Verjährung - Sascha Berst-Frediani - E-Book

Verjährung E-Book

Sascha Berst-Frediani

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Beschreibung

Staatsanwalt Antonio Tedeschi erhält einen Anruf, der ihn weit in seine Vergangenheit zurückwirft. Die Mutter seines Jugendfreundes Vittorio Schreiber erzählt ihm mit tränenerstickter Stimme vom Tod ihres Sohnes. Er hat sich zu Tode gehungert. Entsetzt sucht Antonio nach Gründen für diesen grausamen Tod und gelangt bei seinen Recherchen an ein von Jesuiten betriebenes Internat, das Kolleg in St. Blasien - dorthin, wo ihre Freundschaft einst zerbrach.

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Sascha Berst-Frediani

Verjährung

Justiz-Thriller

Zum Buch

Auge um Auge Nach ihrem erfolgreichen Strafprozess gegen den ehemaligen Präsidenten des Oberlandesgerichts wurden die Staatsanwälte Antonio Tedeschi und Margarete Heymann befördert. Während Margarete deswegen nach Stuttgart zieht, bleibt Antonio in Freiburg zurück, wo er zunehmend vereinsamt. An einem regnerischen Tag im Februar erhält er einen Anruf, der ihn tief in die Vergangenheit zurückwirft. Sein Kindheits- und Jugendfreund Vittorio, der einzige Freund, den er hatte, ist gestorben. Auf Bitten von dessen Mutter geht er zur Beerdigung nach Sindelfingen, wo Vittorio unter großer Trauer der italienischen Gemeinde zu Grabe getragen wird. Dabei war sein Tod ebenso grausam wie verstörend – er ist verhungert. Tief erschüttert sucht Antonio nach Gründen für dieses furchtbare Ende und beginnt damit am Kolleg in St. Blasien, dort, wo ihre Freundschaft einst zerbrach. Vittorios Mutter hatte ihren Sohn als Dreizehnjährigen auf das von Jesuiten betriebene Internat geschickt. Hinter den alten Klostermauern scheint der Schlüssel zu Vittorios Tod zu liegen …

Sascha Berst-Frediani genoss seine Schulbildung in Deutschland sowie Italien. In Freiburg und Paris studierte er Germanistik und Rechtswissenschaften. Inzwischen ist der promovierte Jurist in Freiburg als Rechtsanwalt niedergelassen. Im Jahr 2013 gewann der Autor den Freiburger Krimipreis und im Mai 2015 die »Herzogenrather Handschelle«, den Krimipreis der Stadt Herzogenrath. »Verjährung« ist sein drittes Buch im Gmeiner-Verlag.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Reue (2018)

Fehlurteil (2014)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Sven Lang

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andreas Schwarzkopf

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Palais_Sickingen_3.jpg

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6076-0

Haftungsausschluss

Menin aeide …

(Vom Zorn berichte …)

 

Homer, Ilias

Vorwort des Herausgebers:

Der Bericht Antonio Tedeschis über die Anklage gegen einen ehemaligen OLG-Präsidenten, den ich in diesem Verlag unter dem Titel »Fehlurteil« herausgeben durfte, hat in der Freiburger Justiz für viel Aufsehen gesorgt und sogar im Ausland Wellen geschlagen. Seitdem sind Jahre vergangen, während denen ich von seinem Verfasser nichts mehr gehört habe. Leider, denn ich hätte die vielen Reaktionen, die das Buch hervorrief, gerne mit ihm geteilt. Aber selbst meine Versuche, nur seine Adresse auszumachen, blieben ohne Erfolg. Es war, als wollte er sich nicht finden lassen.

Ich hatte ihn schon beinahe vergessen, als mich vor wenigen Monaten ein Päckchen erreichte, das mich überraschte. Es trug keinen Absender, aber ich erkannte die in grüner Tinte ausgeführte Schrift auf dem Adressaufkleber sofort. Den Brief, den Tedeschi mir schrieb, und das Skript, das es enthielt, kann ich der Öffentlichkeit nicht vorenthalten.

S. B. F.

 

 

Lieber Kollege,

es hat mich sehr gerührt, dass Sie sich Gedanken darüber gemacht haben, wieso ich meine Laufbahn als Staatsanwalt aufgegeben habe und nach Italien zurückgekehrt bin, in das Land, das meinen Eltern so wenig Heimat war, wie ich eine sichere Existenz als deutscher Beamter mit regelmäßigem Einkommen und Pensionsanspruch hinter mir lassen konnte, um mich hier in das riesige Heer des akademischen Prekariats einzureihen, auf das Ansehen verzichten, das mit meinem Beruf als Staatsanwalt verbunden war, um mich stattessen als Übersetzter und hin und wieder als Gutachter durchzuschlagen, wenn eines der wenigen größeren Anwaltsbüros, die es hier gibt, eine Expertise zum Deutschen Recht benötigt.

