einen Jungen vom Dorf, einen wie die anderen, bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Fußballverein. Oder doch nicht nur wie die anderen? In ihren Augen war er schön, unter ihren Händen war seine Haut zart, und wenn sie ihre Nase in seine Achselhöhle steckte, um an ihm zu riechen, dann musste er wohl duften.
Die Erinnerung an sie blieb nicht ohne Folgen, aber er hielt sich zurück. Er wollte sie nicht mehr nur in Gedanken besitzen, wie er es früher getan hatte, weil sie doch morgens und abends an ihm vorbeigelaufen war mit ihrem rotblonden Haar und ihrem Duft nach Zitrone und Mai und all dem Geheimnis, das eine Frau so umgab, die einem nicht mehr aus dem Kopf ging.
So blieb er eine Weile liegen und wollte nicht aufstehen. Halb schlief er wieder ein, halb blieb er wach und dachte an den Tag, der vor ihm lag. Er lauschte, aber er hörte sie nicht, kein Stühlerücken, keinen Staubsauger, kein Steppbett, das ausgeschüttelt wurde. Stattdessen Kinder draußen. Nachbarskinder, er kannte ihre Stimmen. Sie spielten Fangen und Verstecken und lachten dabei, wenn sie fingen und entdeckten – ›Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein …‹ Ja, musste es. Alles musste versteckt sein.
Sie war mit den ersten Lichtstrahlen erwacht. Thomas neben ihr schlief noch. Sie lauschte auf seine ruhigen und regelmäßigen Atemzüge. Nicht mehr lange und es wäre hell genug, aufzustehen und nach oben zu gehen, ohne Licht zu machen. So schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie würde Thomas nicht wecken und blieb verborgen vor den forschenden Blicken der lieben Nachbarn, die von dem Moment an auf sie gerichtet waren, als sie hier eingezogen waren. Es hatte sie geärgert, so grundlos unter Verdacht zu stehen, nur weil sie unter der Woche allein und Thomas der hübscheste Junggeselle im Dorf war. Was konnte sie dafür, dass der Vorbesitzer ihm die Einliegerwohnung vermietet hatte? Hätte sie ihn hinauswerfen sollen, als sie das Haus gekauft hatte und eingezogen war? Sie hatte nie jemandem Anlass zu Klatsch gegeben. War ihrem Mann stets treu und den beiden Freunden, mit denen sie vor ihm zusammen gewesen war, auch. Sie war nicht so eine, sie war kein … Flittchen! Und trotzdem von Anfang an diese Blicke und Anspielungen – vor allem von ihren Freundinnen. Schon beim ersten Kaffeeklatsch im neuen Haus, ein Geschnatter wie von aufgeregten Gänsen, immer lauter, immer schriller. »Und hier wohnt auch unser Thomas?« »Mit dem unter einem Dach, das würde bei mir keine zwei Wochen gut gehen!« »Der hat ja vielleicht einen süßen Hintern!« »Hintern? Ich würde gerne mal sehen, wie das vorn herum so aussieht!« »Nicht schlecht, nach allem, was man so hört!« »Was? Wirklich? Erzähl!!« »Die Ulrike, die hatte wohl mal was mit ihm – und so!« Und dabei erhob diese Gans beide Zeigefinger, die immer weiter auseinandergingen, bis sie irgendwann bei der Länge einer Salatgurke angekommen waren, und das übrige Federvieh sich gar nicht mehr einkriegen konnte.
Und ausgerechnet Ulrike soll ihn gehabt haben! Dieses Bauerntschuntschi mit ihren dicken Möpsen, die schon mit 14 für jeden polnischen Spargelstecher die Beine breit gemacht hatte, wenn er ihr nur eine Cola dafür versprach. Der Gedanke machte sie jetzt noch verrückt. Sie musste sich beherrschen, Thomas nicht wachzurütteln, um ihn zur Rede zu stellen! Wie konnte er nur!
