Reussschlinge - Martin Rüfenacht - E-Book

Reussschlinge E-Book

Martin Rüfenacht

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Beschreibung

Am Ufer der Reuss wird eine menschliche Hand angeschwemmt. Kantonspolizist Stephan Bernauer und sein Team nehmen die Ermittlungen auf und stoßen auf eine grausam zugerichtete Frauenleiche. Warum verschwand das Opfer von einem Tag auf den anderen? Und weshalb verstricken sich die Personen im Umfeld des Opfers in Ungereimtheiten? Als man auch noch den Leichnam einer ermordeten Stadtführerin findet, deckt Bernauer Verbindungen zu einem der dunkelsten Kapitel der Freiämter Geschichte auf …

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Martin Rüfenacht

Reussschlinge

KRIMINALROMAN

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © suju / pixabay

ISBN 978-3-8392-6626-7

Widmung

Für meine Familie.Danke!

Prolog

Manchmal hasste sie sich für die Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen hatte. Sich auf ihren Mann einzulassen, war eine davon – sich von ihm ein Kind andrehen zu lassen, eine weitere –, aber sich auch noch einen Hund anzuschaffen, war definitiv zu viel des Guten.

Während ihre Studienkolleginnen gerade Karriere machten und sich in wohlig warmen, modern eingerichteten Büros in der City überlegten, welches Mittagsmenü sie bestellen sollten, damit ihre neu erworbenen Businesskostüme keine bleibenden Flecken abbekommen würden, stapfte sie durch den immer stärker werdenden Regen – an der einen Hand das Kind, an der anderen den Hund.

Es hatte die letzten Tage beinahe ununterbrochen geregnet. Der Weg auf dem Damm entlang des Flusses glich einer Kraterlandschaft aus Pfützen und Schlaglöchern. Jeden ihrer Schritte ging sie mit Bedacht, um nicht zu straucheln. Ihr Sohn hingegen freute sich über jede Gelegenheit, seine senfgelben Gummistiefel mit Anlauf in eine der Lachen zu versenken. Mit seinem leuchtend gelben Friesennerz war er selbst bei diesem dichten Schauer gut zu erkennen.

Der Dauerregen ließ die Reuss gefährlich anschwellen und der sonst so beschaulich dahinfließende Fluss war zu einem reißenden braunen Strom geworden. Geäst und ganze Baumstämme trieben an ihnen vorbei in Richtung des weiter flussabwärts gelegenen Stauwehrs. Gemäß den Meteorologen war für die nächsten Tage keine Besserung in Sicht.

Scheißwetter, dachte sie, während sie den Kragen ihres Regenmantels hochschlug. Aber da war nichts zu machen. Schicksal von Hundebesitzern war es nun einmal, ihre Lieblinge Gassi zu führen – bei jeder Witterung. Ihr English Shepherd war eine Rasse, die besonders viel Auslauf brauchte. Dafür hätte sie sich schon öfters ohrfeigen können. »Gut, dann kann ich meine Joggingrunde gleich mit dem Gassigehen verbinden«, hatte sie damals gesagt, als ihr Mann mit der Idee ankam, sich einen Hund zuzulegen. Ha! Heute war sie froh, wenn sie neben Kind, Hund, Mann und Arbeit – in dieser Reihenfolge – einmal fünf Minuten Zeit für sich hatte. Sie hatte wenig Lust auf Sport. Eigentlich war sie permanent hundemüde.

Sie schmunzelte innerlich über dieses Wortspiel. Aber wie war sie nur auf die Idee gekommen, bei diesen Bedingungen auch noch einen Regenschirm mitzunehmen anstatt einfach eine Regenjacke mit Kapuze? Mühsam hielt sie den Griff des Schirms in der rechten, die Hundeleine in der linken Hand. Der Kleine war etwas vorausgegangen und ins Spiel mit den Pfützen vertieft. Anfangs hielt er sich noch an ihre Anweisung, sich gut am Griff des Schirms festzuhalten. Bald aber hatte er sich losgerissen. Sie wusste, dass es hoffnungslos war, einem Vierjährigen Vorschriften zu machen, wenn es darum ging, nicht in Pfützen zu springen. Eigentlich wäre ich auch gerne mal wieder Kind, dachte sie bei sich. Tobias war schon immer ein wilder Junge gewesen mit ausgeprägtem Freiheitssinn. Ihn vom Pfützenspringen abzuhalten, hätte in einem Tobsuchtsanfall geendet, was sie bei diesem Wetter nun wirklich nicht gebrauchen konnte.