Wie Sie sicher schon vermuten, stelle auch ich mir diese Fragen, und das nicht nur, wenn sich die Zeit zwischen dem einen kleinen Auftrag, den ich erledigt habe, und dem nächsten, den ich gerade zu akquirieren versuche, besonders zieht, oder wenn die Winter wieder lang sind und es mich friert … Sie haben richtig gelesen, wenn es mich friert. Es ist schon seltsam, aber mir war in Deutschland nie so kalt wie hier, in diesen Häusern mit ihren kleinen Fenstern, die so gebaut sind, dass sie die Hitze des Sommers draußen halten, aber nicht etwa die Wärme der Öfen drinnen, und die im Winter feucht sind und klamm und dunkel.

Als ich Deutschland vor nun etlichen Jahren verließ, glich dies – ich kann es nicht anders beschreiben – der Flucht aus einer unglücklichen Ehe, für die ich alles getan hatte, die mich am Ende aber doch völlig zerstört zurückließ. Dabei gab es vielleicht nicht das eine einschneidende Erlebnis, das mich davonjagte, oder den einen großen und skandalösen Fall, der mich bestimmte, das Land zu verlassen, in dem ich groß geworden bin. Eher war es die Fremdheit, die ich immer wieder empfand und mit der mir begegnet wurde, die Fremdheit und das Gefühl, unzureichend zu sein, nicht zu genügen, nie zu genügen, ein Kreislauf von Ohnmacht und Scham … Vielleicht verstehen Sie mich, wenn ich Ihnen von einer großen Ermittlung berichte, die ich als gerade beförderter Erster Staatsanwalt führte und in der sich all diese Eindrücke bündelten wie Licht, das durch ein Brennglas fällt. Dabei ist die Geschichte selbst voller Dunkelheit.

A. T.

 

 

 

1

Es war wenige Wochen nach meiner Beförderung zum Ersten Staatsanwalt und dem Abschied von Margarethe, als ich an einem kalten Februarmorgen einen Anruf erhielt, der mich tief in meine Vergangenheit zurückwarf.

»Antonio, bist du es?«, klang die von Tränen erstickte Stimme einer Frau durch den Hörer. »Antonio, er ist tot.«

Zwanzig Jahre lang hatte ich diese Stimme nicht gehört und zwanzig Jahre waren damals mehr als mein halbes Leben. Trotzdem erkannte ich sie sofort. Es war, als dränge die Stimme unmittelbar aus meiner Kindheit zu mir. Auch mir schossen die Tränen in die Augen, dabei blieb ich wie gelähmt und wusste nicht, was ich antworten sollte. Am liebsten hätte ich einfach nur den Hörer zur Seite gelegt und geschwiegen.

»Antonio, Antonio, hörst du mich? Bist du noch dran?«, fragte die Stimme aus meiner Vergangenheit.

»Ja«, antwortete ich. »Ja, ich bin noch dran. Entschuldigung, ich wusste nicht, was ich sagen sollte.«

»Kommst du zur Beerdigung?«

»Ja, natürlich, natürlich komme ich. Er war doch …« Mein Freund, wollte ich sagen, er war doch mein Freund. Aber es kam mir seltsam vor, jemanden Freund zu nennen, den ich in den letzten zwanzig Jahren vielleicht viermal gesehen hatte. »Ja, natürlich werde ich kommen«, wiederholte ich.

»Ihr wart so gute Freunde«, sagte sie an meiner Stelle.

»Ja, das waren wir. Er war mein bester Freund«, antwortete ich und dachte: Er war mein einziger Freund.

»Ja, das war er«, sagte Frau Schreiber, »er hat immer viel über dich gesprochen, auch später noch, als ihr euch aus den Augen verloren habt. Er war sehr stolz auf dich.«

»Ich …«, begann ich, aber ich wusste nicht weiter. Was sollte ich antworten? ›Ich habe auch über ihn gesprochen? Ich habe viel an ihn gedacht?‹ – »Es tut mir leid«, sagte ich stattdessen.

»Ja, ich weiß«, sagte Frau Schreiber.

»Woran ist er gestorben?« Die Frage brach aus mir heraus. »Er war doch noch so jung!« Ja, »jung«, sagte ich, obwohl es merkwürdig klang, jemanden jung zu nennen, der so alt war wie man selbst. Aber doch, er war jung – jung, zu jung für den Tod.

»Er … Er war sehr krank«, sagte Frau Schreiber, »er war sehr krank.« Dann schluchzte sie und legte auf; ich ließ den Hörer sinken.