Überhaupt – wäre die Geschichte mit Ulrike nicht gewesen, wäre nie irgendetwas passiert. Nie, das könnte sie schwören. Dann wäre Thomas ihr hübscher Mieter und Nachbar geblieben. Sie hätte ein wenig für ihn geschwärmt und sich vielleicht manchmal vorgestellt – aber wirklich nur manchmal –, dass da gerade nicht ihr Mann neben ihr läge in ihrem verschlafenen Ehebett, sondern Thomas, und es wäre nichts weiter gewesen. Thomas hätte irgendwann eine nette Freundin gefunden, die hier vielleicht eingezogen wäre, und mit der sie sich angefreundet hätte. Sie hätten zusammen auf der Terrasse gesessen, ein Glas Sekt getrunken und über ihre Männer gesprochen, wie Freundinnen und Nachbarinnen das tun. Punkt. Dabei wäre es geblieben und nichts weiter. Nie hätte jemand erfahren, wie sie an Thomas dachte, und sie sich wohl auch fragte, wie das so aussah bei ihm … vorne rum. Niemand hätte es erfahren. Aber die Vorstellung, diese Ulrike, ausgerechnet diese Plumpskuh, hätte etwas gehabt, das sie sich mühsam verkneifen musste, konnte sie nicht ertragen. Dabei wusste sie gar nicht, ob sie diese Geschichte mit Ulrike für bare Münze nehmen sollte. Eines war klar: Das mit der Salatgurkengröße hatte sie nicht geglaubt, von Anfang an nicht, und wie erleichtert war sie, als sie feststellte, dass sie damit recht hatte … Erstens weil so ein Format gar nicht so angenehm war, fand sie zumindest, und zweitens weil dann eben auch viel dafür sprach, dass an der anderen Hälfte des Gerüchts auch nichts dran war, also an der Ulrike-Hälfte. Obwohl – also klein war er natürlich nicht. Er war schon ordentlich, und vielleicht hatte Ulrike einfach ein wenig übertrieben und jede, die es weitererzählte, fügte noch ein paar Zentimeter hinzu. So wie Angler, die sich über ihren Fang unterhielten. Ach, sie wusste es doch auch nicht! Und natürlich hatte sie Thomas gefragt, ob da was mit Ulrike war, aber der leugnete es jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprach, was sie an seiner Stelle allerdings auch getan hätte, denn das mit Ulrike war schließlich kein Ruhmesblatt. Und deswegen wusste sie auch nicht, ob sie ihm da trauen konnte.
Und wegen Ulrike hatte sie eben langsam angefangen mit diesem Spiel. Ihn angelächelt, wenn er ihr im Treppenhaus begegnete, erst noch zurückhaltend, dann ein wenig offener. Ihn ein bisschen freundlicher begrüßt, als sie es bei einem netten Mieter sonst tun würde. Vielleicht auch ein ganz klein wenig mit den Hüften gewackelt, wenn sie vor ihm herging, aber wirklich kaum merklich … nur um zu sehen, wie er reagierte, ob er ihr nachsah, wenn sie vorbeiging, ob er verlegen wurde, wenn sie stehen blieb. Hatte also begonnen, mit dem Feuer zu spielen und der Flamme, die da wuchs, langsam, langsam Nahrung gegeben; begonnen, das immer gleiche reizende, verlockende und unendlich gefährliche Spiel zu spielen. Und ja, offensichtlich fand er sie attraktiv, denn es ging nicht lange, bis er sie so ansah mit diesen großen sehnsüchtigen Augen, die er machen konnte, ein Blick wie ein Kalb. So ein hübscher Junge und offenbar gar nicht gewöhnt, dass sich eine Frau für ihn interessierte und ihre Netze spann … Hatte sich offenbar noch keine geraut. Diese Mädchen vom Dorf sind doch alle ein bisschen einfältig, selbst wenn es darum ging, so einen Fang zu machen! Die sitzen da und warten, dass der Märchenprinz kommt, anstatt ihn ein bisschen anzulocken. Und daher kommt dann meist auch kein Märchenprinz, sondern nur so ein Bauerntrampel daher und den nehmen sie dann eben, weil sich nichts anderes findet.