Plötzlich blieb der Hund stehen und beschnüffelte den Pfosten einer Tafel des Naturschutzbundes. Tobias war schon ein Stück weiter vorn, daher versuchte sie, das Tier zum Weitergehen zu bewegen, und zog energisch an der Leine. Der stärkere Zug veranlasste den Hund, noch fester dagegenzuhalten. Sie versuchte nun, mit beiden Händen an der Leine zu ziehen – ohne nennenswerten Erfolg. Offenbar verströmte dieser Pfosten ein ganz und gar unwiderstehliches Aroma. Erstaunlich, wie Duftmarken der Hunde selbst solche Regenmengen überdauern und nicht abgewaschen werden, dachte sie. Der Hund tänzelte um die Stelle herum, scharrte zwei-, dreimal mit den Hinterläufen, stellte sich in Position und hob sein linkes Hinterbein, um sich zu erleichtern. »Wenn das der Naturschutzbund wüsste«, sagte sie zu ihrem Vierbeiner mit einem Seufzer und zog erneut an der Leine. Diesmal gehorchte er und trottete zu seinem Frauchen. Zufrieden drehte sie sich wieder in Richtung des Weges um.

Augenblicklich erstarrte sie. Ihr Herz schien für ein paar Schläge auszusetzen und sie spürte, wie ihr das Adrenalin ins Blut schoss. Ihr Sohn war nicht mehr da! Vor ihr lag nur der menschenleere Weg, auf dem der Regen unverdrossen in die unzähligen Pfützen plätscherte. Panik überkam sie. Gehetzt blickte sie sich um. Keine Spur von Tobias! Sie ließ den Schirm fallen und rannte los. Laut rief sie seinen Namen. Aber ihr Rufen ging im Lärm unter. Regen trommelte auf ihren Kopf und der tosende Fluss trug ein Übriges dazu bei, dass praktisch alle Geräusche verschluckt wurden. Keine Antwort. Einzig ihr Atem und ihr pochender, rasender Herzschlag waren zu hören.

Mit dem Mut der Verzweiflung, wie ihn nur Mütter kennen, deren Kinder in Gefahr geraten, sprintete sie die steile Uferböschung hinab, dem Fluss entgegen. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Sohn bereits in den Fluten treiben und sich hinterherhechten. Sie würde alles geben, um ihr Kind zu retten!

Doch sie sah nichts in der braunen Wassermasse treiben; keinen Arm, der um Hilfe winkte, keinen nach Luft ringenden Knabenkopf, nichts. Die Panik übermannte sie immer heftiger. Wo war Tobias?

Da begann der Hund, sie in eine Richtung zu ziehen. Er knurrte, erst nur unmerklich, dann lauter und aggressiver. Schließlich bellte er und zog wie verrückt an der Leine. Als sie den Kopf hob, sah auch sie es.

Hinter einem kleinen Mauervorsprung, der dem Zufluss eines Nebenkanals in die Reuss diente, lugte die gelbe Kapuze von Tobias’ Anorak hervor, darunter das Gesicht des Jungen. Er schien etwas zu rufen, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Mit einer Geschwindigkeit, an die sie sich später nicht würde erinnern können, war sie bei ihm. Sie drückte ihn sofort an sich und spürte, wie ihr vor Erleichterung Tränen in die Augen schossen.

»Was machst du für Sachen!«, platzte es aus ihr heraus.

»Mami, schau, was ich gefunden habe«, erwiderte ihr Sohn, die Lage offenbar ganz anders einschätzend. Stolz hielt er einen weißlichen Klumpen in die Höhe, etwa von der Größe einer Orange. Zuerst konnte sie das Ding nicht genau erkennen. Dann aber wurde ihr klar, was er ihr entgegenstreckte – und sie musste sich augenblicklich heftig übergeben.

Kapitel 1

»Eine Hand?!« Bernauer schaute seinen Kollegen fassungslos an.

»Ja, stell dir vor. Da geht eine Mutter ahnungslos mit dem Hund spazieren und ihr Sohn zieht eine verweste Hand aus der Reuss!« Staubli nahm einen Schluck aus seiner »Tatort«-Kaffeetasse – ein Geschenk des Teams zu seinem 30-jährigen Dienstjubiläum – und widmete sich wieder seinem Bildschirm.

Bernauer war gerade ins Büro gekommen und hängte seine neue dunkelblaue Regenjacke an den Garderobenständer. Der Boden darunter war bereits nass von den Schirmen und Mänteln der Kollegen.