*

Vittorio Schreiber, Vittoriuzzo für meine Eltern, s’ Viktorlefür die wohlwollenden Schwaben um uns herum, Vittò für mich, war der nicht eheliche Sohn eines sizilianischen Gastarbeiters und einer Deutschen, deren Liebe daran zerbrechen musste, dass der Sizilianer in Italien bereits verheiratet und Vater von drei Söhnen war. Arcangelo Orlando, ein Freund und Kollege meines Vaters, war ungewöhnlich groß für einen Sizilianer, selbst für einen Italiener ungewöhnlich schön und von ansteckender Fröhlichkeit. Wie mein Vater hatte er eine Schwäche für die Karten und den Wein, mehr noch aber für Berliner, Krapfen und Spritzgebäck, von denen er behauptete, sie erinnerten ihn an seine Heimat, und die er beinahe täglich in seiner Lieblingskonditorei am Marktplatz einkaufte, wo die damals junge Frau Schreiber – gute schwäbische Tochter, die sie war – am Verkaufstresen stand, um ihren Eltern zur Hand zu gehen. Frau Schreiber musste seinerzeit, so jedenfalls konnte ich es den leicht anzüglichen Bemerkungen meines Vaters entnehmen, eine ziemlich attraktive Frau gewesen sein, die mit ihren blonden Haaren, langen Beinen und einer ansehnlichen Oberweite nicht minder zu Erfolg und Umsatz der Konditorei beitrug als die legendären Kuchen ihres Vaters. Es konnte also nicht ausbleiben, dass Arcangelo und sie sich täglich sahen; es konnte nicht ausbleiben, dass sie auf ihn aufmerksam wurde und dass sie sich in ihn und seine strahlenden Augen verliebte, konnte dann eben auch nicht ausbleiben, auch wenn ihr Vater sie windelweich schlug, als er hörte, sie habe sich mit ihm eingelassen – niemand weiß, was für ihn schwerer zu ertragen war, der Umstand, dass Arcangelo verheiratet oder dass er Ausländer war –; ja, und auch der Skandal konnte nicht ausbleiben, als diese Liebe Früchte trug und Frau Schreiber einem bildhübschen Jungen das Leben schenkte, der dunkel und schön wie sein Vater war und den sie Vittorio taufte, in Anlehnung an Vittorio Gassman, den einzigen Deutschitaliener, den sie kannte, Vittorio, Vittorio Schreiber.

Wann ich ihn kennengelernt habe? Ich weiß es nicht mehr, nach meinem Gefühl kannte ich ihn schon immer, obwohl unsere erste Begegnung erst nach meiner Ankunft in Deutschland gewesen sein kann. Arcangelo wohnte nur zwei Häuser weiter, ich nannte ihn Zio, Onkel, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, seitdem ich überhaupt denken und mich erinnern kann. Sizilien war weit, die Liebe groß. Es ließ sich auch mit Kompromissen leben. Wenn Frau Schreiber, Arcangelo und Vittorio spazieren gingen, dann kamen sie bei uns vorbei, und Vittò und ich spielten miteinander. Wenn seine Mutter jemanden brauchte, der auf ihn aufpasste, dann brachte sie ihn zu meiner Mutter, und auch dann spielten wir miteinander. Und wenn unsere Väter beschlossen, mit ihren Jungs durch Sindelfingen zu flanieren, um der schwäbischen Welt zu zeigen, wie gut das Schicksal es mit ihnen meinte, weil es ihnen hier in der Fremde doch zwei Söhne geschenkt hatte, dann liefen wir, rannten wir, stolperten wir Seite an Seite über das Kopfsteinpflaster. Wir spielten zusammen, wir aßen und schliefen zusammen. Als wir größer wurden, gingen wir morgens zusammen zur Schule und nachmittags zusammen auf den Fußballplatz. Wir schworen uns ewige Freundschaft und wie bei Winnetou und Old Shatterhand gab es nichts, was uns je hätte trennen können. Nichts. Oder nichts bis … bis Arcangelos Schwiegervater starb und seine Ehefrau, die genug hatte von den Gerüchten, die da von Deutschland immer wieder bis nach Sizilien waberten, ihn aufforderte, die kleine Bar in Noto zu übernehmen, die ihr Vater geführt hatte, wie es seit unvordenklicher Zeit besprochen und vereinbart war, weil sie andernfalls mit ihren drei Söhnen nach Sindelfingen kommen würde, um dort einen Skandal sizilianischen Ausmaßes zu veranstalten, von dem sich weder die schwäbische Kleinstadt noch diese blonde Puttana je wieder erholen würden. Arcangelo wollte, Arcangelo konnte sich nicht entziehen. Er liebte Vittorio und er liebte Frau Schreiber, er liebte sie wirklich, wie mein Vater mir zu erklären versuchte, aber er konnte sich der Familie und der Tradition nicht verweigern. Er ging und sah nicht zurück. Frau Schreiber verlor den Mann und schlimmer: Vittorio verlor den Vater.

Dreizehn Jahre alt waren wir damals und beide standen wir am Anfang dieser schweren Zeit, die uns von Jungs zu Männern machen sollte. Unsere Körper spielten verrückt, wir wussten gar nicht, wohin mit uns. Wir rauchten die ersten Zigaretten, tranken das erste Bier, schwänzten zum ersten Mal die Schule, stellten den Mädchen nach (auch das zum ersten Mal) und bezogen die ersten richtigen Prügel, weil sich ein älterer Bruder (der Metzgersohn, den ich wohl schon einmal erwähnt habe) und seine Kumpels genötigt sahen, die Ehre der Familie zu verteidigen, die wir vermeintlich beleidigt hatten, als wir seiner Schwester nachliefen. Als ich darauf mit einem blauen Auge und einer geschwollenen Nase nach Hause kam, fing ich mir ein paar Ohrfeigen von meinem Vater ein – aber nicht etwa, weil ich mich geprügelt, sondern weil ich offensichtlich verloren hatte – und wurde am nächsten Tag beim Boxverein angemeldet. Das war an Erziehungsmaßnahmen dann aber auch schon alles. Vittò dagegen stand mit gesenktem Kopf vor einer verzweifelten Mutter, die nicht wusste, was sie noch machen sollte, um den Jungen zu bändigen; einer Mutter, die die Konditorei zwischenzeitlich allein führen musste, weil ihre Eltern zu alt waren, die ihrem Sohn Mutter und Vater zugleich sein sollte und deren Herz gebrochen war. Ein böses Ende würde es noch mit dem Bankert nehmen, das hatte ihr Vater schon immer geraunt – sündhaft die Mutter, Ehebrecher der Vater – und Frau Schreiber fürchtete, sie erlebte den Moment, an dem dieses böse Ende seinen Anfang nahm, ganz genau jetzt, weshalb man auch genau jetzt etwas tun musste, um das böse Ende zu vermeiden. Später wäre zu spät.