Und natürlich hatte er zu verbergen versucht, was da in ihm vorging, aber das war ihm natürlich ebenso nicht gelungen. Es gelingt Männern ja meistens nicht, etwas zu verbergen, sie sind viel zu leicht zu durchschauen … Aber wie es dann weiterging, damit hätte sie nicht gerechnet. Dieser Abend auf der Terrasse und wieder diese verliebten Kalbsaugen, die sie so anrührten, dass sie ihn einfach küssen musste; und noch während sie ihre Lippen auf seinen Mund presste und spürte, wie sich seine Zunge Bahn brach, wie sie es seitdem immer wieder und auch an ganz anderer Stelle tat, wusste sie, das würde Ärger geben, gewaltigen Ärger. Aber das war ihr in dem Moment zu ihrer größten Überraschung völlig egal. Und auch jetzt lächelte sie bei der Erinnerung und bereute nichts.
Thomas neben ihr atmete ruhig und tief. Man hätte eine Granate neben ihm zünden können, er wäre nicht aufgewacht. Sein Körper strahlte Wärme aus wie ein Ofen, seine Haut war trocken und glatt und duftete nach Erde.
Sie stand vorsichtig auf, angelte ihr Kleid und ihre Wäsche aus einem kleinen Haufen vor dem Bett und ging leise in den Flur, um sich anzuziehen. Dabei ließ sie die Tür zum Schlafzimmer einen Spalt weit auf, um immer wieder einen Blick auf ihn zu werfen, ihn zu beobachten, wie er da lag, den Unterleib in das weiße Laken gehüllt, über das langsam die Morgensonne kroch. Irgendwann drehte er sich um, schmatzte eine wenig und tastete mit der Hand über die Matratze. Er schien sie im Schlaf zu suchen, wachte aber nicht auf, obwohl das Bett neben ihm leer war. Wieder so etwas, was sie an den Männern nicht verstand. Da konnten sie voller Inbrunst ewige Liebe schwören, aber bemerkten nicht, wenn sich die Geliebte frühmorgens aus dem Bett stahl … Und wenn sie es denn ausnahmsweise doch bemerken sollten, drehten sie sich um und schliefen weiter.
Vorsichtig schloss sie die Tür und wandte sich zum Gehen. Bevor sie die Wohnungstür öffnete, lauschte sie ins Treppenhaus, um sicher zu sein, dass niemand da war, der sie hätte überraschen können. Das war zwar beinahe ausgeschlossen, denn ihr Mann war in der Kaserne, und es wohnten nur sie beide und Thomas im Haus, aber sicher war sicher. Nachdem sie sich überzeugt hatte, öffnete sie vorsichtig die Wohnungstüre und schlich nach oben, lautlos und unbemerkt.
Als sie in ihrer leeren Wohnung stand, kam sie sich für einen Moment erbärmlich vor, wischte den Gedanken aber schnell und so gut es ging beiseite. Was sie sich dabei dachte, ein Verhältnis zu haben und ihren Mann zu betrügen, konnte sie nicht sagen. Sie wusste es nicht. Sie hatte sich die Frage schon gestellt, weiß Gott mehr als einmal, aber keine Antwort gefunden. Sie hatte sich sogar ein paar Frauenmagazine gekauft, was sie normalerweise nie tat, die das Thema behandelten. Doch der lockere und ironische Ton, den die Artikel anschlugen und der bedeuten sollte, dass das alles im Grunde ganz locker und ganz easy war, störte sie. Für sie war ein Ehebruch nicht locker und easy. Er passte auch gar nicht zu ihr und schien ihr deswegen oft auch gar nicht wahr. Sie, sie war nicht so eine. Wenn diese Ulrike ihren Mann betrügen würde, worauf Sabine schwören konnte, dann war sie ein Flittchen. Das war Ulrike aber selbst dann, wenn sie ihren Mann vielleicht nicht betrog. Denn sie war es einfach schon ihrem Wesen nach, auch wenn sie ihm ein paar Jahre lang zufällig treu wäre, weil gerade kein polnischer Spargelstecher zur Hand war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Flittchen aus ihr herausbrach und sie ihn betrog. Bei ihr dagegen war das umgekehrt. Sie, Sabine, war eben kein Flittchen, sie war im Grunde treu. Es war daher auch nur eine Frage der Zeit, bis die Treue wieder aus ihr herausbrach. Und deswegen war sie eben auch kein Flittchen, sondern nur vorübergehend nicht ganz treu. Wenn sie nur einen Schnupfen hatte, war sie schließlich auch nicht krank, sondern eben nur für einen Moment nicht ganz gesund. Fand Sabine.
