Reussgold - Martin Rüfenacht - E-Book

Reussgold E-Book

Martin Rüfenacht

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Beschreibung

Nach einem gemütlichen Fest in der Schrebergartensiedlung verschwindet einer der Hobbygärtner spurlos. Kantonspolizist Bernauer und sein Team machen sich auf die Suche. Schnell gerät ein skrupelloser Baumagnat ins Visier der Ermittler. Weiß er etwas? Und was haben die Kelten, die vor über 2.000 Jahren in der Region gelebt haben, mit dem Fall zu tun? Als der Vermisste tot aufgefunden wird und auch noch Bernauers Tochter verschwindet, beginnt ein gnadenloser Wettlauf gegen die Zeit.

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Martin Rüfenacht

Reussgold

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © paulgsell / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7680-8

Widmung

Für unsere drei Kinder

Vorbemerkung

»Die Kelten füllten sich im Übermaß mit Wein und anderen Dingen, sind sie doch von Natur aus unbeherrscht und leben auch in einem Land, das außer Getreide nichts hervorbringt. Ihre großen, weichlichen und schlaffen Körper wurden durch das unmäßige Essen und Trinken aufgedunsen und schwerfällig und zum Laufen und zur Anstrengung ganz ungeeignet. Wenn sie sich doch einmal anstrengen mussten, wurden sie durch Schweißausbrüche und Atemlosigkeit schnell erschöpft.« (Appian, Celt. F 7)

Appian (Appianos) von Alexandria, griechisch-römischer Geschichtsschreiber (ca. 90 – 160 n. Chr.)

*

»Die Druiden jedoch beschäftigen sich mit Naturkunde und Moralphilosophie. Sie gelten als die Gerechtesten, weshalb man sich sowohl mit privaten wie auch öffentlichen Streitfällen an sie wendet, sodass sie früher sogar Kriege entschieden und Schlachten verhindert haben. Besonders in Mordprozessen hat man ihnen das Urteil anvertraut. Wenn es davon reichlich gibt, so glauben sie, wird auch die Ernte reichlich sein.« (Strab. 4,4,4)

Strabon von Amaseia, griechischer Historiker und Geograph (ca. 63 v. Chr. - ca. 23 n. Chr.)

I

Dronnios stand am Rand der kleinen, leicht abschüssigen Hochebene und schaute ins Tal hinab. Sorgenfalten zeigten sich auf seiner Stirn. Mutter Sulis verbarg auch heute ihr Antlitz. Die dunklen Wolken hingen tief und entließen Regenschauer übers Land, wie schon fast den ganzen Mond lang. Er suchte vergeblich nach einer Möglichkeit, sich unterzustellen. Die wenigen Bäume rund um die Grabstätte waren schon vor langer Zeit als Baumaterial für Häuser oder Einbäume gefällt worden. Die einzelnen kleinen Sträucher ließen ihre regennassen Äste hängen, als wären auch sie deprimiert ob des schlechten Wetters. Die Sicht auf die großen Berge zu seiner Linken war von den tief hängenden dunkelgrauen Wolken verdeckt. Und auch zu seiner Rechten sah man nicht sehr weit. Der hagere, fast dünne Mann war mittelgroß, und sein langes graues Haar trug er stets im Nacken zu einem lockeren Zopf geflochten. Zu besonderen Gelegenheiten färbte er es mit verschiedenen Erden aus der Umgebung. Die Furchen in seinem schmalen Gesicht zeugten von den harten Wintern dieser Gegend und seinem ebenso harten und skrupellosen Charakter. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – genoss er den Respekt der Leute im Dorf und in der ganzen Umgebung.

Er schüttelte den Kopf. Die Ernte war gefährdet, und er konnte sich nicht recht ausmalen, wie die Dorfgemeinschaft über den nächsten Winter kommen sollte. Aber das kümmerte ihn nicht sonderlich. Ihn selbst würde das nicht mehr betreffen.

Er ließ den Blick schweifen und blieb an der Siedlung unten am Fluss hängen. Serpios’ Leuten ging es noch schlechter als ihnen. Seit vielen Monden war Dea Sila angeschwollen und zerstörte die fruchtbaren Ebenen im Tal dauerhaft. Sie suchte sich immer neue Wege und nahm dabei keine Rücksicht auf die Söhne und Töchter des Göttervaters. Viele aus Serpios’ Dorf waren bereits weggezogen oder versuchten, in höher gelegenen Gebieten zu siedeln. Dieses Wagnis unternahmen allerdings nur die ganz Verwegenen, denn ohne die Dorfgemeinschaft war das Leben derart entbehrungsreich, dass die meisten ihr Vorhaben bald wieder aufgeben mussten. So war es nicht verwunderlich, dass einige auch in ihrem Dorf um Aufnahme baten. Der Älteste hatte ihnen großzügig Einlass gewährt.

Dronnios spuckte verächtlich auf den Boden. Was dachte er sich bloß dabei? Schließlich waren die beiden Sippen seit Menschengedenken verfeindet. Warum sollte man die Feinde von der Ebene unten plötzlich herzlich empfangen? Einige der Dorfbewohner im Tal waren auf ihrer Flucht Artios in die Hände gefallen. Dessen Leute hatten vor Kurzem einen Außenposten auf der großen Felsnase über dem Fluss errichtet. Zumindest sah Dronnios dort praktisch in jeder Nacht ein Feuer brennen, und ab und zu war ein Wachposten zu sehen. Zum Glück lebten sie in friedlichen Zeiten. Das konnte sich aber schnell ändern. Wenn die Güter und das Essen knapp wurden, waren die Menschen zu allem fähig. Das wusste wohl niemand besser als Dronnios selbst. Er konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen.