*

Und jetzt sollte er tot sein. Der Satz kam mir unwirklich vor. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Vittò tot war, und es ihn auf dieser Welt ganz und gar endgültig nicht mehr geben sollte. Die Erkenntnis verschloss sich vor mir. Ich empfand deswegen im Moment auch gar keine Trauer. Dass ich zuvor geweint hatte, war eine Reaktion auf die Tränen seiner Mutter, nicht der Schmerz über meinen eigenen Verlust. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, empfand ich nichts mehr. In mir war es leer, und die Leere fühlte sich fremd an.

Ich trat zum Fenster und sah hinaus, ebenso gut hätte ich die Polizeiberichte weiterlesen können, wie ich dies zuvor getan hatte. Tief hing ein stählerner Himmel über den Dächern Freiburgs, die Wälder um die Stadt verbargen sich hinter den Wolken. Alles schien grau. Es würde noch regnen … Die Geschichten, die mich bewegen, beginnen offenbar immer an einem Regentag. Es war ebenso kalt draußen, wie es kalt war in mir.

2

Ja, wir wurden befördert. Einige Monate nachdem Margarethe und ich die Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten des OLG Karlsruhe geführt hatten, wurden wir befördert, beide zu Ersten Staatsanwälten, beide vor der Zeit und beide natürlich zu Neid und Missgunst der Kollegen. In Freiburg war allerdings nur eine Planstelle frei, die andere gab es in unserer Landeshauptstadt, wobei mich die bloße Idee, ins Schwäbische zurückzukehren, um wieder in der Gegend zu leben, wo ich einen großen Teil meiner Kindheit und meine ganze Jugend verbracht hatte, mit Schrecken erfüllte. Für mich lag dort unter jedem Stein eine dunkle Erinnerung. Als wir von unserer Beförderung erfuhren – gleichzeitig, weil unser Chef uns in sein dunkles Büro zitiert hatte, um uns die Nachricht zu übermitteln und nachzufragen, wer von uns denn bereit wäre, nach Stuttgart zu wechseln –, sahen wir uns lange an, bis es schließlich Margarethe war, die nickte, lächelte und halb zu meiner Erleichterung, halb zu meiner Beklemmung eine Versetzung nach Württemberg akzeptierte. Sie muss gefühlt haben, wie sehr mich die Vorstellung einer Rückkehr in meine alte Heimat bedrückte.

»Ich gratuliere Ihnen, ich gratuliere Ihnen beiden von ganzem Herzen«, sagte Meißner in einem für ihn ungewohnten Überschwang und schüttelte uns dabei abwechselnd die Hand, während sich in meinem Herzen mein Stolz über die Beförderung und der Kummer darüber, Margarethe zu verlieren, einen Kampf lieferten, von dem ich nicht wusste, welches Gefühl die Oberhand gewinnen würde. Ich starrte auf die hübsche Kopie des Davids von Donatello, den einzigen Schmuck, den Meißner seinem Büro gönnte, und sann darüber nach, dass diese Beförderung und die Trennung von Margarethe nun Lohn und Rache dafür waren, dass ich, als sie während der Ermittlungen gegen Joseph-Georg Müller ihre schwerste Zeit erlebte, heimlich eingegriffen hatte, um dafür zu sorgen, dass ihr der Fall anvertraut blieb und Meißner sie weiterhin unterstützte. Der Anruf damals aus dem Ministerium … kam nicht aus dem Ministerium, er kam von mir. Hatte man mir nicht oft genug gesagt, dass ich mich genauso anhörte wie unser Justizminister, sobald ich schwäbelte?

Ich half ihr beim Umzug, half ihr bei der Renovierung der Freiburger Wohnung und bei der Renovierung der Wohnung in Stuttgart, die sie in einem ziemlich verdreckten Zustand übernommen hatte. Ich tat alles, was ich konnte, um den Abschied so lange hinauszuzögern, wie es nur ging. Aber irgendwann waren alle Wände gestrichen, war das letzte Regal aufgebaut, das letzte Buch eingeräumt und die letzte Umzugskiste geleert. Sie verabschiedete sich von mir, wie ich sie kennengelernt hatte, als sie ihr Büro einräumte, in Jeans, weißem T-Shirt und einem Tuch im blonden Haar, von dem aus eine Locke in ihre Stirn hing. Wir umarmten uns und küssten uns auf die Wangen, und ich wusste, dass ich sie liebte wie einen fernen Stern.