Sie roch Thomas erdigen Duft an sich und ergab sich kurz der Versuchung, nicht zu duschen, um den Geruch noch ein wenig an sich zu tragen wie ein Parfum. Stattdessen machte sie sich einen Kaffee, den sie im Stehen trank, und stellte sich mit ihrer Tasse ans Fenster, um auf die Straße zu sehen. Die Bäuerin vom Hof am Ende der Straße war schon wach und mit einem Leiterwagen unterwegs. Als ob sie den Blick gespürt hätte, sah sie nach oben zum Fenster, hinter dem Sabine stand. Sabine nickte zur Begrüßung mit dem Kopf und winkte zaghaft. Die Bäuerin nickte zurück, aber der Gruß hatte nicht viel Freundliches, eine knappe Geste, mehr angedeutet als ausgeführt, weil man sich eben grüßt in der Nachbarschaft auf dem Dorf.
Sie verurteilt mich, dachte Sabine, sie verurteilt mich, obwohl sie gar nichts wissen kann von mir und von Thomas, und dieser Gedanke empörte sie so sehr, dass sie diese Nachbarin am liebsten zur Rede gestellt hätte, wieso sie sich einbildete, über sie den Stab zu brechen. Die Bäuerin hätte sie doch ebenso verurteilt, wenn sie sich nicht mit Thomas eingelassen hätte. Nur weil sie unter dem gleichen Dach wohnten, hätte sie sie verurteilt. Daher war es im Grunde nur richtig, es auch zu tun. Und was sagte es schon, dieses Wort, Treue? Gar nichts sagte es. Fand Sabine.
Als Sabine den Kaffee ausgetrunken hatte, überwand sie sich, doch zu duschen. Das Wasser tat ihr gut, es spülte die Nacht fort und die Dinge, die sie getan hatte; mit der Reinigung kam das Vergessen. Sie trocknete sich sorgfältig ab, föhnte ihre rotblonden Locken und schminkte sich dezent, wie ihr Beruf es verlangte. Dann zog sie ein dunkelblaues Kostüm und eine anthrazitfarbene Bluse an und dachte an ihre Arbeit. Die Bank öffnete um neun, aber sie wollte vor den Schalterstunden noch etwas vorbereiten. Heute würde es eine Revision geben, und sie sollte ihre Unterlagen griffbereit und in Ordnung haben. Bevor sie ging, fragte sie sich, ob sie vielleicht ihren Mann anrufen sollte, wie sie es früher manchmal getan hatte, wenn er im Dienst war, verwarf den Gedanken jedoch schnell wieder. Sie hätte nicht gewusst, was sie ihm hätte sagen sollen, und er nicht, wieso sie ihn anrief.
Vom Beginn ihrer Beziehung an hatten sich ihre Gespräche auf praktische Fragen beschränkt. Ein gemeinsamer Haushalt war billiger als zwei, also zog man zusammen. Durch das Ehegattensplitting sparten sie pro Jahr rund 4.000 Euro, deswegen heirateten sie. Mit dem eingesparten Geld und einem günstigen Kredit ließ sich Sabines Traum verwirklichen, ein Haus zu kaufen. Also taten sie es. An seinen Standort zu ziehen war sinnlos, weil er ja doch jederzeit wieder versetzt werden konnte, also führte man eine Wochenendbeziehung. Und dann, als das alles geklärt und erledigt war, beschränkte sich ihre Konversation darauf, zu entscheiden, wer was einkaufte, zu fragen, ob sie schon seine Hemden gebügelt und er im Gegenzug den Müll heruntergebracht oder den Rasen gemäht habe.