»Ich schwöre dir, wenn dieser Regen nicht bald aufhört, werde ich noch depressiv«, meldete sich nun Ponte zu Wort. »Ich bin solches Wetter als Südländer nicht gewöhnt.«

»Du bist hier geboren und lebst seit 42 Jahren im Freiamt«, entgegnete Staubli und schaute wieder von seinem Bildschirm hoch. »Das Einzige, was dich noch mit Italien verbindet, ist dein Alfa, und selbst der rostet dir bei diesem Wetter sehr schnell unter dem Hintern weg.«

Bernauer grinste innerlich. Der feuerrote Alfa Romeo Giulia Sprint GT war Michelangelo Pontes ganzer Stolz. »La mia Giulia«, wie Ponte den Wagen liebevoll nannte, kam bisweilen sogar für polizeiliche Ermittlungen zum Einsatz, war aber für Observationen doch etwas zu auffällig. Außerdem bestand Ponte beharrlich darauf, dass in seinem Wagen weder getrunken noch gegessen werden durfte, was bei längeren Observationen schon einmal zu handfesten Streitigkeiten führen konnte. Bernauer fühlte sich in der Stimmung, Ponte noch ein wenig auf den Arm zu nehmen, besann sich dann aber eines Besseren und wurde wieder ernst. Als Chef durfte er sich nicht dazu hinreißen lassen, schließlich ging es um eine ernste Sache.

»Und wo ist die Frau jetzt?«, wollte er wissen.

»Wir haben sie für halb zehn an den Fundort bestellt«, antwortete Ponte.

Bernauer seufzte hörbar. Er hatte sich auf einen ruhigen und vor allem trockenen Bürotag gefreut. Nun musste er wieder hinaus in dieses miese Wetter. Auf seinem Pult fand er eine Mappe mit den zusammengestellten bisherigen Erkenntnissen des Falls. Das Sekretariat hatte wieder einmal sehr gute Arbeit geleistet. Er öffnete die Mappe und verschaffte sich einen Überblick über die spärlichen Informationen. Ihm wurde klar, dass er den Fundort nicht innert nützlicher Frist mit dem Fahrrad erreichen konnte. Bernauer teilte sich das Auto mit seiner Frau. Da hauptsächlich sie für die Kinderbetreuung zuständig war, benützte er den Wagen nur sehr selten. Er legte wenn möglich alle Strecken per Velo zurück. Sein treuer Fünfgänger war ihm bei der Arbeit schon mehr als einmal sehr nützlich gewesen. Zudem konnte er sich jederzeit einen Dienstwagen leihen.

»Heute sieht’s schlecht aus mit den Dienstwagen«, sagte Staubli, der offenbar Bernauers Gedanken erriet. »Bei dem Regen nehmen sogar die Streifen den Wagen.«

So wie du jeden Tag, dachte Bernauer.

Staubli stand kurz vor der Pensionierung und er nahm sich einige Freiheiten heraus. Unter anderem »lieh« er sich jeden Abend einen Dienstwagen, um damit nach Hause zu fahren. Eigentlich hätte jemand Staubli in die Schranken weisen müssen. Genau genommen war dieser Jemand Bernauer selbst als Staublis Vorgesetzter. Aber er brachte es nicht übers Herz, ihn so kurz vor dem Ruhestand noch zurechtzuweisen – oder er scheute ganz einfach den Konflikt.

Bernauer schob den weißen Vorhang des Fensters zum Parkplatz beiseite und schaute hinaus.

»Nur noch Großvater«, sagte er resigniert. Der goldbraune Opel Ascona C war ein Überbleibsel aus den guten alten Zeiten, als man bei der Kantonspolizei noch mehr auf Komfort setzte als auf Motorenleistung, wie Bernauer fand. Es hatte auch einmal eine Großmutter gegeben. Der VW-Bus T2 hatte allerdings die 500.000er-Revision nur knapp überlebt und musste ein Jahr später schließlich eingeschläfert beziehungsweise verschrottet werden. Seitdem drehte Großvater allein seine Runden und war dem Team ein treuer Begleiter. Dennoch war er bei den Kollegen nicht sehr beliebt, weil er weder über eine Klimaanlage noch Servolenkung verfügte und die Sitze stark durchgesessen waren. Außerdem war das alte Auto mittlerweile sehr teuer im Unterhalt. Aber irgendwie schaffte es Großvater, bei jeder kantonalen Sparübung zu überleben. Insgeheim mochte Bernauer den Wagen, hätte dies aber nie zugegeben, schon gar nicht, wenn seine Kollegen mithörten.