»Stuttgart ist nicht aus der Welt«, sagte Margarethe zum Abschied. »Wir können uns immer und jederzeit besuchen.« Aber für mich war Stuttgart eben doch aus der Welt. Ich wusste es, habe aber nichts gesagt.

Und so verlor ich Margarethe – für immer, wie ich befürchtete.

Was ich dafür gewann? Eine Beförderung, ein wenig mehr Geld, viel mehr Verantwortung, viel mehr Arbeit. Freude gewann ich keine und Freunde erst recht nicht. War meine Stellung bei der Staatsanwaltschaft schon immer schwierig gewesen, wurde sie jetzt fast unmöglich. Früher hatte keiner der Kollegen mich zum gemeinsamen Essen oder zumindest zum Kaffee eingeladen, wie dies unter den anderen üblich war, und dass sich dies ändern würde, hatte ich nicht erwartet. Jetzt aber verstummten die Gespräche, wenn ich mich in der Markthalle, wo ich immer noch gerne zu Mittag aß, zu den Kollegen an den Tisch stellte. Sie lächelten dann zwar und beantworteten auch die ein oder andere Frage, die ich stellte, denn ich war ja nun für einige ein Vorgesetzter, aber der Kontakt blieb oberflächlich und kühl. Sie mochten mich nicht und jetzt, nach der Beförderung, mochten sie mich noch weniger als früher.

»Vielleicht sollte Sie emol ä Feschtle mache«, sagte Wachtmeister Imbery, dem aufgefallen war, dass mich die Kollegen mieden, und der sich eines Tages ein Herz fasste und mich darauf ansprach, als er mir eine Kiste Wein von seinem Hof am Kaiserstuhl brachte.

»Ein Feschtle?«, wiederholte ich.

»Bissle Wiie un ebbes zum Esse’«, sagte er und sah mich aufmunternd an. Er meinte es gut mit mir. Aber nein, ein Feschtle geben, das wollte ich nicht.

*

Ich verlor Margarethe – ich hatte Vittò verloren. Schon am Tag nach der Prügelei mit dem Metzgerjungen und seinen Freunden kam er nicht mehr zur Schule. Wir konnten uns noch nicht einmal voneinander verabschieden. Frau Schreiber musste noch einige Telefonate geführt haben, dann packte sie einen Koffer und fuhr gleich darauf mit Vittorio im Konditorei-Lieferwagen davon. Über Karlsruhe ging es in den Süden, über Freiburg in den Schwarzwald und dort nach St. Blasien, in ein von Jesuiten geführtes Kolleg. Vittorio war zwar unehelich, aber doch gut katholisch. Über seine Herkunft rümpften sie vielleicht die Nase, aber das Geld, das die Konditorei abwarf, nahmen sie gern. Und gewiss versprachen sie Frau Schreiber, das zu tun, was sie als Frau nun einmal nicht vermochte, und dafür zu sorgen, dass aus ihm etwas wurde. Er war ein guter Junge. Ihm fehlten nur der Vater und eine harte Hand.

Gleich nach der Schule hatte ich ihn gesucht, um ihn zu überreden, mit mir in den Boxverein zu gehen, bei dem mein Vater mich anmelden wollte, aber ich fand ihn nirgendwo. Zweimal klingelte ich bei Vittò zu Hause, zweimal ging ich in die Konditorei und fragte nach ihm und seiner Mutter, zweimal drehte ich unsere Runde zwischen Bahnhof, Friedhof und Park. Nichts. Woher hätte ich auch wissen sollen, dass er zu dieser Zeit längst stumm und mit roten Augen im Lieferwagen neben seiner Mutter saß, die entschlossen war, alles zu tun, damit der Junge nicht auf die schiefe Bahn geriet, alles, selbst auf die Gefahr hin, ihn ebenso zu verlieren wie ihren Geliebten?

Ich erfuhr am Abend davon. Frau Schreiber rief an und erzählte es meiner Mutter, damit sie es mir so schonend wie möglich beibringen konnte, aber es half nichts. Es brach mir das Herz. Ich vermisste ihn, ich hasste sie. Ich beschwor meinen Vater, mit ihr zu sprechen, damit sie ihn zurückholte. Ich versuchte, Arcangelo in Sizilien zu erreichen. Ich schrieb Frau Schreiber einen Brief, in dem ich ihr drohte, Ratten in der Konditorei auszusetzen, wenn Vittò nicht zurückkam, und dann noch einen, indem ich sie beschimpfte. Ich war verzweifelt. Es half nichts. Vittorio blieb in der Ferne, und ich allein.