Dann verfinsterte sich seine Miene wieder.

Wenn es so weiterging mit den miesen Temperaturen und dem schlechten Wetter, mussten wohl auch sie weiterziehen. Von anderen Druiden wusste er, dass es deren Sippen nicht besser ging. Die Götter schienen sich gegen die Menschen verschworen zu haben. Warum, wusste auch er nicht. Das konnte und würde er aber gegenüber den Seinen nicht zugeben. Schließlich vertrauten sie auf seinen Rat und seine Weisheit in diesen Dingen. Er war sich aber nicht sicher, wie lange er die Aufmerksamen unter ihnen noch hinhalten konnte. Besonders Balturos und der kleine Tadisios waren ihm schon fast auf die Schliche gekommen. Bei ihnen musste er besonders wachsam sein. Zum Glück bestand der Großteil der Dorfgemeinschaft aus einfältigen Idioten. Es war einfach, ihnen mit ein bisschen Brimborium etwas vorzuspielen. Mit ihnen würde er leichtes Spiel haben. Sie würden ihn nicht von seinem Plan abhalten.

Schließlich war es vor einigen Nächten endlich so weit gewesen und der Alte war gestorben. Sein Tod hatte sich schon lange abgezeichnet. Am Schluss war er bettlägerig gewesen und verlangte immer öfter nach ihm, dem Druiden. Natürlich hatte er nur so getan, als helfe er dem Alten wirklich. Ein Kräutersud da, ein Mooswickel dort. Immerhin hatten diese Behandlungen sein Leiden nicht noch verlängert, das erschien Dronnios dann doch etwas zu hart. Denn es war ja der Älteste gewesen, der ihm über viele Hundert Monde vertraut hatte, seit er damals zur Dorfgemeinschaft gestoßen war. Hätte er dem Dorfvorsteher aber wirklich helfen wollen, hätte er nach einem Heilmittel aus dem Süden jenseits der großen Berge senden müssen. Dort, so erzählte man sich, gebe es ein Pulver, das aus der Rinde einer Pflanze gewonnen werde und hervorragende fiebersenkende Eigenschaften besitze. Selbstverständlich war das Mittel aber derart teuer, dass es sich der Alte niemals hätte leisten können. Was hätte er auch zu bieten gehabt? Der einzige Bernstein des Dorfes war in den Armreif von Deleana, der Schwester des Ältesten, eingearbeitet. Vielleicht hätte man sie gleich mit in Zahlung geben können, überlegte Dronnios schelmenhaft, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Das würde ihr Mann niemals zulassen, es sei denn, ihm stieße unerwartet etwas Schlimmes zu. Dronnios schmunzelte erneut, wandte sich dann aber wieder der Realität zu. Schlussendlich war es auf jeden Fall überraschend schnell gegangen, und der Alte hatte seinen letzten Atemzug getan.

Somit lag es an ihm, dem Druiden der Gemeinschaft, die Sippe anzuführen, bis ein neuer Fürst gewählt worden war. Ein Teilerfolg immerhin. Leider konnte er nicht selbst zum neuen Anführer erkoren werden, aber zumindest konnte er die Wahl derart beeinflussen, dass ein ihm Höriger ins Amt gehoben wurde. Natürlich hatte er für sich bereits einen willfährigen Kandidaten bestimmt – und der machte seine Sache gar nicht schlecht. Aber bis dahin war es noch ein gutes Stück Arbeit. Erst wenn dem neuen Anführer der traditionelle goldene Halsreif mit dem eingearbeiteten Bild des röhrenden Hirschs umgelegt wurde, war der neue Fürst in sein Amt eingesetzt. Bis dahin durfte sich Dronnios keine Fehler erlauben. Er war sich allerdings sicher, dass er alle Vorkehrungen getroffen hatte und sein Plan funktionieren würde. Er lächelte siegesgewiss und wandte sich dann um.

Jeden Moment musste der Trauerzug auf dem steil ansteigenden Weg in Sicht kommen. Den Ochsen hatten sie vor Kurzem schlachten müssen, um nicht Hunger zu leiden. Vermutlich hatten sich die stärksten Männer einspannen lassen und zogen den Wagen mit dem Leichnam den holprigen Anstieg hinauf. Vielleicht halfen ihnen ein paar Halbwüchsige und schoben hinten.

Dronnios machte die paar Schritte zur offenen Grabstelle hin. Er stieg die Rampe hinab und kontrollierte mit fachmännischem Blick die Seitenwände. Gedankenverloren strich er mit der Hand an den lehmverkleideten Flächen entlang. Sie hatten gute Arbeit geleistet. Diese Grube würde viele Tausend Monde überdauern. Sie war nicht zu breit und nicht zu schmal. Die Abmessungen hatte er aus den alten Überlieferungen der Ahnen übernommen. Die Grabkammer musste geräumig genug sein, um den Leichnam mit den Grabbeigaben aufnehmen zu können. Gleichzeitig musste sie so massiv gebaut sein, dass die spätere Decke und der Grabhügel darüber sie nicht zum Einsturz brachten. Besonderes Augenmerk musste darauf gelegt werden, dass die Steinplatten des Dachs lang genug waren, um die Grabkammer überspannen zu können. Dronnios stieg wieder an die Oberfläche und betrachtete zufrieden den Stapel vorbereiteter Platten, die sie während der letzten paar Sulis-Läufe aus dem Tal hinter dem Fuchsfelsen herbeigeschafft hatten. Genau zwei Nächte, nachdem sie den Alten zur Ruhe gelegt hatten, würden sie die Grube verschließen und einen Grabhügel errichten, der weitherum sichtbar sein würde. Wie es der Fürst auf dem Totenbett gewünscht hatte, würden sie zuoberst auf dem Hügel eine hölzerne Stele anbringen, die von den Taten des Alten berichtete. Der Zimmermann des Dorfs hatte sich bereits an die Arbeit gemacht. Er hatte glücklicherweise einen geeigneten großen Baum gefunden, auch wenn er dafür einen weiten Weg gehen musste. Schwieriger war es, den richtigen Text für die Stele zu finden. Dronnios hatte gehört, dass die Völker hinter den hohen Bergen und in den Landen von Sulis’ Bett im Westen eigene Zeichen besaßen, um die Namen der verstorbenen auf Steinen festzuhalten. Dronnios hielt wenig von diesen neumodischen Methoden. Schließlich konnte man das Leben eines Menschen mit Bildern viel besser beschreiben als mit irgendwelchen abstrakten Zeichen. Der Zimmermann würde schon die geeigneten Zeichnungen finden. Natürlich müssten sie noch eine Zeit warten, bis sich das Erdreich gesenkt hatte, bevor sie die schwere Holzplatte auf dem Hügel einsetzen konnten.