»Wer kommt mit?«, fragte er in die Runde.

Die beiden Kollegen versuchten krampfhaft, nicht in Bernauers Richtung zu sehen. Auch sie wollten nicht weg aus dem warmen und trockenen Büro.

»Gut, dann ist das wieder einmal Chefsache«, sagte Bernauer gereizt. »Und die Hand? Ist die bereits bei der Gerichtsmedizin?«

Ponte und Staubli nickten eifrig im Takt.

»Gut, wann können wir mit Resultaten rechnen?« Bernauer wusste, dass man dem Rechtsmedizinischen Institut manchmal ein wenig Druck machen musste, um nicht Wochen auf eine aufschlussreiche Antwort warten zu müssen.

Ponte zog die Augenbrauen nach oben: »Die haben jemand Neuen. Man konnte mir nicht sagen, wie lange es dauern wird.«

Bernauer verdrehte die Augen. Schon wieder ein neuer Gerichtsmediziner! In den letzten Jahren mussten sie sich alle paar Monate mit einem neuen Gesicht abfinden. Meist waren es Assistenzärzte »auf der Durchreise«, wie Bernauer es für sich nannte. Offensichtlich blieben die wenigsten bei dieser Fachrichtung hängen. Bernauer konnte es ihnen nicht verübeln. Wer wollte schon stundenlang ohne natürliches Licht in einem Keller stehen und Leichen sezieren?

»Sie wird sich bei dir melden«, sagte Ponte.

»Sie?«, fragte Bernauer erstaunt.

»Ja, Frau Doktor …« Ponte suchte in seinen Notizen nach dem Namen. »Bernhard. Doktor Siglinde Bernhard.«

Bernauer schloss die Augen und zog die Brauen nach oben. Seufzend und ohne weitere Worte machte er sich auf den Weg durch die Bürotür Richtung Empfang. Auf der Türschwelle drehte er sich noch einmal zu Ponte um. »Ruf bitte beim Stauwehr an, Miki. Vielleicht hängt der frühere Besitzer der Hand bei denen im Rechen.«

»Einmal den Großvater, bitte«, sagte er zu der jungen, hübschen Dame hinter dem Tresen. Sie nickte kurz, stand auf, ging zum Schlüsselbrett an der hinteren Wand und nahm den einzigen verbliebenen Schlüssel von einem der Haken. Mit einem mitleidigen »Bitte sehr, Herr Bernauer. Bitte hier unterschreiben« übergab sie ihm den Schlüssel.

Er unterschrieb mit einer fahrigen Handbewegung und wandte sich zum Gehen.

»Sie müssten allerdings noch tanken, wenn Sie weiter wegmüssen«, meldete sich die Empfangsdame. »Das hat Herr Staubli irgendwie beim letzten Mal vergessen.«

Wie lange muss dieser Vollidiot noch hier arbeiten? Bernauer hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Er hakte innerlich einen weiteren Tag auf dem imaginären Kalender bis zur Pensionierung von Staubli ab. Dann verließ er schweigend und verärgert den Polizeiposten.

Kapitel 2

Bernauer nahm den langen Weg durch den Wald über Hermetschwil auf der Mohrentalstraße. So hatte er mehr Zeit, seine Gedanken zu ordnen und sich auf die bevorstehende Tatortbesichtigung und die Einvernahme der Zeugin vorzubereiten. Der Fall schien ihm doch etwas seltsam. Dass eine einzelne Hand gefunden wurde, war ungewöhnlich. Woher kam sie und wo war der Rest des Körpers?

Gedankenversunken parkte Bernauer auf dem Kiesparkplatz vor der Brücke über die Reuss. Die Scheibenwischer des alten Opels taten ihr Möglichstes, um die Wassermassen beiseitezuschieben. Aber auch sie hatten ihre besten Tage hinter sich. Bernauer gönnte ihnen eine Pause und schaltete die Zündung aus.

Er blickte sich im Auto nach einem Schirm um. Im Ablagefach der Beifahrertür wurde er fündig. Er zog einen himmelblauen Knirps aus dem Fach und stieg aus. Sofort öffnete er den Schirm, um nicht augenblicklich klatschnass zu werden. Beim Hinaufschauen hätte er ihn am liebsten gleich wieder geschlossen. »Rosie Staubli’s Studio – Ihr Pediküre-Paradies« stand in pinken Lettern quer über den Schirm geschrieben. Allein schon der falsch gesetzte Apo­stroph trieb Bernauer die Schamesröte ins Gesicht. Dass er zudem unfreiwillig Werbung machte für das Fußpflege-Etablissement von Staublis Frau, war ihm sehr unangenehm. Missmutig stapfte er den Damm entlang flussabwärts.