Dass sie sich nur am Wochenende sahen, machte es erträglich. Eine Samstags- und Sonntagsehe … Das war auszuhalten. Das hatte ihr von Anfang an gut gefallen. Wenn es ihr zu langweilig wurde, weil er neben ihr auf dem Sofa saß, Bier trank und nichts sagte, dann holte sie ihre Bücher und lernte für die nächste Prüfung. Sie fand das sehr praktisch, denn sie wollte weiterkommen. Finanzassistentin. Das war die nächste Stufe, auf die sie hinaufwollte, dann vielleicht noch ein Bachelor an der VWA – wer weiß. Man sollte aus seinem Leben etwas machen. Fand Sabine. Dafür war die Wochenendehe irgendwie perfekt. Wenn sie einen Mann gehabt hätte, der die ganze Zeit zu Hause war und versorgt werden wollte, und dann vielleicht auch noch Kinder, dann hätte sie sich die Karriere abschminken können. Dann wäre sie in der hiesigen Sparkassenfiliale versauert. Und das wollte sie nicht. Die Sache mit Thomas passte da zwar irgendwie nicht rein, das war ihr klar, aber sie hätte im Moment trotzdem nichts dagegen tun können.
Als sie in ihren Golf stieg, war die Straße noch leer. Weit und breit kein Mensch, weit und breit keine Kinder. Thomas schlief noch.
»Eins, zwei, drei, vier Eckstein …« Der Gedanke riss ihn aus der Zwischenwelt von Traum und Erwachen und verdarb ihm die Laune. »Alles muss versteckt sein!« Wieso eigentlich? Wieso? Man konnte doch reden, die Karten auf den Tisch legen und das war es dann. Wieso diese Rücksicht auf jemanden, der ohnehin kaum da war? Immerhin hatten sie noch keine Kinder. Mit Kindern wäre das natürlich etwas anderes. Aber so? Eine Scheidung – mein Gott – war doch nicht mehr die Welt, noch nicht einmal hier. Klar würde man sich das Maul zerreißen, eine Weile, aber das ging vorbei, zwei, drei Monate, dann gäbe es wieder etwas Neues, das die Männer am Stammtisch und die Frauen beim Kränzchen besprechen konnten. Den Soldaten mochte ohnehin keiner. Ein Angeber, zu laut, zu aufbrausend und nicht in der Freiwilligen Feuerwehr. Sie hatte etwas Besseres verdient, hübsch und gescheit wie sie war. Das sagten alle. Und wieso nicht ihn? Wieso sollte sie ihn nicht verdient haben, und er sie? Aber gut. Er hatte ihr versprochen, sich rauszuhalten, und sein Wort war ein Wort, sein Versprechen war ein Versprechen, das hielt er ein. So war er, darauf konnte sie sich verlassen. Auch wenn, auch wenn … Auch wenn es wehtat, verdammt! Wehtat, wenn der andere da war, wenn er seine Schritte hörte und seine laute Exerzierplatz-Stimme.
Besser nicht daran denken, besser nicht daran denken. Besser nicht … daran denken.
Er hatte frei heute, Überstunden … Keine Pflichten, er musste nur kurz zu einem Kumpel. Der Motor seiner Maschine klopfte so komisch. Hatte vielleicht das falsche Öl erwischt. Frank kannte sich aus. Der war ein super Schrauber und ein super Kumpel noch dazu. Auch in der Feuerwehr, klar. Hatte schon früh gesehen, was da bei ihm los war … Praktisch schon am ersten Tag, als sie eingezogen waren.
»Die Sabine wohnt doch jetzt über dir, oder?«
»Ja, die haben das Haus gekauft. Warum?«
»Hübsches Ding.«
»Kann sein.«
»Ist so. Aber Finger weg, ja?«
»Und wieso?«
»Auf Haustauben schießt man nicht.«
»Die ist eh verheiratet.«
»Eben.«
Aber wenn man sie dann täglich sieht und hört und riecht? Was soll man da machen? Wegsehen, wenn sie die Treppe hochgeht und ihr leichter Rock so ein wenig schwingt? Wegsehen, wenn der Blick frei ist auf ihre Unterschenkel, glatt, rasiert und makellos? Weghören, wenn sie freundlich »Hallo« sagt oder »Salli!«, wie man hier eben so sagt, und ihn dabei anlacht mit ihren weißen Zähnen wie aus der Zahnpasta-Werbung, weil sie ihn schon auch mochte vom ersten Moment an? Und wegriechen, wenn da noch dieser Duft von ihr hing im Treppenhaus, dieser Duft nach Mai und Zitrone? Und wenn sie in den ersten Frühlingstagen allein auf der Terrasse saß, und das Radio spielte ein Lied, zu dem sie summte, allein, fast immer allein, was sollte er da machen? Er hatte ja oft genug versucht, nicht hinzusehen, nicht hinzuhören und nicht hinzugehen, wenn sie ihn kurz rief: »Hallo, Thomas, komm doch kurz rüber!« Aber er schaffte es nicht und kam dann eben doch kurz rüber und trank einen Kaffee mit, oder vielleicht auch mal ein Glas Winzersekt mit Holunder, vom Rudi, der den besten machte im Dorf. Alles andere wäre ja auch unhöflich gewesen, und unhöflich war er nun mal nicht.