Er fröstelte unter seinem Mantel aus zusammengenähten Ziegenhäuten. Sehr bald schon würde er sich in ein wärmeres Modell hüllen können. Der große Fürst auf dem Berg am Wasser hatte ihm für seine Dienste einen Mantel aus Bärenfell versprochen – und noch dazu ein eigenes Langhaus und die Tochter des Dorfschmieds obendrauf. Dronnios wusste nicht, auf was er sich mehr freute. Aber eigentlich spielte es keine Rolle. Hauptsache, raus aus diesem regentriefenden Elend. Schließlich war er zu Höherem geboren!

Kapitel 1

Kantonspolizist Stephan Bernauer stand unschlüssig am Wegrand und schaute interessiert zu seiner jüngeren Tochter Sophie hinüber. Das ausladende Vordach des Forstwerkhofs bot ihm Schutz vor der sengenden Sonne, die bereits hoch am Himmel stand und sich ihren Weg an der letzten Baumreihe vorbei auf den Waldweg bahnte. Sophie war in ein Gespräch mit der Archäologin vertieft. Er hoffte, seine Tochter würde sich kurz umdrehen, ihm vielleicht sogar zuwinken. Er würde ihr aufmunternd zunicken und ihr ein väterliches Lächeln schenken. Aber sie wandte sich nicht zu ihm um. Stattdessen sah er sie gestikulieren und lachen. Ganz offensichtlich war sie fasziniert von den Erläuterungen der Grabungsleiterin. Sie waren beide in ihrem Element. Über Wochen hatte sich Sophie auf diesen Besuch vorbereitet. Bernauer hatte ihr einzig mit einem Telefonat bei der zuständigen Stelle in der Kantonsarchäologie geholfen. Alles andere hatte Sophie selbst organisiert. Das Schulprojekt hatte auch einen großen Teil ihrer Freizeit in Beschlag genommen. Ihre Eltern beobachteten mit wachsendem Stolz, wie sie in dem Vorhaben aufging. Ihrem Lehrer war dies offenbar auch nicht entgangen, und er bot ihr an, ihr Projekt bei einem nationalen Forschungswettbewerb anzumelden. Außerdem durfte sie die Resultate auf der Abschlussfeier ihrer Schule vor einem größeren Publikum präsentieren. Das spornte die Zwölfjährige noch mehr an, und Stephan Bernauer und seine Frau Kathrin mussten ihre Tochter bisweilen in ihrem Eifer etwas bremsen.

Es hatte keine große Überredungskunst von Sophie gebraucht, sie hierher zu begleiten. Auch Bernauer war fasziniert von der keltischen Nekropole und froh, dass sie nach Jahrzehnten der Unscheinbarkeit nun endlich etwas besser zugänglich gemacht und attraktiver gestaltet werden sollte. Er konnte sich an einige Feste im Forsthaus hier oben erinnern und an seine Überraschung, als er erfahren hatte, dass sie just auf einem Grabhügel aus der Keltenzeit errichtet worden war. Die Idee, dass sie direkt über einer letzten Ruhestätte gefeiert hatten, ließ ihn etwas reumütig zurück.

»Papa, kommst du mal?«

Sophie hatte ihren Vater nun doch zu sich gerufen. Er löste sich von seinen Gedanken und schlenderte gemütlich zu den beiden an den Waldrand hinüber. Sie blickten sich zu ihm um. Die Archäologin schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er lächelte zurück. Am Telefon hatte Frau Küng nüchtern und sachlich gewirkt. Jetzt, von Angesicht zu Angesicht, hatte Bernauer einen ganz anderen Eindruck von der etwa 50-Jährigen. Sie nahm das Gegenüber sofort für sich ein. Ihre wachen Augen strahlten Zuversicht und eine positive Lebenseinstellung aus. Bernauer war fasziniert und starrte sie einen Moment an. Vielleicht etwas zu lange.

Sophie räusperte sich. »Papa, das ist Judith Küng. Sie leitet die neuesten Ausgrabungen hier. Frau Küng, das ist mein Vater, Stephan Bernauer.«

»Sehr erfreut«, sagte die Archäologin. »Sie sind also der berühmte Kommissar Bernauer. Ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt. Am Telefon haben Sie so streng gewirkt.«

Bernauer wunderte sich, dass Frau Küng offensichtlich denselben Eindruck von ihm gehabt hatte wie er von ihr.

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, beeilte er sich zu erwidern. »Allerdings bin ich nicht Kommissar, sondern einfach Ermittler der Kantonspolizei.«

»Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich schaue wohl zu viel fern.« Sie schmunzelte.