Schon von Weitem konnte er ein Einsatzfahrzeug der Kantonspolizei erkennen. Unter einem Pavillon standen vier Personen und diskutierten lautstark miteinander. Als sie Bernauer bemerkten, verstummten sie und sahen alle in seine Richtung.

»Bernauer, Kapo Bremgarten«, stellte er sich vor.

Eine Frau löste sich aus der Gruppe und begrüßte ihn. »Guten Morgen, Herr Bernauer. Mein Name ist Fein, ebenfalls Kapo Bremgarten.« Bernauer kannte die Frau vom Sehen. »Und das sind mein Kollege Nauer sowie die Herren Stübi und Meier. Sie sind vom Polizeitaucherteam und aus Aarau angereist.«

Bernauer nickte den Herren zu.

»Schöner Schirm«, meinte einer der beiden Taucher, ohne Bernauer zu begrüßen.

»Vielleicht sollte ich meine aufgeweichten Füße nach dem Tauchen von Ihnen behandeln lassen«, stieg nun auch der andere ein.

»Na, wenigstens haben Sie den Apostroph richtig gesetzt«, lachte der Erste. Bernauer wusste nicht recht, ob er dies ironisch meinte, hatte aber ohnehin genug gehört.

»Wollen Sie sich über meinen Schirm lustig machen oder wird hier heute noch gearbeitet?«, blaffte er die beiden an.

Von der heftigen Reaktion Bernauers überrascht stammelte einer von ihnen: »Ich … wir … Heute wird das wohl nichts mit tauchen. Hat viel zu viel Wasser. Die Sicht ist miserabel und bei der enormen Strömung ist es für uns zu gefährlich – selbst mit der Leine.«

»Das hatten wir gerade diskutiert«, mischte sich Nauer ein. »Bringt wohl nichts. Wir brechen die Zelte ab.«

»Wo wurde die Hand gefunden?«, wollte Bernauer wissen.

»Hier drüben.« Kollegin Fein führte ihn zu der Stelle. »Ist alles aufgeweicht und weggespült. Die Spurensicherung war kurz hier und hat ein paar Fotos gemacht. Verwertbare Spuren waren aber offenbar keine mehr vorhanden.«

Bernauer sah sich kurz um, musste sich aber auch eingestehen, dass hier wohl nichts Brauchbares mehr zu finden war. »Wo ist die Zeugin?«, wollte er wissen.

»Sie wartet im Restaurant Hecht auf Sie«, antwortete die Polizistin. »Bringt ja nichts, sie hier im Regen stehen zu lassen.«

Bernauer kannte den Hecht, wie alle hier aus der Gegend den Landgasthof nannten, gut von seinen Sonntagsspaziergängen mit der Familie. Schon als er selbst noch ein Kind gewesen war, war ein Eisbecher auf der Terrasse des Hechts das Sonntagshighlight an einem schönen Sommertag. Er verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zurück. Mühsam stapfte er den aufgeweichten Pfad entlang zum Wagen.

Der Gasthof lag gleich neben dem Parkplatz, auf dem Großvater geduldig auf ihn wartete. Bernauer betrat das Restaurant und schaute sich um. Im großen Schankraum saß eine Frau allein an einem Zweiertischchen und nippte gedankenversunken an einer Tasse Tee. Sie war der einzige Gast. Bernauer ging auf die Frau zu und sprach sie an: »Bernauer, Kapo Bremgarten. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Die Frau blickte von ihrer Tasse auf und nickte schweigend.

»Name?« Bernauer war selbst überrascht über den schroffen Ton seiner Frage.

Etwas verunsichert sagte die Frau: »Silvia Egger.«

»Frau Egger … Sie haben also die Hand gefunden?«, fragte Bernauer nun etwas einfühlsamer.

»Nicht ich«, erwiderte Silvia Egger, »mein Sohn.«

»Wie heißt Ihr Sohn?«

»Tobias Egger.«

»Und wo ist er jetzt?«, hakte Bernauer nach.

»Im Kindergarten, wo sonst?« Egger machte große Augen und sah ihn fragend an. »Ihre Kollegen haben uns psychologische Betreuung angeboten. Aber wir haben abgelehnt. Wissen Sie, für Tobias ist die ganze Geschichte ein einziges großes Abenteuer. Ich denke nicht, dass er einen Schaden davontragen wird. Wahrscheinlich ist ihm gar nicht richtig bewusst, was die Hand zu bedeuten hat. Und ich möchte ihn in dieser Unwissenheit belassen.« Sie trank hastig einen Schluck Tee.