Es gab da dieses Lied, das sie immer im Radio spielten: Summer Wine. An diesen Song musste er immer denken und ihn vor sich hin singen, obwohl das eigentlich gar nicht seine Musik war. Er stand sonst mehr auf Metal. Aber diese eine Textzeile von Erdbeeren und Kirschen und dem Kuss eines Engels im Frühling, die ging ihm genauso wenig aus dem Kopf wie sie …
Und dann kam dieser eine Abend. Anfang Mai war es und gerade mal ein paar Wochen her. Ein fast schon sommerlicher Tag, wie es sie hier manchmal gibt. Er hatte mit Frank eine Tour mit den Motorrädern gemacht: drüben in den Vogesen. Eine lange Tour, erschöpfend, wunderschön. Serpentinen, die hinauf zu schwarzen Fichtenwäldern und hinab in schroffe Schluchten führten, verschmolzen mit der Ducati, die auf die kleinste Bewegung und jede noch so kleine Drehung am Gaszug reagierte, sodass er meinte, er fliege. Und dann zu Hause, müde, glücklich, noch halb im Rausch, fand er sie wieder einmal allein auf der Terrasse sitzend, die Luft wie an einem Sommerabend so warm, und sie sagte: »Hallo, Thomas! Komm doch noch rüber.« Ja, und da kam er rüber und hat für einen einzigen Augenblick nicht aufgepasst und die Kontrolle verloren, vielleicht weil er während der Tour die Kontrolle bei aller Geschwindigkeit und allem Rausch eben nicht hatte verlieren dürfen, und hat ihr für einen Moment zu lange in die Augen gesehen, für einen winzigen Moment nur, einen Sekundenbruchteil nur, kaum wert, Moment genannt zu werden, aber sie wusste sofort Bescheid, wie Frauen eben manchmal sofort Bescheid wissen, während die Männer gerade einmal zu ahnen beginnen, was sich da abspielt. Und es wäre echt okay gewesen, wenn sie ihn sofort weggeschickt hätte. Das hätte er verstanden. Das wäre ihm vielleicht sogar lieber gewesen, immerhin war sie verheiratet und auch noch seine Vermieterin, aber nein, sie hat ihn nicht weggeschickt. Zum Glück, zum Unglück. Sie hat ihn nur angesehen und gesagt: »Ich weiß.« Und ihn geküsst, sofort und ohne auch nur einen Moment zu zögern und ohne eine Spur schlechten Gewissens. Und in diesem Kuss entstanden die Melodie und diese Zeile vom Sommerwein und dem Kuss eines Engels. Wobei, ein Engel, das war sie nun nicht. Aber was will ein Mann auch mit einem Engel?
Um ehrlich zu sein – aber nur, um ganz ehrlich zu sein –, war er da, als er sie zum ersten Mal küsste, noch nicht völlig in sie verliebt. Das würde er ihr natürlich niemals sagen, und wenn er jetzt wirklich schon wach wäre, auch vor sich selbst nicht zugeben. Sie gefiel ihm und spukte immerzu in seinem Kopf herum, aber es war nicht so, dass er nicht auch mit einer anderen noch etwas hätte anfangen können oder das Gefühl gehabt hätte, ohne sie nicht mehr leben zu wollen. Aber genau dieses Gefühl empfand er, kaum dass die Nacht vergangen war, die diesem Kuss folgte.