»Schon gut«, gab Bernauer zur Antwort. »Das passiert mir öfters.« Und nach einer Pause fügte er an: »Danke, dass Sie sich Zeit für Sophies Projekt nehmen.« Er legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter.

»Das ist sehr gern geschehen. Es bereitet mir Freude, wenn sich die Jungen für Archäologie begeistern.« Sie zwinkerte Sophie zu. Die drei schwiegen einen Augenblick. Bernauer nutzte die Gelegenheit, die Fläche mit den kleineren Grabhügeln zu betrachten. Hätte man dieses Gebiet nicht als Nekropole ausgewiesen und mit einer Hinweistafel versehen, würde wohl kein Mensch auf die Idee kommen, dass hier über 60 Personen der Eisenzeit begraben lagen.

Frau Küng durchbrach die Stille: »Kommen Sie, ich muss Ihnen etwas ganz Besonderes zeigen.«

Kapitel 2

Sie folgten der Archäologin und bogen hinter einem Baucontainer, von dem Bernauer vermutete, dass er als Materialschuppen diente, in einen schmalen Waldpfad ein. Der Boden war mit Tannennadeln bedeckt und gab bei jedem Schritt ganz leicht nach. Fast geräuschlos bewegten sie sich vorwärts. Bernauer und Sophie sputeten sich, um den Anschluss an Frau Küng nicht zu verlieren. Der Baumbestand wurde dichter, und sie mussten sich unter tief hängenden Nadelzweigen hindurchbücken. Dafür war es hier angenehm kühl. Nach ein paar Dutzend Metern machte der Weg eine scharfe Linkskurve. Die Archäologin verschwand aus ihrem Blickfeld. Bernauer und seine Tochter sahen sich an und beeilten sich. Sie hasteten um die Ecke und blieben abrupt stehen. Beinahe wäre Sophie mit ihrem Vater zusammengestoßen. Sie standen an einem Abgrund. Bernauer musste einen kleinen Schritt nach hinten machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in die Grube zu stürzen. Frau Küng winkte ihnen von unten zu.

»Kommen Sie herunter!« Sie zeigte dabei auf eine Stelle links unterhalb von Bernauer. Erst jetzt bemerkte er die grob gezimmerte Holztreppe, die hinunterführte. Er machte sich vorsichtig auf den Weg und bedeutete Sophie, ihm zu folgen.

»Willkommen auf unserer Ausgrabungsstätte.«

Bernauer staunte nicht schlecht und sah, dass es Sophie ebenso ging. In der großzügigen Grube war ungefähr ein Dutzend Personen damit beschäftigt, den Boden mit feinen Werkzeugen und Pinseln zu bearbeiten. Zwischendurch nahm jemand ein Klemmbrett vom Boden hoch und notierte etwas darauf. Fast die ganze Fläche der Vertiefung war mit einem Gittergeflecht aus Schnüren in gleichmäßige Quadrate aufgeteilt. Die Fäden waren an im Boden verankerten Metallnägeln befestigt und schwebten etwa zehn Zentimeter über der Erde. In einer Ecke der Grube war eine Plastikplane auf Kopfhöhe gespannt. Offensichtlich diente sie als Dach für die Koffer und Gerätschaften, die sich darunter befanden. Auch in der Mitte der Fläche war ein Zelt aus Blachen aufgestellt. Dieses diente aber dem Schutz der bereits freigelegten Fläche, wie Bernauer vermutete.

»Hammer!«, kommentierte Sophie.

»Ich sehe, Ihre Tochter ist voller Begeisterung für unsere Arbeit.« Schmunzelnd wandte sich Judith Küng Bernauer zu. »Aber ja, zugegebenermaßen dürfen wir stolz sein auf diese Grabung. Wir konnten schon das eine oder andere interessante Fragment entdecken. Natürlich müssen wir die Stücke im Labor noch eingehend untersuchen. Aber ich wage jetzt schon zu behaupten, dass uns dieses Gebiet hier einen tieferen Einblick in das Leben unserer Vorfahren erlaubt.«

Sophie zog an der Hand ihres Vaters, wie sie es bereits als kleines Mädchen getan hatte, wenn sie zum Beispiel auf ein Karussell wollte. »Papa, schau dir das an! Darf ich näher hin?«

Bernauer schaute fragend zu Frau Küng. Diese nickte verständnisvoll, und Bernauer ließ Sophie gewähren. »Aber halte genügend Abstand!«

Er war nicht sicher, ob sie seine Ermahnung noch mitbekam. Schon stand sie hinter einer jungen Frau, die kniend mit einem feinen Pinsel den Boden bearbeitete und nun überrascht, aber freundlich zu ihr aufsah. Bernauer beobachtete Sophie gerührt.

»Ihre Tochter scheint sich wirklich für Archäologie zu interessieren«, stellte Judith Küng fest. »Hoffentlich kann sie diesen Elan beibehalten. Es ist ja noch ein langer Weg für sie, bis sie auch an Ausgrabungen teilnehmen kann.«

»Bieten Sie keine Praktika an?«

»Für Jugendliche in Sophies Alter leider nicht mehr.«

»Ich verstehe«, sagte Bernauer, »Sie wollen ja nicht auch noch Kinderbetreuerin spielen während der Arbeit.«

»Das ist es nicht hauptsächlich«, gab Frau Küng zu bedenken, »vielmehr der Schutz der ausgegrabenen Zeitzeugen. Sehr schnell ist ein entscheidender Hinweis, ein wichtiges Puzzleteil durch unsachgemäßen Umgang zerstört. Daher verlangt unsere Arbeit äußerste Konzentration und enormen Sachverstand. Leider mussten wir in der Vergangenheit feststellen, dass dies vielen jungen Leuten abgeht. Wir mussten in der Folge leider auf weitere Stages verzichten.«

Bernauer nickte langsam.