Bernauer hatte in der Zwischenzeit sein kleines Notizbuch und seinen Druckbleistift hervorgeholt. »Das kleine Schwarze« nannte er es für sich. Er hatte schon immer eine Schwäche für edle Schreibutensilien gehabt. Er notierte sich das Gehörte und fuhr mit der Befragung fort: »Erzählen Sie mir bitte, wie genau Sie … pardon, Ihr Sohn … die Hand gefunden hat.«

Frau Egger überlegte kurz und antwortete dann: »Was soll ich Ihnen sagen? Ich ging mit Tobias und Laika den Dammweg entlang.«

Sie wurden von der Bedienung unterbrochen, die Bernauer nach dessen Wunsch fragte. Er bestellte einen Kaffee Crème und einen Nussgipfel.

»Und Laika ist?«, wollte er von Frau Egger wissen.

»Laika ist unsere Hündin. Sie ist der Grund, warum ich bei diesem Wetter gestern überhaupt nach draußen ging.«

»Sie sagten, Sie gingen den Dammweg entlang. In welche Richtung?«

»Spielt es eine Rolle?«

»Vielleicht … Für die Ermittlungen ist manchmal ein kleines Detail entscheidend.«

»Na gut … Ich parkte den Wagen hier nebenan auf dem Kiesplatz. Dann gingen wir flussabwärts Richtung Dominiloch.«

Die Bedienung brachte den Kaffee und das Gebäck, während Silvia Egger ihre Version der Geschichte erzählte. Bernauer hörte aufmerksam zu, machte sich Notizen und stärkte sich. Ohne Kaffee schaffte er es nur schwerlich durch den Tag und bekam spätestens nach dem Mittag Kopfschmerzen.

»Was haben Sie nach dem Fund mit der Hand gemacht?«

»Nichts. Um ehrlich zu sein, musste ich mich erst mal übergeben und brauchte einen Moment, um wieder klar denken zu können. Nachdem ich mich vom ersten Schock erholt hatte, habe ich meinen Sohn angeschrien, er solle sie sofort fallen lassen. Er ist erschrocken, weil ich ihn sonst eigentlich nie so anherrsche, und hat die Hand vor sich auf den Boden geworfen. Dann habe ich ihn von ihr weggezerrt. Ich wollte nicht, dass er sich irgendeine Infektion oder so holt. Wir beide starrten das Ding ein paar Minuten wortlos an. Ich habe Tobias zu erklären versucht, dass er nichts falsch gemacht habe, dass es aber besser sei, die Polizei anzurufen. Das habe ich dann auch gemacht. Nach etwa einer halben Stunde kamen Ihre Kollegen und nahmen die Hand mit. Ich solle mich zur Verfügung halten und heute hier erscheinen.«

Als Familienvater konnte sich Bernauer vorstellen, dass die Situation für Frau Egger nicht einfach war. Er wollte die Frau erlösen und das Gespräch schnellstmöglich beenden: »Besten Dank für Ihre Schilderungen, Frau Egger. Bitte halten Sie sich weiterhin zur Verfügung. Wir haben vielleicht noch weitere Fragen an Sie.«

Nach einer kurzen Pause, in der sie Bernauer müde anstarrte, fragte sie: »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«

»Das darf ich Ihnen leider nicht sagen. Aber wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen.« Mit diesen Worten erhob sich Bernauer und reichte der Frau die Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Egger. Nochmals danke für Ihre Auskünfte.«

Er ging zum Tresen, um zu bezahlen.

»Geht aufs Haus«, rief die Bedienung aus der Küche.

»Alles klar, danke«, sagte Bernauer und legte einen Zehn-Franken-Schein auf die Anrichte. Er hatte keine Lust auf die Diskussionen mit seinem Chef über Bestechung im Dienst und das geltende Spesenreglement.

Kapitel 3

Draußen goss es immer noch in Strömen. Bernauer blieb einen Moment unter dem Vordach stehen, um sich für den Spurt zu Großvater bereit zu machen. Den Fußpflege-Schirm würde er sicher nicht mehr öffnen.

Da klingelte sein Mobiltelefon. Auf dem Display erschien Pontes Name.

»Pronto«, meldete sich Bernauer. Er hob immer so ab, wenn ihn sein italienischstämmiger Kollege anrief. Und jedes Mal konnte er die leichte Verärgerung darüber in Pontes Stimme hören.