»Mannaggia, la miseria!«, sagte mein Vater eines Morgens am Frühstücktisch, als er mein trübsinniges Gesicht nicht mehr ertrug, und da hatte er es schon ziemlich lang ertragen. »Es ist bald Pfingsten. In den Ferien kommt er nach Hause und es wird alles wieder so sein wie früher. Keine Sorge.« Er sagte es natürlich auf Italienisch, er sprach nie Deutsch mit mir. »E adesso smettila di fare quella faccia!«

Und so wartete ich auf die Pfingstferien, wie ich noch nie auf Ferien gewartet hatte. Ich strich die Tage im Kalender durch. Noch zwanzig, noch neunzehn, noch achtzehn … und plötzlich waren die Ferien da und Vittorio kam zurück, aber nichts, nichts war mehr so wie früher.

Ich erwachte in aller Herrgottsfrühe. Es war beinahe noch dunkel, als ich mir in der Küche selbst ein kleines Frühstück bereitete, das ich dann vor lauter Aufregung nicht herunterbekam. Ich ging in mein Zimmer zurück, setzte mich auf mein Bett und wartete. Ich stand auf, ging ans Fenster und wartete. Ich sah auf die Straße vor unserem Haus und wartete. Wann würde er auftauchen? War er schon wach, wie ich? Leider konnte ich nicht so einfach zu ihm rübergehen; seit meinen Drohbriefen war Frau Schreiber nicht mehr gut auf mich zu sprechen. Wie behandelten sie ihn wohl in diesem blöden Kolleg, fragte ich mich. Und wartete. Und wartete und wartete, während der Morgen graute, die Sonne aufging und einen heiteren Tag versprach, wartete, während das verschlafene Sindelfingen erwachte und sich nach und nach die Wege und Gärten mit Menschen, die Straßen mit Autos und die ganze Gegend mit Leben füllte. Ich sah einfach nur auf die Straße vor unserem Haus und wartete auf Vittò, und irgendwann tauchte ein Junge auf, ein Junge mit kurz geschnittenen Haaren, einer Stoffhose und einem Blazer, tauchte auf und lief die Straße entlang und an unserem Haus vorbei. Stoffhose, kurze Haare, Blazer … Ich hätte ihn beinahe nicht erkannt. Wir trugen damals Jeans mit Schlag, bunte Hemden und Lederjacken – oder Jeansjacken oder meinetwegen Parkas. Wir trugen halblange Haare und Föhnwellen. Was wir nie und unter keinen Umständen trugen, waren kurze Haare, Stoffhosen und Blazer.

Ich riss das Fenster auf. »Vittò, Vittò!«, rief ich. »Ich bin hier, ich bin hier oben! Warum kommst du nicht?«

Vittò ging ein paar Schritte weiter, als habe er nichts gehört, dann drehte er sich zu mir und winkte mir zu, ohne anzuhalten. Er hatte ein kleines Büchlein in der Hand, fiel mir auf.

»Vittò!«, rief ich noch einmal laut, so laut, wie nur ein kleiner Italienerjunge rufen kann. »Vittò, wohin gehst du denn?«

»Zur Kirche«, rief er zurück und ging weiter, ohne anzuhalten. Zur Kirche. Es war zehn Uhr – ich war seit fünf Stunden wach.

3

Eine Woche später war die Beerdigung. Ich hatte meine Eltern angerufen, um mir den genauen Tag nennen zu lassen. Sie waren jetzt beide in Rente, wohnten aber immer noch in ihrer kleinen Wohnung in Sindelfingen. Sie hatten einen kleinen Schrebergarten in einer Laubenkolonie, die zur einen Hälfte aus Italienern und zur anderen Hälfte aus Spaniern, Portugiesen und Kroaten bestand, und unter denen sie sich wohlfühlten. Ihren Traum, nach Italien zurückzukehren, hatten sie ausgeträumt. »Was sollen wir denn da? Da wartet keiner mehr auf uns.« Wie aus einem Mund kam die Antwort, wenn jemand sie fragte, ob sie sich nicht zurücksehnten. Früher waren sie zumindest noch im Sommer in die alte Heimat gefahren. Irgendwann aber hatten sie Neckermann und Pauschalurlaube in Griechenland entdeckt. Griechenland war ruhiger als Italien und viel billiger und gefiel ihnen fast besser. Natürlich aß man in Griechenland nicht so gut wie in Italien, aber wo in der Welt tat man das schon?

Meine Mutter weinte, als ich ankündigte, nach Sindelfingen zu kommen, um zu Vittòs Beerdigung zu gehen. »Ma poi, resti qualche giorno, dai! – Ja, komm schon, bleib ein paar Tage«, beschwor mich mein Vater, dem sie schnell den Telefonhörer weitergegeben hatte, weil sie nicht wollte, dass ich ihr Schluchzen hörte. »Tua povera mamma!«

Meine arme Mutter … Was? Vermisst mich, ist alleine, trauert um Vittoriuzzo? Und was war mit ihm, meinem Vater?