Frau Küng fuhr fort: »Ich finde es schade. Mir persönlich war es immer ein Anliegen, die Begeisterung für die Historie zu wecken.« Und mit etwas Wehmut fügte sie hinzu: »Nur wer seine Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.«

Bernauer sah sie mit einer Mischung aus Überraschung und Bewunderung lange an.

Sie schmunzelte unvermittelt: »Stammt nicht von mir, finde ich aber treffend für unseren Beruf.«

Nun schmunzelte Bernauer. Die Frau war ihm sympathisch. Er betrachtete das emsige Treiben der Archäologen mit aufrichtigem Interesse. Dann wandte er sich wieder an Frau Küng: »Und was haben Sie bereits ausgegraben?«

Sie freute sich ganz offensichtlich über das Interesse des Polizisten und schenkte ihm ein Lächeln. Ohne weitere Worte ging sie zum Zelt in der Mitte des Platzes und machte sich an einer massiv aussehenden Metallkiste zu schaffen. Nur mit großer Kraftanstrengung gelang es ihr, die Verschlüsse an dem militärgrauen Ungetüm aufzuwuchten und den schweren Deckel mit der linken Hand hochzustemmen. Dann warf sie einen kurzen, suchenden Blick ins Innere, nickte zufrieden und winkte Bernauer mit der freien Hand zu sich heran. Dieser folgte ihrer Aufforderung und gesellte sich neben sie. Sie trat einen Schritt zur Seite und ließ ihn in die Box schauen. Darin sah es aus wie in einem überdimensionierten Setzkasten. Zwischen den Abtrennungen aus Acrylglas waren verschiedenfarbige Tonscherben säuberlich aufgereiht und beschriftet. Einige waren schwarz verkohlt, andere bräunlich-rot eingefärbt. Ein Splitter hatte feine Eingravierungen. Auf den ersten Blick sah die Auslage für Bernauer trotzdem nicht sehr spannend aus, er hatte sich mehr erhofft. Er wollte sich schon an Frau Küng wenden, als sein Blick auf ein fein gearbeitetes Schmuckstück fiel. Das Stück war sehr filigran. Drei kugelförmige Verdickungen mit schönen Mustern zierten es.

Frau Küng war Bernauers Staunen nicht entgangen. »Ein wunderschöner Armreif, finden Sie nicht? Auf so etwas stößt man sehr selten. Ich bin gespannt, was die gründliche Reinigung noch zum Vorschein bringt. Aber ich kann jetzt schon sagen, dass dies sicherlich ein Museumsstück werden wird. Wäre doch schade, wenn es irgendwo in einer Kellerschublade verstauben würde. Bei früheren Ausgrabungen hatte man ebenfalls Schmuck gefunden, seit längerer Zeit aber lediglich Tonscherben und dergleichen. Na ja, die Dinge liegen auch schon mehr als 2.000 Jahre in der Erde. Da kann man nicht erwarten, dass Tongefäße noch intakt sind.«

Bernauer musterte den Armreif nachdenklich. »Und was erhoffen Sie sich noch zu finden?«

Sie schaute ihn fragend an.

»Ich meine nur, wo dieser Armreif ist, könnte ja noch mehr verborgen sein«, beeilte er sich zu sagen.

Wieder lächelte Frau Küng. »Das ist nicht so einfach, Herr Bernauer. Wir suchen nicht nach einem bestimmten Gegenstand. Natürlich wäre es schön, wenn wir noch mehr so gut erhaltene Stücke finden würden. Aber die Realität ist eine andere, leider. Von den bisherigen Grabungen wissen wir, dass hier in Unterlunkhofen hauptsächlich Brandbestattungen stattgefunden haben. Bis auf wenige Ausnahmen, wo wir es mit Körperbestattungen zu tun hatten. Bei der aktuellen Ausgrabung geht es zunächst einmal darum, die Erdschichten zu analysieren, um das Alter des Grabfeldes zu bestimmen. Aber natürlich wäre es sehr schön, zum Beispiel einen Torques zu finden.«

»Einen Torques?«

Sie lächelte verständnisvoll, aber nicht überheblich. »Ein Torques ist ein Halsreif, den die Kelten trugen. Meist waren die Reifen aus Gold gefertigt und Männern der Oberschicht oder Kriegern vorbehalten. Man hat sie an diversen Orten gefunden, bisher aber noch nicht im Freiamt.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Und wie sind Sie darauf gekommen, gerade hier zu graben?«, hakte Bernauer nach.

»Nun, es wurde schon lange vermutet, dass in der Umgebung der bisher entdeckten Gräber noch weitere liegen könnten. Allerdings muss es sich um ältere handeln, weil die Grabhügel nicht mehr so ausgeprägt vorhanden sind. Oder die Gesteinsschichten sind weicher, die Gräber liegen tiefer.«

Wieder nickte Bernauer. Er schaute sich um. Dabei fiel ihm ein Gefährt von der Größe eines Rasenmähers auf, das halb zugedeckt in einer Ecke stand. »Und was ist das da?«, fragte er frei heraus.

Frau Küng folgte seinem Blick. »Ach, das ist unser GPR.«

Als sie feststellte, dass Bernauer sie immer noch fragend ansah, fügte sie rasch hinzu: »Unser Bodenradar. Wir ziehen es über den Boden und können so Strukturen im Erdinnern erkennen – vereinfacht gesagt.«

Bernauer zeigte sich beeindruckt. »So wie ein Metalldetektor«, sagte er, ohne genau zu wissen, wie ein solcher aussah.