»Fehlanzeige beim Stauwehr«, begann dieser. »Die haben bisher keine Leiche gefunden. Bei der derzeitigen Strömung holen sie die Rechen aber auch nicht oft ein. Der Verantwortliche versprach, sich wieder zu melden, falls sie etwas haben.«

Bernauer zuckte mit den Schultern. Es wäre ein absoluter Glücksfall gewesen, wenn der gesuchte Körper bereits gefunden worden wäre.

Ponte fuhr fort: »Dafür hat sich eine verärgerte Frau bei Staubli gemeldet. Er hat sich natürlich außer der Telefonnummer nichts notiert und konnte mir die Details des Gesprächs nicht sagen. Wann wird er endlich pensioniert?«

Bernauer schwieg. Was sollte er dazu auch sagen?

Ponte nahm den Faden wieder auf: »Die Frau ist offenbar gar nicht erfreut, dass ihr da im Naturschutzgebiet rumstapft.«

»Kümmere dich bitte bei Gelegenheit darum«, antwortete Bernauer, verabschiedete sich und drückte das Gespräch weg. Es kam immer wieder vor, dass selbst ernannte Weltverbesserer ihre Arbeit störten oder gar behinderten, und sei es nur, um Aufmerksamkeit zu erregen und so aus ihrem trostlosen Alltag entfliehen zu können.

Mürrisch machte er kehrt und ging los in Richtung Parkplatz. Da traf ihn etwas hart am Hinterkopf.

Reflexartig duckte sich Bernauer, wie er es bei der Polizeiausbildung gelernt hatte. Deckung suchen, war sein einziger Gedanke. Blitzschnell rollte er auf dem nassen Asphalt des Trottoirs über die linke Schulter ab und hechtete elegant hinter einen Blumentrog, der die Restaurantterrasse vom Gehsteig trennte. Immer noch hinter den Trog geduckt, fasste er sich mit der linken Hand an den Hinterkopf und erschrak. Eine warme, zähe Flüssigkeit lief ihm den Nacken hinab. Blut, dachte er.

Als er die Hand wieder vors Gesicht hielt, war sie allerdings nicht wie erwartet rot, sondern gelb gefärbt. Instinktiv roch er an seiner Hand – nichts. Ganz vorsichtig lugte er hinter dem Trog hervor. Er konnte gerade noch eine schwarz maskierte Gestalt erkennen, die soeben hinter einer Hausecke verschwand. Die Verfolgung aufzunehmen, schien ihm wenig aussichtsreich.

Er rappelte sich auf, klopfte seine Hose ab und schaute sich um. Hinter ihm auf dem Boden lagen ein geplatzter Wasserballon und ein Zettel. Er hob das Papier auf. In gedruckten Großbuchstaben las Bernauer:

NATURSCHUTZGEBIET DER NATUR! EINDRINGLINGE RAUS!

FMR

Er schüttelte den Kopf ob dieser Nachricht. Und fragte sich gleichzeitig, wer oder was FMR sein konnte. Er fand auf die Schnelle keine Antwort und ging zurück zu Großvater.

Im Wagen angekommen, wählte er Pontes Nummer.

»Ich bin’s. Ich wurde gerade Opfer eines Farbangriffs.«

Bernauer schilderte Ponte das Erlebte.

»Weißt du, wer oder was FMR sein könnte?«

»Keine Ahnung. Noch nie gehört. Ich kann mich aber mal schlaumachen. Übrigens: Die Frau Doktor Bernhard hat sich gemeldet. Du sollst am besten gleich bei ihr im Institut vorbeikommen.«

»In Ordnung. Mal sehen, was sie rausgefunden hat.«

Bernauer startete den Motor und fuhr los.

Kapitel 4

Er ließ sich vom Lift nach unten bringen. Im Institut nahm er nie die Treppe. Schon ein paarmal war ihm beim Anblick einer Leiche schlecht geworden und die Knie hatten nachgegeben. Dieses Gefühl stellte sich mittlerweile schon beim Betreten des Instituts ein, auch wenn er noch keine Leiche zu Gesicht bekommen hatte, und einen Treppensturz wollte er auf jeden Fall vermeiden. Er wollte auf eigenen Beinen wieder nach oben gehen und nicht unten aufschlagen und dann zum nächsten Übungsobjekt von Assistenzärzten werden. Zudem hing im Lift ein Spiegel, und sich selbst tief in die Augen zu schauen, half Bernauer in der Regel, aufkommende Übelkeit zu bekämpfen; nicht nur in der Gerichtsmedizin, sondern auch nach einem Ausgang, bei dem er über die Stränge geschlagen hatte.