Sie hatte mein altes Zimmer für mich hergerichtet. Ihre Nähmaschine stand jetzt neben dem Fenster und ihr Bügeltisch hinter der Tür, ansonsten war es unverändert, wie ich es als Neunzehnjähriger verlassen hatte: mein alter Sperrholzschrank mit Panini-Bildern, mein Schreibtisch mit den Flugzeugmodellen, die ich eine Zeit lang gebaut hatte, mein Bett mit der alten durchgelegenen Matratze. Meine Mutter schluchzte, als sie mich so in diesem Zimmer stehen und meinen Koffer abstellen sah – mit dunklem Anzug und dunkler Krawatte zwischen den Zeugnissen meiner Kindheit. Da kehrt ein kleiner Junge nach Hause zurück, nur dass er jetzt einen Anzug trägt, Karriere gemacht hat in der fremden Welt und denkt, er sei ein Mann. Ich fühlte, dass sie mir etwas sagen wollte, aber die Worte nicht fand. Sie setzte zu sprechen an, schloss den Mund aber gleich wieder. Ich versuchte, sie durch meine Trauer über Vittòs Tod hindurch anzulächeln, um ihr zu zeigen, dass ich zwar wegen der Beerdigung da war, mich aber trotzdem freute, sie zu sehen, aber der Ausdruck gelang mir nicht gut.

»Jetzt schau dich an, wie dünn du geworden bist!«, meinte sie plötzlich. »Du musst unbedingt noch etwas essen, bevor wir zu dieser traurigen Sache gehen. Ich hab gefüllte Auberginen gemacht.«

Das war es nicht, was sie mir ursprünglich hatte sagen wollen. Es war zwar eine fixe Idee meiner Mutter, dass ich zu dünn werden könnte und immer wenn ich zu Hause war, unbedingt noch etwas essen musste – sie hatte nicht die gleiche Vorstellung von einem schönen und gesunden Männerkörper wie eine deutsche Frau –, aber hinter dem ziemlich resoluten Ton, den sie als italienische Mamma anschlug, verbarg sich etwas anderes.

»Ich verhungere schon nicht«, sagte ich lachend. »Hier in Deutschland verhungert niemand so leicht.«

Sie sah mich entsetzt an und bekreuzigte sich, um Unheil abzuwehren. »Du weißt nicht, wovon du sprichst«, antwortete sie.

»Lass gut sein, Mamma. Heute Abend esse ich deine Auberginen«, versprach ich, um sie zu beschwichtigen. Ich hätte sie gerne in den Arm genommen, aber ich fand den Weg nicht zu ihr. Stattdessen drehte ich mich zum Fenster und sah hinaus auf die Straße, so wie ich es vor – wie lange mag es her sein – mehr als fünfundzwanzig Jahren gemacht hatte, als Vittò mit kurz geschorenen dunklen Haaren, Stoffhose und Blazer die Straße hinunterging, ohne auf mich zu warten und ohne auch nur anzuhalten.

*

Ich rannte ihm hinterher, ohne nachzudenken. Ich ließ die Wohnungstür auf und stürmte das Treppenhaus hinunter. Ich erwischte ihn erst kurz vor der Kirche.

»Vittò, Vittò!«, rief ich. »Was ist denn mit dir? Was willst du denn in der Kirche? Es ist heute doch noch nicht einmal Messe!«

»Ein Christ geht nicht nur zur Messe in die Kirche«, antwortete er, ohne seinen Gang zu verlangsamen.

»Ja, aber anschließend … anschließend treffen wir uns, ja?«, stammelte ich außer Atem.

»Nein, Andò, tut mir leid. Ich habe keine Zeit«, antwortete er gefasst, beinahe kühl. Und noch immer hielt er nicht an.

»Aber, Vittò! Es sind Ferien. Ich habe auf dich gewartet. Wir sind doch Freunde …«, beschwor ich ihn. »Ich hab … Wir sind …«, wiederholte ich völlig fassungslos.

Endlich hielt Vittò an, aber er schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er sehr ernst, sehr gefasst. »Wir sind keine Freunde. Was wir getan haben, war Sünde. Wir dürfen uns nicht mehr sehen.« Und mit diesen Worten drehte er sich um und ging entschlossen und mit steifem Rücken weiter.

»Vittò!«, rief ich ein letztes, ein allerletztes Mal und in diesem Ruf lag der Schmerz eines gebrochenen Kinderherzens. Es schüttelte mich, mein Magen verkrampfte sich und ich brach in Tränen aus – in aller Öffentlichkeit, eine größere Schande hätte ich mir damals gar nicht vorstellen können. Vittorio drehte sich nicht um. Nach einer Weile kam ein fremdes Mädchen und fragte, was mit mir sei. Ich schämte mich vor ihr, verschloss mein Herz und ging nach Hause zurück. Sie sah mir nach und winkte, als ich mich noch einmal nach ihr umdrehte.

*

Wir gingen zu Fuß zur Kirche, meine Mutter, mein Vater und ich. Es war kalt und feucht. Wir schlugen die Arme um uns und verbargen uns in den Mänteln. Das Geläut der Glocken tönte schon von Weitem in seinem dunkelsten Klang, es stimmte die Seelen der Trauernden ein. Wir gingen den gleichen Weg, den ich damals hinter Vittò her gestürmt, den gleichen Weg, den ich mit verheulten Augen und verschlossenem Herzen zurückgegangen war.