»So ähnlich«, meinte sie. »Allerdings lassen sich damit nicht nur metallische Gegenstände finden, sondern auch organisches Material oder Gestein. Außerdem liefert uns das Gerät eine Karte des untersuchten Untergrunds auf seinem Bildschirm. So können wir mit etwas Übung sogar sagen, was uns ungefähr erwartet, wenn wir dort graben. Den Jackpot haben wir allerdings immer noch nicht gefunden, leider.«

Bernauer sah sie überrascht an, was ihr nicht entging.

»Die Nekropole Unterlunkhofen ist zweifelsohne eine der bedeutendsten Grabstätten aus der jüngeren Eisenzeit«, fuhr sie fort. »Oder anders gesagt, es ist ein großer und sehr alter Friedhof. Er gibt uns gewisse Erkenntnisse über das Leben und vor allem Sterben unserer Vorfahren. Aber es ist erstaunlich, wie wenig wir über die Kelten in unseren Gegenden wissen. Ich meine, wir reden hier nicht von Steinzeitmenschen und Höhlenbewohnern. Die Kelten lebten zur Zeit der Römer und Etrusker, und dennoch ist sehr wenig von ihnen überliefert.«

»Na ja, zumindest aus ›Asterix und Obelix‹ wissen wir ja ungefähr, wie die Leute damals gelebt haben«, gab Bernauer zu bedenken und bereute seine saloppe Aussage im selben Moment.

Frau Küng schien es nicht zu stören. »Ganz so unrecht haben Sie nicht, Herr Bernauer. Auch die Gallier waren Kelten, und die Recherchen für die Comics sind durchaus seriös gemacht. Vieles darin könnte so oder ähnlich gewesen sein. Aber natürlich ist auch einiges hinzugedichtet.« Sie zwinkerte ihm keck zu.

»Und was wäre die sensationelle Entdeckung, die Sie machen möchten?«

Sie sprach nicht gleich weiter, sondern ließ Bernauer einen Moment im Ungewissen. Dann machte sie eine bedeutungsvolle Geste und sagte beschwörend: »Die Siedlung.«

»Die Siedlung?«, fragte er nach.

»Die Siedlung«, bestätigte die Archäologin. »Man hat bis heute das Dorf der Menschen von Unterlunkhofen noch nicht entdeckt. Es zu finden, wäre mein ganz großer Traum.«

Bernauer blickte skeptisch. »Ist denn nicht das heutige Dorf auf den Ruinen der Keltensiedlung errichtet worden?«

»Höchstwahrscheinlich nicht«, seufzte sie. »Zumindest ist man bei keinem Bau auf die Siedlung gestoßen, interessanterweise aber auf Fragmente römischer Gebäude.« Sie hob die Schultern. »Sie müssen sich vorstellen, Herr Bernauer, da, wo wir jetzt stehen, war damals noch kein Baum, geschweige denn ein Wald. Diese Fläche hat sich die Natur erst in den letzten, sagen wir, 1.000 Jahren zurückerobert. Früher war hier hügeliges Grasland. Es gab zwar Bäume und Baumgruppen. Aber ein Wald, wie wir ihn heute kennen, mit Unterholz und dichtem Gestrüpp, wuchs hier nicht. Man geht davon aus, dass es sich um dünn bewachsene Forste mit größeren Lichtungen gehandelt haben muss. Dies belegen Pollenanalysen aus der Gegend. Häufig werden diese in Mooren gemacht, weil sich die Blütenpollen darin gut halten. Leider hat man Anfang des 20. Jahrhunderts im Reusstal die meisten Moore trockengelegt und Torf gestochen. Von vergleichbaren Orten ist uns aber bekannt, dass dort vor allem Buchenhaine standen, die großzügig mit Waldweiden durchsetzt waren. Nadelbäume gab es praktisch keine. Erst später wurden dann vermutlich größere Ackerflächen angelegt. Aber wenn ich ehrlich bin: Wir wissen schlicht nicht genau, wer hier wie gelebt hat.«

»Erstaunlich«, meinte Bernauer.

»Ja, nicht wahr? Wir wissen zum Beispiel auch sehr wenig über Eigen- oder Flurnamen. Für den Oberlauf der Reuss beispielsweise vermutet man, dass die Bezeichnung ›Sila‹ geläufig war. Ganz sicher ist man sich da aber auch nicht. Und es ist nicht klar, ob dieser Name auch hier unten verwendet wurde. Vielleicht hat man die Reuss damals einfach ›Fluss‹ genannt, oder man hat, wie das auch weiter westlich verbreitet war, dem Fluss das Präfix ›Göttin‹ gegeben. Ich finde die Vorstellung schön, dass die Reuss damals vielleicht ›Dea Sila‹ genannt wurde. Was meinen Sie?«

Bernauer nickte langsam, konnte sich aber nicht entscheiden, was er davon halten sollte. Um abzulenken, fragte er: »Und warum machen Sie nicht ein paar Probebohrungen hier in der Gegend, um noch mehr herauszufinden?«

»Das ist nicht so einfach«, gab Frau Küng zu bedenken. »Wir reden hier von Dutzenden Quadratkilometern. Das meiste davon ist bewaldete Fläche. Wir können ja schlecht die ganze Hügelkette umwälzen. Nein, da müssten wir schon genauere Hinweise und präzisere Anweisungen haben. Wir dürfen von Gesetzes wegen auch nicht so ohne Weiteres das ganze Land umgraben.« Sie streckte schalkhaft ihren Zeigfinger in die Luft. »Es wird nur dort gegraben, wo es sinnvoll ist und wo wir mit einiger Sicherheit vermuten dürfen, dass wir auch etwas archäologisch Interessantes finden werden. Leider fehlen uns dafür bisher die Hinweise. Aber wer weiß, vielleicht stoßen wir eines Tages auf die Siedlung? Meistens hilft uns der Zufall, seltener ein eifriger Hobbyarchäologe.«