Die Lifttür öffnete sich und Bernauer betrat den mit Neonröhren beleuchteten Flur. Wie immer, wenn er hier unten war, kamen ihm zwei Fragen in den Sinn, die ihm bisher niemand schlüssig beantworten konnte. Erstens: Warum befinden sich die Sezierräume der Gerichtsmedizin immer im Untergeschoss? Und zweitens: Warum sind die Räume und Flure weiß gekachelt wie in einem Schlachthof? In Schlachthöfen fließt sehr viel Blut, da leuchtet es ein, wenn man die Wände mit Wasser abspritzen kann, aber in der Gerichtsmedizin? Tote bluten in der Regel nicht extrem. Zumindest spritzt das Blut nicht fontänenartig an die Wände. Warum also die Kacheln? Bernauer beantwortete für sich beide Fragen mit der von ihm vermuteten Abscheu der Gerichtsmediziner vor direktem Sonnenlicht und ihrer Vorliebe für Hochdruckreiniger.

Bernauer war unschlüssig, welche Richtung er einschlagen sollte. Da hörte er aus einer Tür links den Gang runter eine Frauenstimme in reinstem Hochdeutsch rufen: »Herr Bernauer? Hier drüben.«

Er hatte plötzlich noch weniger Lust auf das Gespräch. Auf das Schlimmste gefasst streckte er vorsichtig seinen Kopf durch die Tür, aus der die Stimme gekommen war.

Doktor Bernhard erwartete ihn mit einem gewinnenden Lächeln. Bernauer war sprachlos. Er hatte eine junge Assistenzärztin erwartet. Stattdessen war Siglinde Bernhard Mitte 50. Ihr kurz geschnittenes, grau meliertes Haar und der ein bisschen zu enge Kittel verliehen ihr etwas Strenges.

»Ich bin die Sigi.« Sie streckte Bernauer die Hand entgegen.

Dieser erwiderte den Gruß und stammelte: »Stephan Bernauer … freut mich«, obwohl es das nicht tat. Aber angenehm wäre noch vermessener gewesen.

»Wieso so förmlich?«, fragte die Ärztin. »Na ja, Sie müssen die Form in Ihrem Beruf halt schon ein bisschen bewahren, nicht wahr?«

Bernauer war zu verdutzt, um etwas zu erwidern.

»Immerhin sind unsere Nachnamen fast identisch. Ich würde sagen, das verbindet«, fuhr sie fort.

Bernauer starrte sie fassungslos an.

»Egal, zur Sache.« Doktor Bernhard wies mit der Hand auf eine Tür hinter sich. Bernauer ging zwei Schritte auf die Tür zu, überließ ihr dann aber den Vortritt. Man wusste schließlich nie, was einen hier unten erwartete. Als sie durch die Tür schritten, war er zunächst beruhigt. An der gegenüberliegenden Wand waren die Kühlfächer für die Toten angebracht und alle waren verschlossen.

»Wie sehen Sie denn eigentlich aus?«, wollte sie unvermittelt wissen.

Erst jetzt wurde Bernauer bewusst, dass er sich die gelbe Farbe noch gar nicht vom Kopf gewischt hatte. Die Stelle, an der der Ballon aufgeprallt war, schmerzte zwar noch ein wenig, aber nicht derart, dass es Bernauer gestört hätte. Und so hatte er es versäumt, sich zu waschen.

»Ach das … ein kleiner Betriebsunfall. Nicht der Rede wert.«

»Soll ich das behandeln?«

»Lassen Sie mal.« Das wäre ja noch schöner, dachte Bernauer, wenn er sich von einer Leichenfledderin verarzten ließe. Er stand etwas unschlüssig im Raum herum.

»Mal sehen …«, sprach Doktor Bernhard nachdenklich und ging mit dem Zeigfinger der rechten Hand eine Liste durch, die neben der Tür an der Wand befestigt war. »Ah, hier. Fach Nummer 7.« Sie drehte sich um und ging entschlossenen Schrittes auf das Fach mit der entsprechenden Nummer zu. Sie öffnete die Klappe und zog eine Schublade aus der Öffnung. Auf der langen Lade lag nicht etwa eine Leiche, sondern nur die Hand, die der kleine Tobias einen Tag zuvor an der Reuss gefunden hatte. Am kleinen Finger war an einem dünnen Schnürchen eine Etikette befestigt.