Die Trauergemeinde versammelte sich vor Peter und Paul, nur stockend trat man ein. Mäntel, Anoraks, Schals, Hüte und Mützen. Die Menschen verbargen die Gesichter und sahen zu Boden. Viele trugen ein Blumengesteck bei sich. Zur Begrüßung nickten sie sich stumm zu. Wenige reichten sich die Hände. Anfangs glaubte ich, hier niemanden mehr zu kennen, aber je näher ich kam, desto mehr Gesichter stachen aus der Menge, an die ich mich erinnern konnte. Erst waren es die Alten, die ich erkannte; sie hatten sich am wenigsten verändert: da der Bäcker, da ein Lehrer aus dem Gymnasium, da ein Nachbar. Mit der Zeit erkannte ich auch die Jüngeren, da eine alte Schulfreundin mit roten Augen, dort ein Kollege vom italienischen Fußballverein, der dick geworden war, ein anderer, der nun eine Brille trug … Die Zeit war an niemandem spurlos vorübergegangen. Aber das tat sie nun einmal nicht.

Die Kirche war schmucklos und still. Obwohl wir allesamt katholisch waren, waren wir Italiener früher nur selten hier gewesen. Jetzt hatte sich die gesamte italienische Gemeinde versammelt. Vor dem Altar war ein Sarg aufgebahrt. Schwarz und mit goldenen Beschlägen schien es, als läge er in einem Meer von weißen Rosen, wie ein Boot im Wasser liegt. Ich trat nach vorne, um mich von Vittò zu verabschieden; wir hatten niemals Abschied genommen. Nicht, als seine Mutter ihn nach St. Blasien brachte; nicht, als er mich damals vor der Kirche von sich stieß; nicht später, als ich nach Freiburg ging, um Jura zu studieren. Neben dem Sarg stand eine Fotografie mit den Zügen eines sehr mageren dunklen Mannes, den ich kaum als meinen alten Jugendfreud wiedererkannt hätte. Die Augen, die mich aus dem Bild ansahen, lagen tief im Gesicht und waren anders als diejenigen, unter derem kalten Blick ich so verzweifelt war. Sie waren nicht mehr hart, nicht mehr gefühllos, sie schienen leer, leer und verloren.

Rechts von mir kauerte eine ältere Frau mit krummem Rücken in der ersten Bankreihe und verbarg ihr Gesicht in den Händen, Vittòs Mutter, wie ich annahm, verblüht und gealtert.

Ich ging mit gesenktem Blick zu meinen Eltern zurück, die in einer der mittleren Bankreihen Platz gefunden hatten. Meine Mutter hatte verweinte Augen. Sie nickte mir zu und nahm meine Hand. Sie wusste, wie es um mein Herz bestellt war.

Nach und nach klangen die Glocken aus, es blieb nur der dunkle Schlag der Totenglocke, der sich in langen, wehmütigen Abständen wiederholte, weil zuletzt nur der Tod bleibt. Dann trat ein Priester an die Kanzel, betete mit der Gemeinde und sprach über den Toten, von dessen schwerer Krankheit, die er tapfer ertragen hatte, die aber letztlich stärker war als sein Lebenswille, sprach von dessen Liebe zu Gott, die ihn von früh an beseelt und die er gerade kurz vor seinem Tod in seinem Herzen wiederentdeckt hatte, sprach der Mutter und der Familie Trost zu, sprach von den Wegen des Herrn, die zu ergründen nicht des Menschen sei. Sprach vom Reich Gottes, wo wir uns dereinst alle wiederbegegneten in der Gnade des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Betete erneut und trat zurück, um die Friedhofsdiener den Sarg hinausschieben zu lassen, auf einem kleinen Wagen, der das Blumenmeer teilte. Der Priester folgte dem Sarg als Erster, dann reihten sich nach und nach Vittòs Mutter und die Verwandten ein, die ganz vorn gesessen waren, es folgten die weiteren Bankreihen und so fort. Ein paar Meter hinter Vittòs Mutter ging ein älterer Italiener mit rot verheulten Augen, gebeugt, aber immer noch größer als die anderen, die Haare grau und doch immer noch voll. Ihm folgten drei gleichfalls groß gewachsene, jüngere Männer mit dunklen Gesichtern, deren Züge ihm ähnelten, nach meinem Eindruck aber grober waren als seine. Er sah mich an, als er an mir vorbeiging. Ich wusste nicht, ob er mich erkannte.

Schweigend folgten wir dem Sarg bis zum Friedhof. Die Totenglocke hatte wieder zu schlagen begonnen. Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf. Ein Schwarm Krähen zog am Himmel seinen Weg.

Als wir am Grab ankamen, hoben die Gärtner den Sarg an Riemen an und ließen ihn so mühelos ins Erdreich hinab, als hätte er gar kein Gewicht. Der Priester sprach das Vaterunser; er sprach es auf Italienisch, für uns, für die italienische Gemeinde Sindelfingens, und niemand, der nicht einfiel in seine Worte. »Padre Nostro che sei nei Cieli, sia santificato il tuo nome, venga il tuo regno, sia fatta la tua volontà …« Dein Wille geschehe, dein WILLE geschehe, dein Wille GESCHEHE –

Danach wandte sich der Priester zum offenen Grab, betete still, benetzte den Sarg mit Weihwasser und ließ ein wenig Erde in die Grube fallen.

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