»Und was ist mit Ihrem …«, er versuchte sich an den Begriff zu erinnern, »… Bodenradar?«

»Das GPR meinen Sie? Tja, das hat leider ebenfalls seine Tücken. Auch mit diesem Gerät können wir nicht die ganze Umgebung absuchen. Das wäre zu aufwendig. Außerdem vermuten wir, dass die Siedlung eher aus einzelnen Gehöften bestanden hat und es wenige bis gar keine befestigten Bauten aus Stein gab. Das macht die Sache nicht unkomplizierter. Je mehr organisches Material verwendet wurde und je länger es im Boden gelegen hat, desto mehr Schwierigkeiten haben wir, es zu finden. Zudem wissen wir bis heute nicht genau, ob hier in der Gegend die für die Kelten an anderen Orten typischen Langhäuser gebaut wurden. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen vermuten, dass die Häuser eher einen quadratischen Grundriss hatten.«

Bernauer leuchtete ein, was sie sagte.

»Und vielleicht ist es gut so, dass wir die Siedlung nicht finden. Manchmal frage ich mich, ob wir alles sofort ausgraben müssen. Vielleicht ist die Siedlung ja im Boden viel besser aufgehoben als hier oben an der Luft. Dann bliebe sie der Menschheit vielleicht noch länger erhalten.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Das machen wir bei Rettungsgrabungen ja auch so«, fuhr sie dann fort. »Da dokumentieren wir das Gefundene und schütten alles wieder zu, damit es der Nachwelt möglichst erhalten bleibt – wenn auch unsichtbar.« Sie lächelte zufrieden.

Bernauer lächelte zurück und sah sich nach Sophie um. Nach einigem Suchen entdeckte er sie im hinteren Teil des Ausgrabungsgeländes. Sie war in ein Gespräch mit einem jungen Mann um die 30 vertieft.

»Ah, ich sehe, Ihre Tochter unterhält sich gerade mit einem meiner Assistenten. Wollen wir hinübergehen?«

Bernauer nickte und machte sich mit Frau Küng auf den Weg. Sie mussten aufpassen, nicht mit jemandem oder etwas zusammenzustoßen. Dicht an dicht waren die Wissenschaftler damit beschäftigt, den Boden zu bearbeiten. Zwischen ihnen waren Werkzeuge, Gerätschaften und Kisten aufgestellt. Nur ein schmaler Pfad führte zwischen den gitternetzartigen Markierungen hindurch.

Bei den beiden angekommen, hörte Bernauer seine Tochter gerade noch sagen: »… und darum interessiere ich mich so für Ihren Beruf.«

Der Assistent schmunzelte. Bernauer war sich nicht sicher, ob aus Sympathie für Sophie oder aus Überheblichkeit gegenüber der naiven Begeisterung einer Schülerin.

Er räusperte sich. Der junge Mann wandte sich zu ihm um und streckte ihm seine Hand entgegen. »Fabian Koller, freut mich. Sie müssen der Vater von Sophie sein.«

Man kannte sich also bereits, dachte Bernauer alarmiert. Er konnte den väterlichen Beschützerinstinkt einfach nicht ablegen. Er hatte schon bei seiner älteren Tochter Laura Mühe mit dem beginnenden Ablöseprozess gehabt und hatte sich fest vorgenommen, es bei Sophie etwas weniger emotional werden zu lassen. Er merkte, dass es ihm schwerer fiel, als er es sich eingestehen wollte. Er gab sich einen Ruck und stellte sich vor – als Vater von Sophie und als Polizist.

»Oha, ein Hüter des Gesetzes«, frotzelte Koller.

»Ganz genau«, gab Bernauer zur Antwort, ohne weiter auf die Anspielung einzugehen.

»Hast du Sophie unsere Arbeit erklärt?«, wandte sich die Ausgrabungsleiterin an den jungen Mann.

»Ganz genau«, äffte dieser Bernauer zu Sophie gewandt nach. Diese lächelte schüchtern. Dann fuhr er fort: »Sie durfte sogar etwas mithelfen.«

Erst jetzt bemerkte Bernauer den Pinsel in Sophies Hand. Er wollte gerade etwas zu seiner Tochter sagen, als sein Handy lautstark »Nothing as it seems« von Pearl Jam wiedergab. Peinlich berührt drehte er sich von den anderen weg und nestelte das Smartphone aus der Hosentasche. Als er sich meldete, wurde er von der Stimme seines Mitarbeitenden Michelangelo Ponte unterbrochen: »Capo, dove sei? Wo bleibst du?!«

Kapitel 3

Bernauer trat hinter dem Baucontainer hervor, die anderen folgten ihm und fanden sich auf dem Kiesplatz vor dem Werkhof wieder, wo Ponte ungeduldig und etwas verloren auf seinen Vorgesetzten wartete. Seine braunen Lederschuhe gruben Furchen in den Kies, welcher einen staubigen Rand auf den glänzend polierten Tretern hinterließ. Trotzdem – oder gerade deswegen – klopfte sich Ponte imaginären Staub von seinen perfekt sitzenden Bluejeans. Bernauer fragte sich, wo er diese Hosen in dem tiefen Dunkelblau immer herbekam. Seine eigenen sahen schon beim Kauf aus, als ob sie aus dem Secondhandshop stammten.

Ponte holte ihn aus seinen Gedanken: »Da seid ihr ja. Wo kommt ihr denn auf einmal her? Ich dachte, wir hätten uns hier um fünf Uhr verabredet«, rief er über den Platz.

Bernauer schaute hastig auf seine Armbanduhr und musste feststellen, dass sie sich tatsächlich deutlich verspätet hatten. Er setzte zu einer entschuldigenden Geste an.

»Ach, schon gut. Ich sehe, die Jungmannschaft ist auch dabei.« Ponte lächelte Sophie freundlich zu. Sie erwiderte mit einem ebenso netten Lächeln.

»Darf ich vorstellen«, durchbrach Bernauer den entstandenen Moment der Stille, »Frau Küng, Archäologin und Ausgrabungsleiterin.« Ponte nickte ihr zu und stellte sich ebenfalls vor. Erst jetzt bemerkte Bernauer, dass Fabian Koller ihnen nicht gefolgt war.

»Wir sollten dann wohl langsam«, drängte Ponte.

Bernauer verabschiedete sich hastig von Frau Küng und ging ein paar Schritte in Richtung seines Wagens. Ponte folgte ihm. Nur Sophie konnte sich noch nicht von Frau Küng losreißen. Beim Zurückblicken sah er, wie sie seiner Tochter eine Visitenkarte zusteckte. Sophie schnappte sich die Karte und kam fröhlich hüpfend auf ihren Vater zu. »Jetzt kann ich sie immer anrufen, wenn ich eine Frage habe«, strahlte sie.

Bernauer lächelte und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Komm, ich bringe dich zur Bushaltestelle. Oder willst du auch mit zu Staublis Party?« Er erwartete ein entschiedenes Nein seiner Tochter, wurde aber zu seiner Überraschung eines Besseren belehrt.

»Warum nicht?«, entgegnete sie. »Geht das denn in Ordnung für dich, und glaubst du, Mama erlaubt es?«

»Ich denke schon«, antwortete er in einem Anflug von Gutmütigkeit. »Und ich habe mit dir eine Ausrede, das Fest vielleicht etwas früher wieder zu verlassen. Wirklich scharf bin ich nicht darauf – und du musst natürlich früh ins Bett.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Sie lächelte zurück und machte sich daran, die Beifahrertür zu öffnen.

Von Pontes Alfa Romeo war keine Spur zu sehen. »Bist du hierhergelaufen?«, stichelte Bernauer.

»Glaubst du, ich fahre meine Giulia den steilen Kiesweg hier hoch? Die Kosten für die Behebung der Lackschäden fräßen mein halbes Jahresgehalt!« Ponte stapfte grimmig den Weg zu seinem Oldtimer hinunter, während Bernauer und Sophie ihn grinsend in ihrem Wagen überholten.

Kapitel 4

An der schmalen Zufahrtsstraße zur Schrebergartensiedlung waren Autos zu beiden Seiten geparkt. Nach einem mühsamen Wendemanöver entschieden sich die Polizisten, ihre Wagen bei der Kirche abzustellen, auch wenn das einen längeren Fußmarsch bedeutete. Ponte stapfte verärgert um seine Giulia, um etwaige Schäden ausfindig zu machen. Bernauer und Sophie warteten derweil geduldig etwas abseits, bis er seine Inspektion beendet hatte, und machten sich dann gemeinsam mit ihm auf den Weg zum Fest.

Schon von Weitem konnte man ausgelassenes Gelächter und halblaute Musik hören. Je näher sie kamen, desto deutlicher stach Staublis Stimme heraus. Auch das helle Lachen seiner Frau Rosie war klar zu vernehmen. Bernauer und Ponte mussten schmunzeln. Ihr Kollege war offensichtlich in seinem Element.

Für Bernauer war die Einladung zu dieser Feier eine Überraschung gewesen. Es kam äußerst selten vor, dass Staubli ein Fest gab. Genau genommen konnte sich Bernauer überhaupt nicht erinnern, dass Staubli während seiner langen Dienstzeit jemals zu solch einem Anlass eingeladen hätte. Dass nun gerade er zu den Auserwählten gehörte, wunderte ihn umso mehr, da Staubli und er das Heu nicht immer auf der gleichen Bühne hatten. Trotzdem – oder gerade deswegen – musste er sich eingestehen, dass er sich auf die Sause im Schrebergarten freute, insgeheim natürlich. Selbstverständlich würde er dies nie zugeben oder zeigen.

Das Gelände war zur Straße hin mit einem hüfthohen Maschendrahtzaun umgeben. Bernauer fiel auf, dass das Unkraut außerhalb des Zauns wucherte, während auf der Innenseite anscheinend kein einziges ungebetenes Gewächs geduldet wurde. Ein akkurat gepflegter Kiesstreifen trennte die heile Welt vom Chaos. Sie stießen das Tor auf und betraten den an beiden Rändern mit Elementen aus Cortenstahl abgegrenzten Weg. Er führte um eine perfekt aufgehäufte Scheiterbeige herum.

Sophie war als Erste um die Ecke gebogen. Ponte und Bernauer folgten ihr mit etwas Abstand. Sie fanden sich auf einem großzügigen Kiesplatz wieder. Er war zu drei Seiten umrandet von den Rückwänden bunt gestrichener Holzhäuschen. Girlanden mit den 26 Schweizer Kantonswappen waren im Zickzack zwischen den Wänden gespannt und überdachten vier Festbankgarnituren. An ihnen saß eine bunt gemischte Schar von Personen.

Bernauer versuchte sich aus beruflicher Gewohnheit heraus sofort einen Überblick zu verschaffen und scannte die Gesichter der Anwesenden.